Der Krieg ist eine sehr persönliche Angelegenheit Zwei Dokumente zu ...

Das zweite Dokument schildert eine Begebenheit, eine Episode aus der Zeit der Internierung ... mannschaften gekommen waren; unter anderen auch einige Bekannte aus Neu- kirchen, Willy .... Sonne durchkam, rochen sie den Braten und schon schossen sich auf un- ...... Als gar nicht bös und gar nicht erzürnt auf mich.
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Der Krieg ist eine sehr persönliche Angelegenheit Zwei Dokumente zu einem kurzen Leben (bearbeitet von Fritz Peter Beck)

Am 22. Dezember 1934 heiratete Dr. Fritz Paul Beck, Lydia Rambau, damals 25 Jahre alt. Am 4. September 1935 kam Hans-Jochen, am 12. April 1938 Fritz Peter Beck zur Welt. Fritz Beck war am 10. März 1938 gestorben. An den Folgen seiner Kriegsverletzungen. Bald begann der nächste Krieg.

Vorbemerkung Nachfolgend stelle ich dem Leser zwei Dokumente zur Verfügung, die nunmehr fast 100 Jahre alt sind. Die meisten Originalunterlagen befinden sich im Besitz meines Bruders, der mir dankenswerter Weise Kopien bzw. gescanntes Material überlassen hat. Mein Vater beschreibt in seinem Tagebuch zur Kriegsgefangenschaft auf, wie ich meine, sehr eindrucksvolle Weise sein persönliches Erleben als 19jähriger Frontoffizier bei seiner Verwundung und in der englischen Kriegsgefangenschaft. Hier wird ein Stück Zeitgeschichte völlig ungefiltert, sehr aktuell und mit wechselnden situationsbedingten Emotionen dargestellt. Die Kriegstagebücher liegen bei meinem Bruder handschriftlich vor. Ich habe deshalb eine Schreibmaschinenabschrift verwendet. Am Text habe ich nur ganz unwesentlich korrigiert. Dies betrifft insbesondere die Zeichensetzung. Satzstellung und vereinzelt die Wortwahl habe ich dort geändert, wo mir das grammatikalisch oder stilistisch sinnvoll erschien. Kürzungen erfolgten nicht. Der Text endet, obwohl die Überschrift zum letzten Abschnitt auf einen längeren Zeitraum verweist. Im Anhang werden einige Dokumente (Schriftstücke, Bilder) dargestellt, die zu den beschriebenen Ereignissen einen Bezug herstellen. Das zweite Dokument schildert eine Begebenheit, eine Episode aus der Zeit der Internierung meines Vaters 1916/17 in der Schweiz. Dabei handelt es sich sicher um den Versuch, Erlebtes literarisch zu gestalten. Leider gibt es zur historischen Situation, zu den Lebensbedingungen der Internierten deutschen Offiziere kaum Hinweise. Internetrecherchen brachten keine berichtenswerten Ergebnisse. Fritz Beck

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Mein Kriegstagebuch I. Boulogne s/m März – Mai 1915

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10.3.1915 Früh 8 Uhr war Stellen zum Kompanie Einteilen, da gestern Ersatzmannschaften gekommen waren; unter anderen auch einige Bekannte aus Neukirchen, Willy Knoth und Karl Loss; sie kamen zur 5. Kompanie. Barthel hatte einen ziemlich schweren Kopf von der gestrigen Trinkerei und sah aus wie eine Leiche. Um 9 ging es raus nach La Fogette zum Exerzieren. Na, gerade angenehm war's mit so einem Brummschädel nicht, denn den hatten wir alle. Aber die frische Luft machte uns so einigermaßen wieder nüchtern. Der Spaß dauerte auch nicht allzu lange, denn schon gegen 10 Uhr rückten wir wieder ein und. wir freuten uns alle mächtig auf einen guten Frühschoppen und auf ein noch besseres Frühstück. Doch der Mensch versuche die Götter nicht oder aber die Engländer. Gerade wie wir ins Kasino loszittern wollten, kam der Befehl. Das II.104 hält sich in Alarmbereitschaft. Kein Mensch glaubte anfänglich an Ernst, denn in Korpsreserve kamen solche Veralberungen nicht selten vor. Aber als ich dann halb 12 Uhr den schönen Erwin, meinen Freund Heidemann traf und der mir sagte: „Du es geht los, die Engländer sind bei Neuve Chapelle durchgebrochen, ein Uhr geht der Zug“, da musste man es schon glauben. Und siehe da, Punkt 12 Uhr war Alarm. Na, gute Luft! Kein Bursche da. Meiner war nach Les Ecluses gegangen, um meine Wäsche zu holen. Da hieß es halt, selbst ist der Mann! Und ich packte. Allerdings fragt mich nur nicht wie. Ich warf alles in den Koffer, was nicht rein ging, kam in eine Pappschachtel, alles zugeschlossen und fertig war ich schon. Helm aufgesetzt, Revolver geladen, umgeschnallt, den Tornister auf den Buckel, den Wirtsleuten Adieu gesagt und raus. Auf dem Marktplatz war Antreten und es war ein Mordsbetrieb. Da, auf einmal das Surren eines Propellers in der Luft und gucki da, ein englischer Flieger sieht sich den Betrieb von oben an. Schnell wird Fliegerdeckung genommen und bald ist der Kerl verschwunden.Jetzt geht es auf den Bahnhof, teils mit sehr gemischten Gefühlen. Einmal weil wir unsere schöne Stellung verloren hatten und dann, weil wir genau wussten, dass uns eine sehr harte Arbeit bevorstand. Meine Kompanie, also die 7., wurde zuerst verladen. Ich hatte für unsere Offiziere das einzige Abteil 1.Klasse gefunden, das noch einigermaßen ganze Fensterscheiben hatte. Barthel hatte sich bereits in eine Ecke gesetzt und hatte immer noch seinen großen Jammer. Als die letzte Kompanie verladen wurde, hören wir auf einmal ein uns wohl bekanntes Pfeifen und Rauschen in der Luft, und" Bruch " saß auch schon die erste englische Schwefelgranate 50 m zu kurz im Dreck. Aber nun fort. Mit Windeseile wurde fertig verladen und schon rollten wir. Und es war Zeit, denn die zweite Granate folgte sogleich etwas näher. Fort ging es, Bestimmungsort Fournes. Also doch in dieses Granatenloch La Bassée. Die Bahnfahrt war ziemlich stumpfsinnig. Alles rauchte oder schlief oder stierte vor sich hin und hing seinen Gedanken nach. Es war auch eine Schweinerei, dass es gerade uns erwischt hatte. Ich sah in meinem Tornister nach etwas Essbaren. Ich hatte eine Büchse Fett, eine Büchse Butter, aber kein Brot. Dann fand ich noch eine kleine Tafel Schokolade und noch eine ganze Menge Zigaretten. Das war immerhin etwas. Nachmittag 4 Uhr kamen wir in Fournes an. In der Ferne hörten wir schon ein mächtiges Artilleriefeuer und da schien ein ziemliches Ge-4-

fecht im Gange zu sein. Am Bahnhof stand ein Auto vom Divisionsstab und ein Generalstabsoffizier erklärte unserem Batallionsführer, Herrn Hptm. Facius die Lage. Nach ungefähr einer halben Stunde Abmarsch. 7. Kompanie an letzter Stelle. Bald sahen wir die ersten Verwundeten, die zurückkamen. Beinahe nur Arm- und Kopfschüsse. Jetzt hörten wir auch näheres über die Sache. Die Engländer waren durchgebrochen und hatten das Dorf Neuve Chapelle genommen. Und da hatten wir die ehrenvolle Aufgabe, sie wieder herauszuschmeißen. Wir marschierten und kümmerten uns um nichts. Allmählich wird man ja so stumpfsinnig, man marschierte eben, rauchte eine Zigarette nach der anderen und dachte an nichts. Gegen 6 Uhr konnten wir nicht weiter, wir mussten Halt machen und die Dunkelheit abwarten. Jetzt wurde alles, was den Tornister zu schwer machte und unnötig war rausgeschmissen, wie Decken, Wäsche usw. Patronen wurden verteilt. Ich selbst ging in eine Verbandsstelle, die gleich in der Nähe war und ließ mir von einem Verwundeten ein Gewehr geben. Da ich den ganzen Tag nichts zu essen bekommen hatte, hatte ich einen mächtigen Hunger. Leider war auch keine Aussicht vorhanden etwas zu bekommen, es gab nichts. Gegen 7 Uhr ging es weiter. Es war eine pechschwarze Nacht. Noch einmal wurde gehalten. Da fing einer an die „Wacht am Rhein“ zu singen und alles fiel ein .Dann noch ein kurzes Gebet und weiter ging es. Niemand sprach ein Wort. Man hörte nur das taktmäßige Aufschlagen der nägelbeschlagenen Stiefel auf das Straßenpflaster. Und in der Ferne da tobte das Gefecht. Knatterndes Maschinengewehrfeuer, das Brüllen der Geschütze, das alles hörten wir. Schweigend marschierten wir weiter. Ab und zu stieg eine Leuchtkugel in die Höhe, flammend stieg sie hoch, ganz grell und fiel dann in schönem Bogen erlöschend zur Erde. Schweigend marschierten wir weiter. Jeder war sich bewusst, dass es eine schwere, blutige Arbeit geben würde. Wir kamen immer näher, Schrapnelle krepierten über uns, Granaten schlugen dicht neben uns ein, Gewehrkugeln pfiffen uns um die Ohren. Wir waren schon mitten im Feuerbereich. So marschierten wir wohl eine Stunde lang immer im Artilleriefeuer. Endlich kam der heiß ersehnte Halt. Wir waren bei einer Ferme angelangt. Die Zugführer wurden zum Kompanieführer befohlen und wir erhielten den Befehl, den l, 2. und 3.Zug (also Feldwebel Uhlig, ich und Lt. Kircher) in Schützenlinie nach rechte zu entwickeln im Anschluss an die 5. Kompanie. Lt. Barthel, 4. Zug, sollte als Reserve zurückbleiben. Wir entwickelten unsere Züge und nun ran an den Feind. Rechts vor mir lag das Dorf Neuve Chapelle und brannte. Lautlos wie die Katzen schlichen wir uns vor, eine Höllennacht. Jede Sekunde stiegen die Leuchtraketen an den Himmel, jede Sekunde platzten die Schrapnells und jede Sekunde kamen die Granaten angebraust. Alle hofften wir, noch in dieser Nacht zu stürmen und brannten darauf die Feinde vor das Bajonett zu bekommen. Aber es sollte nicht sein. Bald kam der Befehl „Halt“ und eine Stellung auszuheben. Der erste und zweite Zug hatte Glück. Wir fanden bereits einen Graben und besetzten ihn, so brauchten wir wenigstens nicht erst zu buddeln. Ich baute mir einen Sitz und wickelte mich in meinen Gummimantel und in meine Zeltbahn und schlief bis halb ein Uhr, so gut es ging.

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11.3.1915 Gegen ein Uhr morgens kam der Befehl, wir sollten bis über die Straße vorgehen und dort eine neue Stellung ausheben. Wir gingen wieder vor und jeder grub sich ein Schützenloch. Als wir uns gerade eingebuddelt hatten, kam der Gegenbefehl, zurück in die alte Stellung, kein Angriff heute Nacht. So wanderten wir halt wieder zurück. Nachdem ich meine Posten aufgestellt hatte, konnte ich wieder etwas schlafen, d. h. schlafen eigentlich unmöglich, denn die englische Artillerie ließ uns keine Ruhe, wenn sie auch viel zu kurz schoss und keinen Schaden anrichtete, störte sie uns doch. Gegen sechs Uhr morgens wurden wir etwas unsanft aus dem Schlaf geweckt, besser gesagt aus unserem Hinduseln. Granaten und Schrapnells flogen über unsere Köpfe und schlugen vor und hinter uns ein. Sie wähnten unsere Stellung im Wald, der hinter uns lag, und warfen das ganze Eisen dorthin. Solange die den Wald beschossen, konnte uns ja ganz gleich sein, womit sie schossen und wie viel sie schossen. Aber bald als der Nebel sich verzog, und als die Sonne durchkam, rochen sie den Braten und schon schossen sich auf unseren Graben ein. Das war acht Uhr. Und nun ging es los. Ein wahnsinniges Feuern ohne Pause, ohne Unterlass. Nicht eine Sekunde stoppte das Artilleriefeuer. Immer wieder das Gleiche, erst kamen 20 Schrapnells, dann 4 große Schwefelgranaten und schließlich 20 Flachbahngeschosse. Um Mittag schlug eine Schwefelgranate dicht neben mir ein und überschüttete mich mit Steinen Erde und Sand. Kaum hatte ich mich aufgerichtet, kam schon die zweite , die auch ganz dicht neben mir einschlug, einen Mann auf mich warf, dann krepierte und den armen Kerl vollkommen auseinander riss. Ich hatte eine dicke Kruste von dem Schwefeldampf auf Gesicht Lippen und Haaren kleben, und das Blut von dem Toten klebte mir im Gesicht. Sechs Batterien hatten sich auf unseren Graben eingeschossen, den ganzen Tag wie die Tollen gefeuert und doch nur wenige Verluste. drei Tote und vier Verwundete in meinem Zug. Gegen acht Uhr abends hielt die Schießerei endlich auf und man konnte einmal aufatmen. Ich war bis auf eine ganz unbedeutende Schramme an der linken Hand gesund geblieben, hatte aber einen mächtigen Hunger und Durst. Mein Tornister war aber von einer Granate getroffen worden und sah auch danach aus. Er war vollkommen auseinander gerissen und der Inhalt sah lieblich aus. Meine Wäsche war nicht mehr als solche zu erkennen und war nur noch ein Fetzen. Die Esswaren waren nur noch ein Brei. So waren Fett und Butter vermischt mit Schwefel und Schmutz und mit Zigarettentabak. Aber Herrgott, in der Not frisst der Teufel heutzutage sogar Fliegenersatz. Ich ließ mir ein Stück Kommissbrot geben, strich den Brei darauf und es schmeckte ganz vorzüglich. Na der Hunger trieb es schließlich hinein, ich hatte halt fast drei Tage nichts gegessen. Dann machte ich einen Besuch bei Kircher, der ja rechts von mir lag. Ich ging über das freie Feld, obwohl wir noch ganz heftig mit Infanterie beschossen wurden. Meine Unvorsichtigkeit wurde auch sofort bestraft, indem ich einen Schuss in den linken Handballen bekam, aber auch ganz unbedeutend. Auch Kircher hatte sehr wenige Verluste. Der Tag war ziemlich anstrengend gewesen und ich war infolgedessen saumüde geworden. Nachdem ich etwas Feldküchenessen zu mir genommen hatte, machte ich mir ein Loch in die Deckung, so dass ich den Kopf reinstecken konnte und schlief sofort ein, trotz der wahnsinnigen Aufregung

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12.3.1915 Gegen vier Uhr in der Früh kam ein Offizier vom I.R. 133 und fragte mich nach dem Kompanieführer. Wir hatten Oblt. Berger überhaupt noch nicht gesehen und vermuteten ihn noch hinten in der Ferme. Dieser Offizier brachte uns den Angriffsbefehl, der lautete: II./ 104 greift an 5 Uhr 50. 7.Kompanie Richtung Wegekreuz Neuve Chapelle. Etwaige Patrouillen werden niedergemacht, kein Schuss fällt. Der Angriff geht vollkommen lautlos und nur mit blanker Waffe vor sich. Na, nun ging's los. 5 Uhr 45 kletterten wir aus dem Graben und eigentlich ging alles ganz glatt. Wir entwickelten uns vor unserer Stellung und warteten auf das Kommando zum Vorgehen. Endlich ging es los, Richtung Wegekreuz. Ja, wo war das eigentlich? Kein Mensch wusste das, das wussten die Götter. Wir tippelten gemütlich los und sagten uns: „Nur los, es wird schon schief gehen.“ und ließen den lieben Gott einen frommen Mann sein. Aber der Mensch versuche die Götter nicht, wir kamen vorderhand nicht sehr weit. Die Engländer hatten Lunte gerochen und mit einem Mal, als wenn ein Riesenfeuerwerk abgebrannt würde, stiegen Hunderte von Leuchtkugeln und Leuchtraketen an den Himmel. Es war ein wundervoller Anblick, wie von allen Seiten die Sterne hell aufflammten und dann wieder zur Erde niederfielen Doch für uns war das selten schöne Schauspiel nicht sehr günstig. *Ein Gutes hatte es auch für uns, wir wussten jetzt, wohin wir zu gehen hatten. Wir bekamen ein ganz wahnsinniges Infanterie- und Maschinengewehrfeuer und; zwar von drei Seiten. An ein stetiges Vorgehen war gar nicht mehr zu denken; wir mussten oder konnten nur sprungweise vorgehen. Ich ließ meinen Zug hinlegen und hielt erst einmal mit dem Glas Ausguck, woher eigentlich die blauen Bohnen kämen. Dort wo wir lagen konnten wir nicht liegen bleiben; denn erstens lagen wir so richtig auf dem Präsentierteller und dann hätten wir gar nicht schießen können. Ungefähr 20m vor mir war eine kleine Bodenschwelle und dorthin wollte ich zunächst mit meinem Zug springen. Ich rief: „Sprung“ – und schwapp, hatte ich schon eine blaue Bohne im Oberarm. Zunächst tat es etwas weh und es blutete tüchtig und ich musste mich unbedingt verbinden. So übergab ich das Kommando dem Utffz. Kolbe und ging zurück in Deckung, in ein Granatloch. Hier zog ich meinen Rock aus und verband die Wunde. Der Schuss war glatt durchgegangen, musste aber die Sehne gestreift haben, denn ich konnte den Arm fast nicht mehr gebrauchen. Was tun? Ich zog mir den Rock wieder an, schnallte um, nahm meine Knarre und kroch wieder vor, um meinen Zug zu übernehmen. Mittlerweile waren meine Leute schon weiter vorgegangen und ich musste nachspringen. Da, wie ich im schönsten Springen bin, geht's klack—klack und ein ganz wahnsinniger Schmerz in der rechten Schulter, den Arm wirft es aus dem Ellbogengelenk und ich liege da und weiß wahrhaftig nicht ob ich noch lebe oder ob ich schon tot bin. Da hatte ich nun die Schweinerei. Weiter vorgehen war ausgeschlossen, liegen bleiben war zu gefährlich. Also wieder Deckung suchen. Mit größter Mühe krieche ich zurück. Und wieder geht es klack und wieder ein grenzenloser Schmerz in der Schulter. Im Gefühl, sie hätten mir meinen Arm abgeschossen, griff ich nach meiner Pistole, um mir noch eine Kugel durch den Kopf zu jagen, aber Gott sei Dank, ich konnte das Ding nicht erwischen. Mit letzter Kraft kroch ich zurück. Auf einmal ein Pfeifen in der Luft und krach, bum schlägt eine große Granate ungefähr 20 m von mir ein und ich bekam eine mächtige Kopfnuss in Gestalt eines -7-

Splitters. Aber nun fort von hier und in eine anständige Deckung. So schnell ich konnte, kroch ich in das neue schöne Granatloch. Dort fand ich schon Gesellschaft vor, einen Kölner Pionierunteroffizier. Leider war die Gesellschaft nicht gerade angenehm, denn. der Kerl hatte einen großen Sack voll Handgranaten bei sich und ein und ein kleiner Granatsplitter hätte genügt, um uns beide au Brei zu fabrizieren. Da lag ich nun und konnte mich kaum oder gar nicht rühren und blutete und blutete und konnte mich nicht verbinden, ja, entweder halte ich es aus oder aber ich verblute, eins von den sechsen. Gott sei Dank hatte ich noch Zigaretten bei mir. Und mit vieler Mühe brannte ich mir eine an. Kaum brannte sie, ging es auch schon „Ss—Ss“ und als ob sie es ganz besonders auf mich abgesehen hätten, beschossen sie wieder gerade das Loch, wo ich meine kaputten Knochen hingeschleppt hatte. Nun hatte ich es aber gründlich satt. Ich wühlte mich so tief ein wie es ging und rauchte weiter; treffen konnten sie mich ja nicht. So lag ich nun in meinem schönen Granatloch von früh sieben bis abends neun Uhr und verblutete so ganz schön langsam. Dazu kam noch, dass sich das Loch allmählich mit Wasser füllte. Schon mittags steckte ich bis zur Hüfte in dem schmutzigen, stinkenden Wasser. Und draußen tobte das Gefecht. Das rasselnde Maschinengewehrfeuer, das Brüllen der Geschütze, das Stöhnen und Schreien der Verwundeten und der schreckliche Gefechtslärm machten mich einfach wahnsinnig. Ich wurde schwächer und schwächer und als ich am Spätnachmittag noch einen Granatsplitter in den Rücken bekam, hatte ich alle Hoffnung verloren. Noch immer hatte ich meine Besinnung und ich wünschte wohl nichts sehnlicher als sie zu verlieren. So halb verrückt ich wohl gewesen sein. Die Schmerzen waren so wahnsinnig, dass ich sie zuletzt gar nicht mehr fühlte. Manchmal lachte ich ganz laut auf und schalt mich im nächsten Moment wieder, dass es gar nicht am Platze war zu lachen. Dann wieder hatte ich die verrücktesten Ideen. So z.B. hielt ich meinen linken Arm für Herrn Leutnant Kircher und schnauzte ihn an, er solle gefälligst ruhig liegen, sonst würde ich ihn einfach über den Haufen schießen. Der Zustand war einfach schrecklich, ich wusste alles was ich tat und redete doch die tollsten Sachen zusammen. Vor mir, auf de Rand des Loches, lag einer der einen Schuss direkt in die Stirn hatte und der mich nun von früh bis abends mit seinen im Tode gebrochenen Augen anschaute. Und es wollte nicht Abend werden. Da wollte ich zurückgehen und ich freute mich wie ein Schneekönig auf ein Lager und auf einen ordentlichen Verband. Endlich wurde es düster und die Schießerei ließ etwas nach. Ich hatte einen mächtigen Durst. Glücklicherweise hatte der Pionier eine Flasche Wein bei sich, die er mir dann nach vielen Zögern gab. Als es dann finster wurde, bat ich ihn mich zurückzuschaffen. Er versprach es, konnte mich jedoch unmöglich allein nach rückwärts bringen. Bald sagte er mir gute Nacht und verschwand in der Dunkelheit, hatte mir aber versprochen, mich später zu holen. Nun war ich allein. Was tun sprach Zeus? Allein zurückgehen war vollkommen unmöglich, denn dazu war ich denn doch zu schwach. Also warten bis Hilfe kommt und sich tot stellen, wenn eine feindliche Patrouille kommt Und gegen neun Uhr kam auch eine. Ich blieb ganz ruhig liegen und war einfach tot. Es waren zwei Inder und ein Tomy. Zuerst wurde ich auch nicht bemerkt. Aber einer der Inder schien dem Frieden nicht -8-

zu trauen und um sich Gewissheit zu verschaffen, stach er mich erst einmal in den Körperteil, den man sonst im gewöhnlichen Leben nur zum Sitzen benutzt. Da bewegte ich mich etwas und schon kam der Ruf: “Look this hun is still alive Hands up!“ Ja, was sollte ich nun machen? Wie ein Stück Vieh mich abstechen lassen, das wollte ich nicht. Und ich hob meinen linken Arm hoch, soweit ich ihn noch heben konnte. Dann sagte ich ihnen, dass ich schwer verwundet sei. Und nicht selbst aufstehen könnte. Sie richteten mich auf, nahmen mich in ihre Mitte und stießen mich vorwärts. Erst als ich ihnen zu verstehen gab, dass ich Offizier wäre und außerdem als Gefangener unter dem Schutz des englischen Gesetzes stände, benahmen sich die Leute anständig. Jetzt kam mir erst ins Bewusstsein, du bist gefangen. Da war ich einfach nicht mehr fähig zu denken. Nur das eine Wort war in meinem Hirn: gefangen. Ich wurde in die Stellung geschleppt und bekam einen Notverband. Man gab mir Whisky, Zigaretten und Wasser und man nahm mir meine Munition, Fernglas und Waffen weg. Als ich mich dann etwas erholt hatte, nahm man mich unter den Arm und schleppte mich ungefähr einundeinhalb Stunden durch den Schützengraben nach dem Verbandsplatz. Der Arzt war sehr freundlich, gab mir Zigaretten, Whisky und Morphium, wusste aber mit mir nichts anzufangen und schickte mich nach einem anderen Verbandsplatz. Dieses Theater wiederholte sich noch drei Mal. Überall bekam ich Zigaretten und Whisky und schließlich war ich nicht mehr so ganz nüchtern. Endlich kam ich auf die richtige Station. Der Arzt, auch sehr freundlich, gab mir auch wieder eine Zigarette und auch wieder Whisky, sah meine Wunden an, schüttelte den Kopf, nahm mir mit dem Messer drei Kugeln aus der Schulter. Aus gewissen Gründen gab er sie mir nicht, es waren D.D.(Dum-Dum). Endlich bekam ich einen anständigen Verband. Ich hatte nicht weniger als zehn Wunden und war einbandagiert vom Kopf bin zum Fuß. Sie zogen mich aus, d. h. sie schnitten mir die Sachen vom Leibe und. nahmen mir alles weg bis auf Geld, Zigarettenetui, Brieftasche, Geldbörse und Taschentuch, das man allerdings nicht mehr als solches bezeichnen konnte. Dann bekam ich einen Mantel und konnte mich hinlegen und schlafen, als Gefangener. Große Gedanken konnte ich mir darüber nicht mehr machen, ich hatte zu große Schmerzen und war außerdem nicht mehr so ganz richtig in meinem Oberstübchen. Früh gegen ein Uhr wurde ich geweckt von einem mächtigen Krachen und mächtigem Poltern. Deutsche Artillerie schoss mit großer Genauigkeit mitten in den Hof, wo ich lag. Da kam auch schon der Alarm, wir wurden auf Bahren in Wagen gelegt und fort ging es. Diese Fahrt werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Das wunderbare französische Straßenpflaster, diese schön gefederten Wagen. Einfach herrlich. Und außerdem wurde noch Galopp gefahren. Ich habe geschrieen wie ein Stück Vieh vor Schmerzen. Nach einer halben Stunde endlich Halt und endlich Ruhe in einer anderen Verbandsstelle. Alle Leute dort waren sehr freundlich und nett zu mir und ließen mich wenigstens bald in Ruhe. Ich bekam Brot und Jam und Milch und Zigaretten und schlief bald ein. Schmerzen hatte ich keine mehr, da ich eine tüchtige Spritze Morphium bekommen hatte. Am Nachmittag gegen drei Uhr bekam ich Besuch von einem Major Bartley, der perfekt deutsch sprach. Auch er war sehr freundlich zu mir. Zu meinem größten Erstaunen erzählte er mir, dass auch er Dresdner Kadett gewesen sei, fragte mich nach den alten Lehrern, von denen ich noch eine Menge kannte und er erzählte mir auch -9-

von einer ganzen Menge sächsischer Offiziere. Dann bat er mich um die Adresse meiner Angehörigen und fragte mich, ob er denen Nachricht geben dürfe. Ich nahm das Anerbieten natürlich dankbar an. Später kam dann noch ein kleiner Leutnant, der auch ganz gut deutsch sprach und fragte mich, wie die Gefangenen in Deutschland behandelt würden, da sein Bruder sich in deutschen Händen befand. Ich versicherte ihm, dass sie es sehr gut hätten. Um fünf Uhr wurde ich in eine Ambulanz getragen und unter ganz tollem deutschen Artilleriefeuer, die gerade eine Sammelstelle von hunderten Automobilen, meistens Lastautos, beschoss. In rasendem Tempo ging es nun nach Lillers, wo ich. in ein Offiziersspital kam. Dort bekam ich zunächst ein ordentliches Bett, einen ordentlichen Verband und ein gutes Essen. Die Schwester behandelte mich wie einen Aussätzigen, fasste mich nicht an und schimpfte auf den. Kaiser in einer ganz gemeinen Art und Weise, bis ich schließlich dem Arzt sagte, er solle die Person zur Ruhe bringen, doch der lachte mich aus und meinte, die Schwester hätte ganz recht. Da konnte ich nichts mehr machen und musste mir Alles gefallen lassen. Ich heulte vor Wut und wurde noch mehr ausgelacht. In der Ambulanz hatte ich meine letzten Habseligkeiten verloren. Jetzt hatte ich nichts mehr als meinen nackten Körper und der war nur noch halb da. Endlich nach einer langen Zeit in einem richtigen Bett schlief ich infolge der Schwäche und des hohen Fiebers ganz gut 14.3.1915 Früh um 5 Uhr wurde ich wieder ins Auto verladen und kam in einen Hospitalzug. Ich hatte wahnsinniges Fieber, aber gar keine Schmerzen. Schlafen konnte ich etwas aber bald fing ich an zu phantasieren. Eine Schwester saß neben mir und machte mir kalte Kompressen. Sonst weiß ich von der Fahrt so gut wie nichts mehr. Nur, dass ich zeitweise furchtbare Schmerzen hatte und brüllte wie ein Stier, der abgestochen werden soll. Nach fünf Stunden, meiner Schätzung nach, kamen wir in Boulogne an. Ich wurde nach dem 7.Stationary Hospital gebracht und bekam ein kleines, freundliches Zimmer. Die Menschen waren sehr freundlich zu mir und sorgten sich sehr um mich. Gleich am Nachmittag wurde ich geröntgt, oder mit X-Stahlen durchleuchtet, da die Engländer auch in der Wissenschaft keine deutschen Namen anerkennen wollen, und anschließend operiert. Ich hatte nur 42 Grad Fieber 15. - 24.3.1915 Ich weiß nicht mehr viel von der Zeit. Ohne Unterbrechung hatte ich große Schmerzen und hohes Fieber. Jetzt erst sah ich, wie schrecklich man mich zugerichtet hatte. Ich hatte 10 Schüsse und Wunden. Einen Streifschuss am Kopf, zwei Granatsplitter im Rücken, einen Gewehrschuss in die Lunge, drei Gewehrschüsse in das rechte Schultergelenk, einen Gewehrschuss in den rechten Oberarm, einen glatten Schuss durch den Bauch und zu guter letzt einen kleinen Splitter in die rechte Fußspanne. Auf jeden Fall war ich ganz leidlich durchlöchert, doch gute Ware hält sich (das andere Sprichwort mit dem Unkraut ist bedeutend besser). Als Arzt hatte ich einen sehr netten Major Gardener, einen Kanadier, die Oberschwester auch sehr nett, Sister Knight und meine Zimmerschwester, die sich sehr viel um mich kümmerte und mich einigermaßen bei guter Laune hielt, war Sister Preyer. Fast jeden Tag kam ein englischer Pfarrer, ein alter Pfarrer, Mr. Northcote, der für mich nach -10-

Hause schrieb und betete.

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25.3.1915 Schon am 24.3 ging es mir sehr schlecht. Ich hatte wieder über 41 Grad Fieber. Sie fragten mich, ob sie mir den Arm abschneiden könnten, es stände sehr schlimm. Ich weigerte mich sofort ganz energisch und sagte ihnen, dass ich lieber sterben wollte, als ohne Arm in der Welt herumzulaufen. Morgens gegen halb ein Uhr hatte ich wieder einmal 42 Grad Fieber und musste sofort operiert werden. Nachdem ich den Leuten nochmals erklärt hatte, dass ich meinen Arm behalten wollte, kam ich runter. Das war der schlimmste Tag während meiner Leidenszeit. Sie hatten mich schon aufgegeben und ich glaube, mein Sarg war schon mit Sägespänen gefüllt. Der Pfarrer kam dreimal und betete stundenlang. Allmählich wurde mir die Sache zu bunt und mit ein paar freundlichen Worten beförderte ich ihn hinaus. Die Schwester saß an meinem Bett und hielt meine Hand. Aller Augenblicke kam der Arzt, Auf jeden Fall war es ein lieblicher Zustand. Aber wie gesagt; Unkraut vergeht nicht. Das war mein Geburtstag 26.3.-31.3.1915 Immer dasselbe; Schmerzen und Fieber. Ich bekam alles was ich haben wollte. Das Essen und die Behandlung waren ausgezeichnet. Fast jeden Tag bekam ich Morphium. An Schlaf war nicht zu denken. Ab und zu kamen mich englische Offiziere besuchen. Ich konnte mich nicht beklagen. Die Schwester schrieb für mich nach Hause und leistete mir den ganzen Tag Gesellschaft. 1.4.-20.4.1915 Am ersten April, wahrscheinlich als Aprilscherz, hatte ich eine kleine Operation au der Seite. Eine ganz kleine aber immerhin ziemlich schmerzhafte Sache Am 2.April hatte meine Einsiedelei ein Ende. Ich bekam einen Leidensgefährten und zwar einen Lt. Schierlinger, ein Bayer vom Rgt.16. Gott sei Dank war ich nicht mehr allein. Sie hatten mir einen Streckverband angelegt, d. h. ich hatte einen Galgen über meinem Bett, mein Arm war ganz ausgestreckt und wurde durch ein Gewicht, das über den Galgen lief, in horizontaler Lage fest gestreckt gehalten. Eine liebliche Geschichte, die furchtbar angenehm war. Außerdem hatte ich noch fünf Gummiröhren, Drains, in Schulter und Rücken und zwar drei allergrößten Kalibers in der Schulter und zwei kleinere im Rücken. Ich kam mir vor wie ein großer Ozeandampfer mit fünf Schornsteinen. Am 2.4. ging auch unser netter Arzt weg und wir bekamen einen Lieutenant Bunt, der auch ganz nett war, aber beim Verbinden eine ziemlich kräftige Hand hatte. Da ich alle zwei Stunden verbunden wurde, Tag und Nacht und jedes Mal die Röhren heraus genommen wurden, war das nicht gerade angenehm. Ich hatte immer Schmerzen und immer noch hohes Fieber, an Schlaf war nicht zu denken aber sonst ging es mir gut. Jeden Tag kam der Pfarrer und betete. Am 10.4. bekam ich den ersten Brief von zu Hause, von Suse. Ich habe mich natürlich unbändig darüber gefreut; die erste Nachricht wieder aus der Heimat. Dann am 18.4, bekam ich einen Brief von Mama und von Lotte mit der Nachricht, dass ich das E. K. bekommen hätte. Am 20.4. kamen 49 englische Offiziere ins Hospital, alle von Ypern, Hill 60. Leider kam Schierlinger nach England und ich war wieder allein. Aber nicht für lange. Schon am nächsten Tag wurde zu mir ein schwerverwundeter englischer Leutnant ins Zimmer gelegt. Er hatte ei-12-

nen furchtbaren Beinschuss, ihm musste das Bein abgenommen werden und er kam in ein anderes Zimmer. Er hieß Johnson. Zu mir kam ein kanadischer Major, der auch ein halb dutzend Schüsse hatte aber sehr fidel war, nur ganz entsetzlich schnarchte. Fast jeden Tag kamen Offiziere, die mir allerhand Sachen mitbrachten. Deutsche Bücher erhielt ich von einer Dame, Msr. Thomson, die mir dann auch später einen Schal und Zigaretten schickte. 21.4.1915 Wieder einmal musste ich operiert werden und wieder fragten die Ärzte, ob ich zugäbe, dass sie mir den Arm abnähmen. Der sah auch furchtbar aus und beinahe hätte ich zugesagt, aber dann riet mir die Schwester ab und ich sagte wieder nein. Außer Alldem bekam ich heftige Atmungsbeschwerden und Stiche in der rechten Seite. Ich konnte fast nicht mehr liegen vor Schmerzen. Fünf Morphiumspritzen haben sie mir gegeben an diesem Tag. Doch das Sauzeug wirkt ja nicht mehr, wenn man es jeden Tag zwei Mal bekommt. Es nimmt zwar die Schmerzen etwas weg für ein oder zwei Stunden, doch an Schlaf ist einfach nicht zu denken. Ich war vollkommen kaputt und lebte damals nur noch halb, glaube ich. Da kam mir der Gedanke oder vielmehr die Frage, ob ich es wohl durchhalten würde Ich hatte keine Angst vor dem Sterben, ich dachte nur wie schön es doch wäre, wenn ich wieder nach Hause fahren könnte. Ich musste einfach durchhalten mit aller Energie, die ich noch besaß. Und dann, Unkraut verdirbt nicht! Wir werden det Kind schon schaukeln. 22.4.1915 Große Aufregung im Spital. Bei Ypern ist ein heißer Kampf gewesen. Eine Unmenge Offiziere kamen an. Auf unserem Korridor waren nur 100 Betten belegt. Auch drei deutsche Offiziere waren angekommen. Alle drei sehr schwer verwundet. Es waren ein Lt. Hans Kohlmann, vom Res.I.R.234, mit einem schweren Bauchschuss. Dann Fähnrich Walter Schäfer, auch vom Res.I.R.234, mit einem Lungenschuss und Armschuss. Und schließlich ein Offizier-Stellvertreter Ratzfeld vom Res.I.R.233 mit einem Armschuss. Kohlmann und Schaefer lagen in dem Zimmer unter mir. Der Fähnrich scheint sehr krank zu sein, denn er schreit den ganzen Tag und macht einen ganz jämmerlichen Krach. Schlafen fiel wegen Mangels an Beteiligung aus. Ich habe es ja immer gesagt: der Krieg wäre ganz gut zu ertragen, wenn nicht scharf geschossen würde. Ich bin jetzt mit meinem Bett ans Fenster gerückt und kann auf den Hafen sehen, wenigstens eine Abwechslung. Am liebsten war es mir, wenn mich die Leute ganz in Ruhe ließen, dann konnte man so wunderbar vor sich hinträumen und über so vieles was einem lieb und teuer war nachdenken. An die Heimat und an die Freunde und Kameraden draußen im Graben. 23.4. - 25.4.1915 Wieder hohes Fieber und große Schmerzen. Dazu vollkommene Appetitlosigkeit und ganz apathisch gegen Alles. Am liebsten wollte ich sterben, um an nichts mehr denken zu müssen und um Alles vergessen zu können. Die Nacht vom 24. zum 25.4. war eine der schrecklichsten. Ich hatte heftiges Fieber und fing an zu phantasieren. Ein furchtbarer Sturm peitschte den Regen gegen die Fenster und die Schiffssirenen und Nebelhörner heulten durch die Nacht. Ich lag ganz still da und stierte gegen die Wand. Auf einmal tat sich die Türe auf und ein Mann tritt herein. Eine -13-

Gestalt im Frack, weißem Hemd, hohem Hut und weißen Handschuhen. Sein Gesicht war nur Knochen, die Augen fehlten in ihren Höhlen. Er kam langsam an mein Bett, hob die rechte Hand und berührte meine Stirn und fing an zu sprechen, mit einer Stimme, die klang als ob sie aus weiter Ferne käme. Da schrie ich laut auf und wurde besinnungslos. Als ich erwachte, schien mir die Sonne ins Gesicht und die Schwester saß an meinem Bett und streichelte meinen Kopf. Sie lachte mich an und fragte mich wie ich geschlafen hätte. Ich wollte sprechen aber sie befahl mir ganz ruhig zu sein, denn ich hätte die ganze Nacht ohne Besinnung gelegen. Noch immer hatte ich hohes Fieber und die tollen Schmerzen in der Brust. Ich konnte fast nicht mehr atmen und konnte einfach nicht mehr liegen, da ich sonst richtige Erstickungsanfälle bekam. An meiner rechten Seite und im Rücken hatte ich eine Schwellung bekommen. Vier Uhr, Operation, ein Schnitt, Blutegel, zwei Nadeln, Drain, fertig. Am Abend hatte ich wieder sehr hohes Fieber. Halb 12 Uhr kam der Arzt und fragte mich wieder, ob ich jetzt erlaubte, dass sie mir den Arm abschnitten. Lange habe ich es mir überlegt, denn der Arm sah ganz schrecklich aus und war bis zum Ellenbogen infiziert. Aber dann sagte ich mir, lieber noch einmal versuchen, ob es auch ohne Abschneiden geht, denn was sollte ich später ohne rechten Arm anfangen. Und wenn es halt nicht geht, dass ich den Arm behalte und es ist dann zu spät, dann kann ich es auch nicht ändern und muss es eben mit dem Leben büßen. Ich hatte meine Pflicht getan und was liegt schließlich an mir? Ich sagte wieder nein. Kurz vor 12 Uhr schaffte man mich auf die Schlachtbank, um noch einmal zu versuchen meinen Arm zu retten. 26.4. - 5.5.1915. Erst früh 11 Uhr erwachte ich aus der Narkose und fühlte mich wundervoll wohl. Zum ersten Mal spürte ich keine Schmerzen mehr. Etwas schwach war ich ja, aber was sollte das heißen nach einer dreistündigen Operation. Endlich kam die Besserung und ich hätte jubeln mögen vor lauter Glück. Der Gedanke, Durch! und der Gedanke, dass ich nun doch das geliebte Deutschland wiedersehen würde hielt mich ganz im Bann. Dazu draußen ein wundervolles Wetter. Sonnenschein überall. Mittags brachte mir Pfarrer Northcote einen Brief von Mama. Und jeden Tag ging es mir besser. Ich fühlte, dass ich gesund wurde. Das Fieber ging fast ganz runter und die Schmerzen waren auch fast ganz weg. Ich war vollkommen umgewandelt und freute mich unsinnig über Alles, was schön und gut ist. Da erzählte ich der Schwester vom Krieg und vom schönen Deutschland und von meiner Heimat. Sie freute sich über meine Freude und dass ich über dem Berg war. Da merkte ich auch, wie viel, viel schöner doch das Leben ist, als das "ans Sterben denken". Ich hütete mich, noch einmal so blöd an das Abfahren zu denken. Das Gefühl noch einmal ganz gesund werden zu können, macht das Leben ja doppelt so kostbar. Es war eine schwere Zeit, die ich durchleben musste. Doch wäre ich nicht durchgekommen, wäre es nicht ein schöner und ehrenvoller Tod gewesen? Der Tod für sein Vaterland?

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6.5.1915 Wie Alles im Leben vergänglich ist, so war es auch meine Freude. Da hatte ich nun gejubelt und mich so unbändig über mein Gesundwerden gefreut. Es war zu früh. All die gehobene Stimmung, die ich nun ein paar kurze Tage gehabt hatte, fiel zusammen wie ein Kartenhaus, das man im Wind gebaut hat. Es sollte nicht sein. Die Schmerzen in der Brust fangen an und so heftig, dass ich nicht weiß was ich tun soll. Wieder bekam ich über 40 Grad Fieber. Ich bekam eine große Schwellung an der Seite und am Arm und schon wurde ich wieder operiert. Ein Unglück kommt nie allein. Nachts halb 11 Uhr kam der Befehl. Alle Deutschen in den Spitälern in Frankreich müssen nach England transportiert werden und es ist ganz gleich, ob sie transportfähig sind, oder nicht. Die Hospitäler müssen für Engländer geräumt werden. Auch das noch. Werde ich das nun auch noch durchhalten? Nachdem man mir ungefähr einen halben Morphium eingepumpt hatte, wurde ich auf eine Bahre gelegt und auf den Bahnhof geschafft. Ein langer Zug, voll gepfropft vom Verwundeten, Engländern, Deutschen und Indern, stand schon bereit. Ein Viehwagen war eingerichtet unsere Bahren aufzunehmen und so lagen wir 13 Mann hoch in dem Wagen immer drei übereinander. Ich lag ganz oben über Kohlmann. Die Luft in dem Kasten ohne Fenster war zum Ersticken. Es war nur gut, dass ich noch Zigaretten hatte. Nachdem wir ungefähr eine Stunde gewartet hatten, ging endlich die Fuhre los. Nie in meinem Leben werde ich diese Fahrt nach Le Havre vergessen. Herrgott! Sakrament! Eine regelrechte Höllenfahrt 7.5.1915 Das war eine furchtbare Nacht. Die Luft zum Ersticken, wahnsinnige Schmerzen, hohes Fieber, das Stöhnen der anderen Verwundeten und last not least, die englischen Krankenwärter, die ihre schönen Stinkpfeifen rauchten. An Schlaf war natürlich nicht zu denken, trotz des Morphiums. Man wurde in dem Viehwagen durcheinander geschüttelt und gerüttelt, dass es eine Lust war. Zwei Soldaten waren im Wagen, die Bauchschüsse hatten. Sie wurden nicht verbunden und der Geruch war für uns andere sehr angenehm. Aber schließlich nahm die Nacht auch einmal ein Ende. Am Morgen konnten wir die Tür ein wenig aufmachen und endlich etwas frische Luft schöpfen. Es war ein wundervoller Frühlingsmorgen. Draußen blühte und grünte alles und die Frau Sonne schien ganz warm: es war ein Prachtwetter. Dazu die schöne Landschaft, große schöne Wälder Windmühlen, Bäche und grüne, saftige Wiesen. Wir fuhren an Dörfern vorbei und die Jungens jubelten uns zu (allerdings hätten sie uns mit Steinen zugejubelt, wenn sie gewusst hätten, dass wir „Boches“ waren) .Ohne die wahnsinnigen Schmerzen in der Lunge und im Arm, wäre die Fahrt gar nicht so unangenehm gewesen. Aber so, lieber scheintot im Massengrab und mit Kosaken zusammen, als noch solch eine Fahrt an dem Viehwagen. Wir bekamen Besuch von Offizieren und Schwestern. Unter anderem kam auch ein Offizier, der unserem Regiment ein paar Monate hindurch gegenüber gelegen hatte, und unterhielt sich längere Zeit mit mir. Er war sehr nett und gab mir Zigaretten und. Schokolade. Überhaupt konnte man sich bis jetzt nicht über eine schlechte Behandlung beklagen. Wenigsten -15-

zu mir waren alle bis jetzt sehr nett und freundlich, auch habe ich eigentlich nie ein Unrechtes Wort über die Huns gehört. Natürlich gab es ein paar Ausnahmen, doch im Großen und Ganzen benahmen sich alle sehr ordentlich. Endlich Nachmittag 4 Uhr kamen wir in Le Havre an. Es ging langsam an den Hafenanlagen vorbei. Da hatten wir einen schönen Anblick von einem oder einigen explodierenden Patronenkästen, die gerade von einem Transportdampfer geladen wurden. Wir konnten auch die Hafenbefestigungen sehen. Riesen von Küstengeschützen und dann draußen, den ganzen Hafen sperrende Kreuzer. Vom Zug kamen wir dann gleich aufs Schiff. Als ich auf meiner Bahre weggetragen wurde, schlug mich ein englischer Verwundeter mit seinem Stock auf den Kopf, worauf er von seinen Kameraden sofort verprügelt wurde. Ich kam mit Kohlmann zusammen in eine Kajüte, endlich wieder in ein anständiges weiches Bett. Mein Zustand war nicht gerade der Beste wie man sich denken kann. Hohes Fieber und aufgeschwollen wie ein Hefekloß. Wir bekamen ein ganz leidliches Essen und einen neuen Verband, was nicht sehr angenehm war, denn wir beide stanken wie die Pest. Eine Zigarette half auch darüber hinweg. Ich musste den Dolmetscher machen, da kein Mensch englisch sprach. Die Oberschwester kam alle Augenblicke und ließ sich das Kauderwelsch übersetzen, was mit Verlaub meist ein kolossaler Mist war. Schließlich bekam ich wieder eine Ladung Morphium und schlief wieder einmal ein paar Stunden. Früh 4 Uhr fuhren wir ab nach England. Wir hatten eine wundervolle Überfahrt bei wundervollem Wetter. Gegen 12 Uhr kamen wir in Southhampton an. Ungefähr 2 Stunden lagen wir mit aller möglichem Volk zusammen in der Bahnhofshalle, Endlich, 3 Uhr, kamen wir in einen fabelhaft anständigen Hospitalzug, landeten nach einer kurzen Fahrt in Netley und wurden im Royal Victoria Hospital Netley (Hants) eingeliefert.

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Meine Kriegsgefangenschaft II. Netley – Hants Mai – September 1915

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Wie schon erwähnt, hatten wir eine ruhige Überfahrt gehabt und kamen nachmittags am 8.5.1915 in Netley an. Meine Gefühle waren nicht gerade die besten, als sie mich durch die endlos langen, leeren und unfreundlichen Korridore trugen. Und sie wurden entschieden nicht besser, als ich in das große, helle aber vollkommen kahle Zimmer gelegt wurde. Gott sei Dank blieb ich nicht allein. Lt. Kohlmann und der kleine Fähnrich Schaefer, beide vom Res.I.R.234, leisteten mir Gesellschaft. Hetley ist ein Riesenhospital, das zweitgrößte der Welt, das größte nach dem von Petersburg. Es liegt direkt an dem Meeresarm von Southhampton. Wenn man zu unserem Fenster herausschaute, sah man die Insel Wright und davor, ein Zeichen des Krieges, sechs alte kleine Kreuzer. Alles machte in dem Spital einen überaus netten und guten Eindruck. Die Schwestern, die Ärzte und die Krankenwärter waren freundlich zu uns und kümmerten sich viel um uns. Auch die Wundbehandlung war ohne Tadel und wir konnten nicht klagen. Der liebe gute kleine Fähnrich war allerdings nicht ganz mit seiner Behandlung einverstanden und er schimpfte den ganzen lieben, langen Tag. Der arme Kerl ist auch ziemlich schwer dran und wir glaubten alle nicht, dass er durchkommt. Er ist ein rechtes Muttersöhnchen und mächtig verwöhnt. Bescheidenheit gehört nicht gerade zu seinen Tugenden. Es ist manchmal direkt zum Verzweifeln mit ihm. Sein ganzes trauriges Dasein besteht nur aus Schimpfen und Stöhnen und Brüllen. Kohlmann und ich versuchen ihn einigermaßen zur Vernunft zu bringen, aber leider vollkommen vergebens. Alle Vorhalte, dass er schließlich ein Gefangener ist und sich ein wenig anständiger benehmen soll, nützen einfach nichts. Mit sechzehneinhalb Jahren ist er von zu Hause als Kriegsfreiwilliger fort und eben ein echtes Muttersöhnchen. Im ganzen Spital ist er nur als „Baby“ bekannt. Die lange Reise hatte mich doch sehr angestrengt. Meine Schmerzen in der Brust fingen wieder an unerträglich zu werden. Das Fieber ging wieder auf 40 Grad hoch. Atmen konnte ich kaum noch und ich merkte, dass da etwas drinstecken musste. Am 28.5. wurde ich früh um 11 Uhr geröntgt, da das Fieber immer mehr rauf ging. Und siehe da, schon Saß in meiner rechten Brustseite ein wundervolles, ganz erhaltenes Infanteriegeschoss, das sich nur am Geschossboden aufgerollt hatte. Nachmittags zwei Uhr lag ich auf der Schlachtbank, um mich wieder einmal schneiden zu lassen. Nach drei Stunden wachte ich auf und war um zwei Löcher reicher, denn um gleich ganze Arbeit zu machen, hatte sie mir die Schulter auch mit aufgeschnitten. Der Arzt erzählte mir dann später, dass die Operation eine sehr schwere gewesen sei. Das Geschoß wäre schon in der Lunge verwachsen gewesen. Ich könnte wohl von Glück sagen, dass ich noch lebte. Ha, das hat mir schon jeder gesagt, aber dafür kann ich mir schließlich auch nichts kaufen. Schön waren die Tage nach der Operation nicht gerade, obwohl ich mich eigentlich schon an das Chloroform gewöhnt hatte, reiherte ich doch drei Nächte und. Drei Tage so, dass ich Angst hatte, der Blinddarm oder eins meiner Nierchen würde mit rausrutschen. Angenehmes Gefühl, trotzdem, man muss aushalten und schließlich, man tut es gerne. Meine Wunden heilten ganz gut und das Verbinden war auch längst nicht mehr so furchtbar schlimm, wie es in Boulogne war. Außerdem ist der -18-

Mensch auch ein Gewohnheitstier, er kann sich an Alles gewöhnen. Wenn es so mit der Besserung weitergegangen wäre, hätte ich bald aufstehen können und wäre dann in ein Lager gekommen. Wenn es auch im Spital ganz gut war, im Lager hätte man doch mehr Kameraden gehabt und etwas mehr Zerstreuung. Man glaubt gar nicht, wie liebenswürdig die Leute zu uns waren. Sie ließen uns nicht merken, dass wir ihre Feinde sind, wir waren nur ihre Patienten und wurden gepflegt so wie sie ihre eigenen Leute pflegten. Unser Arzt, ein Mr. Shaw, ist zu uns ausgezeichnet und kümmert sich sehr um uns. Auch unsere Schwester Miss Ball ist ein sehr nettes Mädel und erst die Oberschwester Miss Louis ist die Liebenswürdigkeit selber. Und doch, trotz der guten Behandlung und der guten Pflege, wie schön wäre es wenn man zu Hause wäre, bei Muttern und bei seinen Freunden Denn wenn auch die Freundlichkeit von den Menschen hier echt ist, nimmt man sie doch nicht gerne von unseren Feinden an. Wir werden genau so behandelt und verpflegt wie die englischen Offiziere, die hier in dem Spital sind. Das Essen z. B ist ein ganz vorzügliches: 6 Uhr früh:

Kaffee und Butterbrot

8 Uhr30 Frühstück:

Kaffee oder Tee, Haferschleim, gebackenen Fisch, Rühr- oder Spiegelei, Leber oder Würstchen, Marmelade Butter und Brot

1 Uhr Lunch:

Fleischgang mit Gemüse, Pudding und Obst

4 Uhr Tea:

Tee oder Kaffee, frisches Obst, mit Cream, Marmelade, Eier, Kuchen, Butter und Brot

7 Uhr 30 Diner:

Suppe, Fleischgang (Fischgang), Geflügel mit Gemüse, Kompott, Kuchen, frisches Obst. Dazu Limonade, Sodawasser, Wein oder Bier

Also erstklassiges Essen.

Im Allgemeinen ist das Leben im Hospital überaus langweilig. Jeden Tag tut man dasselbe und jeden Tag spricht man dasselbe. Nämlich über Krieg und über Kriegserlebnisse. Die Tageseinteilung im Spital ist folgende:

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6 Uhr

Aufstehen oder vielmehr wecken und erster Verband

7 Uhr 30

Kommt die Tagschwester, Fiebermessen

8 Uhr 30

Frühstück

10 Uhr 30

Arztbesuch und zweiter Verband

11 Uhr

Postverteilen

1 Uhr

Lunch

3 Uhr

Spaziergang

3 Uhr 30

Dritter Verband

4 Uhr

Kaffeetrinken

6 Uhr

Vierter Verband und meistens zweiter Arztbesuch

7 Uhr 30

Dinner

9 Uhr

Bettgehen

10 Uhr

Fünfter Verband

3 Uhr

Sechster Verband

Diese Einteilung war jeden Tag dieselbe und änderte sich in keiner Weise. Ende Juni konnte ich schon einige Zeit am Tage aufstehen Es war eigentlich immer gutes Wetter und die Sonne brannte schon mächtig heiß vom Himmel herunter. Ich saß den ganzen Nachmittag auf dem Balkon und unterhielt mich mit unseren Leuten oder las ein nettes Buch. Von allen möglichen Truppenteilen und Regimentern waren die Leute zusammengewürfelt und in der Not und im Leid Freunde geworden. Von meinem Regiment waren auch noch ein paar Soldaten da, die aber meistens schon 1914 gefangen genommen waren, bei Pont Rouge. Man fand hier Alles; Sachsen und Bayern, Württemberger und Preußen. Jeder von ihnen hatte etwas zu erzählen und jeder von ihnen erzählte seine Geschichte, aber nicht nur einmal sondern zehn-zwanzig Mal. Man war schließlich in der Lage, jede Geschichte eines Jeden selbst im genauen Wortlaut wieder zu erzählen. Und doch tut diese ewige Langeweile und das Einerlei ganz gut. Die Nerven erholen sich und werden widerstandsfähiger. Und auch die gute Laune kommt wieder, obwohl ich die bis jetzt noch nie verloren hatte. In unserer Stube legten sie auch Mannschaften und da ist es auch bei uns ganz nett geworden. Die Leute sind durchweg sehr anständig und vor Allem zufrieden und bei gutem Humor. Kohlmann und ich dachten nun, dass sich der Fähnrich etwas mehr zusammennehmen würde aber man soll halt nicht denken. Nach wie vor benimmt er sich rauh und unverschämt, aber so eine ganz kleine Änderung merkt man schon. Allmählich trägt der Palmbaum Früchte, endlich blüht die Aloe. Kohlmann und ich schnauzen ihn abwechselnd an, aber meistens mit dem Erfolg, dass er uns wieder anschnauzt. Es versteht halt nicht jeder zu leiden ohne zu Klagen. Ausnahmsweise hatten wir Mitte Juli ganz regelmäßig gutes Wetter und da merkt man erst, wenn man sich dazu noch einigermaßen wohl fühlt, was es heißt gefangen zu sein. Wie man sich da hinaus sehnt in die Freiheit. Stundenlang saß ich auf dem Balkon und sah aufs Meer und übers Meer nach -20-

der Heimat hin. Oft sitzen alle Stundenlang da ohne zu sprechen. Jeder denkt seine Gedanken. Denkt an die Lieben zu Hause, an die Kameraden im Felde und oft rollt vor Heimweh eine Träne aus den Augen. Ja Heimweh, du süßes Heimweh! Hier fühlt man, wie bitter und süß es ist, das Heimweh. Wie wundervoll ist es doch solch eine herrliche Heimat zu haben. Da muss man Heimweh bekommen nach dem herrlichen Vaterland, nach den deutschen Wäldern, Sehn sucht nach der Waffe, es mit zu verteidigen und zu beschützen. Den größten Teil des Tages unterhalte ich mich mit Kohlmann. Wir zanken uns, da dies das Interessanteste ist und wir einfach nicht wissen was anfangen. Er ist Ingenieur und fachsimpelt den ganzen Tag und quatscht von Zahlen. Da nun Zahlen von jeher meine schwache Seite waren, komme ich immer in die Versuchung ihn anzukohlen, was ja nach seinem Namen ganz in der Ordnung ist. Im Allgemeinen vertragen wir uns aber ganz ausgezeichnet, denn er ist ein netter Kerl und ich mag ihn sehr gern. Ich widerspreche ihm immer und da wird er immer ganz wild. Ein kindliches Vergnügen, das nichts kostet und doch eine ganze Menge Spaß macht. Eine wundervolle Eigenschaft besitzt er, die ihn mir noch lieber macht, er raucht nicht und da sind wenigstens meine Zigaretten vor ihm sicher. Denn so im Allgemeinen versorge ich immer die ganze Bude mit Zigaretten. So ist das Leben im Spital ganz nett für mich und ich fühle mich ganz wohl. Herrgott man lebt und das ist doch schon viel. Man verträgt sich mit Freund und Feind und das ist eine ganze Menge. Ich lese fast den ganzen Tag. Wir bekommen englische Zeitungen und da kann man sich wieder einmal so recht von Herzen freuen, wenn unsere Gegner so nett den Hintern voll bekommen haben. Das passiert jetzt Gott sei Dank recht oft. *Es ist ja so wahnsinnig komisch, wenn die Engländer oder ihre ach so herrlichen Bundesgenossen solch schöne, echte deutsche Hiebe bekommen haben und man liest hier mitten im Feindesland den deutschen Soldaten die Zeitung vor. Das Freudengeheul der Leute und die Witze und daneben die langen Gesichter des englischen Personals. Bei dem weiblichen Personal weniger, denn die interessieren sich gar nicht für den Krieg. So z.B. sagte mir einmal eine Schwester, als die Österreicher den Russen eins auf den Hut gegeben hatten und wir uns freuten, wir brauchten uns doch wahrhaftig nicht zu freuen, die Österreicher wären doch ihre Bundesgenossen und unsere Feinde. Höchst fataler Fall! Wir haben hier im Spital eine ganz nette Bücherei mit deutschen, englischen und französischen Büchern. Da ich jeden Tag zwei oder drei Bücher lese, werde ich wohl bald mit den 200 Bänden fertig sein und muss dann zum Schluss noch zur Bibel greifen. Schaefer ist wahrhaftig unverbesserlich. Heute am 1. Juli benahm er sich, nachdem er schon die ganze Nacht Krach gemacht hatte für fünf, wieder so rau der Schwester gegenüber, dass sie zu mir kam und mir ihr Leid klagte. Er bekam seinen üblichen Anpfiff von zwei Seiten und wie gewöhnlich war er trotzdem nicht ruhig. Er ist eben noch ein kleines Kind, und ein Muttersöhnchen. Da kann man einstweilen auch nicht helfen .Man muss mit ihm Geduld haben. Die von ist nur

Post kommt ziemlich regelmäßig. Fast jeden Tag bekomme ich Briefe zu Hause. Auch Briefe von den Angehörigen vermisster Soldaten. Das so traurig und niederdrückend, wenn man sie beantwortet und man doch eine unbefriedigende und meist gar keine Antwort geben kann. -21-

8. Juli 1915 Wie es scheint habe ich wieder einmal zu früh gejubelt. Meine Wunde eitert wieder stärker und heute Morgen beim Verbinden zog der Arzt einen großen Kleiderfetzen aus der Wunde. Das ist auch ganz niedlich nach einer dreimonatigen Behandlung und nach all den Operationen. Aber was tut’s? Man kann es schließlich auch nicht ändern. Das Beste ist, sich nicht weiter darüber aufzuregen. Das Leben ist nun einmal so im Großen und Ganzen ziemlich bescheiden. Da ein Unglück selten allein kommt, kam auch noch unsere Schwester Ball weg und wir bekamen eine neue, Sister Taylor – Dix. Ich habe mich tüchtig geärgert, denn man hatte sich so an die Schwester gewöhnt und dann hasse ich jeden Wechsel. Da soll man sich erst wieder an die neue gewöhnen und wer weiß wie sie zu uns ist Vor lauter Ärger habe ich nicht zu Mittag gegessen und sie wollte das gleich dem Arzt melden. Na, das kann ja gut werden. Große Freunde werden wir kaum werden. So im Allgemeinen und im ganz Besonderen sieht sie aber ganz gut aus. Ein recht niedliches Madonnengesicht, schöne Augen und einen netten Mund. Dazu eine zierliche tadellose Figur und ganz kleine Füßchen. Aber sicher kalt wie alle Engländerinnen. Warum auch nicht? Man ist nun einmal ein armer Kriegsgefangener und muss sich mit einem längerem Mönchsdasein abfinden»Auch sie scheint nicht gerade erbaut zu sein, zu den Barbaren und Hunnen, die ihre Soldaten mit der Reitpeitsche schlagen usw., als Schwester zu kommen. Offen gesagt, ich möchte auch nicht in solch eine Zwitterstellung kommen, denn um sich mit uns einigermaßen gut zu stellen, muss sie schon freundlich sein. Um aber nicht von ihren Landsleuten als "deutschfreundlich" angesehen zu werden, darf sie sich wiederum nicht zu viel vergeben. Gerade leicht haben es die armen Schwestern nicht. Sister Dix entpuppt sich allmählich als ein recht nettes Mädel. Ich scheine mich doch geirrt zu haben als ich meinte, wir würden keine Freunde werden. Wir unterhalten uns manchmal ganz vorzüglich miteinander. Sie ist rasend geschickt und kümmert sich viel um ihre Patienten und tut Alles für sie. Sie verbindet vorzüglich und ist sehr sauber und was das Beste ist, sie scheut keine Arbeit. Trotzdem habe ich eine ziemlich üble Zeit. Bei der früheren Schwester brauchte ich nicht zu essen wenn ich keinen Appetit hatte und Kohlmann, der Vielfraß, und Schäfer, der einen Hundemagen hatte, konnten immer meine Portionen mitessen. Doch jetzt, mag ich wollen oder nicht, bekomme ich aufgeladen und muss einfach essen. Wenn ich nicht will und mich sträube, werde ich einfach gefüttert und nichts hilft, ich muss es eben reinwürgen. Das Komischste dabei ist, dass es mir ausgezeichnet bekommt. Ich fühle mich ganz wohl. Meine Wunden eitern gut und ich kann aufstehen und herumlaufen und mit Kohlmann in den Park laufen ohne Wachen. Wir haben unser Ehrenwort gegeben, dass wir während unseres Aufenthaltes im Park nicht auskneifen. Kohlmann in Zivil und in blauen Filzpantoffeln und Ich im weißen Tennisanzug und in blauen Filzpantoffeln, neueste Kriegsmode. Sieht wundervoll aus. Doch ich habe auch ein schönes Zivil gekauft und zwar: Ein Gedicht von einem Jackett, ein Traum von einer Hose, für den fabelhaften Preis von 28 Schilling zusammen. Dann schwang ich mich zum Ankauf einer höchst eleganten Weste (nicht 0ste) auf. } im Preise von &h 5 Schilling * und zu ein paar Elbkähnen in Gestalt von braunen Halbstiefeln zu dem unverschämten Wucherpreis von 9 Schilling. Als ich mir dann noch einen fabel-22-

haft eleganten Filzhut Marke Schieber für 4 Schilling zulegte, sah ich beinahe aus wie ein vollendeter Kavalier. Na, für England ist das Schlechteste immer noch gut genug. Am 21. Juli war ein großes Fest. Ich hatte auf meinem rechten Zeigefinger eine wunderschöne große aber sehr verschönende Warze. Dieses Ding, mein ganzer Stolz, war der Schwester immer ein Dorn im Auge. So machte sie mir den niederträchtigen Vorschlag, ich sollte mich einer Spezialbehandlung unterziehen und mir dieselbe Warze von ihr wegbrennen lassen. Garantiert schmerzlos, kommt niemals wieder. Lange schwankte ich, denn diese Warze war nun einmal mein Stolz, aber wer kann einem hübschen Mädel etwas abschlagen? Nach langem Zaudern sagte ich zu. Wenn es ihr Spaß mache, könne sie mir die Warze rauben. Schon kam sie an mit einer Riesenbuddel voll rauchender Schwefelsäure, einer großen Papierschere, einem Seidenfaden und einem Streichholz. Zunächst wurde das Ding abgebunden, dann wurde es mit der Schere einfach geköpft und mit dem unschuldigen Streichholz mit Salpetersäure(es war Salpetersäure) angestrichen. Garantiert schmerzlos. Wie ein Affe bin ich gesprungen und im Zimmer herum gehüpft. Ich hatte die Schmerzen und sie lachte sich halbtot Aber man kann dem Mädel einfach nichts übel nehmen, sie ist immer lustig und fidel, hat für jeden ein freundliches Wort und ist eben immer bei gutem Humor. Wir haben sie alle sehr gern. Wir unterhalten uns den ganzen Tag und ich profitiere dabei, denn ich lerne dadurch ganz gut englisch. Beim Zeitungslesen pflaumen wir uns gegenseitig an. Sie freut sich diebisch wenn wir Hiebe bekommen haben und ich lache sie aus, wenn der Gegner, hauptsächlich ihre Landsleute, etwas auf ihre große Klappe bekommen haben. So vergeht die Zeit ganz angenehm und schnell. Jeden Abend. geht man mit dem Bewusstsein ins Bett, dass man wieder einen Tag dem Frieden und dem deutschen Sieg näher gerückt ist. In der Zeitung liest man wie englische, französische oder russische kleine Erfolge zu großen Siegen aufgebauscht werden. Niederlagen werden siegreiche strategische Rückzüge und deutsche Siege oder Misserfolge werden unbedeutende Erfolge und fabelhafte Niederlagen. Bei uns, in unseren Herzen, steht der deutsche Sieg vollkommen eingeschrieben und der Gedanke bleibt in uns und ist und auch nicht durch lügenhafte Reutermeldungen auszulöschen. Wohl niemand in der Welt versteht es so wie die Engländer ihr Volk mit der Zeitung zu täuschen und durch Bluff in dem sicheren Gauben des Gelingens zu führen und zu lassen. Der Russenrückzug ist eine deutsche Niederlage und ein strategischer Sieg. Es war nur eine Falle, um die Hunnen zu vernichten. Eine Tannenbergschlacht hat es in England bzw. in den englischen Zeitungen nie gegeben, Deutschland hat eine Hungersnot, tausende von Menschen sterben täglich wegen Mangels an Nahrungsmitteln, Soldaten gibt es nicht mehr, Österreich ist kaputt und hat den Staatsbankrott erklärt. Ein Erfolg im deutschen Heeresbericht ist immer eine große Lüge und diese Lüge wieder ein gutes Zeichen wie traurig es den Deutschen gehen muss. Das dumme Volk, das meistens nur die großen Überschriften der Zeitung liest, glaubt natürlich all den ganzen Schwindel und malt sich schon jetzt den großen Moment aus, wo Deutschland aufgeteilt wird und der Name „Deutschland“ nicht mehr auf der Landkarte existiert. Die können ja malen und teilen soviel sie Lust haben. Uns kann es ja recht sein.

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23. Juli 1915 Meine Wunden heilen gut. Die Lungenwunde ist beinahe zu ebenso die Schulter. Allerdings wage ich an ein vollkommenes Ausheilen nicht zu denken, denn die Schweinerei kann jeden Moment wieder losgehen und dann ist die Enttäuschung zu groß. Ein Colonel Barker macht heute ein paar Bewegungen mit dem Arm. Herrgott von Frankfurt! Die Engel habe ich im Himmel singen hören und wahrhaftig so schön habe ich sie noch nie singen hören. Donnerwetter, das war Musik. Er meinte mein Arm würde wohl immer steif bleiben, auch eine plastische Operation würde nichts nützen, da der Muskel weggeschossen ist. Ich mache mir ziemlich viele Gedanken darüber, denn ich bin wahrhaftig gern Soldat gewesen, doch das ist ja nun für immer vorbei Einen anderen Beruf ergreifen, das ist schwer. Studieren kann ich nicht, da ich kein Matur habe und wenn ich es könnte, was sollte ich dann studieren? Zu jedem Beruf, der mir Spaß machte, wie Arzt, Ingenieur, Chemiker usw., müsste ich beide Arme haben. Und die anderen Berufe? Steißtrommler, Jurist? Lieber scheintot im Massengrabe und den Kopf zwischen den Beinen. Bleibt mir nur noch übrig Kaufmann oder Privatier. Aber ich will mich jetzt noch nicht darüber aufregen, es wird schon schief gehen. Wir haben ein wahrhaft prächtiges Wetter und gehen fleißig spazieren. Kein Appetit wird täglich besser, ebenso mein Aussehen. Mein Gesicht ist vollkommen braun gebrannt. Kohlmann ist nun ganz geheilt und Schaefer kann auch schon zeitweise auf stehen. Leider wird nun Kohlmann ins Lager kommen und dann bin ich mit Schaefer ganz allein. Ich glaube diese Ehe wird auch nicht gerade eine sehr glücklich. Aber ertragen werden wir auch dies mit unserem angeborenen Heldenmut. Fügen wir uns halt in das Unvermeidliche. Meine Warzenbehandlung geht weiter, ihre Schönheit stirbt dahin, sie schillert in allen Farben und wird zusehends kleiner. Und was das Schönste daran ist, sie eitert. Ohne Eiter geht das nun einmal nicht bei mir. Jetzt fehlt nur noch, dass der Finger zum Teufel geht. Sister Dix ist untröstlich über die unglückliche Warze, freut sich aber diebisch, dass sie schon in ihren Grundmauern wankt. Zum Trost hat sie mir Rotwein verschafft. Wie immer kommt ein Unglück selten oder nie allein. Unsere liebe, wenn auch sehr umfangreiche Oberschwester Louis ist fortgekommen und dafür erhielten wir frei durch Bahn zugesandt einen Drachen. Miss Walker, die neue Oberschwester, ist das fürchterlichste Weib, das mir je im Leben begegnet ist. Xantippe war ein Engel im Vergleich mit ihr. Zu beschreiben brauche ich sie eigentlich nicht. Wohl jeder kennt aus Busch´s „Julchen“ die Tante Amalia. Genau so wie diese schaut sie aus. Über ihren lieblichen Charakter schweigt man lieber. Sie war ein paar Jahre in Deutschland und spricht fließend deutsch. Von früh 8 Uhr bis abends 8 Uhr keift sie in allen" Zimmern und auf dem Korridor herum wie eine Furie. Mit uns spricht sie nur deutsch. Unserer Schwester gegenüber erwähnte sie einmal: „Ich rede mit den "Huns" nicht in meiner Muttersprache, die ist viel zu gut fuer sie. Suffragettengesicht und Suffragettencharakter, Xantippe und Medusa, Hexe und Falschheit, alles in einer Person - eine gute Mischung. Sie ist verhasst bei allen Deutschen und bei allen Schwestern und Doktoren und Krankenwärtern. Ein Wunder ist -24-

es ja nicht, auch ich kann mit dem besten Willen nicht behaupten, dass ich sie liebe. Doch um so netter sind die anderen Leute Wir haben einen glänzenden Krankenwärter, Griffiths,der ein hochanständiger Kerl ist und für ein gutes Trinkgeld alles für einen tut. Auch unsere Nachtschwester, Miss Steel, ist sehr nett. Da wir Gefangene sind, werden wir natürlich auch bewacht und diese Wache ist ein militärisches Wunder. Eine Löffelgarde allerersten Ranges, die sich in jedem Varieté für Geld sehen lassen kann. In der Nacht sitzt der so genannte Wachhabende auf einem schönen Lehnstuhl, einem langen Korbsessel (sitzen kann man das schon nicht mehr nennen, er liegt) das ungeladene Gewehr ein paar Meter entfernt an die Wand gelehnt und schnarcht als ob er es bezahlt bekäme und schläft den Schlaf des Gerechten. Das Ganze nennt sich „Posten vor Gewehr“. Unter dieser Garde ist ein sehr netter Kerl, ein ulkiges Haus, ungefähr 65 Jahre alt. Ab und zu kriegt der eine Zigarre von mir. Wenn ich neue bekommen habe, was der Kunde sofort riecht, kommt er dann am Morgen ins Zimmer und sagt in einem Freundlichen wenn auch rauhen Ton: „Good Morning Captain, well, how are you getting on?“. Dann kommt eine Pause, in der er mich mit seinen kleinen verschmitzten Schweinsäuglein anschaut Und jetzt: "Well, I am sure, you got a cigar for me. Dann kriegt er eine oder zwei und schiebt hochbeglückt ab in ein anderes Zimmer, wo er denselben Trick wiederholt und manchmal hat er schon am Morgen seinen ganzen Rauchvorrat für den ganzen Tag zusammengebettelt und noch welche für seine Kameraden mit. In jedem Zimmer hat er seinen Zigarren-/Captain oder –sergeant. Wenn man ihm 20 Zigarren gibt lässt er einen wahrscheinlich auskneifen und pumpt einem die Uniform und sein Gewehr noch dazu. Eine herrliche Bande, das reine Affentheater. Am 1.August 1915 kam Kohlmann ins Lager nach Holyport. Schade, dass er weg ist, denn er war ein netter Kerl und man konnte sich gut mit ihm unterhalten, wenn er auch oft ziemlich verschrobene Ansichten hatte. Nun bin ich ganz allein mit Schaefer, der sich, dank der guten Erziehung von Sister Dix und auch von uns, ein ganz annehmbarer Kerl geworden ist gerade zur richtigen Zeit. Die Schwester ist froh, dass Kohlmann weg ist denn sie konnte ihn gar nicht leiden, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Schaefer geht es wieder schlechter, er liegt fest im Bett. So muss ich halt meine Spaziergänge allein machen. Aber bald hörten auch die auf, denn wir bekamen ein Schweinewetter, es fing an zu regnen und zu stürmen und außerdem war es ungemütlich kalt, so ein rechtes Schnupfenwetter. 2. August 1915 An Schlaf war heute Nacht gar nicht zu denken. Es stürmte und regnete wie blödsinnig. Auch heute Morgen noch dieses Hundewetter. Der beste Platz ist entschieden das Bett, wenigstens schadet es nichts liegen zu bleiben. Auch tut mein Arm wieder ziemlich weh und ich glaube , ich werde nochmals unter das Messer kommen. Schadet nichts, lieber einmal zu viel als zu wenig. Einmal muss es doch aufhören. Schaefer geht es heute auch wieder sehr schlecht und der arme Kerl wird wohl seinen Arm verlieren. Er muss sofort operiert werden. Um 2 Uhr kam er runter. Diese Operation war mein Verhängnis. Während Schaefer auf dem Operationstisch lag, saß die Schwester auf meinem Bett und operierte mir -25-

die Warze weg. Wir unterhielten uns über alles Mögliche und auf einmal hatten wir uns am Hals und küssten uns. Das kam alles so plötzlich und keiner wusste wie es geschah. Eigentlich war das ja gar kein solch dummer Gedanke etwas zu flirten heute an solch einem trüben Tag ein ganz netter Zeitvertreib. Um 4 Uhr tranken wir Tee zusammen und waren beide gar nicht so unglücklich über diese Wendung. Auf jeden Fall machte ich mir keine großen Gedanken darüber. Es war ein sehr netter Nachmittag und: „I enjoyed my, tea very much", wie ich ihr später sagte. Schaefer kam um halb 5 Uhr zurück und hatte seinen Arm noch dran. Als der arme Kerl aufwachte, war er ganz traurig, er hatte fest damit gerechnet, dass sie ihm den Arm abschnitten und nun wurde das arme Kind so enttäuscht. Es war eine sehr schwere Operation und wir dachten alle, er würde dran glauben müssen. Aber wieder das alte schöne Sprichwort mit der „guten Ware“. Immerhin der arme Kerl hat eine Menge durchmachen müssen und trotzdem hält er durch und ist gerade heute ganz vergnügt und munter und das sogar nach dieser schweren Operation. 3. August 1915 Einen Tag war Schmul so krank, nun raucht er wieder, Gott sei Dank. Schaefer liegt mit einer Riesenpfeife im Bett und smokt wie ein Alter obwohl er sich kaum rühren kann. Eigentlich muss man zu seinem Lob sagen, dass er sich ganz kolossal gebessert hat. Dem armen Kerl haben sie seinen so schönen Arm ganz mächtig zersäbelt. .Dieser Arm ist kein Arm. Aber er hat sich still und zufrieden in sein Schicksal gefunden. Vor allem hat er wenigstens seinen Appetit nicht verloren, denn das wäre schrecklich gewesen. Ich flirte ziemlich heftig mit der kleinen Schwester und das ist eine ganz nette Abwechslung in dem ewigen Einerlei des Spitallebens. Es ist ja so ein furchtbar komisches Gefühl, nach solch einer langen Zeit wieder ein nettes Mädel im Arm zu haben. Das letzte Mal war es zu Hause, Weihnachten 1914, denn im Felde die französischen Mädels haben mich verflucht kalt gelassen. Und nun das kleine englische Girl. Ja nun! Warum auch nicht? Eigentlich ist es doch ziemlich komisch. Sie ein englisches Mandel aus guter Familie und ich deutscher Offizier und dazu noch Kriegsgefangener. Doch was tut´s? Dieser kleine Flirt hatte auch noch andere gute Seiten für mich. Mir wurde die Zeit nicht lang und dann bekomme ich alles was ich haben will. Außerdem habe ich dadurch eine blendende Pflege. Auch den Leuten kann ich durch sie manches verschaffen. Sie haben sie alle sehr gern. Man merkt nicht, dass man gefangen ist. Selbst zu Hause könnte man nicht besser gepflegt werden. Nur wenn die Oberschwester kommt, die natürlich schon längst mit ihrem Zinken etwas gemerkt hat, kommt einem ein recht düsteres Gefühl, denn in der Tat ihr Gesicht wirkt bei uns wie das der Medusa. Trotzdem geht unser Flirt lustig und zufrieden weiter. Wenn ich aufgestanden bin, sitzen wir irgendwo, wo uns niemand überraschen kann, z.B. im Badezimmer, und rauchen und quatschen den Spitalsquatsch. Währendem steht unser tapferer Ordeley Schmiere und benachrichtigt uns, wenn eine Gefahr droht, d.h. wenn die liebliche Oberschwester kommt. So habe ich eigentlich eine ganz nette Zeit als Gefangener und nicht zu klagen. Auch Post von zu Hause bekomme ich ganz regelmäßig. Einmal bekam ich eine ganze Wagenladung von Boulogne nachgeschickt und zwar 9 Pakete und 6 Briefe von zu Hause. Nur meine Schulter tut wieder mächtig weh und ich glaube sicher ich muss noch einmal operiert werden. Hoechst fatal bemerkte Schlich. Aber man -26-

muss das eben aushalten und darf einfach nicht verzweifeln. Man muss sich immer wieder sagen: „Du bist nicht der Einzige, der das durchmachen muss. Denke an die Tausende und Abertausende, die noch viel schlimmer dran sind als du. An die Kameraden im Felde und an die Lieben daheim. Sie alle haben ihr Päckchen zu tragen und oft dazu noch ein sehr schweres Päckchen. Und sie alle tragen es gern - und so tragen auch wir unser Los, wenn es auch schwer ist. Wir leiden ja für unser Vaterland und wir leiden gerne in dem Bewusstsein alle unsere Pflicht getan zu haben draußen vor dem Feinde. Wer es nicht selbst gesehen hat, der glaubt es nicht, wie unsere Feldgrauen ihr Los freudig und mutig tragen. Meist sind es arme Krüppel, manche blind, die anderen stumm, wieder andere ohne Arme, ohne Beine, viele mit 15 oder 20 Wunden. Doch welch eine Kraft welch ein Mut und Humor steckt in den Leuten. Niemand lässt da den Kopf hängen, niemand murrt über sein trauriges Geschick. Alle sind doch ehrenvoll in Gefangenschaft geraten und tragen ehrenvolle Wunden, für das Vaterland freudig empfangen. Nein man muss an unser ganzes Volk glauben wenn man diese Krüppel sieht. Wo solche Leute mit einer solchen Begeisterung für unsere gute Sache kämpfen, da muss der Sieg sein! Wo solche Leute ein Vaterland verteidigen, da ist keine Gefahr. Fest und treu zu jeder Zeit, das ist ihre Parole. 28. August 1915 Unsere Schwester hat heute ihren freien Tag und wir armen Menschen sind nun unter der Fuchtel von Miss Walker. Aus Angst, die alte Schraube könnte mich verbinden, bin ich schon um 8 Uhr aufgestanden, sitze jetzt auf dem Balkon und schreibe Unsinn in mein Tagebuch. Es ist ein wundervoller Tag voller Sonnenschein. Ein tiefblauer Himmel über mir und eine tief-blaue See vor mir. »Ich bin ganz melancholisch. Ich denke an mein liebes Vaterland und habe solch eine Sehnsucht nach drüben. Trübe Gedanken kommen und ich frage mich, ob ich wohl die Lieben zu Haus noch einmal wieder sehen werde? 0der ob es mir bestimmt ist, hier in dem Lande zu bleiben drei Klaftern unter der Erde? Das ist das Furchtbare hier, diese ewige Ungewissheit. Wer kann im Schicksalsbuche lesen? Wer weiß, was alles noch auf uns wartet? Morgen habe ich nun schon wieder eine Operation und eine sehr schwere. Der Arzt sagte mir sie sei notwendig aber sehr, sehr schwer. Ich kann es doch nicht übers Herz bringen nach Haus zu schreiben wie schwer sie ist. Warum soll ich die guten Leute zu Hause noch mit meinen Sachen quälen? Sie haben schon genug Sorgen und wenn ich durchkomme, dann ist es gut und wenn nicht, dann erfahren sie es auch noch zurzeit .Wenn es auch morgen auf Leben und Tod geht: Angst habe ich nicht davor. Wenn ich sterben sollte so jung, dann tue ich es wenigstens in dem Bewusst sein, dass ich zu etwas nütze war in meinem kurzen Leben. Nur der eine Gedanke ist furchtbar. Wenn ich daran denke, was die lieben Eltern wohl fier Kummer hätten, wenn sie die Nachricht von meinem Ende erführen. Doch wozu die trüben Gedanken, wenn das Schicksal es will - wer kann es ändern? In meiner Stimmung fühle ich auch wie furchtbar es doch ist, so eingepfercht zu sein mitten unter Feinden, als Gefangener. Dass man sich Wohltaten erweisen lassen muss von ihnen, um nicht zu Grunde zu gehen. Es ist wahr, sie alle sind freundlich zu uns, um uns das traurige Leben leichter zu machen und uns die Schmerz en zu lindern. Trotzdem, es sind unsere Feinde. Und die Schwester? Auch sie ist unserer Nation Feind, -27-

wenn auch nicht dem Einzelnen. Sie pflegt mich wie einen ihrer Leute und behandelt mich so. Oft habe ich sie gefragt warum sie so gut zu uns wäre. Immer sagte sie mir: „Weil ich will, dass du es genau so gut hast, wie ich möchte, dass mein Bruder es hätte wenn er verwundet in Deutschland wäre. Ich habe dich gern und könnte nicht schlecht zu dir sein.“ So ist sie zu allen. Sie pflegt nur den Kranken und schaltet das Gefühl Feindin zu uns zu sein aus. Deshalb wird sie auch von der Medusa gehasst: „like nothing on earth“. Ich glaube kaum, dass wir sie sehr lange behalten werden. Sie ist viel zu gut zu uns und das wird nicht gern gesehen. Nun komme ich als morgen schon wieder auf die Schlachtbank. Meine Freundin, Miss Walker hat mir schon eine tüchtige Portion Rizinus gegeben. Da ich ihr ausgesprochener Liebling bin, natürlich ohne Cognac. Die Operationen wären gar nicht so übel, wenn nicht immer die blöden Vorbereitungen wären. Am Abend vorher Rizinus und dann am Morgen noch einen Einlauf. Gerade angenehm ist das alles nicht. Auf jeden Fall kenne ich bedeutend bessere Sachen im Leben. Aber schließlich muss es ja sein. Hoffentlich halte ich es aus. Es ist immer wieder ein ziemliches Risiko, sich nach den großen Erfolgen in Russland einer Operation zu unterziehen. Doch trotzdem - den Gefallen tue ich den Engländern nun doch nicht, dass ich mich unterkriegen lasse. Unkraut verdirbt nicht. 29. August 1915 Heute Morgen brachte mir die Schwester einen großen Strauß Rosen. Auch sie war sehr niedergeschlagen,, dass ich nun schon wieder unter das Messer kommen sollte. Sie sagte mir auch, dass es keine leichte Operation werden würde. Doch ich bin guten Mutes und voller Vertrauen in meine gute Natur. 2. September 1915 Die Operation ist zwar insofern gut verlaufen, dass ich noch lebe, aber sonst war ich schwer krank danach. Meine Temperatur war in den letzten Tagen immer über 40 Grad und oft auch 42 Grad. Ich war meistens ohne Besinnung und bin wahnsinnig schwach. Sie haben mir die Schulter vollkommen aufgeschnitten, so dass der Arm nur noch am Muskel hängt. Der Arzt sagte mir, sie müssten wahrscheinlich den Arm abnehmen, da auch der Oberarmknochen infiziert sei. Die Wunde sieht furchtbar aus und stinkt dazu noch wie die Pest. Ich brauche täglich eine ganze Flasche Eau de Cologne, sonst könnte ich es vor Gestank gar nicht aushalten. Die kleine Schwester hat mich „sweet little Limburger“ getauft. Sie war ganz hervorragend mit mir. Nicht einen Moment ist sie von meinem Bett gewichen und hat mich gepflegt wie ihren eigenen Bruder. Selbst nachts kam sie und schaute nach mir, obwohl sie das gar nicht durfte. Gestern oder vorgestern war der Pfarrer da, ein Zeichen, dass sie mich schon aufgegeben hatten. Dieser Mensch in all seiner Scheinheiligkeit regte mich auf. dass- ich ihn einfach gebeten habe, mich in Ruhe zu lassen. Am 1. September war es am allerschlimmsten. Jede Stunde kam der Arzt und schaute nach mir. Jeder glaubte, es müsse Schluss werden. Ich fühlte mich auch sterbensmatt. Die Schwester ist unermüdlich. Immer ist sie um mich und weicht nie. Sie schafft mir Erleichterung wenn sie irgendwie kann. Ich hatte wahnsinnige Schmerzen und bekam andauernd Morphium. Zuerst weigerte ich mich, das Zeug zu nehmen, aber ich konnte die unsinnigen Schmerzen nicht mehr aushalten. Schreien — lieber beiße ich mir ein paar Zähne -28-

aus. Alle zwei Stunden wurde ich frisch verbunden, Tag und Nacht. So hatte ich nie meine Ruhe. Die gute Schwester ist ganz verstört, mich so leiden zu sehen. Sie hat eine fabelhafte Willenskraft und solch ein gutes Herz auch dem Feinde gegenüber. Heute sagte sie dem Doktor, er solle mich doch nach Deutschland zurückschicken, ich würde doch nicht wieder felddienstfähig werden. Der Arzt Mr. Shaw fragte mich, ob ich wohl gern nach Deutschland gehen würde. Ich sagte ihm natürlich laut und deutlich ja. Er versprach mir, mich auf die Austauschliste zu setzen. Zufällig hörte ich dann, wie er zur Schwester sagte, dass wohl wenig Hoffnung für mich bestände, je wieder nach der Heimat zu kommen. Also auf gut Deutsch, ich werde wohl dran glauben müssen. Doch ich muss durchkommen, ich darf nicht abbauen. Ich fragte die Schwester wie es nun stände mit mir. Zuerst machte sie Ausflüchte, dann sagte sie mir, als ich sie bat mir doch die Wahrheit zu sagen: „Ich darf es nicht sagen“ Da wusste ich es. Bald kam sie zurück und bat mich nicht zu erschrecken: „Morgen musst Du noch einmal operiert werden und dann wird alles wieder gut. Sie müssen es tun, sonst können sie Dich nicht retten“. Noch einmal - wie lange soll nur diese Schinderei noch fortdauern? Ich fühle mich so matt. Ich wollte ich könnte endlich Ruhe und Frieden haben. Bald kann ich es nicht mehr aushalten. 4. September 1915 Gestern hatte ich nun wieder eine Operation, Nummer 8. Früh 10 Uhr kam ich runter. Ich bekam nur ganz wenig Chloroform. Mitten in der schönsten Schneiderei wachte ich auf und wie das tat, kann sich wohl jeder selbst ausmalen. Bald war ich fertig. Da grinste ich ganz frech die Doktoren an und sagte „Good morning Sir“. Darauf hin allgemeines Gelächter. Dann luden sie mich auf den Karren und karrten mich wieder hoch. Oben wurde ich dann fertig verbunden. Das war bis auf das einmalige Erwachen eine ganz nette Operation und was die Hauptsache ist, ich fühle mich bedeutend besser. Schäfer wurde ebenfalls gestern nach mir drangenommen eine ganz kleine Operation. Auch ihm geht es ganz 4. September - 6. September 1915 Gestern ging leider unser Arzt, Mr. Shaw, weg, der sich so viel um uns gekümmert hat und der immer so nett zu uns war. Als er mir Adieu sagte, sagte er mir, als ich mich für seine Bemühungen bedankte: „Das war meine Pflicht und da ist kein Dank nötig. Ihr Leben haben Sie nicht mir sondern der vorzüglichen Pflege von Miss Dix zu verdanken. Auch die Schwester ist traurig, dass er weg ist. Unser neuer Arzt ist ein Captain Tweed, auch ein ganz netter Kerl, der sich nur nicht viel um die Wunden kümmert und der alles Übel im Magen sucht. Wahrscheinlich ist er Magenspezialist. Meine Wunden werden jetzt mit Jodtinktur behandelt. Das ist ein wundervolles Gefühl. Alle Engel hört man im Himmel singen. Aber gut scheint das Zeug doch zu sein. 6. September 1915 Die Oberschwester wird immer schlimmer. Sie hat unsere Schwester zur Rede gestellt. Wie sie dazu käme immer bei mir zu sein und mir Blumen zu bringen. Da das Schwesterlein auch nicht gerade auf den Mund gefallen ist und ihn auch gehörig aufgemacht hat, wird wohl die Sache ein schlimmes Ende nehmen. Wir haben schon wieder einen neuen Arzt bekommen. Wie er heißt, weiß ich nicht und nett ist er auch nicht. Es ist widerlich, jeden Tag einen neuen Arzt zu bekommen, -29-

Heute habe ich mich zum ersten Male mit der Schwester gezankt. Ich hatte große Schmerzen und sie fing an, mich zu ärgern. Ich schnappte mit einem hörbaren Ruck ein. Als sie dann abends wegging, sagte sie mir nicht gute Nacht, na ich konnte es auch nicht ändern. Doch schon nach 10 Minuten kam sie zurück, bat mich um Verzeihung. Sie ist doch ein gutes Mädel. 7. September 1915. Das war ein trauriger Tag heute. Unsere Schwester ist weg, einfach fortgejagt. Sie war zu gut zu uns. Was nun? Ich hatte mich so an das Mandel gewöhnt und nun ist sie fort. Sie ist einstweilen zu den Tommies als Nachtschwester kommandiert worden. 12 Uhr sollte sie gehen auf Befehl der Oberschwester, sie sagte aber diesem widerlichen Frauenzimmer einfach: „Ich bleibe bis 2 Uhr“. Wie dieses Weib, die Oberschwester, gekeift hat, ist nicht zu Beschreiben. Der Endeffekt war, dass unsere Schwester ohne jegliche Erlaubnis bis 5 Uhr blieb und noch Tee mit mir trank. Um 8 Uhr kam sie wieder und sagte mir gute Nacht. Um 12 Uhr huschte sie schnell noch einmal herein und gab mir einen Brief. 8. September – 15. September 1915 Jeden Tag schickte sie mir durch eine andere Schwester einen Brief und Blumen. Jede Nacht und jeden Morgen huschte sie einmal rein zu uns und schaute nach, wie es uns ging. Man erkennt sie kaum wieder, so schlecht sieht sie aus. Sie scheint große Schwierigkeiten zu haben wegen all der Sachen. Sie sagt selbst, dass sie bald ganz weggeschickt würde, wegen der Oberschwester. Hauptsächlich, da dieses Vieh auch noch Lunte gerochen hatte, dass sie ab und zu nachts zu uns käme. Da hatte sie den Posten beauftragt, es ihr immer zu melden. Aber ein paar Zigarren machten diesen Befehl. zunichte. Trotzdem kann sie nicht mehr kommen. Sie wird zur Erholung auf die Isle of Wight geschickt, um dann ganz fort zugehen oder gegangen zu werden. So sehe ich sie vielleicht nie wieder, da auch ich von Netley wegkomme. Heute morgen erfuhren wir, dass alle Deutschen in ein Konzentrations-Hospital kommen sollen, das in der Nähe von London liegt. So wird der kurze Traum einer freundlichen Zeit vergehen. Am 8. September sah ich unsere Schwester zum letzten Mal. Sie kam nachts ganz schnell und sagte mir Good bye. Am nächsten Morgen bekam ich einen Brief von ihr und zum Andenken eine silberne Kette. Sie schrieb mir, dass sie am Mittag nach der Isle of Wight ginge. Also Schluss mit dieser Episode! Am 15. September reisten alle wir Deutschen von Netley ab nach dem neuen Spital. Netley wurde frei gemacht für die Verwundeten von den Dardanellen. Trotzdem ich das niederdrückende Gefühl hatte, Gefangener zu sein, gab es doch einige Stunden, wo ich vergessen konnte, dass ich nicht frei war. In Netley hat es jeder von uns gut gehabt und ich kann eigentlich im Großen und Ganzen nur Gutes über die Behandlung. und das Hospital sagen. Ganz, ganz anders wurde es dann allerdings im L O W E R S A U T H E R N H O S P I T A L D A R T F O R T ( K e n t ) und später im D A R T F O R D

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W A R - H O S P I T A L ,

dem so genannten H u n n e n - P a r a d i e s . -30-

III. Mein Kriegstagebuch Lower Sauthern Hospital Dartfort (Kent) Dartfort – War – Hospital September 1915 – Juli 1916

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Nach einer kurzen Bahnfahrt kamen wir, Schäfer und ich, in dem neuen Spital an. Dartfort liegt dicht an der Themse und ist ein klei~ nes Nest, bewohnt von Arbeitern, die auf den Tibury Docks ihre Arbeit finden. Das Hospital liegt eine gute halbe Stunde entfernt von dem Städtchen auf einer kleinen Anhöhe. Wir waren die ersten, die das BarackenSpital einweihen durften. Allerdings hätte ich diese Ehre gern einem anderen überlassen, denn ein Vergnügen konnte selbst der größte Optimist es nicht nennen. Schäfer und ich kamen im die Offiziers-Baracke. Wo man hinsah Stacheldraht. Selbst an den Fenstern. Man hatte anscheinend doch eine mächtige Angst, dass so ein „Hun“ ausreißen könnte. Und überall Posten. Na, das konnte gut werden. Eine nette Schwester, etwas jüdisch aussehend, fragte uns, ob wir etwas zu essen haben wollten, was wir natürlich mit lebhaftem Grunzen bejahten. Zunächst aber bat ich um einen neuen Verband. Doch leider war in dem ganzen Dings nicht ein Fetzen Verbandstoff aufzutreiben. Da wurde halt einfach der alte etwas nass gemacht und wieder drauf getan. Dann kam das „Souper“: Jeder ein Zahnputzbecher voll mit einer so genannten Fleischbrühe und ein Stückchen trockenes Brot. Das waren ja feine Aussichten. Mit Humor fügten wir uns in unser Geschick und versuchten halt den Hunger mit Schlafen zu vertreiben. Da waren aber wieder die Schmerzen und das Fieber von der Bahnfahrt und so war auch an Schlaf nicht zu denken. Die Nachtschwester kam, ein wunderschönes Mädchen, das sie wahrscheinlich auch nur zur Nachtschwester gebrauchen konnten, denn am Tage wären selbst die ganz schwer Kranken aufgestanden und heulend vor ihr geflohen. Es waren einfach herrliche Aussichten und wir beide fluchten auf den Betrieb um die Wette. Doch was sollten wir armen Teufel machen? Da gab es eben eine schlaflose Nacht mit der Hoffnung, dass es an anderen Morgen besser gehen möge. Leider aber brachte auch der keine Besserung und wie wir Krach beim Oberst machten, da sagte uns der Flegel, wir seien auch nicht in einem der besten Hotels. Schäfer gab schlagfertig zur Antwort, das wüssten wir, aber wir wären in einem Spital und da müsste es noch besser sein, wie in einem erstklassigen Hotel. Auf jeden Fall wir bekamen wenigstens einen ordentlichen Verband und etwas zu essen. Ein Fortschritt. Am Nachmittag kam ein neuer Herr an, Dr. Merdas aus Garua in Kamerun. Na, der hat auch schön geschimpft auf das Drecknest von einem Spital Er war noch nicht eine Stunde da, da war auch schon der Krach da. Verbandszeug gab es immer noch nicht .Die Leute dachten wahrscheinlich der Verband genügte jetzt für weitere acht Tage. Wir wandten uns wieder an den Oberst mit der Frage, ob wir nicht einen Vertreter der amerikanischen Gesandtschaft sprechen könnten. Das half. Mit einem Male war alles da: Verbandstoffe, Instrumente und ein leidliches Essen. Nun kam eine ruhige nette Zeit. Wir bekamen eine nette Schwester, die "Kollegenmaus", so genannt weil ihr Vater auch Arzt war. Den Namen gab ihr unser Stabsarzt Dr. Merdas. Das war ein ganz nettes Mädel, die gemeinschaftlich mit uns auf den Saubetrieb im Spital schimpfte. Das Essen war immer noch nicht gut und man hatte immer Hunger. Gutes Wetter und schlechtes Essen, das war unsere Parole •Meine Lungenwunde war zugeheilt und ich stand schon wieder zeitweise auf. Bald jedoch bekam ich wieder Fieber und Schmerzen und am 27. September wurde ich schon wieder einmal operiert und weihte somit auch den schönen neuen aber sehr schmutzigen Operationssaal ein. Ein zweifelhaftes Vergnügen, das ich gern anderen Leuten überlassen hätte. Unser Arzt, Mr. Jobson, schnitt mir einen Abs-32-

zess am Oberarm auf. Verlauf wie immer gut und die üblichen Folgen: Schmerzen und Fieber. Von jetzt an bekam ich eine Zeit lang nur noch alte Hühner zu essen. Immer dasselbe, mal Huhns Großvater und einmal Huhns Großmutter. Die Operation war am 27.9.1915. Vom 27.9. – 24.10.1915 In der Zeit kam Herr Hauptmann Wolffson nach Dartford. Das Essen war schlecht und immer noch Huhn und Huhn, Fisch, Fisch, Fisch. Eintönig und langweilig. Aussicht hatten wir gar keine. Sie bauten uns noch um das ganze Lager einen hohen Wellblechzaun. Davor fünf Meter Stacheldraht und dahinter noch einmal fünf Meter. So sahen wir immer nur die rote Wand und über uns ein kleines Stück Himmel. Die Leute wollten sicher mit Macht erreichen, dass wir verrückt werden. So ins Gesicht hinein waren sie ja sehr freundlich aber uns Unannehmlichkeiten zu verschaffen, darin waren sie groß. Na, überhaupt die Herren Engländer. Hut ab vor diesen Heuchlern. 24.10.1915 Um doch noch etwas aushalten zu müssen, habe ich zur Abwechslung wieder eine Operation. Wieder am Arm und wieder gut verlaufen. Was man so gut nennt. Doch eine verfluchte Schweinerei, dass meine Geschichte nicht gut werden will. Das Essen ist immer noch nicht besonders. Und die Behandlung und die Sauberkeit spotten jeder Beschreibung. Ich glaube das Wort „sauber“ gibt es gar nicht in der englischen Sprache (Gummihandschuhe der Ärzte sind nur dazu da, um sich selbst nicht zu infizieren. Die werden deswegen auch nie ausgekocht, sondern immer schmutzig angezogen und damit alle verfügbaren Wunden angefasst. Unser Arzt war ein sehr freundlicher Herr mit sehr feinen Manieren. Mit einer wahren Wollust wühlte er in allen Wunden herum. Eine aseptische Behandlung kannte man anscheinend drüben in dem so genannten zivilisierten Lande noch nicht. Er ging mit den Gummihandschuhen von einem Patienten zum anderen und verband die Wunden, die ja alle durchaus infiziert waren, ohne sich auch nur ein einziges Mal die Finger au waschen. Da steckte er seine schmutzigen Finger erst in die Lungenwunde des einen, dann ging er schnell zum Anderen und bohrte mit denselben Handschuhen in dessen Bauch herum. Ebenso gab es, wie schon erwähnt, kein Auskochen der Instrumente. Ich habe einmal beobachtet, dass er mit ein und demselben Messer drei Leute schnitt ohne es auch nur abzuwischen. So waren die medizinischen Verhältnisse am Anfang. Wie unsere Wunden aussahen, das kann sich wohl jeder ungefähr ausmalen. Es starben Mannschaften mit denen ich schon monatelang in Netley zusammen gewesen war und denen es dort ganz gut ging. Alle unsere Leute magerten ab, weil das Essen dermaßen zubereitet war, dass sie es einfach nicht genießen konnten. Sie sahen alle mit Hilfe der menschenfreundlichen Engländer ganz erbärmlich aus. Wir hatten eine stattliche Anzahl von Posten, die uns bewachten. Das war eine Löffelgarde allerersten Ranges, die sich sicherlich in einem Variete eine Menge Geld hätte verdienen können. Bei dem aufreibenden Postendienst konnte man es ja auch den armen Menschen nicht verdenken, wenn sie einfach als Posten vor Gewehr einschliefen und zwar so fest, dass der nächste Posten immer die größte Mühe hatte, den so angestrengten Kameraden zu wecken, um ihm zu sagen, dass sein Dienst nun zu Ende sei und er schlafen gehen könnte, Und das war nicht nur in der Nacht so, nein, auch am Tag. Wir haben einmal beobachtet, an einem Sonntagnachmittag mit 26 Grad im Schatten, dass alle Posten einfach wie vom Erdboden ver-33-

schwunden waren. Als wir näher hinsahen, erblickten wir folgendes schöne militärische Bild: Vor unserer Baracke war eine Postenkanzel mit einem kleinen Verschlag für den Regenfall. Ein Posten hatte sein Gewehr an einen Pfosten gelehnt, sich daneben in den Verschlag gesetzt und schlief den Schlaf des Gerechten. Ein anderer vor unserem Heim lag im Gras, das Gewehr lag ein paar Schritte daneben. Der dritte saß auf den Steinen und schnarchte als ob er es bezahlt bekäme. Als der Wachoffizier kam, schliefen sie ruhig weiter und ließen sich gar nicht stören. Allerdings wurden sie unsanft auf geweckt, doch als der Offizier wieder weg war, lagen sie auch schon wieder alle da und schnarchten. Die Tommies waren aber auch wirklich zu bedauern. Es waren ja nur etwas über 100 Mann Bewachung für 80 "Huns" (von denen kaum ein Drittel laufen konnte). Da musste nun jeder der armen Kerls täglich zwei Stunden Wache schieben und auch noch zwei in der Nacht. Das ist doch schon für einen normalen Menschen zuviel und nun noch erst für diese Jammerlappen von Menschen. Einfach eine übermenschliche Leistung. Wie die Leute uns beurteilten geht aus folgendem netten Vorfall hervor: Der Operationsraum lag drüben bei den Mannschaften. Ebenfalls das Röntgenkabinett. Da sollte einem von uns Offizieren, Leutnant Schneider, ein Bein abgenommen werden. Der arme Teufel konnte sich gar nicht mehr rühren, und war nicht bei Bewusstsein, da er gegen 42 Grad Fieber hatte. Morgens um 11 Uhr kam er rüber. Vor seiner Trage ging ein Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr, neben ihm einer mit aufgepflanztem Seitengewehr, hinter ihm noch einer und das Ganze wurde geführt von einem Unteroffizier, bewaffnet mit einer Riesenpistole. Wie wir uns da gefreut haben, das kann man gar nicht beschreiben. Sie nahmen halt an, dass ein Hunne selbst mit 42 Grad Fieber und mit nur einem Bein auskneifen könnte. Als der Herr wieder aus dem Operationssaal kam und noch tief in der Narkose lag, hatte er dieselbe Bewachung. 24.1O.-3.11.1915 In dieser Zeit bekamen wir eine Anzahl neuer Gefangener. Auch neue Offiziere kamen zu uns. Ein Hauptmann Burger, ein Badenser Artillerist, Leutnant Cyriaci aus Thüringen, Leutnant Cmenteck, ein Preuße. Alles waren nette Leute, mit denen wir uns gut verstanden. Nur Herr Hauptmann Wolffson passte gar nicht in unseren Kreis. Er war Hamburger Rechtsanwalt, jüdischer Abstammung, der es ausgezeichnet verstand, sich bei den Engländern beliebt zu machen und dadurch Vorteile hatte, die uns nicht zuteil wurden. Er wurde auch von und allen links liegen gelassen und auf gut Deutsch geschnitten. Aber wir anderen waren uns einig. Wir schimpften auf den Saubetrieb auf Teufel komm raus. Es war aber auch gerade in dieser Zeit ein Betrieb eingerissen, der jeder Beschreibung spottete. Im November bekamen wir auf einmal eine große Kälte. Kohlen lagen wohl draußen vor dem Tor aber da die Leute in ihrer Menschenfreundlichkeit wohl dachten, es wäre besser für uns Hunnen, wenn wir frören, so bekamen wir sie nicht. Immer hatten sie eine andere Ausrede. Einmal sagten sie, es wären gar keine Kohlen da, das andere Mal, als wir sie darauf aufmerksam machten» dass sie, wenn sie lügen wollten, es doch etwas besser anfangen sollten, da ja die Kohlen dalägen, meinten sie, sie hätten keine Leute, die sie reinschaffen könnten. Da erboten wir uns selbst die Dinger au holen. Aber das konnte unmöglich erlaubt werden. Auf jeden Fall wir bekamen keine Kohlen und mussten wohl oder übel frieren. Wir hatten acht lange Tage und Nächte in unserem Zimmer eine Temperatur von 3 Grad Celsius. Das war. auch das Richtigste für uns, denn wir hatten ja -34-

fast alle Lungenschüsse. Im Badezimmer gefror das Wasser. Endlich nach acht Tagen, als es wieder anfing warm zu werden, zeigten sie Einsicht und gaben uns Kohlen. Die Baracken waren so gebaut, dass durch jede Planke der Wind pfeifen konnte. Bei Sturm konnte man nicht ein Streichholz offen anbrennen ohne dass es auslöschte. Es war mit einem Wort gesagt die Höhe der Gemeinheit und wir haben geschimpft und geflucht was das Zeug hielt, auch wenn es nichts nutzte, doch es erleichterte. Die Herren Engländer bekamen doch einigermaßen Respekt, da wir auch nicht unseren Mund hielten, wenn einer unserer Freunde im Zimmer war. Im Gegenteil, wenn einer zu uns kam, fingen wir erst recht an und fluchten solange bis das Ekel sich wieder verzogen hatte. Auch das Essen war schlecht und immer kalt. *Spazieren gehen war ausgeschlossen. Nach Ansicht der Herren Ärzte brauchten wir das ja auch nicht. Wir hatten einen Raum zur Verfügung, der ungefähr 30 Meter lang und 15 Meter breit war. Doch gehen konnte man da nicht, denn dieser Platz war durch und durch von Karnickellöchern zerwühlt, in die man dauernd trat. Ab und zu fiel man auch hin. Auf jeden Fall musste einer zum Spaziergang tüchtig zu Fuß sein und nicht so wie wir, die wir ganz unsicher gehen konnten. Mit den Mannschaften durften wir nicht sprechen. Das war auch so rührend naiv von dieser Bande. Sie fürchteten sich regelrecht davor, dass wir die Mannschaften zu einer kleinen Extrarevolution aufhetzen könnten. Sie sind ja so grenzenlos blödsinnig, dass man es gar nicht glauben kann. Doch gerade all dies konnte einen zur Verzweiflung bringen. Wir bekamen auch neuen Zuwachs: Kapt.Lt. Bötifür, Kamerun,, dann einen Leutnant Schlüter, Naumburger Jäger und Obermusikmeister Schulz von den reitenden Jägern. Mit Jäger, Schlüter, Bötifür und Schulz spielten wir fast jeden Tag Karten. Früh fingen wir mit Skat an. Nachmittags kam Doppelkopf an die Reihe und abends schließlich Bridge. So vegetierten wir dahin und verblödeten langsam aber sicher. Die einzigen Abwechslungen in unserem traurigen Dasein waren noch die Post, die man ziemlich regelmäßig bekam und der dauernde Krieg mit den Ärzten und mit Väterchen Triefauge, unserem Kommandanten. Im schönen Monat November, als wir so unter der Kälte litten, hatte ich auch wieder verschiedene Operationen. Am 3.11. schnitten sie mir wieder meine ganze Schulter und meinen Arm auf, da sich ein neuer Abszess unter dem rechten Schulterblatt gebildet hatte. Die Operation dauerte nur dreieinhalb Stunden und dass ich jetzt noch am Leben bin ist ein Wunder, das nur jemand begreift, d«r damals bei der Sache dabei war. (Ende der Abschrift)

Über die Existenz weiterer Tagebuchaufzeichnungen bis zum eingangs genannten Datum, Juli 1916, oder deren Verbleib ist mir leider nichts bekannt. Möglicherweise befinden oder befanden sie sich im Besitz meines Bruders. Es folgen Aufzeichnungen, die Internierungszeit in der Schweiz, wahrscheinlich ab Juli 1916, betreffend.

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Inwieweit das folgende Tagebuch die Realität wiedergibt, oder doch den Versuch darstellt, diese literarisch zu verarbeiten, muss dahingestellt bleiben. Berührend ist der Text auf jeden Fall. Es ist die Zeit vor dem 21. Geburtstag meines Vaters.

Im Ersten Weltkrieg unternahm die Schweiz keine größeren Internierungsaktionen. Immerhin nahm sie ab Anfang 1916 über 12'000 Kriegsgefangene versch. Nationalitäten - Franzosen, Engländer, Belgier und Deutsche - auf. Als Kriegsverletzte wurden sie in Luftkurorten in der franz. Schweiz (Waadtländer und Walliser Alpen, Neuenburger Jura) und in der Deutschschweiz (Berner Oberland, Zugerberg, Davos) untergebracht. Ende Nov. 1918 verließen sie die Schweiz wieder

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Zum 25.12.1916 Weihnachtsmorgen

Große weiße Flocken wirbeln durch den frühen Morgen und ein feiner weißer Dunst liegt über der noch schlafenden Stadt. Langsam wandere ich durch die stillen Straßen. Hart pochen meine Pulse durch die Schläfen. Wie im Traum gehe ich - wie ein Schlafwandler. Ich kann all das Widerliche und Gemeine nicht fassen. Ist denn das alles Wirklichkeit oder doch nur ein Hirngespinst, das mich so quält? Das also sollen meine Freunde sein! Nein, nimmermehr! Sie waren es vielleicht, doch sie sind es nicht mehr. Weihnacht - Heilige Nacht! Und das war sie für mich. Ach- gar nicht daran denken, an all das Gemeine dieser Nacht, sie auslöschen aus dem Gedächtnis, so wie man ein grelles Licht auslöscht, das einen stört, weil es so grell ist. Da, horch! In ruhigem Schwingen geht ein Ton durch die Luft. Erst nur einer, dann ein anderer und dann ein Brausen von Stimmen über der stillen Stadt. Kirchenglocken! Und eine wunderbare Ruhe zieht in mein Herz. All das Schlechte ist verflogen und vergessen. Ganz still stehe ich und lausche auf die Glocken. Und neue Gedanken schleichen sich in mein Hirn. Im Geiste sehe ich ein Mädchen, erst verschwommen und undeutlich, dann aber nimmt das Bild feste Formen an und plötzlich steht sie vor mir. Ein liebes Mädchen mit einem guten Gesicht,. Ich kenne sie noch nicht, doch ich fühle es, dass sie gut zu mir sein wird. Sinnend gehe ich weiter. In lustigen Wirbeln fällt der Schnee und bedeckt die graue Erde mit einem Festgewand. Ruhig wandere ich durch die Straßen und bin glücklich. Zum 31.12.1916 Silvester Lustiges Geplauder schwirrt durch den festlich erhellten Saal. Laute Stimmen, Geflüster, ein kurzes Auflachen wieder, dann ein leichtes Nippen am Wein. Alles ist fröhlich. Das alte Jahr geht zur Neige und die paar letzten Stunden sind gekommen und all die fröhlichen Menschen wollen sie noch in vollen Zügen genießen. Auch ich sitze unter den Menschen mit den frohen Gesichtern und bin froh mit ihnen. Vergessen sind die Sorgen. Sie müssen zurückbleiben bei dem alten Jahr. Ein neues Jahr bricht an und mit ihm ein neues Leben. Ich tanze, da mitten im Drehen kommt ein Gedanke, ein Gedanke an ein Mädchen, an die Unbekannte. Erst am Nachmittag sah ich sie wieder. Silvesterstimmung, am Schluss des Jahres ist alles erlaubt. Ich weiß die Adresse. Ein Telegramm. Vielleicht ist es dumm, -37-

doch weg mit den Bedenken. Es muss sein und es wird gelingen. Und dann wieder mitten hinein in den Taumel, mitten hinein in das neue Jahr. Zum 1.1.1917 Neujahr Verkaterter Neujahrsmorgen- oder -mittag. Der Schädel brummt und in der Kehle und auf der Zunge ist ein unangenehmer bitterer Geschmack. Die Nacht liegt weit, weit zurück, ich ahne nur noch alles. Es muss toll zugegangen sein. Ich weiß von nichts mehr. Langsam und müde kleide ich mich an. Tausend Teufel scheinen auf meinem Kopf zu sitzen und mir mit feinen ganz spitzen Nadeln tief ins Gehirn zu stechen. Der ganze Körper ist wie zerschlagen, ein echter Kater. Missmutig gehe ich zum Essen. Nur, dass ich da bin. Essen kann ich nichts. Stumpfsinnig stiere ich vor mich hin und strenge mich an, etwas Ordnung in meinen Kopf zu bringen und die Gedanken zu sammeln. Unmöglich! Da fällt mein Blick auf den Teller. Ein gelber Umschlag liegt dort. Ein Telegramm - aus Zürich? Hastig reiße ich es auf und überfliege es. Dann lese ich es noch einmal, Wort für Wort. Das Gefühl unbändiger Freude schnürt mir die Kehle zu. Ich kann kaum noch atmen, von ihr. Müdigkeit und Kopfschmerz sind weg. Ich lache über das ganze Gesicht. Einer am Tisch fragt mich etwas. Ich sehe ihn an und lache aber antworte nicht, ich hatte ihn gar nicht verstanden. Sie dachten wohl alle, ich sei nicht nüchtern. Doch was wissen die Leute, wenn man so froh ist. Am Abend sitze ich im Restaurant und freue mich immer noch über die Depesche und mache Pläne. Ich sitze ganz nahe der Tür und beobachte jeden Menschen, vielleicht kommt sie. Doch ich bin ein Narr. Heute nicht. Tausend mal sage ich mir: Sie kommt nicht und tausend mal wieder: sie kommt doch. Wieder dreht sich die Tür - sie ist es. Nicht allein, nein, mit ihrer ganzen Familie. Wir sehen uns an und lächeln beide. Ich bin noch nie so verlegen gewesen. Zum 4.1.1917 Der erste Brief Ein feiner Regen rieselt vom Himmel, ein neuer Regentag ist angebrochen. Das schlechte gleichmäßige Wetter macht die Tage zu Ewigkeiten. Ich bin traurig. Vorgestern habe ich ihr einen Brief geschrieben und sie gebeten, mir meine Frechheit von Silvester nicht übel zu nehmen. Nun sind schon wieder zwei andere Tage vergangen und noch immer ist keine Antwort da. Ich weiß, sie ist gar nicht in Zürich, sondern nach St. Moritz gefahren. Ich weiß auch, dass noch gar keine Antwort da sein kann und doch warte ich auf jede Post und bin immer wieder enttäuscht. Ich gehe ins Café, doch -38-

ich habe keine Ruhe. Schon nach kurzer Zeit springe ich auf. Es muss ein Brief da sein. Schnell ins Auto und nach Haus. Ein Brief liegt auf dem Tisch. Unbekannte Schrift, St. Moritz auf dem Stempel. Also von ihr. Ein Zögern erst und dann hastig den Umschlag aufgerissen. Als gar nicht bös und gar nicht erzürnt auf mich. Hurra!. Schnell an den Schreibtisch gesetzt und wieder geschrieben. Ganz hell ist es in mir. Auch draußen hat noch vor dem Schlafengehen Frau Sonne gesiegt und wirft die letzten Strahlen ins Zimmer und auf das Papier. Zum 19.1.1917 Eine Begegnung Die Tage gingen dahin mit schweren langsamen Schritten. Ich stand spät auf und ging früh schlafen, um die Tage zu verkürzen. Endlich kam der heiß ersehnte Tag. Sie ist wieder in Zürich. Wohl hatte sie mir geschrieben, wir würden beide viel zu geniert sein, uns je in Zürich zu sprechen. Doch warum? Es ist doch schließlich nichts Schlechtes was wir machen. Heute Morgen kam eine Zeile von ihr, sie würde gegen vier Uhr am Bellevueplatz sein und vielleicht käme ich dann auch zufällig vorbei und wir könnten dann irgendwo Tee zusammen trinken. Einen Luftsprung habe ich gemacht vor lauter Freude. Endlich werde ich Sie kennen lernen. Schon lange vor der Zeit bin ich dort. Punkt vier Uhr kommt sie. Ein wenig verlegen zwar sagen wir uns Guten Tag, sind aber nicht so geniert, dass wir sprachlos wären. Wir gehen ins Carlton zum Tee. Die Unterhaltung ist nicht gerade interessant, eben eine Unterhaltung wie sie nur sein kann, wenn man sich zum ersten Mal spricht. Ich spreche nur um zu sprechen, denn das ist für mich so neu und eigenartig - ein Gefühl von Verlegenheit. Eigenartig und nicht gerade alltäglich ist diese Art Bekanntschaften zu machen; nicht geniert bin ich. Doch ich ärgere mich ein klein wenig, dass ich mich so freue und dass ich das Gefühl nicht verbergen kann. Ich bin so froh, dass wir und endlich kennen. Noch vor 8 Tagen grüßte man sich nur mit den Augen kannte sich noch gar nicht. Heute sitze ich ihr gegenüber als müsste es so sein. Doch auch die Zeit war schön, wo wir uns fast täglich anschauten auf der Straße, im Café. Niemand wusste es. Nur wir beide verstanden uns. Wir waren unbekannt und doch genau bekannt. Es waren doch schöne Zeiten und Stunden. Ja, und nun sitze ich dem Mädel gegenüber. Wir kennen uns. Ich bin eine glückliche Natur: Immer wenn ich eine Stunde habe, wo ich glücklich bin, vergesse ich alles, was kommen kann und was gewesen ist. Alles, was mich bedrückt, wird für diese eine Stunde beiseite geschoben und vergessen. So auch heute wieder. Ich lebe nur für diese Stunde und denke weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Diesen Augenblick genieße ich voll und ganz. Schnell verfliegt die Zeit, wie immer, wenn es anfängt, ganz schön -39-

zu werden, muss man scheiden. Wie ein paar Minuten ist diese Stunde vergangen. Sie muss nach Hause. Ich begleite sie. Dann ein kurzer Händedruck und ein Auf Wiedersehen. Alles war wie im Traum. An diesem Abend habe ich noch lange wach gelegen und nachgedacht. Zum 25.1.1917 Noch eine Begegnung Ein eisigkalter Wind braust von den Bergen und der Regen hat einer schneidenden Kälte Platz gemacht. Ich lag im Bett und war ziemlich schwer krank. All die langen Tage war ich traurig und unglücklich gewesen. Erstens war es die Sehnsucht ein liebes Gesicht zu sehen, die mich nervös und traurig machte und dann fühlte ich mich so schlecht. Ich hatte eine schwere Wundrose am Arm bekommen und der Arzt sagte mit, wenn das Fieber nicht nachließe, müsste man den Arm abnehmen. Diese Aussicht war nicht gerade berückend, wenn man schon so zwei lange Jahre gelitten hatte und froh war, dass es endlich gut wurde. Doch ich musste gesund werden. Schon der Gedanke an das Mädchen hielt mir den Kopf oben. Lange Tage und endlos lange Nächte mit Schmerzen und Fieber kamen und gingen. Endlich war ich wieder so weit, dass ich aufstehen und ausgehen konnte. Wir trafen uns in einer kleinen Confisserie und verplauderten eine Stunde. – Die Mutter weiß, dass wir uns kennen und sie ist gar nicht bös, wie ich anfangs dachte. Heute soll ich sie nun auch kennen lernen. Wie gewöhnlich sitze ich in meiner Ecke im Café. Ich weiß nicht, ob sie schon da sind. Ich sehe ich mich auch nicht um. Meine Freunde sitzen mit am Tisch und wir unterhalten uns vom Krieg. Ich bin zerstreut und gebe falsche Antworten, bald schweige ich ganz. Ich fühle, sie sind da und doch schaue ich mich nicht um, um zu sehen, wo sie sitzen. Endlich gebe ich mir einen Ruck und stehe auf. Ich weiß nicht den Tisch, wo sie sitzen. Aufs Geradewohl schlendere ich langsam durch das Lokal und plötzlich stehe ich an dem Tisch. Kurze Vorstellung, Verbeugung, ein kräftiger Händedruck und wir sind bekannt. Alles ist als müsste es so sein und nicht anders. Sie ist eine liebe, gute Frau und ich weiß schon genau, dass wir uns gut verstehen werden. Dieses Gefühl gibt mir meine Sicherheit wieder. Ich bin ganz glücklich. Schon lange sehnte ich mich nach jemanden, dem ich alles sagen könnte was mich bedrückt. Jetzt wusste ich, du hast gefunden was du suchtest und was du brauchst. Als ich dann am Abend zu Hause bin, sitze ich noch lange und denke an die Begegnung. Im Geiste sehe ich beide Gesichter vor mir und lange schaue ich sie beide an – sie lächeln. An diesem Abend wusste ich: Alles wird wieder ganz gut werden.

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Zum 30.1.1917 Schöne Tage Der eisige Wind hatte das Feld geräumt und einer schneidenden aber ruhigen und gleichmäßigen Kälte Platz gemacht. Die Bäche waren zugefroren und auch ein Stück vom See. Die Eisbahnen waren in Betrieb und alles wanderte mit Schlittschuhen auf die verschiedenen Plätze. Wir hatten uns getroffen, um auf der Bahn in Zollikon zu laufen. Es war ein wundervoller klarer Morgen. Gerade unseres Kaisers Geburtstag. Das Eis war schlecht und schon nach kurzer Zeit schnallten wir ab und gingen spazieren. Unser erster Spaziergang nach der Rehalp, dem noch viele andere folgen sollten. Fast jeden Tag trafen wir uns. Manchmal im Café, dann plauderten wir dort eine Stunde oder zwei. Oder wir machten wieder einen Ausflug in Rüschlikon und gingen da spazieren. Es waren schöne Tage. Mit dem neuen Jahr war eine neue Zeit für mich gekommen. Alle meine anderen Interessen waren vergessen und vernachlässigt. Ich kümmerte mich nicht darum. Meine Kameraden wunderten sich über mich. Ich, der früher keinen Abend zu Hause war, ging überhaupt nicht mehr aus. Ich fühlte mich doch so wohl und entbehrte nicht meine Vergnügungen und all die lustigen Leute, die ich früher traf. Am liebsten war ich allein. Wir waren in Rüschlikon gewesen und dann wurde ich mit in die Wohnung genommen, um der Mama „Guten Tag“ zu sagen. Gemütlich saßen wir dann bis zum Nachtessen zusammen und ich hatte fast gar nicht das Gefühl in einem fremden Haus zu sein. Sie waren so nett zu mir. Eine ruhige, angenehme Freundlichkeit ruhte über dem Ganzen. In der letzten Zeit fühlte ich mich so wohl. Bis zum 8.2.1917 Viel Angenehmes und viel Unangenehmes Die Zeit läuft in Riesenschritten vorwärts und wir müssen mit ihr Schritt halten. All die schönen Tage hatte ich das Unangenehme beiseite geschoben und vergessen. Nun kommt auf einmal eine Hand, reißt den schönen Traumschleier auseinander und man sieht wieder die graue Wirklichkeit. Am letzten Tag im vorigen Monat kommt der Befehl, ich soll mich um Mittag bei Herrn Major S. melden. (Hier enden die Aufzeichnungen)

.Es liegt aus dieser Zeit noch ein Dokument (siehe Anhang) aus dieser Zeit vor. Ein Foto meines Vaters (Foto „Rigi“ Luzern(Falkenpl.) Weggis, Beckenried) Rückseite beschrieben an seine Schwester -41-

Nachwort Meinen Vater habe ich persönlich nicht gekannt. Er starb am 10. März 1938, genau 23 Jahre nach seiner schweren Verwundung, einen Monat vor meiner Geburt. Die Todesursache war Krebs. Ausgelöst wurde die schwere Krankheit durch die schwere Kriegsverletzung und die daraus resultierenden gesundheitlichen Probleme, u. a. andauernde Schmerzen, die einen besonders hohen Medikamenteneinsatz erforderten. Zunächst erfuhr ich diese Zusammenhänge aus Berichten meiner Mutter und der Schwestern meines Vaters. Bestätigt wurde dies aber amtlich, als es meiner Mutter gelang, mit Hilfe der vorhandenen Unterlagen und fachlicher Gutachten in den 70er Jahren beim Bundesversorgungsamt die Anerkennung meines Vaters als Kriegsopfer zu erstreiten und eine Kriegerwitwenrente zu erwirken. Mich haben die Berichte über das Leben meines Vaters stets begleitet. Bilder waren vorhanden, die Tagebuchaufzeichnungen existierten, persönliche Dinge in der elterlichen Wohnung schufen Nähe und viele Erzählungen derer, die mit ihm persönlich verbunden waren, seiner Mutter, seiner Geschwister, natürlich seiner Ehefrau, unserer Mutter, sogar zwei seiner ehemaligen Mitarbeiter, die meine Patentanten wurden, haben mir ein Bild meines unbekannten Vaters vermittelt. Doch erst jetzt, nachdem ich selbst auf über 70 Jahre eigenen Lebens zurückblicke, entsteht aus der Sicht auf all das und aus der Aufarbeitung des vorhandenen Materials eine ganz persönliche Nähe zu diesem Menschen, der mein Vater war. Dabei sind die Tagebuchaufzeichnungen natürlich ein ganz besonderer Zugang zu einem Mann, der Glück offenbar nie ganz erfahren durfte, dessen Leben so sehr von den Ereignissen bestimmt war, die eine permanente Herausforderung an Seele und Körper waren. Ein Mensch muss sehr stark sein, um einem schweren Schicksal, dieser Begriff darf hier zu Recht verwendet werden, doch immer wieder mit einem starken Willen aber auch mit Optimismus und Humor zu begegnen. Vieles aus dem Leben meines Vaters wird verborgen bleiben. Nicht wirklich wird der seelische Zustand in den wechselhaften Verläufen dieses doch sehr kurzen Lebens zu erfassen sein. Noch nicht einmal alle wichtigen Fakten des Lebenslaufes sind bekannt. Das deutet darauf hin, dass er selbst vieles verbarg, sich nie wirklich zu jemand ganz öffnete. Auch die persönlichen Aufzeichnungen, die uns vorliegen, scheinen vieles auszublenden. Immer dann, wenn es um ganz Persönliches geht, wenn es seine Seele trifft, fehlen Namen, wird nur oberflächlich oder verklärend über die Ereignisse berichtet. Seine Beziehungen zu seinem Elternhaus, zu seinen Geschwistern werden nicht wirklich deutlich. Auch ein Bezug zu seiner Erziehung im sächsischen Kadettenkorps fehlt, obwohl ich aus den vorliegenden Schulzeugnissen dieser Anstalt erkennen kann, dass ihn der Aufenthalt dort nicht nur geprägt, sondern psychisch auch stark belastet hat. Mit 11 Jahren muss er das Elternhaus verlassen, um am sächsischen Hof zu dienen, Soldat zu werden. Von der Schule und der Kaserne in den Krieg, fast noch ein Kind ohne wirklich erlebte Kindheit, schwere Verwundung, Gefangenschaft, Internierung und entlassen in eine fremde Welt. Als kranker junger Mensch sich diesen Herausforderungen zu stellen, Abitur, Studium, Promotion, Beruf unter diesen Bedingungen zu meistern, scheint uns heute nahezu unvorstellbar. In diese sicher auch durch massive wirtschaftliche Zwänge geprägte Zeit, fällt auch noch eine kurze Ehe mit einer todkranken Frau, die nach einem Jahr stirbt. Darüber ist nichts bekannt. Auch in einem von meinem Vater verfassten Lebenslauf wird dies nicht erwähnt. National erzogen, mit den Erfahrungen eines schrecklichen Krieges, sucht mein Vater, das ist meine Mutmaßung, nach einer politischen Heimat und meint sie im aufkommenden Nationalsozialismus zu finden. Er war offensichtlich Mitglied der SA und auch früh Parteimitglied. Persönliche Äußerungen über sein politisches Weltbild aus dieser Zeit und bis zu seinem Tod gibt es nicht. Auch über sein Wirken in politischen Funktionen wurde in der Familie nicht gesprochen. Unsere ganze Familie galt im Ort nach der Übernahme der Macht durch die Kommunisten als besonders braun. Ein damals noch im Ort lebender Bruder meines Vaters hatte auch dafür besondere Repressalien zu erleiden und doch gab es auch unter der neuen kommunistischen Verwaltung offen geäußerte Sympathien für meinen Großvater, der als Landarzt viel Gu-42-

tes in der Region bewirkte und auch für meinen Vater, der im Ort eine Zahnarztpraxis hatte. Besonders der nach 1945 in unserem Heimatort tätige Bürgermeister, ein sehr ehrenwerter Altkommunist, bezeugte meiner Mutter gegenüber Dankbarkeit in Bezug auf meinen Vater, weil dieser seiner Frau eine Kontaktmöglichkeit zu ihm während seiner KZ-Gefangenschaft geschaffen hätte. So bleibt aus dieser letzten Zeit des Lebens meines Vaters nur wenig Verwertbares. Vielleicht war ich auch aus diesem Grund argwöhnisch und habe die innere Nähe zu dem Menschen, der mein Vater war, nicht wirklich gesucht. So hatte ich auch die Tagebücher, die Dokumente aus der Kadettenzeit nicht verinnerlicht. Froh bin ich, dass ich das, wenn auch spät, jetzt tue. Auch wenn das Material, auf das ich mich beziehe, nunmehr fast 100 Jahre alt ist. Mein Vater ist mir heute nahe. Vielleicht ist meine bescheidene Arbeit, die ich mit der Bereitstellung der Dokumente leisten kann, auch ein Gewinn für andere insbesondere nachfolgender Generationen. Fritz Beck

Die auf den folgenden Seiten abgebildeten persönlichen Dokumente liegen mir im Original vor

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Kadettenanstalt Dresden

Aula der Kadettenanstalt

Abschied vom Militär Kadett Beck als Page am Hof

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Foto Bigi, Luzern (Falkenpl.)Weggis. Beckenried Brief an die Schwester (aus der Internierung, Weggis, Schweiz): Liebe Suse! Hoffentlich hast Du meinen Brief bekommen und geht es Dir und Hugo recht gut.- Ich habe wieder einmal etwas anderes von Krankheit gehabt und zwar eine Lymphgefäßentzündung an der linken Hand. So konnte ich gar nichts mehr machen und musste sogar zum Essen geführt werden wie ein kleines Kind. Anbei meine neueste Type. Hübscher Kerl, gell? Aber was nützt das alles? Ich möchte nur immer wieder einmal zu Hause sein. Wie lange wird nun dieses Zeugs noch gehen? – Mit vielen herzlichen Grüßen Dein unleserlich Bruder? Fritz 10.3.17

Die Armverletzung

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In Uniform (Gefangenschaft?)

Ihr Goehling

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Mein lieber Beck! Nun kenne ich Sie – ja wie lange? Fast über ein Jahr bald ! Bin zuerst „amtlich“ als für den Hospitaldienst zugelassener Pfarrer an Ihr Bett gekommen, habe all Ihre Not und Schmerzen mit erlebt und habe Sie gern gewonnen. Viel Gemeinsames haben wir vielleicht nicht, haben uns zum wenigsten darüber nicht ausgesprochen, wir Deutschen sind ja scheu, unser Innenleben einem Fremden auszuschütten. Aber ich habe im Stillen immer Ihre tapfere Geduld bewundert, mit der Sie Ihr Leiden tragen. Nur das letzte Mal waren Ihre Augen so müde und Ihre Worte so schwer. Ich möchte Ihnen wie ein aufrichtiger Freund das Haar streicheln: „Jung, behalten Sie Ihren Mut. Sie kommen durch!“ Und religiös gesprochen: Gott segne Ihnen auch Ihr Leid! Auch da heißt es: Wir müssen durch! Ich habe manchmal an Sie gedacht, wenn ich meine informellen Predigtansprachen hielt. Wenn ich abends meine Gedanken in der Richtung Gott sammle, darf ich mit dem aufrichtigen Wunsch Sie einschließen: Herr Gott, stärke dem jungen tapferen Beck seine Gesundheit. Handschlag & Gottbefohlen Von Herzen Ihr Goehling Klopfen Sie dem kleinen Schäfer auf die Schulter, ich dächte seiner, &grüßen Sie alle

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Lieber Leutnant Beck ! Mit schmerzlichem Bedauern habe ich gelesen, dass Sie Ihr Abschiedsgesuch eingereicht haben. Das Regiment nimmt an diesem Entschlusse wehmütigen Anteil. Von Herzen wünschen wir Ihnen für Ihre Zukunft des lieben Gottes Hilfe und Segen. Aber, Sie bleiben ja der Unsrige, und ich hoffe, dass Sie im Frieden recht oft bei uns sein werden. Ich wäre dankbar, wenn Sie mich über Ihre Zukunftspläne unterrichteten. In aufrichtiger Kameradschaft Ihr Kronprinz Georg

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