„Boys-Talk“. Eine explorative Untersuchung zur narrativ ...

men traditioneller Männlichkeit und der männlichen Persönlichkeitsentwicklung im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit verknüpft ist (Bange 1995,.
345KB Größe 5 Downloads 101 Ansichten
ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 27 Michael Herschelmann „Boys-Talk“ Eine explorative Untersuchung zur narrativ-biographischen (Re) Konstruktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität

Zugl.: Dissertation Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2008 Von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg – Fakultät I Erziehungs- und Bildungswissenschaften – zur Erlangung des Grades eines Doktor der Philosophie (Dr. phil.) genehmigte Dissertation, 2008

Michael Herschelmann

„Boys-Talk“ Eine explorative Untersuchung zur narrativ-biographischen (Re) Konstruktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität

Berlin 2009

ICHS International Cultural-historical Human Sciences ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Michael Herschelmann „Boys-Talk“ Eine explorative Untersuchung zur narrativ-biographischen (Re) Konstruktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität 2009: Lehmanns Media, Berlin ISBN: 978-3-86541-675-9

Druck: Docupoint Magdeburg

5

GLIEDERUNG

Danksagung........................................................................................................ 8 1. Einleitung ....................................................................................................... 9 1.1 „Boys-Talk“: Ausgangspunkt und Zielsetzung der Untersuchung ........... 9 1.2 „Boys-Narratives“: Grundlagen der Rekonstruktion des Prozesses der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit................................. 12 1.3 Aufbau der Arbeit................................................................................... 20 2. Theoretisches Modell ................................................................................... 22 2.1 Das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation in der Diskussion.................................................................................... 22 2.1.1 Die Kritik an geschlechtsspezifischen Sozialisationstheorien............. 23 2.1.2 Die neue Debatte ................................................................................. 25 2.2 Die materialistische Subjekttheorie und abbildtheoretische Entwicklungspsychologie von Jantzen als theoretische Perspektive...... 28 2.2.1 Das weiterführende Potenzial dieses Ansatzes.................................... 28 2.2.2 Grenzen und Chancen dieses Ansatzes ............................................... 34 2.3 Das abbild- und tätigkeitstheoretische Modell männlicher Persönlichkeitsentwicklung.................................................................... 39 2.3.1 Die ontogenetische Widerspiegelung der Geschlechtlichkeit im Abbild: ein Modell.......................................................................... 39 2.3.2 Die Entwicklung sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität in der Adoleszenz................................................................................. 45

6 3. Grundlagen der Untersuchung ......................................................................54 3.1 Das autobiographische Erzählen von (Lebens-) Geschichten als Weg zur (Re)Konstruktion von Identität ...........................................55 3.1.1 Die narrative Konstruktion von Identität..............................................55 3.1.2 Die Entwicklung narrativ-biographischer Kompetenz .........................57 3.2 Die Spätadoleszenz und das Junge-Erwachsenen-Alter als Hauptphase der bewussten (Geschlechts-) Identitätsbildung ..................61 3.2.1 Ein sich sozialgeschichtlich weitendes Übergangsstadium als „dritte Chance“................................................................................61 3.2.2 Identitätsentwicklung durch Integration und Konsolidierung ..............64 3.3 Die narrativ-biographische (Re)Konstruktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität als Grundlage der Untersuchung der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit ..........67 3.3.1 Die narrativ-biographische Herstellung bewusster geschlechtlicher Selbstentwürfe ......................................................................................68 3.3.2 Nicht-bewusste Erfahrungen und geschlechtliche Selbstentwürfe.......69

4. Empirische Untersuchung .............................................................................75 4.1 Forschungsstrategie und Sample .............................................................75 4.1.1 Grounded Theory als Forschungsmethodologie...................................75 4.1.2 Samplegewinnung ................................................................................76 4.2 Datenerhebung und -aufbereitung ...........................................................80 4.2.1 Das problemzentrierte Interview als biographisches Interview............80 4.2.2 Die Aufbereitung der Interviews zum Zwecke der Auswertung ..........84 4.3 Datenauswertung.....................................................................................85 4.3.1 Das Auswertungskonzept.....................................................................85 4.3.2 Die Auswertungsschritte ......................................................................98

7 5. Zentrale Ergebnisse .................................................................................... 110 5.1 Die fallübergreifenden Thematiken im Überblick: ein gegenstandsverankertes Modell zur Distanzierung von traditioneller Männlichkeit ............................................................ 110 5.2 Omnipräsente Mutter und peripherer Vater als gemeinsame Ausgangsbasis............................................................ 112 5.3 Ausgrenzung durch andere Jungen....................................................... 124 5.4 Andersgeschlechtliche Freundschaften ................................................ 136 5.5 Gleichgeschlechtliche Freundschaften ................................................. 152 5.6 Kunst als Spiegel .................................................................................. 165 5.7 Auszug von Zuhause ............................................................................ 177 5.8 Politik ................................................................................................... 185

6. Resümee und Ausblick ............................................................................... 193 6.1 Zusammenfassung und reflexive Einordnung ...................................... 193 6.2 Weiterführende Fragestellungen und pädagogische Konsequenzen..... 209

7. Literatur...................................................................................................... 215

8

Danksagung Hinter mir liegt ein langer Weg der Promotion neben Beruf und Familie. Auf diesem Weg haben mich einige Menschen begleitet, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Zu allererst danke ich meiner Familie. Sie hatte viel auszuhalten. Ohne sie wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Ich danke Prof. Dr. Heike Fleßner, die mich über Jahre konstruktiv unterstützt hat, für Ihre Offenheit und Zuverlässigkeit, für ihre stets konstruktive Kritik und herzliche Betreuung. Prof. Dr. Karin Flaake danke ich für die freundlichen wertvollen Hinweise und Anregungen, die mir gerade am Ende sehr geholfen haben. Ein großer Dank gilt Detlef Pech, der mir gerade in schwierigen Situationen sehr hilfreich war und mir als Austauschpartner und Freund immer zur Seite stand. Sehr wertvolle Anregungen verdanke ich auch Achim. Die abendlichen Gespräche habe ich sehr genossen. Und Jörg hat, trotz Umzugsstresses, die Arbeit an vielen Stellen lesbarer gemacht. Danken möchte ich auch Klaus Hühne, meinem akademischen Lehrer. Er hat mir in meinem Studium den Zugang zu einem faszinierenden theoretischen Gebäude verschaffen und stand mir seitdem immer wieder als Diskussionspartner freundschaftlich zur Verfügung. Vor allem aber danke ich den jungen Männern, die mir für ein Interview zur Verfügung gestanden haben. Sie haben sich geöffnet, damit Jungen in Zukunft mehr Unterstützung bekommen, wenn sie sich von traditioneller Männlichkeit distanzieren. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

9

1. Einleitung 1.1 „Boys-Talk“: Ausgangspunkt und Zielsetzung der Untersuchung Hintergrund der Untersuchung ist eine mehrjährige praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Problem der sexuellen Gewalt und den Möglichkeiten und Grenzen einer diesbezüglich präventiven (sozial-) pädagogischen Arbeit mit männlichen Jugendlichen (Herschelmann 1996, 1999a, 1999b, 2001, 2004a, 2004b, 2005a, 2006a, 2006b). Sexuelle Gewalt an Jungen ist bis heute ein Thema, das in der (Fach-) Öffentlichkeit nicht ausreichend beachtet wird (Bange 2007: 9, Walter u.a. 2007: 50) und mit dem sich nur selten praktisch und wissenschaftlich beschäftigt wird. Es gibt nur wenige spezialisierte Beratungsstellen und nur selten spezielle Präventionsprojekte. Jugendlichen Tätern sexueller Gewalt ist in der Vergangenheit mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden (vgl. David 2002, Kade 2003, Bange 2003, Elz 2004, Die Kinderschutz-Zentren 2004, Die Kinderschutz-Zentren 2006), aber auch hier sind präventive Projekte, die sich vor einer Tat an männliche Jugendliche richten sehr selten, wird sich mehr auf die (sehr wichtige) therapeutische Behandlung konzentriert. Im Kinderschutz-Zentrum Oldenburg werden seit Jahren solche Projekte entwickelt, durchgeführt und evaluiert. Sie werden z.B. unter dem Titel „Boys-Talk“ an Schulen durchgeführt (Herschelmann 2004a) und bilden den Ausgangspunkt dieser Untersuchung. In der Analyse dieses sozialen Problems wird deutlich, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung, aber auch die Ausübung von sexueller Gewalt u.a. eng mit Formen traditioneller Männlichkeit und der männlichen Persönlichkeitsentwicklung im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit verknüpft ist (Bange 1995, Bange 1996, Bange/ Boehme 1997, Boehme 1997a, Boehme 1997b, Deegener 1999, Boehme 2002, May u.a. 2003, Kade 2003, Bange 2003, Elz 2004, Die Kinderschutz-Zentren 2004, Die Kinderschutz-Zentren 2006, Bange 2007, Jungnitz u.a. 2007). Unter „traditioneller Männlichkeit“ sollen hier soziale Konstruktionen verstanden werden, die im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit einen „typischen“ Mann kennzeichnen. Gemeint sind die hinlänglich bekannten Geschlechterstereotype, nach denen Männer zum Beispiel anderen überlegen sein, alles unter Kontrolle haben, ihre Gefühle kontrollieren, ihren Körper disziplinieren,

10 Sexualität mit Frauen haben sollen, etc.. Solche Geschlechterstereotype sind „kognitive Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Frauen und Männern enthalten“ (Eckes 2004: 165). Sie sind einerseits individueller Wissensbesitz, bilden andererseits den Kern eines konsensuellen, kulturell geteilten Verständnisses von den je typischen Merkmalen der Geschlechter (ebd.). Solche geschlechterstereotype Konstruktionen sind historisch entstanden (vgl. Mosse 1997), kulturell relativ (vgl. Gilmore 1991) und zunehmend erklärungs- und legitimationsbedürftig (vgl. Meuser 1998). Sie spielen in der Wahrnehmung und Verarbeitung, aber auch in der Ausübung sexueller Gewalt eine entscheidende Rolle. Solche Geschlechterstereotype erschweren die individuelle wie gesellschaftliche Wahrnehmung und Anerkennung männlicher Opfererfahrungen und führen zu einer „doppelten Mauer des Schweigens“: Zum Schweigen der Jungen und zu Wahrnehmungsblockaden bei Erwachsenen (Bange 2007: 94ff, vgl. auch Bange 1995, Bange 1996, Bange/ Boehme 1997, Boehme 1997a, Boehme 1997b, Boehme 2002, Rossihol 2002, Kloiber 2002). Die Verinnerlichung traditioneller Geschlechtsrollenstereotype lässt Jungen sexuelle Gewalthandlungen an ihnen z.B. als solche erst gar nicht wahrnehmen, bzw. sie werden von ihnen umgedeutet, weil sie mit den Anforderungen der traditionellen Männlichkeit nicht vereinbar sind („Ein Junge wehrt sich doch!“, „Einem richtigen Jungen passiert so etwas nicht.“ etc.). Werden sie als Gewalthandlungen erkannt, schämen sich die Jungen oft, dass sie sich nicht (ausreichend) gewehrt haben und entwickeln zum Teil Versagens-, Schuld- oder Ohnmachtsgefühle. Stereotype Vorstellungen traditioneller Männlichkeit können auch zur Abwertung und Verdrängung von Gefühlen missbrauchter Jungen (Verrat, Traurigkeit, Angst, Schuld, Scham, Sprachlosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht) führen oder dazu, dass diese Gefühle aktiv und nach außen gerichtet ausagiert werden. Sie schneiden Jungen von Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten ab, weil sie die Suche nach Hilfe, Trost und Mitgefühl erschweren. Denn dies gilt als Schwäche und allen Jungen als Zeichen, kein „richtiger“ Junge zu sein. Jungen versuchen so oft mit ihren Problemen allein klarzukommen und vertrauen sich wenig an. Das mit der traditionellen Männlichkeit korrespondierende Heterosexualitätsgebot und die Abwertung von Homosexualität, führt zu der Angst der Jungen schwul zu sein oder dafür gehalten zu werden (Homophobie). Missbrauchte Jungen müssen, da zu 80-90% von Männern missbraucht, sich zum Teil zwanghaft beweisen, dass sie nicht schwul sind und ihre Männlichkeit, Überlegenheit und Stärke ständig beweisen (zum Teil durch (sexuell) aggressives Verhalten, vgl. auch Herschelmann 1996). Zudem werden vor allem emotional oder sozial vernachläs-

11 sigte Jungen sexuell missbraucht, die für Zuwendung, Aufmerksamkeit und Nähe besonders empfänglich sind, weil ihnen diese aufgrund schwieriger Lebensumstände in ihrem Leben bislang versagt geblieben sind (Bange 1995: 77, Bange/ Boehme 1997, Boehme 1997b). Deshalb kommen männliche Jugendliche auch nur selten in Beratungsstellen und bleiben oft mit diesem Problem allein. Gefordert werden daher niedrigschwellige, jungenspezifische Angebote in Schulen oder Jugendarbeit, damit Jungen eine ihren Bedürfnissen entsprechende Unterstützung bekommen (Boehme 1997a: 229, Boehme 1997b: 14, Bange 1995: 294). Eine präventive (sozial-)pädagogische Arbeit mit männlichen Jugendlichen, die es ihnen ermöglicht, auf Distanz zu verinnerlichten Vorstellungen traditioneller Männlichkeit zu gehen, ist daher notwendig. Eine solche Jungenarbeit kann ein Weg sein, betroffenen Jungen einen Zugang zu Hilfe zu ermöglichen und generell Jungen davor zu schützen. In der Entwicklung und dem aktuellen Stand einer solchen präventiven (sozial-)pädagogischen Arbeit mit männlichen Jugendlichen lässt sich ein zunehmender Blickrichtungswechsel in der Diskussion aufzeigen, weg von dem, was verhindert werden soll, hin zu dem, was – pädagogisch sehr viel interessanter – gestärkt werden kann (vgl. ausführlich Herschelmann 2001, Herschelmann 2004b). Sie ist zu einer subjektorientierten Pädagogik mit Jungen weiterzuentwickeln (vgl. Herschelmann 2005), deren Aufgabe nach Scherr (1997a, 1997b, 2000) darin besteht, die Jugendlichen zu einer bewussten und eigenverantwortlichen Auseinandersetzung mit Erwartungen und Zwängen zu befähigen und die Aufgabe, sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Geschlechterordnung als Mann zu definieren, als solche bewusst zu machen und sie dabei zu unterstützen, Entscheidungs- und Möglichkeitsspielräume bei der Bearbeitung dieser Aufgabe zu erkennen (Scherr 2000: 25/26). Daraus ergibt sich die zentrale pädagogische und erziehungswissenschaftliche Frage, wie Jungen und junge Männer Distanz zu verinnerlichten Vorstellungen traditioneller Männlichkeit gewinnen können, die für sie und für andere Probleme schafft, bzw. wie entsprechende Lern- und Entwicklungsbedingungen gestaltet werden können, die dies im Sinne umfassender Erziehung und Bildung ermöglichen. Dazu soll diese Untersuchung einen Beitrag leisten. In ihr wird der Prozess der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit in den Mittelpunkt gerückt und theoretisch und empirisch rekonstruiert. Dazu wurde ein eigenes theoretisches Modell entwickelt und darauf aufbauend eine explorative empirische Untersuchung durchgeführt.

12

1.2 „Boys-Narratives“: Grundlagen der Rekonstruktion des Prozesses der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit Für die Jungenarbeit, die seit einigen Jahren beginnt sich als Arbeitsfeld zu etablieren (vgl. zur Übersicht über deren Entwicklung und aktuellen Stand z.B. Bentheim/ Sturzenhecker 2006, Pech/ Herschelmann/ Fleßner 2005, Munding 2005, Krall 2005, Bentheim u.a. 2004, Gause 2004, Jantz/ Grote 2003, Scherr 2002, Sturzenhecker 2002, Sielert 2002, Sturzenhecker/ Winter 2002, Brenner 1999, Tiemann 1999, Vierzigmann/ Rudeck 1998, Sielert 1998a, Spoden 1998, Möller 1997, Winter 1996), zeigt sich auch in neueren Überblicksartikeln ein schon länger bestehendes lern- und entwicklungstheoretisches Defizit (vgl. Hoffmann 1993, BzgA 1995, Sielert 1995c, Kindler 1995), klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander und „ist die theoretische wie die empirische Basis, auf die sich Konzeptionen von Jungenarbeit gründen könnten, schmal.“ (Vierzigner/ Rudeck 1998: 5, ebenso Budde 2003). Eine der wenigen Ausnahmen bildete hier Kindler (1995), der entwicklungspsychologische Aspekte von Jungenund Männerarbeit thematisierte. Für die geschlechterbewusste Sexualerziehung zieht Sielert schon 1995 den Schluss: „Pädagogische Praxis braucht eine exakte, differenzierte Theorie, um der Vielfalt individueller Entwicklung gerecht zu werden und keine schablonierten Programme zu entwerfen.“ (Sielert 1995b: 92). Entsprechend fasst auch Tiemann (1999) gegen Ende seines Artikels, in dem er konzeptionelle Ansätze der Jungenarbeit analysiert, zusammen: „Einem pädagogischen Konzept liegt in der Regel ein theoretisches Modell von Entwicklung oder Sozialisation zugrunde, denn um auf etwas Einfluß zu nehmen, wie z.B. geschlechtstypisches Verhalten, sollte eine Kenntnis über die Entstehungsbedingungen vorliegen. Gerade im Bereich der Vergeschlechtlichung, oft fälschlich geschlechtsspezifische Sozialisation genannt, weisen die oben besprochenen Konzepte jedoch die deutlichsten Mängel auf. Sie kommen leider kaum über das altbekannte Theorem der vaterlosen Gesellschaft hinaus, ergänzt durch Hagemann-Whites (1984) These der männlichen Identitätsbildung durch die doppelte Negation der Mutter.“ (ebd.: 82)

Und auch Scherr (2002) stellt in seiner Expertise zum Stand der Jungenarbeit für den 11. Kinder- und Jugendbericht fest, „dass eine fachöffentlich konsensfähige und dem Stand der internationalen wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung entsprechende Fundierung von Jungenarbeit – trotz zahlreicher vorliegender Publikationen – noch aussteht“ (ebd.: 306).

Daran hat sich bis heute nur wenig geändert, auch wenn es in letzter Zeit eine Reihe von empirischen Untersuchungen in Deutschland gegeben hat (z.B. Schultheis/ Strobel-Eisele/ Fuhr 2006, Flaake 2005, Jösting 2005, Budde 2005,

13 Lammerding 2004)1. Insbesondere stellen King/ Flaake (2005) in Bezug auf männliche Adoleszente fest: „Für junge Männer ist jedoch eine Diskrepanz feststellbar zwischen der zunehmenden Thematisierung von als problematisch empfundenen Phänomenen (häufig betont werden etwa schlechteres Abschneiden bei schulischen Leistungen oder jugendkulturelle Auffälligkeiten) und dem Fehlen entsprechender theoretischer und empirischer Studien, die einen fundierten Interpretationshintergrund für diese Phänomene bieten könnten – darüber hinaus aber auch eine theoretische wie empirische Grundlage für das Verständnis von Prozessen der Vergesellschaftung und Individuation, der Bildung und Ausgestaltung von Selbstbildern in der männlichen Adoleszenz.“ (ebd.: 9)

Hier setzt die vorliegende Arbeit an: In ihr wird einerseits zur entwicklungstheoretischen Fundierung von Jungenarbeit ein theoretisches Modell entwickelt und vorgestellt (Kap.2 und Kap.3) und andererseits auf dieser Grundlage eine explorative empirische Untersuchung zur Entwicklung geschlechtlicher Selbstbilder in der (Spät-)Adoleszenz durchgeführt (Kap.4 und Kap.5). Daraus ergibt sich zusammengefasst folgender Gegenstand, der untersucht werden soll: Forschungsgegenstand ist der Prozess des selbst-reflexiven in Beziehung Tretens junger Männer zu ihrem Mann-Werden. Speziell geht es, auch vor dem oben skizzierten Hintergrund, um die Frage, „ob und wie sich in der Adoleszenz die Möglichkeit entwickeln kann, konventionelle Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit psychisch zu dekonstruieren und auf psychosozialer Ebene zu transformieren.“ (King/ Flaake 2005: 11). Es geht nicht um einen besonderen „Typ“ von (jungen) Männern, sondern um den Prozess der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit. Um diesen Prozess der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit theoretisch und empirisch rekonstruieren zu können, wurde ein eigenes theoretisches Modell „männlicher Sozialisation“ entwickelt. Damit wurde sich bewusst neu auf das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation bezogen, das in den vergangenen Jahren stark kritisiert worden ist, aktuell aber (verändert) wieder als sinnvolle Perspektive diskutiert wird.

1 So werden Differenzierungen zwar immer wieder gefordert (z.B. Winter 2004: 354, Winter/ Neubauer 1998: 21, Sielert 1996: 16, Sielert 1998b: 90), Zimmermann (2006) stellt in seinem aktuellen Überblick über den Stand zur geschlechtsspezifischen Sozialisation aber immer noch fest, dass Differenzierungen zwischen Jungen kaum empirisch untersucht werden (ebd.: 198).

14 Bilden (2006) fragt vor dem Hintergrund ihrer eigenen langjährigen Arbeiten zu „geschlechtsspezifischer Sozialisation“ und tief greifenden Veränderungen in der Frauen- und Geschlechterforschung: „Wie kann ich dazu noch schreiben nach der dekonstruktivistischen Hinterfragung der Begriffe und Konzepte der Geschlechterforschung und nach der postkolonialen Kritik?“ (ebd.: 45)2.

Sie begründet, warum für sie aktuell, trotz der berechtigten Kritik an der Ontologisierung eines binären „männlichen oder weiblichen Seins“ und des Eurozentrismus und Rassismus in der Beschäftigung mit dem Thema Sozialisation und Geschlecht, „Sozialisation“ weiterhin als Perspektive auf Subjektivierungs- und Vergeschlechtlichungsprozesse relevant ist. Für sie ist das Sozialisationskonzept immer noch nützlich, um die soziale Gewordenheit bzw. das lebenslange Werden von Menschen in Auseinandersetzung mit ihren gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu bezeichnen (ebd.: 46f). Sie begreift den „Sozialisations-Gedanken“ als Perspektive, „unter der sichtbar wird, dass und wie sich Individuen/ Subjekte im Prozess ihres Lebens in einer historischen Gesellschaft und Kultur entwickeln und verändern, dabei dynamische innere Strukturen (Persönlichkeitsstrukturen) aufbauen und z.T. mit der Zeit auch wieder verändern und gleichzeitig an der Reproduktion und Modifikation von Gesellschaft mitwirken.“ (ebd.: 47f)

Entsprechend spricht sie von „geschlechtsbezogener Sozialisation“, „als Prozess des andauernden Werdens, der Konstruktion von Individuen als Frauen und Männer (oder zu den wenigen Personen, die sich dem Dualismus zu entziehen versuchen) in einer gegebenen, aber sich verändernden Geschlechterordnung, in der Dynamik der Geschlechterverhältnisse.“ (ebd.: 48).

Auch Dausien (2006) plädiert, wie Knapp (1997), Maihofer (2002) und Bilden (2006) für eine kritische Wiederaufnahme des subjekttheoretischen Diskurses (ebd.: 17). Nach einer ersten Phase der Begründung und Entwicklung des Konzeptes der „geschlechtsspezifischen Sozialisation“ und einer zweiten Phase der Kritik und vollständigen Infragestellung des Konzeptes, konstatiert sie aktuell eine dritte Phase in der wiederum diese Kritik kritisiert und sich neu dem Zusammenhang von Sozialisation und Geschlecht zugewandt wird (ebd.: 22ff). Sie sieht in dem biographietheoretischen Ansatz eine Möglichkeit, unter Berücksichtigung der berechtigten Kritik am Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation, die sozialisationstheoretische Frage nach dem „Geschlecht-Werden“ konstruktiv wei-

2

Diese Kritik hat nun auch die Männlichkeitsforschung erreicht, vgl. Bauer u.a. 2007.