Bedroht Entscheidungsfreiheit Gesundheit und ... - Buch.de

Signet »EuP« verbunden sind, und von denen wir nun den vierten vorle- gen. Im ersten Band haben wir uns auf die Handlungsfelder »Lehre« und. »(politische) ...
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Damit Menschen miteinander leben können, bedarf es Regeln. Kaum jemand würde bestreiten, dass die eigene Entscheidungsfreiheit dort endet, wo durch meine Entscheidung andere zu Schaden kommen. Doch in einer zunehmend individualistischen und pluralistischen Gesellschaft besteht vielfach keine Einigkeit mehr darüber, welcher Schaden welches Gewicht bekommen und was überhaupt als Schaden gelten sollte. Diese Uneinigkeit äußert sich besonders heftig beim Aufeinanderprallen religiöser und nicht-religiöser Weltanschauungen, aber auch überall dort, wo individueller Nutzen und Allgemeinwohl einander entgegenstehen. Wie sollte eine pluralistische Gesellschaft daher klug zwischen individueller Entscheidungsfreiheit und Bevormundung im Sinne der Gemeinschaft abwägen? Können und wollen Individuen überhaupt gute Entscheidungen für sich selbst treffen? Und inwieweit kann Wissenschaft zu dieser bedeutsamen gesellschaftlichen Abwägung beitragen? Mit Schwerpunkt auf den Gebieten Gesundheit und Nachhaltigkeit widmet sich der Band dem Spannungsfeld zwischen Freiheit, Verantwortung und Bevormundung aus interdisziplinärer Perspektive.

ISBN 978-3-89785-650-9

Steger (Hrsg.) Bedroht Entscheidungsfreiheit Gesundheit und Nachhaltigkeit?

Florian Steger (Hrsg.)

EUP

Bedroht Entscheidungsfreiheit Gesundheit und Nachhaltigkeit? Zwischen notwendigen Grenzen und Bevormundung

Steger (Hrsg.) · Entscheidungsfreiheit

Florian Steger (Hrsg.)

Bedroht Entscheidungsfreiheit Gesundheit und Nachhaltigkeit? Zwischen notwendigen Grenzen und Bevormundung

mentis MÜNSTER

Die Publikation wurde durch die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina unterstützt. www.diejungeakademie.de

»Ethik und Praxis« (EUP) ist eine Buchreihe der AG »Ethik in der Praxis« der Jungen Akademie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Lektorat: Nancy Grochol (www.argwohn-lektorat.de) Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-650-9 (Print) ISBN 978-3-89785-643-1 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Florian Steger Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jochen Ostheimer Der Beitrag der angewandten Ethik zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Lenk Fortpflanzungsmedizin und die Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Steger Kann man die religiös begründete Beschneidung an minderjährigen Jungen medizinethisch rechtfertigen? . . . . . . . . . .

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Joachim Boldt Wie lässt sich Selbstbestimmung fördern? Anspruch und Wirklichkeit des Instruments Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Achatz Der Konflikt um die Zulässigkeit Synthetischer Biologie als politisches Problem und ein Lösungsvorschlag Angewandter Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siegmar Otto, Oliver Arnold und Florian G. Kaiser Rebound. Wieso Energieeffizienz ohne suffiziente Lebensstile nicht zur Reduktion des gesellschaftlichen Energieverbrauchs führt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Martin Kowarsch und Ottmar Edenhofer Vom Umgang mit Wertekonflikten in wissenschaftlichen Gutachten zur Klimapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Pietsch Die Datafizierung der Gesellschaft – zwischen Entscheidungsfreiheit und sozialem Engineering . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Steger

Vorwort Wir leben in einer Gesellschaft des Fortschritts, den aufzuhalten sowohl unrealistisch als auch unethisch wäre. Dabei stellt sich in konkreten Anwendungsfeldern wie der Medizin oder den Biowissenschaften darüber hinaus immer wieder die Frage, ob wirklich alles Machbare, alles technisch Mögliche, auch de facto umgesetzt werden sollte, es also gut ist, den möglichen Handlungsspielraum stets maximal auszureizen. Es stellen sich Fragen nach selbst gesetzten Grenzen, die uns Menschen in unserem Handeln einschränken. Ein aktuelles, manchen vielleicht futuristisch anmutendes Beispiel ist das Biohacking, das in das viel diskutierte Feld des Enhancement einzuordnen ist. 1 Menschliche Fähigkeiten wie das Sehen oder Hören werden hier zu verbessern gesucht und zwar keineswegs von Ärzten 2 oder primär Wissenschaftlern, vielmehr von Amateuren bzw. sogenannten Hackern, welche neue biotechnologische Entwicklungen für ein Enhancement nutzen: Magnetimplantate in den Fingern, um Magnetfelder spüren bzw. Gegenstände anziehen zu können, oder solche in der Ohrmuschel, um elektromagnetische Impulse als akustische Signale weiterleiten zu lassen. Die Ideen des Biohacking umfassen das weite Spektrum des Enhancement von der Optimierung der Schlafphasen bis zur Erhöhung des IQ. Kurzum geht es hier um den Übergang vom Menschen zur Maschine, der von Vertretern des Biohacking als zunehmend fließend beschrieben und auch am eigenen Körper gelebt wird. Es wäre weit gefehlt anzunehmen, dass es sich hier um ein reines Zukunftsszenario weniger Menschen mit sehr privaten Interessen handelt. Die Biohacking-Szene ist durchaus prominent, und die Anwendungsvielfalt konkreter Mensch-Maschine-Experimente ist breit. Biohacking ist ein gutes Beispiel um zu fragen, ob der Mensch hier bevormundet werden soll, insofern solche Handlungen per Gesetz zu verbieten wären. Ob es also ge1 2

Martins, F. P., Kobylinska, A.: Biohacking. In: Screen Guide 21, 2014, S. 86–89. Wo im Folgenden die maskuline Endung verwendet wird, sind Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint. Die Wahl der männlichen Schreibweise geschieht nur, um einen leserfreundlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen. Dies bezieht sich auf alle Beiträge in diesem Sammelband.

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Florian Steger

wisser Normen bedarf, um solche Grenzüberschreitungen einzuschränken, bei denen die körperliche Integrität aufgehoben wird. Aber mag man solche Handlungen auch als unvernünftig beschreiben, bleibt die berechtige Frage nach dem Recht der Grenzsetzung. So lange der einzelne Mensch volljährig, geschäftsfähig und einwilligungsfähig ist und sich bei der Umsetzung solcher Handlungen an sich selbst an den vorgegebenen ethischen wie rechtlichen Rahmen hält, wird sich kaum ein stichhaltiges Argument finden lassen, solche Handlungen zu verbieten. Freilich gehören Eingriffe, welche die körperliche Integrität aufheben, primär in ärztliche Hände, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln sollten. Voraussetzung, solche Handlungen durchzuführen, ist dann eine umfassende Aufklärung lege artis und eine eingeholte Einwilligung. Und freilich sind solche Eingriffe abzulehnen, die dem einzelnen Menschen Schaden zufügen. Sie aber grundsätzlich zu verbieten, scheint mir problematisch. Soweit ich sehe, liegt bei diesen Eingriffen keine medizinische Indikation vor, sodass auch kein Grund für eine ärztliche Liquidation gegeben ist, die im zweiten Schritt von der Solidargemeinschaft getragen werden muss. Aber auch andere Eingriffe wie das Piercing sind nicht medizinisch indiziert und werden, in der Regel selten, aber auch von Ärzten durchgeführt. Zudem gibt es eine Reihe von Eingriffen, die nicht medizinisch indiziert sind und dennoch von Ärzten durchgeführt werden, etwa zahlreiche plastischchirurgische Eingriffe. Hier gibt es stets die Grenze der Kostenübernahme, die als Wunschbehandlung selbst zu übernehmen ist. Aber auch in diesen Fällen wird kein generelles Verbot wunscherfüllender medizinischer Handlungen umzusetzen sein. Dennoch bleibt das Biohacking strittig und es gilt, eine Reihe von ethischen und juristischen Fragen zu diskutieren. Die Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis« der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina verfolgt das Ziel, nach einem Fundament der Bereichsethiken für die konkrete Praxisarbeit zu suchen und zu fragen, wie Ethik in der Praxis vermittelt werden kann. Dabei gehen wir in der Arbeitsgruppe davon aus, dass es über normative Kodifizierungsbemühungen bzw. über die Entwicklung einzelner Policies hinaus eines spezifischen Fachwissens sowie besonderer Fähigkeiten bedarf. Für ein solches Zusammenwirken von allgemeinen Regeln und spezifischen Handlungssituationen sensibilisiert der aristotelische Begriff der Phronesis. Die Ergebnisse unserer Diskussionen haben wir in Sammelbänden dokumentiert, die alle mit dem Signet »EuP« verbunden sind, und von denen wir nun den vierten vorlegen. Im ersten Band haben wir uns auf die Handlungsfelder »Lehre« und »(politische) Beratung« konzentriert. 3 Dabei war ein zentrales Ergebnis der 3

Steger, F., Hillerbrand R. (Hg.): Praxisfelder angewandter Ethik. Ethische Orientierung in Medizin, Politik, Technik und Wirtschaft (Ethik und Praxis), Münster 2013.

Vorwort

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Diskussion, dass im ethischen Diskurs Affektivität bzw. Emotionalität mehr gewürdigt werden sollten. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Fundament der Bereichsethiken haben wir in der Arbeitsgruppe auch diskutiert, wie der Begriff der Urteilskraft für die verschiedenen Ethiken fruchtbar gemacht beziehungsweise die Klugheit in der praktischen Ethik angewandt und als Tugend erlernt werden kann. In einem zweiten Band haben wir die Handlungsfelder von Medizin und Technik näher in den Blick genommen und dabei erneut auf Fragen der angewandten Ethik in der Praxis fokussiert. 4 An den Schnittstellen von Medizin und Technik ging es vor allem um ein gemeinsames moralisches Modell und darum, inwiefern – diskutiert an konkreten Anwendungsgebieten – die Phronesis als Tugend erlernbar ist. In einem dritten Band haben wir aus der Medizin in die Versorgung geblickt und auf das Spezialgebiet der Klinischen Ethikberatung fokussiert. 5 Dieser enge Fokus war insofern aufschlussreich, als bei einem Berater sowohl Emotionalität und Affektivität tägliche Begleiter des Handelns sind als auch die Klugheit im Mittelpunkt des Tagesgeschäfts steht – die Phronesis macht es zuallererst möglich, eine ethische Frage als solche zu erkennen. Insofern war es in diesem Zusammenhang noch einmal wichtig zu fragen, ob und wie diese Klugheit erlernbar ist. Im vierten, hier nun vorgelegten Sammelband wird der größte Teil der Diskussionen eines Workshops dokumentiert, welcher vom 14. bis 15. Juni 2013 unter dem Titel »Bedroht Entscheidungsfreiheit Gesundheit und Nachhaltigkeit? Zwischen notwendigen Grenzen und Bevormundung« im WissenschaftsForum Berlin am Gendarmenmarkt stattgefunden hat. Ausgangspunkt dieses Workshops, den ich gemeinsam mit dem Konstanzer Sozialpsychologen und Entscheidungsforscher Wolfgang Gaissmaier organisiert hatte, waren folgende Überlegungen: 6 Damit Menschen miteinander leben können, bedarf es Regeln. Kaum jemand würde bestreiten, dass die eigene Entscheidungsfreiheit dort endet, wo durch eigene Entscheidungen andere zu Schaden kommen. Doch in einer zunehmend individualistischen und pluralistischen Gesellschaft besteht vielfach keine Einigkeit mehr darüber, welcher Schaden welches Gewicht bekommen und was überhaupt als Schaden gelten sollte. Diese Uneinigkeit äußert sich besonders heftig beim Aufeinanderprallen religiöser und nicht-religiöser Weltanschauungen, aber auch überall 4

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Steger, F. (Hg.): Medizin und Technik. Risiken und Folgen technologischen Fortschritts (Ethik und Praxis), Münster 2013. Steger, F. (Hg.): Klinische Ethikberatung. Grundlagen, Herausforderungen und Erfahrungen (Ethik und Praxis), Münster 2013. Gaissmaier, W., Steger, F.: Die Grenzen individueller Freiheit. Darf die Gemeinschaft den Einzelnen bevormunden, wenn öffentliche Güter bedroht sind? Die AG Ethik in der Praxis suchte nach Antworten. In: Junge Akademie Magazin 16, 2013, S. 34–35.

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dort, wo individueller Nutzen und Allgemeinwohl einander entgegenstehen. Wie sollte eine pluralistische Gesellschaft daher klug zwischen individueller Entscheidungsfreiheit und Bevormundung im Sinne der Gemeinschaft abwägen? Können und wollen Individuen überhaupt gute Entscheidungen für sich selbst treffen? Und inwieweit kann Wissenschaft diese bedeutsame gesellschaftliche Abwägung informieren? In den Beiträgen wird auf die Themenfelder Medizin und Biologie, Energie und Klima sowie Umgang mit großen Datenmengen geblickt, und es wird eine interdisziplinäre Diskussion im Spannungsfeld zwischen Freiheit, Verantwortung und Bevormundung geführt. In seinem grundlegenden Text Der Beitrag der angewandten Ethik zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte diskutiert Jochen Ostheimer, welchen Anteil Ethikkommissionen zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte beisteuern können. Dazu stellt er das Konzept der angewandten Ethik vor und unterscheidet zwei Orte angewandt-ethischer Reflexion: das Wissenschaftssystem sowie Ethikkommissionen in ihren verschiedenen Gestalten. Vor diesem Hintergrund wird die gesellschaftliche Funktion von Ethikkommissionen analysiert. Diese besteht darin, so Ostheimer, gesellschaftlichen Konsens zu generieren, was in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht dargestellt wird. Abschließend wird in systematischer Perspektive mit Blick auf die Vorgehensweise von Ethikkommissionen die Unterscheidung dreier Konfliktdimensionen vorgeschlagen, die je andere Klärungsmethoden erfordern: Streit und Divergenzen erstrecken sich auf Tatsachenfragen, auf konträre Interessen sowie auf Überzeugungen und Wertvorstellungen. Nach dieser systematischen Eröffnung blickt Christian Lenk mit seinem Beitrag Fortpflanzungsmedizin und die Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung auf das Handlungsfeld der Medizin. Die Frage der Selbstbestimmung in der Fortpflanzungsmedizin berührt, so Lenk, ein aus ethischer Sicht besonders sensibles Thema, da in vielen Fällen auch die Frage eines angemessenen Schutzes des Ungeborenen sowie Rechte und Interessen anderer Personen, auch der reproduktiven Partner, betroffen sind. Lenk rekapituliert einige der »großen Themen« der Biomedizin wie die Liberalisierung im Umgang mit medizinischen Eingriffen sowie die Rolle des Staates in der Ausübung der »Biomacht« bei der Regulierung, aber auch Förderung und Implementierung neuer diagnostischer und medizinischer Verfahren und Eingriffe. Für die deutsche Situation scheint, so Lenk, der Versuch von Bedeutung gewesen zu sein, eine mittlere Position zwischen biopolitischem Laisserfaire und betont rigide-konservativen Ansätzen zu finden, die in der konkreten Normierung als »Primat familiär-partnerschaftlicher Beziehungen« gegenüber innovativen biotechnischen Entwicklungen in Erscheinung tritt. Lenk vermutet dahinter die Idee, dass nicht etwa die Reproduktionsmedizin Anlass zu neuen, technisch geleiteten Verwandtschaftsphänomenen geben

Vorwort

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solle, sondern umgekehrt die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin die bestehende Familien- und Gesellschaftsstruktur stärken können. Abschließend diskutiert Lenk verschiedene Szenarien der Reproduktionsmedizin in Hinsicht auf Nachhaltigkeit. Florian Steger schließt an Lenk mit einer Fragestellung in der Medizin an, wenn er in seinem Beitrag die Frage stellt: Kann man die religiös begründete Beschneidung an minderjährigen Jungen medizinethisch rechtfertigen? Steger konkretisiert mit seinem Beitrag die übergeordnete Frage des Sammelbandes und fokussiert dabei auf ein besonderes Spannungsfeld, in dem religiöse Wertanschauungen in besonderer Weise zu berücksichtigen sind. Es geht ihm in seinen Überlegungen um das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht des Kindes. Das Kind verliert mit der Beschneidung einen gesunden Teil seines Körpers und dies ohne medizinischen Vorteil. Das Kindeswohl ist ein staatlich zu schützendes Wohl. Mit der neuen Gesetzesgrundlage hat der Staat diese Verantwortung, das Kindeswohl zu wahren, den Ärzten übertragen. Auch wenn gesetzlich die Möglichkeit einer solchen Beschneidung nun gegeben ist, wird niemand einen Arzt, der nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln verpflichtet ist, zwingen können, eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung bei einem minderjährigen Jungen durchzuführen. Insofern trifft Steger mit seinem Beitrag den Kern der übergeordneten Frage, wie viele Regeln Menschen brauchen bzw. wie weit diese tragen, um ein Zusammenleben zu ermöglichen. Als nächstes blickt Joachim Boldt mit seinem Beitrag Wie lässt sich Selbstbestimmung fördern? Anspruch und Wirklichkeit des Instruments Patientenverfügung auf das Handlungsfeld Medizin. Patientenverfügungen sind als ein Instrument konzipiert worden, so Boldt, welches das Selbstbestimmungsrecht von Patienten stärken soll. Diese Aufgabe erfüllen Patientenverfügungen jedoch nicht in jeder Hinsicht ohne Schwierigkeiten. Boldt identifiziert vier besondere Problembereiche, die zu beachten sind, wenn sichergestellt werden soll, dass eine Patientenverfügung möglichst genau so umgesetzt wird, wie es dem Patientenwillen entspricht. Erstens: Wie kann eine Patientenverfügung formuliert sein, dass sie möglichst genau und ohne vermeidbare Interpretationsspielräume die relevanten Situationen, in denen sie gelten soll, und die geforderten oder zu unterlassenden medizinischen Maßnahmen wiedergibt. Zweitens: Das Problem möglicher Änderungen des Willens zwischen dem Zeitpunkt der Abfassung der Verfügung und dem Zeitpunkt, zu dem sie angewendet wird. Drittens: Welche Probleme sind mit der Festschreibung des Willens im Rahmen einer Patientenverfügung verbunden, wenn Willensbildung als dialogischer Prozess zu verstehen ist. Boldt zufolge lassen sich all diese Problembereiche weitgehend mithilfe von Begleitmaßnahmen bei der Abfassung und Umsetzung von Patientenverfügungen lösen. Der vierte Problembereich betrifft die Frage nach dem Status des Willens eines Pati-

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enten, der nicht mehr einwilligungsfähig, aber auch nicht völlig willenlos ist. Dies ist insbesondere bei Demenzkranken der Fall. Für den angemessenen Umgang mit solchen Patienten ist die dichotomische Unterscheidung in Einwilligungsfähigkeit und Einwilligungsunfähigkeit, die in Patientenverfügungen vorausgesetzt wird, nicht geeignet. Boldt schließt mit dem Hinweis auf das Desiderat der ethischen und rechtlichen Reflexion, ein darüber hinausgehendes Stufenmodell des abnehmenden Willens und des Umgangs mit diesem Willen zu entwickeln. Johannes Achatz blickt in seinem Beitrag Zell-teile und herrsche. Der Konflikt um das Framing Synthetischer Biologie als politisches Problem auf das aktuelle Forschungsfeld der Synthetischen Biologie, das einige auch für die Medizin als erfolgsversprechend erachten. Die Synthetische Biologie verspricht, so Achatz, eine Programmierung des genetischen Codes von Kleinstlebewesen. Am Reißbrett entworfene Bakterien könnten Biosprit produzieren, Schadstoffe abbauen oder medizinische Wirkstoffe erzeugen. Obwohl sich die Forschungen noch im ›proof-of-principle‹-Stadium befinden, wird bereits um Risiken und Chancen, Zulässigkeit und Unzulässigkeit möglicher Anwendungen und Produkte Synthetischer Biologie gestritten. Achatz untersucht in seinem Beitrag, warum diese Konflikte so frühzeitig und gerade bei dieser neuen Biotechnologie entbrennen und welche politischen Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten zum Einsatz kamen, um diese Kontroversen zu schlichten. Daraufhin arbeitet Achatz das eigentlich politische Problem heraus: Eine Erklärung für die politische Pattsituation wird über das ›Framing‹ des Gegenstandsbereichs vorgestellt und abschließend skizziert, wie ein angewandt ethischer Problemzugang einen möglichen Ausweg aus der verfahrenen Konfliktsituation anbieten kann. Nach Medizin und Biologie steht nun das Themenfeld Energie und Klima im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Den Auftakt machen Siegmar Otto, Oliver Arnold und Florian G. Kaiser mit ihrem Beitrag Rebound. Wieso Energieeffizienz ohne suffiziente Lebensstile nicht zur Reduktion des gesellschaftlichen Energieverbrauchs führt. Technologische Effizienzsteigerungen zur Reduktion des Energieverbrauchs, beispielsweise bei Autos, Kühlschränken oder Beleuchtung, sind die zentrale politische Strategie, so die Autoren, wenn es um Klimaschutz geht. Trotz deutlicher Effizienzsteigerungen zeigt ein Blick auf die Pro-Kopf-Verbrauchsdaten der Weltbank, dass der Energieverbrauch in Industrienationen nicht fällt, sondern bestenfalls stagniert. Die Einsparungen aus den technologischen Effizienzsteigerungen werden durch Mehrkonsum zumindest wieder ausgeglichen; es kommt zum Rebound-Effekt. Die Autoren geben eine psychologische Erklärung des allgegenwärtigen Rebounds und zeigen damit, dass persönlicher Konsum grundsätzlich rational, das heißt nutzenorientiert ist und durch eine unbegrenzte Zahl an persönlichen Zielen und Wünschen motiviert wird. Entspre-

Vorwort

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chend vorhersehbar werden Effizienzgewinne in Form von Zeit bzw. Geld in die Verwirklichung bisher unerreichter persönlicher Ziele investiert. Deshalb ist Rebound nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Herausforderung ist es, so die Autoren, Individuen zum Verzicht bzw. zu einem suffizienteren Lebensstil zu motivieren. Jenseits einer unwahrscheinlichen politischen Regulierung des Energieverbrauchs etwa durch kontrollierte Preissteigerungen oder durch Rationierung kann nur ein suffizienter Lebensstil Rebound verhindern. Hieran schließen Martin Kowarsch und Ottmar Edenhofer mit ihrem Beitrag Vom Umgang mit Wertekonflikten in wissenschaftlichen Gutachten zur Klimapolitik an. Werte- und Interessenskonflikte in liberalen, pluralistischen Demokratien stellen, so die Autoren, auch für die wissenschaftliche Politikberatung, insbesondere für großskalige Assessments, eine enorme Herausforderung dar. Die Autoren analysieren die in der Praxis vorherrschenden sowie die in der Literatur vorgeschlagenen Strategien des Umgangs mit Werten und Interessen in wissenschaftlichen Gutachten für die Klimapolitik. Dabei argumentieren sie, dass weder die konsensorientierte Strategie noch der Versuch einer Umschiffung von Wertekonflikten befriedigend sein kann. Umgekehrt lassen die in der Literatur oft empfohlenen, vielversprechenden diskursorientierten Ansätze meist einige entscheidende Fragen offen. Die hier alternativ vorgeschlagene Strategie verlangt die Exploration von klimapolitischen Handlungsalternativen und deren mögliche praktische Konsequenzen – jeweils explizit basierend auf alternativen, umstrittenen gesellschaftlichen Wertannahmen. Mithilfe der dadurch gewonnenen »Landkarten« des Wissens über gangbare zukünftige Politikpfade lassen sich Werte- und Interessenskonflikte in liberalen Demokratien konstruktiv diskutieren. Abschließend blickt Wolfgang Pietsch in seinem Beitrag Die Datafizierung der Gesellschaft – zwischen Entscheidungsfreiheit und sozialem Engineering auf den Umgang mit großen Datenmengen. Datenintensive Wissenschaft, auch unter der Bezeichnung Big Data bekannt, ermöglicht, so Pietsch, eine neue Form sozialen Engineerings, mit dem Teile einer sozialen Gruppe zu bestimmten Handlungen veranlasst werden können. Anwendungen finden sich im Bereich Werbung ebenso wie in der Politik. Ein besonders einschlägiges, aber auch problematisches Beispiel betrifft das sogenannte Microtargeting, das im amerikanischen Wahlkampf zunehmend eingesetzt wird. Hier werden große Datensätze verwendet, um Wähler gezielt zur Unterstützung eines Kandidaten zu mobilisieren. Die Technologie wirft sowohl wissenschaftstheoretische wie auch ethische Fragestellungen auf. Anhand einer Reflexion über den Freiheitsbegriff stellt Pietsch kritische Aspekte des Microtargeting heraus: zum einen die gezielte Informationsauswahl und zum anderen das Ausnutzen psychologischer Mechanismen.

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Herzlichen Dank sage ich den Beitragenden dieses Sammelbandes, dass sie als Autoren ihre Ideen zu einem druckreifen Manuskript ausgearbeitet und für diesen Band zur Verfügung gestellt haben. Der Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis« der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina danke ich wiederum für unserer gemeinsame Arbeit sowie erneut Nancy Grochol für die umsichtige Begleitung des Bandes.