Atomkraft und Protest

kette von Stuttgart bis zum Kernkraftwerk Neckarwestheim mit 60.000 Teilnehmenden durch zynischen Zufall genau auf den Tag der ersten Reaktorexplosion in ...
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Hochschulschrif ten zur Nachhaltigkeit

Christian Hillengaß

Atomkraft und Protest Die politische Wirkung der Anti-AKW-Bewegung in Deutschland, Frankreich und Schweden

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de

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© 2011 oekom, München oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH Waltherstrasse 29, 80337 München

Umschlaggestaltung: Volker Eidems Umschlagabbildung: © Florian Freundt (http://florian.freundt.org) Produktion und redaktionelle Betreuung: Volker Eidems Korrektorat: der Autor Druck: DIP – Digital Print Witten Dieses Buch wurde auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist eine nichtstaatliche, gemeinnützige Organisation, die sich für eine ökologische und sozialverantwortliche Nutzung der Wälder unserer Erde einsetzt.

Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-86581-278-0 e-ISBN 978-3-86581-358-9

Christian Hillengaß

Atomkraft und Protest Die politische Wirkung der Anti-AKW-Bewegung in Deutschland, Frankreich und Schweden

Vorwort Die vorliegende Untersuchung zur politischen Wirkung von Protest gegen die Atomkraft entstand von Februar bis Juli 2010. Im Herbst desselben Jahres beschloss die schwarzgelbe Bundesregierung gegen den massiven Widerstand der Anti-AKW-Bewegung, das Ende der Atomkraft in Deutschland in weite Ferne zu verschieben, um dann kaum ein halbes Jahr später wiederum den möglichst raschen Ausstieg aus der Kernkraft zu propagieren. Diese drastische Kehrtwende wird auf die Katastrophe von Fukushima zurückgeführt. Eine solche Herleitung erscheint auf den ersten Blick richtig, ist allerdings nicht ausreichend. Die Gründe hierfür sind vielschichtiger. Denn auch die Regierungen und Bevölkerungen anderer Staaten registrierten das Unglück mit Bestürzung, ohne dass dadurch die Grundlinien einer kernenergiebasierten Energiepolitik ernsthaft erschüttert wurden. Ein Schlüsselelement zur Erklärung dieses Phänomens liegt in der Betrachtung des Aufbegehrens der jeweiligen Bevölkerungen und den Wirkweisen und Chancen, die ein solcher Protest innerhalb eines politischen Systems hat. So hatten die Pläne zur Umkehr des rot-grünen Atomausstiegs die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland mobilisiert wie nie zuvor. Die unnachgiebige Haltung der Bundesregierung hielt den Protest wach; Laufzeitverlängerung hieß auch Protestverlängerung: die Anti-AKW-Bewegung war in Deutschland präsent wie jahrzehntelang nicht mehr. Damit schlugen die Meldungen aus Japan in eine bereits stark angespannte politische Atmosphäre ein. Dass die wochenlang im Voraus geplante Protestaktion einer 45 kilometerlangen Menschenkette von Stuttgart bis zum Kernkraftwerk Neckarwestheim mit 60.000 Teilnehmenden durch zynischen Zufall genau auf den Tag der ersten Reaktorexplosion in Fukushima fiel und damit entsprechende Wirkkraft entfaltete, ist hierfür ein vielsagendes Beispiel. Auch mit Blick auf die nur kurz zurückliegenden Großdemonstrationen und Gleisblockaden im Zusammenhang mit den Castor-Transporten nach Gorleben und Lubmin wird deutlich: die Schreckensnachricht aus

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Vorwort

Japan fiel in Deutschland gleichsam auf gemachten Boden. Sie brachte die Mauer konservativer Energiepolitik, an der sich der zunehmende Druck der Straße aufgestaut hatte, zum Einsturz. Viele Faktoren, die zu diesem Dammbruch beitrugen, liegen in den Eigenheiten des politischen Systems in Deutschland. Solche Eigenheiten spielen auch in anderen Staaten eine wichtige Rolle wenn, es darum geht, Veränderung oder Beibehaltung der energiepolitischen Linie und die Rolle, die Protest dabei spielt, zu erklären. Weshalb hält beispielsweise Frankreich auch nach Fukushima nach wie vor weitgehend unbeirrt an der Atomkraft fest? Weshalb wird dort die Regierung kaum durch Protest herausgefordert? Oder warum vollzieht sich beispielsweise in Schweden nichts, was den deutschen Reaktionen gleichkommt? Eine knappe Antwort hierauf lautet: weil unter anderem Protest gegen die Kernenergie in diesen Staaten unterschiedlich aufkommt und wirken kann. Eine ausführlichere Antwort dazu findet sich in der vorliegenden Betrachtung. Dieses Buch schildert die Entstehung und den Verlauf der Anti-Atombewegung in der Bundesrepublik Deutschland, in Schweden und Frankreich seit ihrem Aufkommen in den 1970er Jahren und zeigt die Hintergründe und Mechanismen auf, die für Erfolg beziehungsweise Nichterfolg des Protestes eine Rolle spielen. Die folgende Lektüre vermittelt also Wissen über politische Veränderungsmöglichkeiten durch aktive Bürgerinnen und Bürger. Möge sie inspirieren und das Verständnis für die Zusammenhänge erweitern.

Karlsruhe im April 2011

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Inhaltsverzeichnis

9

1 Einleitung 2 Fragestellung und methodisches Vorgehen

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2.1

Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.2

Die Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

3 Forschungsstand

17

4 Das Politikfeld Energie

20

5 „Atomkraft? Nein, danke!“ Kernkraft und Protest in der Bundesrepublik Deutsch22

land 5.1

Politische Rahmenbedingungen für Protest in der Bundesrepublik Deutschland . 22

5.2

Die Einführung der Kernenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

5.3

Aufkommen und Verlauf von Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

5.4

Reaktionen im Parteiensystem

5.5

Kernkraft und Protest in der Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz . . . . . 40

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

6 „Atomkraft? Nej, tack!“ Kernkraft und Protest in Schweden

43

6.1

Politische Rahmenbedingungen für Protest in Schweden . . . . . . . . . . . . . . 43

6.2

Die Einführung der Kernenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

6.3

Aufkommen und Verlauf von Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

6.4

Reaktionen im Parteiensystem

6.5

Kernkraft und Protest in Schweden – eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

7

Inhaltsverzeichnis

7 „Nucléaire? Non, merci!“ Kernkraft und Protest in Frankreich

63

7.1

Politische Rahmenbedingungen für Protest in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . 63

7.2

Die Einführung der Kernenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

7.3

Aufkommen und Verlauf von Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

7.4

Reaktionen im Parteiensystem

7.5

Kernkraft und Protest in Frankreich – eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

79

8 Ergebnisse 8.1

„Does protest matter?“

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

8.2

Faktoren für die Wirkung von Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

8.3

Protest-Parteien-Dynamiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

9 Fazit

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10 Literatur- und Quellenverzeichnis

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1 Einleitung „Die kontrollierte Kernspaltung und die auf diesem Wege zu gewinnende Kernenergie leiten den Beginn eines neuen Zeitalters für die Menschheit ein. [...] Die Hebung des Wohlstands, die von der neuen Energiequelle als einem Hauptfaktor der Zweiten Industriellen Revolution ausgehen kann, muss allen Menschen zugute kommen. In solchem Sinne entwickelt und verwendet, kann die Atomenergie entscheidend helfen, die Demokratie im Innern und den Frieden zwischen den Völkern zu festigen. Dann wird das Atomzeitalter das Zeitalter werden von Frieden und Freiheit für alle.“ Die Formulierungen des 1956 auf dem Münchner Parteitag der SPD beschlossenen „Atomplans“ (SPD 1956: 1ff.) bringen den Optimismus, mit dem die zivile Nutzung der Kernspaltung in Deutschland herbeigeführt wurde, auf den Punkt. Gänzlich unberührt von jeder parteipolitischen Couleur beherrschte die Euphorie, die aus jenen Zeilen spricht, die gesamte politische Elite der jüngeren Bundesrepublik. Die nuklearen Visionen jener Politikergeneration standen in Zusammenhang einer internationalen Aufbruchstimmung unter westlichen Industrienationen, maßgeblich ausgelöst durch die vielbeachtete „Atoms for Peace“-Initiative des US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower im Jahre 1953 und der zwei Jahre später folgenden Konferenz der Vereinten Nationen zur friedlichen Nutzung einer Technologie, die bisher vor allem verheerende Waffen hervorgebracht hatte. „It is not enough to take this weapon out of the hands of the soldiers. It must be put into the hands of those who will know how to strip its military casing and adapt it to the arts of peace.“ – Eisenhowers Appell, das bislang allein militärisch verwendete Wissen um atomare Zusammenhänge unter Aufsicht einer Internationalen Atomenergiebehörde der zivilen Nutzung zugänglich zu machen (Eisenhower 1953), ebnete für zahlreiche Staaten den Weg zum Einstieg in eine neue, scheinbar ideale Form der Energiegewinnung. Das, was sich dem Gedächtnis der

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