Das wahre Leben - Franz Plendner-pdf - Buch.de

plötzlich der dunkle Grund von unten her ent- gegenstürzte. Robert mied die ... endlich gefunden habe“, rief Ro- bert aus, als er Lisa erblickte, die auf einer der.
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Franz Plendner

Das wahre Leben Roman

© 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2013 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag, Berlin Coverbild: iStockphoto 5872636, Love Hurts Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0525-9 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt .

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Für A. P.

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1 Was für ein Durcheinander, dachte Robert, als er den Blick durch das weiträumige Redaktionsbüro der Grazer Tageszeitung streifen ließ. Zum ersten Mal nach all den Jahren fiel ihm auf, dass keiner der Schreibtische dem anderen glich. Und erst die Drehsessel: grün, braun, selbst einen pinkfarbenen entdeckte er. Er hob den Kopf, blinzelte, die Neonlampen an der Decke blendeten ihn. Dann betrachtete er den zerfledderten Wandkalender, dessen einstmals rote Jahreszahl – zwei, null, null, fünf – mit blauen und schwarzen Kugelschreiberstrichen übersät war. Unter der Zwei rekelte sich eine Art Strichmännchen, das er selbst vor Monaten dort hingekritzelt hatte. Comiczeichner, dachte er, ist das nicht lächerlich? Man erschafft Figuren, lässt sie die kuriosesten Dinge tun – und wird doch immer wieder vom wahren Leben übertroffen. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er seine Kollegen, die sich allesamt von ihren Plät4

zen erhoben hatten. Wie Wachsfiguren erschienen sie ihm, erstarrt, scheinbar unfähig, ihre unterbrochenen Bewegungen zu vollenden. Kopfschüttelnd vergegenwärtigte Robert sich die Tat, deren Zeuge er soeben geworden war. Er musterte die Täterin, eine ungepflegt wirkende Frau mit schulterlangen, schwarz-grauen Haarsträhnen, fahler Gesichtsfarbe und zittrigen Händen. Sie machte einen verstörten Eindruck, ganz anders als das Opfer des Überfalls: Leon, Roberts Freund und Kollege, der lächelnd auf dem Boden kniete, mit blutgetränktem Polohemd, zerwühltem Haar und seltsam rosigen Wangen. Das Messer lag wenige Schritte von Leon entfernt auf dem Boden. Heinz, der Chefredakteur, hatte die Tatwaffe mit zwei Rollcontainern von benachbarten Computertischen gesichert. Die Redaktionsmitglieder beobachteten die Frau. Sie starrten sie geradezu an, ein jeder von ihnen – außer Leon. Der fixierte seine rechte Hand, von der Blut auf den Boden tropfte. Er streckte die Zunge heraus, als wollte er das Blut von der Hand lecken, begnügte sich dann aber damit, an den Fingern zu riechen. Dabei berührte er seine 5

Nase, auf der ein dicker roter Klecks zurückblieb. Leons Lächeln wurde zu einem Grinsen, er kicherte, prustete laut heraus, bis er anfing zu husten. Dann fasste er nach der Stichwunde in seiner Seite. Die Frau, die vor wenigen Minuten wild gestikulierend in die Redaktion gestürmt war, immer wieder ein einzelnes Wort hervorstoßend – „Russenblut“, immer wieder „Russenblut“ –, diese Frau, die jetzt erschöpft am Fenster des Redaktionsbüros lehnte, schien all ihre Energie in diesen einen Messerstich gelegt zu haben. Beinahe unmerklich bewegte sie die blassen Lippen, wie ein erstickender Fisch. Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar, streifte die ölig glänzenden Strähnen hinter die Ohren, ihr Kopf zuckte ein paarmal zur Seite, dann stieß sie einen leisen Seufzer aus, drehte sich langsam mit dem Gesicht zum Fenster und ließ die Stirn gegen die Scheibe sinken. Leon stöhnte auf, sein Lächeln war verschwunden. Robert machte einen Schritt auf den Freund zu, doch dessen Miene gebot ihm, nicht näherzu6

kommen. Ihre Blicke trafen sich. Wer von ihnen würde sich als Erster abwenden? Sinnlos, darüber nachzudenken. Natürlich würde Robert derjenige sein. Aber nicht sofort. Ein klein wenig wollte er Leons Blick noch standhalten. Er versuchte einen ungerührten Gesichtsausdruck anzunehmen, während Leons Mundwinkel sich leicht nach oben bewegten. Schließlich wandte Robert den Kopf zur Seite. Seine Blicke suchten die Frau, aber da war nur mehr der geöffnete Fensterflügel, der sich in der lauen Abendbrise sanft hin und her bewegte. Und die anderen? Sie standen da wie zuvor. Keiner von ihnen schien sich gerührt zu haben. Robert eilte zum Fenster und beugte sich über die Brüstung. Hinter seinem Rücken vernahm er das aufgeregte Gemurmel seiner Kollegen. Er klammerte sich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest, stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf, um den sechs Stockwerke tiefer liegenden Fußgängerweg überblicken zu können. Dann kniff er die Augen zusammen, aber das neblig-feuchte Dunkel des Oktoberabends machte es beinahe unmöglich, etwas zu erkennen. 7

Schließlich konnte er inmitten der gräulichen Schattierungen des Bürgersteigs einen wie sternförmig hingeklecksten schwarzen Fleck ausmachen. Ein stehengebliebenes Windrad, hingefallen, zu müde, um den Launen der Luftströme weiter zu gehorchen. Ein Polizeiauto fuhr die Straße herunter. Erst als Robert den Blick auf das flackernde Blaulicht richtete, nahm er das Heulen der Sirene wahr, das von den Hauswänden der anderen Straßenseite widerhallte. „Robert!“ Er zuckte zusammen, als jemand von hinten energisch nach seinen Unterarmen fasste. „Lisa! Willst du mich hinunterstoßen?“ „Sag mal, warum kümmert sich niemand um Leon?“ Lisa deutete mit grimmiger Miene auf den Verletzten. Ihre Stimme klang überdreht. „Fensterschauen?“, rief sie. „In der Gegend herumstehen?“ Der Chefredakteur trat mit abwehrenden Handbewegungen auf sie zu. „Lisa, beruhige dich. Wir dachten, es wäre besser, wenn der Arzt –“ „Idioten! Ihr alle seid Idioten!“ Lisa lief zur anderen Seite des Büros, wo Leon noch immer auf 8

dem Boden kauerte, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und flüsterte ein paar unverständliche Worte. Dann zog sie ihre Bluse mit einem Ruck über den Kopf, knüllte sie zusammen und presste sie auf die blutige Stelle an Leons Polohemd. „Ah, nein!“, schrie der Verletzte auf. „Nein, Lisa! Es blutet ja fast nicht mehr!“ Lisa begann zu weinen. „Aber Leon, man muss doch irgendetwas ...“ Ein Schauer fuhr durch ihren Leib und überzog ihren bis auf den transparenten Büstenhalter nackten Oberkörper mit einer Gänsehaut. Robert fasste Lisa an der Hand und hievte sie in die Höhe. „Komm.“ Er legte ihr seine Bürojacke um die Schultern. „Komm, Lisa, du musst etwas anziehen.“ Dann versuchte er, ihr die zusammengeknüllte Bluse zu entwinden, deren zartes Rosa durch dunkelrote Flecken verunziert war. „Lass das!“, fauchte sie ihn an. „Die gehört mir!“ Dann ließ sie sich auf Leons Bürostuhl nieder, sank zusammen und stützte die Ellbogen auf die Knie. Roberts Jacke hing lose von ihren Schultern. Es schien sie nicht zu stören, dass Heinz und die anderen Redaktionsmitglieder wie paralysiert auf 9

ihre Brustwarzen starrten, die dunkel knospend durch den Polyamidstoff ihres Büstenhalters schimmerten. Robert wandte sich ab und sah erneut aus dem Fenster, wo das Blaulicht des Polizeiautos über die Glasfront des gegenüberliegenden Gebäudes flackerte. Dann fiel sein Blick auf ein zerknittertes Stück Papier, das unter dem geöffneten Fensterflügel auf dem Boden lag. Gedankenverloren beugte er sich hinunter und steckte es, ohne es näher zu betrachten, in die Hosentasche. Wenigstens das hatte er in Ordnung bringen können: kein Abfall, der herumlag, nichts, was das Auge irritieren, die innere Ruhe stören würde.

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2 Leon wurde ins Sankt-Peter-Krankenhaus gebracht, das wie das Redaktionsgebäude der Grazer Tageszeitung im Osten der Stadt lag. Lisa, die Roberts Jacke übergezogen hatte, folgte Leon, nachdem sie ihre spärliche Aussage gemacht hatte. Robert wurde intensiver befragt als alle anderen, immerhin war er Leons Freund und sein engster Kollege in der Redaktion. Aber auf welche Art auch immer die Fragen gestellt wurden, er konnte nicht sagen, wer die Frau gewesen war und warum sie Leon attackiert hatte. „Fragen Sie sie doch selbst“, fuhr er schließlich den Polizeibeamten an. Der neigte daraufhin den Kopf zur Seite, räusperte sich und sagte: „Gut, dann lassen wir es für heute dabei.“ „Kann ich jetzt gehen?“, fragte Robert ungeduldig. „Ja. Aber denken Sie noch einmal darüber nach. Vielleicht kennen Sie die Täterin ja doch. Mögli11

cherweise hat sich ihr Aussehen verändert. Sie wissen schon, falls es länger her ist –“ „Ja, natürlich denke ich darüber nach. Glauben Sie, ich möchte nicht selbst wissen, warum das alles geschehen ist?“ Robert nahm seine Lederjacke vom Garderobenhaken, verließ mit eiligen Schritten das Büro und fuhr mit dem Lift bis zur ersten Etage. Als er die Tür des Aufzugs hinter sich geschlossen hatte, blickte er wie geistesabwesend den menschenleeren Korridor entlang. Dann hastete er die Treppe hinunter, die zum Seiteneingang führte. Nur nicht durch den Haupteingang ins Freie treten, nicht an der Stelle vorbei, wo sie aufgeschlagen war. Sie war doch wirklich ...? Natürlich, schließlich war da dieser schwarze Klecks auf dem Asphalt gewesen. Und wohin sollte sie sonst verschwunden sein? Sie war gesprungen, nein, nicht gesprungen, er suchte nach dem richtigen Begriff ... Sie war entschwunden, ins Freie, ins unermesslich Freie. Er wusste nicht, wie er darauf kam, aber er war überzeugt, dass die Unbekannte sich wie schwerelos gefühlt haben musste, gar nicht wahrnehmend, dass sie auf 12

dem Weg nach unten war, vielmehr, falls sie die Augen nicht ohnehin geschlossen hatte, zutiefst davon überrascht gewesen sein musste, als ihr plötzlich der dunkle Grund von unten her entgegenstürzte. Robert mied die Hauptstraße, durchquerte stattdessen feuchte, ungemähte Wiesen, schlängelte sich durch struppiges Gebüsch, das ihm die Hände zerkratzte, und musste zuletzt sogar über eine niedrige Steinmauer klettern, um eine der nahen Seitengassen zu erreichen. Den Kragen seiner Jacke hochgestellt, die Hände in den Taschen, lief er mehrere Häuserblocks entlang, schlug dabei immer wieder Haken, als wollte er einen Verfolger abschütteln, bis ihm bewusst wurde, dass er völlig ziellos dahinirrte. Er blieb stehen und blickte sich um. Am Ende der Straße, in die er gerade eingebogen war, stand ein Taxi mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Da fiel ihm Leon ein. Natürlich, er musste ins Krankenhaus. Lisa würde auch dort sein. Er stellte sich ihr verweintes Gesicht vor, die verlaufende Wimperntusche, die dunkelroten, geschwollenen Wangen, und dazwischen ihre winzige Nase, die 13

kaum mehr zu sehen sein würde.

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3 „Dass ich dich endlich gefunden habe“, rief Robert aus, als er Lisa erblickte, die auf einer der orangefarbenen Besucherbänke im Korridor der Notaufnahme saß. „Wie geht es Leon?“ „Wo warst du denn so lange?“, fragte sie ungehalten. „Ich dachte schon, du seist nach Hause gegangen.“ „Aber nein. Dieser Polizeibeamte hat mich nicht gehen lassen. Er wollte mir nicht glauben, dass ich die Frau noch nie gesehen habe.“ Er setzte sich neben Lisa, die ein feuchtes Stück Zellstoff in der Hand hielt. „Mir hat er geglaubt“, sagte sie mit einem eigentümlichen Tonfall. „Warum sagst du das so komisch? Weißt du denn, wer die Frau war?“ Lisa trug noch immer Roberts Jacke. Wie in Gedanken versunken öffnete sie die beiden oberen Knöpfe, legte den Kopf in den Nacken und 15