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07.12.2014 - Detektive suchen nach Indizien. Pynchons Universen sind voll von Hinweisen auf etwas Grosses und Dunkles, uns alle Beherrschendes.
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Nr. 10 | 7. Dezember 2014

NZZ am Sonntag

Churchill Neue Biografie zum 50. Todestag 20

Bleeding Edge 9/11-Thriller von Thomas Pynchon 7

Kinderliteratur Die schönsten Erzählungen & Sachbücher 14–15

Iso Camartin Wie ich die Musik lieben lernte 16–18

Bücher am Sonntag

Bücher und Geschenkideen – Jetzt entdecken!

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Inhalt

Steckt uns bitte an, Ihr Enthusiasten und Sonderlinge!

«Musik ist das Grösste, das der liebe Gott uns zum Geschenk gemacht hat», gestand Pater Flurin im hohen Alter und mit Tränen in den Augen seinem ehemaligen Schüler Iso Camartin. Dieser hat soeben ein Werk über Opernliebe veröffentlicht – «ein Buch für Enthusiasten», wie er es im Untertitel nennt. Camartin ist selbst Enthusiast. Exklusiv für «Bücher am Sonntag» schildert er, wie er als Jugendlicher zur Musik ge- und von ihr verführt wurde. Tatort: das Kloster Disentis, wo Camartin von 1959 bis 1965 Schüler war. Anstifter war der damalige Physiklehrer, der Benediktinermönch Flurin Maissen, der «liebenswürdigste Sonderling» der Klostergemeinschaft. Ein Erzieher, der nicht nur hellhörig für die Fähigkeiten seiner Zöglinge war, sondern derart ergriffen und begeistert von der Musik, dass er Schüler wie den jungen Iso für ihr ganzes Leben damit ansteckte. Lesen Sie die berührende Hommage an den Disentiser Geistlichen (Seite 16 bis 18). Neben Musik gehören auch Geschenke zur Weihnachtszeit. Sie finden Anregungen dazu auf unserer Doppelseite Kinder- und Jugendliteratur (S. 14/15) sowie unter den vielen Romanen, Bildbänden, Biografien und Geschichtsbüchern, die auf den folgenden Seiten besprochen werden. Wir wünschen Ihnen frohe Festtage und alles Gute zum Jahreswechsel. Am 25. Januar 2015 erwartet Sie dann ein Strauss Rezensionen, der die ersten Bücher des neuen Jahres vorstellt. Urs Rauber

Winston Churchill (S. 20). Illustration von André Carrilho

Belletristik Kurt Guggenheim: Werke VIII Von Manfred Papst 6 Jenny Offill: Amt für Mutmassungen Von Simone von Büren 7 Thomas Pynchon: Bleeding Edge Von Sacha Verna 8 Arnon Grünberg: Der Mann, der nie krank war Von Martin R. Dean 9 Ricarda Huch: Der Fall Deruga Von Jürg Scheuzger Stefan Falke: La Frontera Von Gerhard Mack 10 Thomas Mann: Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe Von Arnaldo Benini 11 Annette Pehnt u.a.: Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher Von Mareike Haase 13 Kristof Magnusson: Arztroman Von Sandra Leis

Kurzkritiken Belletristik 13 Patrick Modiano: Gräser der Nacht Von Manfred Papst Zadie Smith: Die Botschaft von Kambodscha Von Manfred Papst Wienachtsgschichte von Schädelin bis Lenz Von Regula Freuler Ricarda Junge: Die letzten warmen Tage Von Regula Freuler

Kinder- und Jugendbuch 14 Moa Eriksson Sandberg: Plötzlich war der Wald so still Von Andrea Lüthi Martha Heesen: Hunde muss man nicht mögen Von Andrea Lüthi Harald Rosenløw Eeg: Aber raus bist du noch lange nicht Von Verena Hoenig

GITTE SPEE

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Ulf Nilsson: Kommissar Gordon Von Christine Knödler Cory Doctorow: Pirate Cinema Von Daniel Ammann 15 Katharina Tanner, Laura Jurt: Sockenschlacht und Löwenzahn Von Hans ten Doornkaat Andreas Plitsch u.a.: Irgendwo in der Tiefe Von Verena Hoenig Meike Blatzheim u.a.: Das ist genau mein Ding! Von Andrea Lüthi Anja Tuckermann: Alle da! Von Christine Knödler Bärbel Oftring: Voll eklig! Von Sabine Sütterlin

Essay 16 Wie ich die Musik lieben lernte Der Publizist Iso Camartin schildert, wie ihn Pater Flurin Maissen geprägt hat

Kolumne 19 Charles Lewinsky Das Zitat von Karl Kraus

Kurzkritiken Sachbuch 19 Giulia Marthaler, René Donzé: Unzertrennlich Von Urs Rauber Michal Typolt: Kosher for ... Essen im Judentum Von Geneviève Lüscher Friedrich Dönhoff: Ein gutes Leben ist die beste Antwort Von Kathrin Meier-Rust Erna Eugster: Dreckloch Von Kathrin Meier-Rust

Sachbuch 20 Thomas Kielinger: Winston Churchill Winston Churchill: Reden in Zeiten des Krieges Von Urs Bitterli

22 Henriette Schroeder: Ein Hauch von Lippenstift für die Würde Von Malena Ruder 23 Stiftung HLS: Historisches Lexikon der Schweiz Von René Roca 24 Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus Von Geneviève Lüscher 25 André Holenstein: Mitten in Europa Von Tobias Kaestli David Geisser, Erwin Niederberger: Päpstliche Schweizergarde – Buon Appetito Von Urs Rauber 26 Adam Zamoyski: 1815 Von Kathrin Meier-Rust Thierry Lentz: 1815 Von Victor Mauer 27 SebastianMoll:AlbertSchweitzer Von Urs Rauber 28 Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz: Trockenmauern Von Sarah Fasolin Arnold Esch: Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters Von Peter Durtschi Jakob Kellenberger: Wo liegt die Schweiz? Von Christine Scherrer 29 Johann Legner: Joachim Gauck Von Gerd Kolbe 30 Marc Chesney: Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise Von Charlotte Jacquemart Das amerikanische Buch Jill Lepore: The Secret History of Wonder Woman Von Andreas Mink

Agenda 31 Michel Carly: Maigrets Frankreich Von Manfred Papst Bestseller Herbst 2014 Belletristik und Sachbuch Agenda Dezember 2014 Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

Belletristik Edition Mit dem Gesellschaftsroman «Gerufen und nicht gerufen» liegt die achtbändige, von Charles Linsmayer herausgegebene Ausgabe der Werke Kurt Guggenheims (1896–1983) nun abgeschlossen vor

ErwarZürichs treuesterChronist

Kurt Guggenheim: Werke VIII. Gerufen und nicht gerufen. Roman. Nachher. Erzählungen. Huber, Frauenfeld 2014. 320 Seiten, Fr. 43.90. Von Manfred Papst So richtig in Mode war er nie. Der Zürcher Schriftsteller Kurt Guggenheim (1896– 1983) war immer der Typus des stillen Schaffers. Zwar konnte er auch einige Erfolge verbuchen, so mit dem Zeitgemälde «Alles in Allem» (1952–1955), einer Zürcher Romantetralogie, welche die Jahre 1890 bis 1945 abdeckt und mit rund 150 Figuren ein vielfältiges Mosaik der Limmatstadt zeichnet, sowie mit dem 1959 erschienenen Werk «Sandkorn um Sandkorn», das sich in romanhafter Weise dem französischen Insektenforscher Jean-Henri Fabre annähert. Für diese Bücher wurde Guggenheim auch von der Stadt Zürich und von der Schwei-

PHOTOPRESS / KEYSTONE

Edition und Ausstellung

Die achtbändige Kurt-GuggenheimWerkausgabe ist 1989 bis 2014 bei Huber in Frauenfeld erschienen. Die Bände sind einzeln lieferbar. Im ersten Halbjahr 2015 zeigt Charles Linsmayer im Rahmen einer Zwischennutzung im Zürcher Museum Strauhof eine Ausstellung zu Guggenheims Zürcher Tetralogie «Alles in Allem», bevor das Haus im September unter nichtstädtischer Trägerschaft neu eröffnet wird. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

zerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Aber er hat nie die intellektuelle Öffentlichkeit polarisiert wie ein Friedrich Dürrenmatt, nie junge Generationen in den Bann geschlagen wie ein Max Frisch, nie einen Bestseller verfasst wie «Der Richter und sein Henker» oder «Homo Faber». Der Literaturkritik galt er meist als solider Schreiber und unpathetischer Patriot, konservativ und mitunter ein bisschen bieder. Dieser Einschätzung versucht der Germanist und Publizist Charles Linsmayer seit Jahrzehnten entgegenzuwirken. Mit der ihm eigenen Akribie und Beharrlichkeit hat er 1989 eine Werkausgabe des von ihm bewunderten Erzählers in Angriff genommen; nun, ein Vierteljahrhundert später, hat er sie zu einem glücklichen Abschluss gebracht. Um es vorwegzunehmen: Seine Edition verdient höchsten Respekt. Sie zeigt, dass Guggenheim mit seinen an der französischen «Clarté» orientierten Romanen, und zwar bereits mit dem Frühwerk «Sieben Tage» (1936), weit urbaner und moderner war, als es das verbreitete Vorurteil haben will. Die acht Bände umschliessen freilich nicht das Gesamtwerk des Kaufmannssohns, der aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammte, das Erbe des im Kaffee-Import tätigen Vaters in den 1920er Jahren aber glücklos verwaltete und alsbald Konkurs anmelden musste, worauf er sich fortan mit einer materiell bescheidenen Existenz zufrieden gab, die er mit Arbeiten in der Werbung, etwa für die Winterhilfe und Knorr-Suppen, sowie mit Drehbüchern («Wachtmeister Studer», «Gilberte de Courgenay») und einer Hörspielserie in Mundart aufzubessern suchte. Einiges musste Linsmayer weglassen: Die drei mehrheitlich von Altersresignation verdüsterten Tagebuchbände «Einmal nur», die Gottfried-Keller-Monografie «Das Ende von Seldwyla» und anderes mehr entfielen aus Gründen der Finanzen und des Platzes. Doch was in die Auswahl aufgenommen wurde, ist eindrücklich genug.

Linsmayers Ausgabe umfasst, je nachdem, ob wir das Opus magnum «Alles in Allem» als einen Band oder als vier Bände zählen, 14 bzw. 17 Romane und autobiografische Berichte sowie einen Band mit Erzählungen. Hinzu kommen die akribischen, reich illustrierten Nachworte des Herausgebers, die zusammengenommen einen eigenen gewichtigen Band bilden. Man kann über Guggenheim nichts Gründlicheres und Klügeres lesen als diese Appendices, und es steht zu hoffen, dass Linsmayers Edition mithilft, den Autor im literarischen Bewusstsein der Gegenwart zu behalten.

Auch C. G. Jung tritt auf

Zur Euphorie besteht in dieser Hinsicht freilich wenig Anlass, wenn wir betrachten, was mit den entsprechenden Werkausgaben von Meinrad Inglin und Albin Zollinger passiert ist: Sie wurden alsbald verramscht und vergessen. Kommerzielle Erfolge waren sie nicht. Sie überwintern in den Bibliotheken. Doch sie sind da, sind in der Welt. Das ist gut und wichtig. Jeder Kundige kann auf sie zugreifen, und ihre Zeit wird, wie die Erfahrung zeigt, wieder kommen. Autoren wie Glauser und Loosli, Zollinger, Inglin und Guggenheim werden alle paar Jahrzehnte neu entdeckt. Linsmayer vollendet seine Guggenheim-Edition, die nicht streng chronologisch, sondern thematisch angelegt ist, mit dem 1973 erstmals erschienenen Roman «Gerufen und nicht gerufen». Dieser schliesst chronologisch auf den Tag genau an «Alles in Allem» an und wartet abermals mit einer überwältigenden Vielzahl von Figuren auf, bringt bemerkenswerterweise aber keinen einzigen der Protagonisten aus dem Vorgängerwerk ins Spiel. Das Werk umspannt die Jahre 1945 bis 1970 und setzt sich kritisch mit dem Zürich der Nachkriegszeit und der Hochkonjunktur auseinander. In diesem Roman erweist sich Guggenheim, der vermeintlich Rückwärtsgewandte, unter anderem als hellsichtiger Zeitdiagnostiker: Als wertkon-

AUBREY DIEM / KEYSTONE

servativer Patriot, welcher sich als Jude der Schweiz stets zu Dank verpflichtet fühlte, beklagt er die Verhässlichung des Landes durch den ungebremsten Bauboom. Er kritisiert das entfesselte Gewinnstreben und versucht, ihm Werte entgegenzusetzen, die er in der Philosophie und Psychologie findet. Die Lehren Carl Gustav Jungs spielen eine grosse Rolle in diesem skeptischen, bisweilen schon resignativen Werk. Als «gestörtes Mandala» erscheint dem Erzähler die nur unvollständig von See und Flüssen umschlossene Stadt. Sogar der Titel des Romans bezieht sich auf den Seelenforscher aus Küsnacht: «Gerufen und nicht gerufen / Gott wird da sein» stand in lateinischen Worten über dessen Haustür. Nicht nur die Lehren Jungs erscheinen in dem Roman: Auch der Gelehrte selbst hat seinen Auftritt. Das ist ungewöhnlich in Guggenheims Werk: Denn obwohl er selbst immer wieder bekannt hat, er habe keine freischwebende Phantasie

und könne nur aus seinem ganz konkret Erlebten schöpfen, hat er die Figuren seines biografischen Umfelds sonst meist verfremdet. In «Gerufen und nicht gerufen» wird aus dem Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli Paul Mende, Züge von Guggenheims Verleger Bruno Mariacher beim Artemis-Verlag fliessen in die Figur Paul Märklin ein, Guggenheims Frau Gertrud Guggenheim-Schlozer wird zur Schriftstellergattin Gundi Dinhard.

Unerfüllte Liebe

Was aber hat den Kaufmannssohn überhaupt zum Schriftsteller gemacht? Prägend für ihn war – davon ist Linsmayer überzeugt – seine frühe Liebe zu Eva Hug, der späteren Ehefrau des Schriftstellers Albert J. Welti. Der junge Guggenheim warb um sie, durfte sie offenbar aber nicht heiraten, weil die Familie keinen Juden in der Familie haben wollte. An dieser unerfüllten Liebe hat sich Guggenheim abgearbeitet, unter anderem im

Bericht «Die frühen Jahre» (1962). Die heimliche Passion bildet den Glutkern seines Schaffens. Für seine Ehefrau ist das vermutlich nicht einfach gewesen. Doch da können wir nur spekulieren – und festhalten, dass der Pakt dennoch über Jahrzehnte gehalten hat. Es ist stets gefährlich und ein wenig anmassend, zu prophezeien, was von einem Autor bleiben wird. Wagen wir gleichwohl eine Prognose. Bei Kurt Guggenheim werden es sicher der bewegende Rechenschaftsbericht «Die frühen Jahre» sein, der zauberhafte Roman «Riedland», die Tetralogie «Alles in Allem», an der kein an der Zürcher Kulturgeschichte interessierter Leser vorbeikommt, samt ihrem geheimen fünften Band «Gerufen und nicht gerufen», vor allem aber «Sandkorn für Sandkorn»: Denn in der Begegnung mit dem grossen Entomologen hat Kurt Guggenheim zu jenem Geist der Exaktheit gefunden, die alle Literatur von Rang auszeichnet. ●

Kritisch und minuziös setzt sich Kurt Guggenheim mit dem Zürich der Nachkriegszeit und der Hochkonjunktur auseinander. Hier der Paradeplatz im August 1965.

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5

Belletristik

Roman Die Amerikanerin Jenny Offills zeichnet in ihrem Zweitling «Amt für Mutmassungen» das irritierende Kaleidoskop einer Mittvierzigerin, der das Leben abhanden kommt

EineEhe,mitKaugummi,Drahtund Schnurzusammengehalten Von Simone von Büren In den Briefen, die sich die Frau und ihr zukünftiger Ehemann am Anfang ihrer Beziehung schrieben, «schien manches so geringfügig, dass es die Mühe nicht lohnte». Scheinbar geringfügig ist auch der Inhalt von Jenny Offills Zweitling «Amt für Mutmassungen»: Anstatt einen Roman zu schreiben, kümmert sich die psychisch labile Protagonistin um ihr Kind, arbeitet als Ghostwriterin für einen «Möchtegernastronauten» und versucht, ihre Ehe zu retten. Alles unspektakulär. Und gerade deswegen der Mühe der Versprachlichung wert. Und versprachlichen tut die amerikanische Autorin ebenso souverän und sorgfältig, wie sie das Alltägliche beobachtet: Die Hitze ist bei ihr «wie eine Hand an meiner Brust», die Frau weint auf einem Parkplatz «wie ein Clown mit dem Gesicht auf dem Lenkrad», und ihre neugeborene Tochter starrt sie in der Nacht so verblüfft an, «als wäre mein Körper eine Insel, an die es sie als Schiffbrüchige verschlagen hatte». «Amt für Mutmassungen», mangels einer treffenderen Bezeichnung als «Roman» vermarktet, mutet an wie ein Tagebuch, eine über Jahre sich erstreckende Sammlung kurzer Einträge, zerstückelter Gedanken-Notate, isolierter Anekdoten, auf Post-its gekritzelter Notizen über Yoga, Bettwanzen und Schlafmangel. Darunter Sprichwörter, Zitate von Rilke, Keats und Simone Weil, Auszüge aus Persönlichkeitstests und Berichten über Weltraumforschung. «Diese Fetzen Lyrik, die wie Kletten an ihr haften», die Gedanken, Empfindun-

Jenny Offill beschreibt weit mehr als ein Ehedrama (Mai 2013).

gen und Aufgaben in den «in kleine Schnipsel» unterteilten Tagen lassen sich nicht in eine kohärente Gedankenabfolge oder in geordnete Handlungsstränge bringen. Deshalb die eigenwillige Struktur des Romans, zerstückelt wie die (Geistes-) Zustände und Alltagserfahrungen seiner Hauptfigur, voller Unterbrechungen und Lücken, die auf all das Nicht-fertigGedachte, Nicht-zu-Ende-Gebrachte verweisen, auf all die sich verlaufenden Geschichten, aber auch auf die schiere Menge an Material, das der Schreibenden zur Verfügung steht. In dieser Chronik der Zerstreuung droht sich die Protagonistin selbst ab-

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Sara Grob, Betriebsleiterin

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6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

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handen zu kommen: In der Mitte des Romans wechselt die Erzählperspektive von der Ich-Erzählerin, die ihren Mann mit «du» anspricht, zu einer distanzierteren dritten Person, die von «der Frau» und «dem Mann» und ihrer «mit Kaugummi, Draht und Schnur zusammengehaltenen» Ehe berichtet und erst am Ende wieder zu einem «Wir» findet. Es geht in «Amt für Mutmassungen» um viel mehr als um eheliche Zerrüttung, obwohl der deutsche Verlag den Text befremdlicherweise als «verhängnisvolles Ehedrama» bezeichnet. Freimütig und unaufgeregt hält die 46-jährige Autorin fest, wie das Leben einem mitspielt, wie emotionale Intensität abnimmt, wie Ansprüche angepasst und Visionen aufgegeben werden. Sie beschreibt, wie das Licht, das jeder bei der Geburt ausstrahlt, noch bis in die Dreissiger aufflackert und dann verglimmt; oder wie selbstverständlich manche Frauen mit der Zeit «den Ehrgeiz ablegen, als sei er ein kostspieliger Mantel, der einfach nicht mehr passt.» Dass diese schmerzliche Erfahrung bei Offill auch eine ist, mit der man sich versöhnen kann, mag damit zu tun haben, dass das Individuelle und Alltägliche in ihrem Buch eingebunden ist in grössere Zusammenhänge. Sie nennt intime Beziehungsmomente und banale Verrichtungen in einem Atemzug mit den astronomischen Phänomenen aus den Recherchen der Ghostwriterin. Sie zeigt, dass das Spektrum persönlicher Erfahrung und Empfindung ebenso enorm ist wie die «Bandbreite menschlicher Erfahrung», die in den 1970er Jahren auf der im Roman oft erwähnten «Golden Record» für die Nachwelt aufgezeichnet wurde. Das einzelne Leben in seiner ganzen unspektakulären Normalität erscheint so, faszinierend, als nie vollends überschaubarer Kosmos. ●

Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam/www.tosam.ch

Jenny Offill: Amt für Mutmassungen. Aus dem Englischen von Melanie Walz. DVA, München 2014. 176 Seiten, Fr. 25.90, E-Book Fr. 17.90.

LUCAS JACKSON / REUTERS

Roman 9/11 und das Internet stehen im Zentrum von Thomas Pynchons neuem Buch. Sie bilden den Rahmen für Verschwörungstheorien, Parallelwelten und einen veritablen Krimi

WahnversusWirklichkeit

Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 604 Seiten, Fr. 41.90, E-Book 31.–. Von Sacha Verna Thomas Pynchon lebt entweder im Himmel oder in der Hölle. Fragen kann man ihn nicht, denn zuletzt liess sich der berühmteste Unbekannte der zeitgenössischen amerikanischen Literatur irgendwann in den 1950er Jahren in der Öffentlichkeit blicken. Angesichts der Hingabe, mit welcher der 77-Jährige seit seinem Debüt «V.» (1963) groteske Szenarien entwirft, sollte er sich in der Gegenwart allerdings fühlen wie im Paradies. Ebola und aufgewärmte Kalte Kriege, Flugzeuge, die plötzlich vom Radar verschwinden, und globale Überwachungssysteme: Die Bedrohungen kommen heute in rauen Mengen und von allen Seiten, und selbst Leute, die sonst nicht dazu neigen, finden aus dem Spekulieren darüber nicht heraus. Genau das ist für diesen Schriftsteller vielleicht aber höllisch frustrierend. Was, wenn die Phantasie von der Realität ständig übertroffen wird?

Abtauchen ins Deep Web

Seinen achten Roman hat Thomas Pynchon jedenfalls in der nahen Vergangenheit angesiedelt. «Bleeding Edge» spielt kurz vor, während und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York. Maxine Tarnow, fast geschiedene Loeffler, ist eine Betrugsermittlerin ohne Lizenz, dafür mit Pistole und zwei Jungen in der Grundschule an der Upper West Side. Sie wird auf eine ComputerSicherheitsfirma aufmerksam und besonders auf die undurchsichtigen Aktivitäten von deren Chef, worauf sie bald selber in undurchsichtigen Aktivitäten steckt und zwischen ebensolchen Akti-

Thomas Pynchons Universum steckt voller Hinweise auf etwas Grösseres und Dunkles, das uns alle beherrscht. Manhattan (Bild) ist Schauplatz des Romans (2. Juli 2014).

visten. Die linken Blogger und rechten Mörder mit Regierungsauftrag, die Dotcom-Seifenbläser und Phantomwarenhändler, unter denen sich Maxine wiederfindet, haben alle etwas mit dem Albtraum zu tun, der sie zusammen mit dem Rest des irdischen Publikums im letzten Drittel des Buches im Wachzustand verfolgt. Oder auch nichts. «Bleeding Edge» fehlt es nicht an Pynchonia. Da ist das Ensemble von der Menge und Unübersichtlichkeit der IkeaKundschaft am 50-Prozent-Tag. Da sind die bizarren Namen wie Vyrva McElmo, Rockwell «Rocky» Slagiatt oder Otto Kugelblitz. Es wimmelt von sonderbaren Zufällen. Und wieder einmal bedient sich Pynchon des Krimis, um seine höchst eigenen Nachforschungen im Reich der Fiktionen anzustellen. Detektive suchen nach Indizien. Pynchons Universen sind voll von Hinweisen auf etwas Grosses und Dunkles, uns alle Beherrschendes. Doch im Gegensatz zu Sherlock Holmes & Co. sind Pynchons Spürnasen verstopft. Das Grosse bleibt dunkel und beherrscht uns weiter. Die Verschwörungstheorien häufen sich. An 9/11 sind der Mossad und die Saudis, die Russen, die Mafia und der CIA sowieso beteiligt. Sämtliche Bösewichte bewegen sich in der perfektesten aller Parallelwelten, die Thomas Pynchon erfunden hätte, würde es sie nicht schon geben: im Internet. In «Bleeding Edge» taucht Pynchon ins Deep Web ab, jene Sphäre unter dem kreuznormalen EShopping und Getwitter, die nur Eingeweihten zugänglich ist. Dort stösst Maxine auf DeepArcher. Oder besser, sie wird darauf gestossen, zumal sie über die Mosaiksteinchen, die sie zu einem Ganzen zusammenzufügen hofft, eher stolpert, als dass sie sie selber entdeckt. DeepArcher ist ein Utopia, frei von Kommerz und Konventionen, aber natürlich nicht für lange. «Nenn es Freiheit», kommentiert Maxines Vater das virtuelle Nirvana insgesamt einmal, «aber es basiert auf Kontrolle. Alle sind miteinander

verbunden, keiner kann mehr verloren gehen, nie mehr.» Alle sind vernetzt und versuchen krampfhaft, die Spinne zu ignorieren. Erzählerisch ist «Bleeding Edge» ein einziges Klickfest. Wie jeder Link zu zehn weiteren lockt, ist der Plot bei Thomas Pynchon bloss ein Vorwand für unzählige Subplots. So erfährt man von Ambopest, den Amerikanern mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sich einmal jährlich an Bord der «Borderline» treffen und als Borderliner zu einer gemeinsamen Kreuzfahrt aufbrechen. Man wird über den Zusammenhang zwischen dem Spätkapitalismus und RindfleischHühnerleber-Sandwiches aufgeklärt sowie über Emotherapie und buddhistische Gleichnisse. Das ist wie immer bei Pynchon viel zu viel, und doch kriegt man nicht genug davon.

Rhythmische Satzkaskaden

Thomas Pynchon verwandelt Umgangssprache in Kunst. Seine Dialoge klingen wie Mitschnitte aus Dinern und Aufzügen, in denen jedes keifende Paar über die Schlagfertigkeit des «Pulp Fiction»-Personals verfügt. Die Virtuosität, mit der Pynchon Sozialdiagnostik und Statusanalyse betreibt, ist bewundernswert und der Rhythmus seiner Satzkaskaden zum Mittanzen. Das ermöglicht die Übersetzung von Dirk van Gunsteren nicht immer, aber häufig. «Natürliche Mängel», Thomas Pynchons letzten Roman, haben manche als «Pynchon light» bezeichnet. Auch darin lief sich ein Private Eye die Hacken ab, um am Schluss vor noch mehr Rätseln zu stehen als am Anfang. «Bleeding Edge» ist weniger lüpfig und gleichwohl ein Variététheater der Paranoia, dargeboten vom besten Conférencier, den es dafür gibt. Das Jetzt mag eine Wirklichkeit gewordene Wahnvorstellung sein. Doch in diesem Roman entpuppt sich Thomas Pynchon einmal mehr als Garnspinne mit bunter Fliege. Noch liegen alle klebrigen Fäden in seiner Hand. ● 7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Belletristik

Schelmenroman Der Niederländer Arnon Grünberg beschreibt einen naiven Architekten, der in eine Albtraumwelt gerät

SchweizerinAbsurdistan

Arnon Grünberg: Der Mann, der nie krank war. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 250 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 20.–. Von Martin R. Dean

Talfahrt in die Hölle

Leider kommt Sam im syrischen Arbil als Erstes sein Koffer abhanden. Als er ihn zurückerhält, ist er mit den Kleidern eines anderen gefüllt. Statt Mahmoud erwarten ihn Männer mit finsteren Sonnenbrillen und dunklen Anzügen. Und Sam, ein Anhänger eidgenössischer Hygienestandards, bekundet Mühe mit dem schmutzigen Land. Das Hotel, in dem er auf seinen Gönner wartet, ist leer, Ameisenströme wandern durch die Dusche, Essen und Trinken sind kaum aufzutreiben, und das Leintuch ist voller Flecken. Die arabische Putzfrau, die ihn mit Teebeuteln versorgt, ist weit und breit der einzige Mensch. Doch arbeitet Sam weiter an seinen Plänen, bis ihm die Leibwächter unvermittelt mitteilen, dass Mahmoud gestorben sei. Da erinnert er sich an die Worte des grossen Fehmer: «Loos: talentierter Architekt, aber naiv. Gropius: grosses Talent – aber ein gutmütiger Trottel. ... Die Kraft eines Architekten ist die Differenz aus seinem Talent und seiner Naivität: k=t–n.» Statt ein Opernhaus zu bauen, wird Sam als Spion festgenommen, eingekerkert, von Schergen verhört und gefoltert. Er, der die Welt für eine einzige grosse Schweiz hielt, muss nun erleben, wie seine Peiniger Tag für Tag auf ihn hinunter urinieren. In diesem Stil nimmt Arnon Grünberg den Leser mit auf eine sinistre Talfahrt. Alles könnte sich in Wirklichkeit so ereignen, und dennoch verdichtet sich das 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

CLINT MCLEAN / CORBIS / DUKAS

Gleich zweimal schickt der niederländische Autor Arnon Grünberg seinen Schweizer Helden in die Fremde, um ihn das Fürchten zu lehren. Das erste Mal fährt der Mittvierziger Sam aus Zürich in den Irak, um dort für einen reichen Investor ein Opernhaus zu bauen. Am Flughafen verabschiedet er sich von seiner Freundin Nina. Beide sind sie ein artiges Paar, das sich nicht nur den Glauben an die Wirkung von Kunst, sondern auch an die Mässigung im Leben und eine strenge Hygiene teilt. Sam ist Angestellter beim berühmten Architekturbüro Fehmer & Geverelli. Fehmer will mit seiner Architektur die Menschen verändern. Auch der irakische Investor Hamid Shakir Mahmoud ist ein Menschenfreund, der im kriegsversehrten Bagdad ein Opernhaus bauen lassen will. Den Menschen Schönheit in Form einer Oper zu bringen, dafür holt er Sam ins Land. Gigantische Bauten in der Wüste. Arnon Grünbergs neuer Roman spielt im Nahen Osten. Hier eine Baustelle in Dubai (November 2013).

Geschehen immer mehr zu einer absurden, ja unwahrscheinlichen Groteske. Sam findet aus dem Albtraum nicht mehr heraus; sich gegen sein Schicksal aufzulehnen, liegt ihm sowieso nicht. Dabei stört, dass Grünberg nicht immer mit feiner Kelle anrichtet, auch sprachlich nicht. Spätestens dann, als der Schweizer Botschafter Sam heimholt, ahnt man, dass hier kein sozialer Realismus am Werk ist, sondern eine grobe Überzeichnung. Sam heisst eigentlich Samarendra Ambani, sein Vater ist ein nach Zürich eingewanderter Inder. Aber dafür interessiert sich Grünberg gar nicht. Er macht Sam zu einem zweihundertprozentigen Schweizer, der sich – wie alle Schweizer? – durch übertriebene Ordentlichkeit und einen Putzfimmel hervortut.

Grusliges Lesevergnügen

Natürlich lernt Sam auch beim zweiten Ausflug das Fürchten nicht. Nun soll er in Dubai eine gigantische Bibliothek und einen unterirdischen Bunker bauen. Dabei denkt man unwillkürlich an die Hybris von Stararchitekten, die auch brutale Diktaturen mit ihren Kunstwerken beschenken. Konsequent zeigt der jüdische Autor Grünberg auf, wie sein Held in der Finsternis dieses arabischen Landes untergeht. Mit präzisen Stimmungsbildern zeichnet er die Alltagsabsurditäten und die Tristesse einer mit Petrodollars vollgestopften Wüstendiktatur. Streckenweise liest sich der Roman so amüsant wie Antiwerbung für Touris-

mus in arabische Länder. Grünberg lässt Sam wohl deshalb scheitern, weil er nicht an die Möglichkeit der Verpflanzung von Hochkultur in menschenverachtende Diktaturen glaubt. Aber Samarendra Ambani ist weder Simplizissimus noch Felix Krull. Neben vielen wunderbar schrägen Ideen – etwa, wie Sam sein Foltertrauma durch eine ausgefallene Sexualpraktik mit seiner Freundin Nina «bearbeitet» – wirkt seine Naivität über weite Strecken aufgesetzt und sprengt die Grenzen des Wahrscheinlichen. Etwa wenn ihn Frau Geisendorf von der Botschaft in der Todeszelle in Dubai nach seinem letzten Wunsch fragt und er nach mehr Klorollen verlangt. Zu sehr ist Sams Einfalt nur Programm und zu wenig innere Haltung. Und unentschieden bleibt, ob die Überzeichnungen des als Schelmenroman angelegten Unternehmens die scharfsichtige Kritik des Autors nicht aushöhlen. Zuletzt besteht Sam darauf, dass der Raum der Todeszelle nur «seine Interpretation» sei: «Es gibt eine Tür, die ein anderer für mich entworfen hat. Hinter der Tür lauert Gefahr. Ich darf durch die Tür nicht hindurch, ich müsste durch die Wand gehen.» Das ist schlechter Kafka, bemühte Anspielung auf jene grandios existenzielle Aussichtslosigkeit des Pragers, die Grünberg kaum erreicht. Wer sich nicht daran stört, dass der Roman streckenweise auch mit dem Holzhammer gefertigt ist, wird an dieser Tragikomödie jedoch sein grusliges Lesevergnügen haben. ●

Kriminalroman Im 1917 erstmals erschienenen Werk «Der Fall Deruga» behandelt Ricarda Huch ein höchst aktuelles Problem: die aktive Sterbehilfe

EinDoktor tötetausLiebe

Ricarda Huch: Der Fall Deruga. InselTaschenbuch, Berlin 2014. 211 Seiten, Fr. 12.90. Von Jürg Scheuzger Ricarda Huch (1864–1947) war der Schweiz auf vielfache Weise verbunden. Sie studierte an der Universität Zürich, sie arbeitete in Zürich als Bibliothekarin und Lehrerin. Die gebürtige Braunschweigerin lebte danach in Wien, München, Triest und Jena; sie lehnte den Nationalsozialismus bedingungslos ab und war bekannt mit Widerstandskämpfern des 20. Juli. Sie schrieb enorm viel, literarische und historische Werke. Immer wieder zitiert wird die dreibändige

«Deutsche Geschichte». In ihrer Zürcher Dissertation erforschte sie die eidgenössische Neutralitätspolitik während des Spanischen Erbfolgekriegs. Ihren Kriminalroman «Der Fall Deruga» (1917), der nun als Insel-Taschenbuch neu erschienen ist, soll sie selbst als «Schundgeschichte» bezeichnet haben, die sie wegen des grosszügigen Honorars geschrieben habe. Doch der Roman ist bis heute lesenswert. Er handelt von einem Mordprozess in München, offenbar in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Eine schwer krebskranke Frau ist mit Curare ermordet worden, verdächtigt wird ihr Mann, von dem sie seit 17 Jahren geschieden ist, Sigismondo Enea Deruga, ein italienischer Arzt, ein verschuldeter Hallodri, dem es um das

STEFAN FALKE

Fotografie Das Leben hinter der Grenze

Der Maler begutachtet sein Bild: Ein Obdachloser sitzt in einer Strasse der mexikanischen Grenzstadt Tijuana. Alfredo Libre Gutierrez fertigt Gemälde von Menschen, die in den USA aus der Gesellschaft gefallen sind und im südlichen Nachbarland leichter zu überleben suchen. Der junge Künstler ist einer von vielen, die sich mit dem Leben hinter der Grenze auseinandersetzen. Die USA importieren billige Arbeitskräfte und Drogen, in Mexiko toben Drogenkriege. Als die Nachrichten um 2007 davon voll waren, wollte Stefan Falke sehen, wie das Leben der Menschen südlich des Grenzzauns ist. Der in

New York lebende Fotograf kannte eine mexikanische Künstlerin. Am 4. November 2008, als Barack Obama das erste Mal zum Präsidenten gewählt wurde, kam er in Tijuana an. Seither war er achtmal in der Grenzregion. Über 180 Künstler hat er fotografiert. Er will zeigen, wie Menschen sich mit ihrer Kreativität gegen Gewaltverhältnisse und Einschränkungen zur Wehr setzen. Sein Buch über die Grenze ist ein berührendes Zeugnis der Menschlichkeit und des Lebenswillens. Gerhard Mack Stefan Falke: La Frontera. Edition Faust, Frankfurt 2014. 232 Seiten, über 200 Farbabbildungen, Fr. 50.90.

Geld der sehr wohlhabenden Kranken gegangen sein soll. Die Autorin gestaltet den Prozess als eine Folge von literarischen Kabinettstücken, mit glänzenden Personenbeschreibungen, sehr unterhaltsam. Den Fall klärt sie schon früh selbst auf: Deruga hat seine Ex-Frau auf deren Verlangen getötet, um sie von ihren unerträglichen Schmerzen zu befreien; es geht um aktive Sterbehilfe. Deruga wird am Schluss freigesprochen und beinahe als Held gefeiert. Huch war während einiger Jahre mit einem italienischen Zahnarzt verheiratet, und offenbar hat sie in dem Roman ihren Ex-Mann porträtiert. Mit Deruga ist ihr eine faszinierende und beunruhigende Gestalt gelungen. Zuerst erscheint er als düsterer Dandy, missgelaunt, vom eigenen Prozess gelangweilt – einmal schläft er während einer Zeugenvernehmung ein. Launisch und unbeherrscht ist er in den kurzen Jahren der Ehe gewesen. Aber je mehr Zeugen ihn charakterisieren, desto mehr erscheint er als ein liebender Mann, den alle schätzen und dem alle helfen wollen. Deshalb hat ihn seine leidende Ex-Frau auch um die erlösende Tötung gebeten. «Du bist der einzige, der mich lieb genug hat, um mich zu töten.» Huch gestaltet das Geständnis Derugas und die Schilderung der Stunden vor der Tötung als einen Hymnus der Liebe: «Während ich allein […] sass und wartete, habe ich die Seligkeit des Himmels genossen. Mehrere Stunden lang fühlte ich die mit nichts auf der Erde vergleichbare Wonne, die […] Heilige genossen haben, wenn der Schmerz aufhörte und Engel mit der Krone des ewigen Lebens sich aus den Wolken auf sie niederliessen. Mein Herz war ganz und gar voll von der göttlichen Liebe, die nichts will als das Glück des Geliebten.» Nach der Klimax des Tötens aus Liebe – die Tötungsszene ist ein Höhepunkt zärtlichen Erzählens – hat Deruga keine Lebenskraft mehr; kurze Zeit nach dem Prozess begeht er Suizid. Der Roman ist ein Plädoyer für die aktive Sterbehilfe; eine Gegenposition zu der Derugas gibt es nicht. In den lebendigen Dialogen der ausnahmslos klugen Protagonisten wird deutlich, dass Ricarda Huch mit Freuds Lehre vom Unbewussten vertraut war. Dennoch ist ihr Erzählstil durchaus vormodern, gediegen, geradezu treuherzig. Gar nicht ist zu erkennen, dass Huch den Roman während der Schreckensjahre des Krieges geschrieben hat. Als ein Hauptproblem der Damen aus den besten Kreisen erscheint die Langeweile. Dass «Der Fall Deruga» nun wieder vorliegt, ist erfreulich, aber ein informatives Nachwort fehlt empfindlich. Der Roman wurde übrigens 1938 verfilmt, mit Willy Birgel in der Titelrolle und mit einigen weiteren UFA-Stars. ● 7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

Belletristik

Drama Thomas Manns einziges Theaterstück «Fiorenza» spielt 1492 und war bei seiner Uraufführung ein eklatanter Flop. Die erste kommentierte Ausgabe lädt zu einer Neubewertung ein

AlsSavonarolainFlorenz mitLorenzodeiMedicistritt Von Arnaldo Benini Für Thomas Mann war das dreiaktige Drama «Fiorenza» «der Versuch eines Liedes in höherem Tone: jugendliche Ruhmeslyrik schwingt darin, Ruhmeslust...». Sein einziges Theaterstück, vollendet 1905, war ein ehrgeiziges Produkt. Mit einem Drama über die sich am 8. April 1492 in Florenz abspielende Konfrontation zwischen Girolamo Savonarola und dem sterbenden Lorenzo dei Medici stellte sich der noch junge Schriftsteller vor, einen «höheren Ton» zu erreichen als mit Erzählungen und dem Roman «Buddenbrooks». Das Thema war kulturgeschichtlich anspruchsvoll, umstritten und heikel. Der Autor arbeitete sich mit gewohntem Fleiss durch Werke von Philosophen, Historikern und Biografen. Die neuplatonischen und streitsüchtigen Humanisten des Kreises um Lorenzo il Magnifico, verängstigt und unsicher wegen der Krankheit ihres Mäzens, sind meisterhaft dargestellt. Prächtig ist die Person des 17-jährigen Kardinals Giovanni (zukünftiger Papst Leo X.), zweiter Sohn von Lorenzo, der trotz seines jugendlichen Alters in den Mäandern der Kirchenpolitik gut zurecht kommt. Im Bewusstsein seines hoffnungslosen Zustandes gibt Lorenzo dem Wunsch seiner Liebhaberin Fiore nach, den Dominikanermönch aus Ferrara und Prior des Konvents San Marco, Bruder Girolamo (der Name Savonarola kommt nie vor), und heftigen politischen Gegner zu treffen.

Dem streitbaren Mönch aus Ferrara, Girolamo Savonarola, widmete Thomas Mann ein Theaterstück. Lehmbüste von Giovanni Bastianini, Mitte 19. Jahrhundert.

MAURITIUS IMAGES / UNITED ARCHIVES

Thomas Mann: Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe . Grosse kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden. Hrsg. von Elisabeth Galvan. S. Fischer, Frankfurt 2014. 500 Seiten, Fr. 59.90.

Die ersten zwei Akte und die erste Hälfte des dritten Aktes sind die Einführung zum Disput zwischen dem 43-jährigen, hochgebildeten und erfolgreichen Politiker und Herrscher in hellenistischem Stil mit dem asketischen, ebenso hochgebildeten Mönch, Theologen und Bibelkundigen. Lorenzo hatte seine Stadt durch den blühenden Humanismus geprägt, mit hemmungsloser Lebenslust und Suche nach der Schönheit in jedem Aspekt des Lebens. Die kosmopolitische Kultur, die bildende Kunst, die

Feinheit des Handwerks, die Reform der Finanzwelt und die beispiellose Baukultur machten Florenz zur Wiege der europäischen Renaissance.

Welt des Fleisches

Für den Mönch hingegen ist das Florenz der Medici Vorort der Hölle, ein Babylon, das in einer üppigen Leichtfertigkeit lebt, Mutter der bösen Lust, der Tänze, der obszönen Lieder und Aufzüge, der verpönten Bücher der italienischen und lateinischen Dichter, des Parfums, heidnischer Bildwerke und Gemälde von unzüchtiger Schönheit, wo sogar die Gottesmutter als Freudenmädchen gemalt wird. Eine freche Welt des Fleisches, und die unzähligen Kurtisanen, die in Florenz flanieren, sind «vaccae pingues», fette Kühe. Nur wenn Florenz Busse tut, kann es sich retten. Derartige Predigten des Priors sind, so berichtet Pico della Mirandola den entsetzten Kollegen, ein jüngstes Gericht in Worten gegen die Stadt und gegen Lorenzo. Nicht nur das: Papst, Klerus, Fürsten, Dichter und Künstler sind am Weltuntergang und Ruin von Kirche und Religion schuld. Wenn der Prior mit unvergleichlicher Kunst, die Gewissen zu wecken, zum Volk spricht, ist der Florentiner Dom Santa Maria del Fiore mit Menschen gefüllt, die dem Prediger Hände und Füsse küssen und Stücke von seiner Kutte abschneiden wollen. In Thomas Manns Text äussern sich Phantasie, Wut und Ärger der Freunde Lorenzos in pöbelhaften und pittoresken Insultationen gegen den Prior. Wurm,

Lukas Bärfuss

KOALA Roman 10CAsNsjY0MDAx0jUwMLM0NAUA9y8dUg8AAAA=

»Lukas Bärfuss ist der aufregendste Autor der Schweiz.«

© Foto Lukas Bärfuss: Frederic Meyer

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über 35.000 Exemplare verkauft 184 S., geb., Schutzumschlag ISBN 978-3-8353-0653-0 Auch als E-Book

10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

Richard Kämmerlings, Die Welt

»ein autonomer Roman eines gestaltungskräftigen Autors« Aus der Preisbegründung der Jury

6. Aufl. im Handel, 7. Aufl. in Vorbereitung

www.wallstein-verlag.de

Anthologie Geschichten über Bücher, die es nicht gibt

Alles erfunden Annette Pehnt, Friedemann Holder, Michael Staiger: Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher. Piper, München und Zürich 2014. 224 Seiten, Fr. 39,90. Von Mareike Haase

widerwärtige Kapuze, Fledermaus, Schuft, Uhu, Eule, lächerliche Kutte, Schurke, Räuber, Mensch von hässlicher Natur: So nennen sie ihn. In der Tat hatten die drei führenden Intellektuellen des Kreises um Lorenzo, Angelo Poliziano, Pico della Mirandola und Marsilio Ficino, für den Mönch aus Ferrara selbst bei kritischer Haltung Respekt. Was bewegt Lorenzo zu einem Dialog mit dem unversöhnlichen Feind? Dieser hat tatsächlich stattgefunden; man weiss aus verbindlicher Quelle, die Thomas Mann allerdings nicht kennen konnte, dass Lorenzo dadurch tiefen Trost fand. Bruder Girolamo erfüllte auch seinen Wunsch des letzten Segens. Beim Hinschied des Feindes war er Seelsorger und nicht Politiker und Volkstribun.

Thomas Manns Sorgenkind

Nicht verbindlich überliefert sind Wortlaut und Inhalt des Dialoges, der sich wahrscheinlich auf Gebete beschränkte. So hatte die Phantasie des Dichters freien Lauf. Auch wenn die Beschreibung des humanistischen Kreises um Lorenzo und der Spaltung der Florentiner Gesellschaft stellenweise bravourös wirkt, ist der Dialog doch so irreal, dass er mehr als Opera buffa denn als Drama wahrgenommen wird. «Sind Geist und Schönheit denn gegen einander gesetzt?», fragt Lorenzo den finsteren Dominikaner. Bestimmt verwendet kein Sterbender seine letzte Kraft, um die Schönheit und die Kunst gegen die Tugend der Askese und der Bescheidenheit zu behaupten. Die Beharrlichkeit des Mönches, Lorenzo als «Bruder» nicht anzuerkennen («der Grössere bin ich»), löst im moribunden Lorenzo einen Wutanfall aus: Unter den Augen des Rivalen stirbt er. Bei diesen Erfindungen hat Thomas Mann die Kreativität im Stich gelassen. Man hat gar von Kitsch gesprochen. «Fiorenza» war für ihn dennoch wegweisend. Der italienische Germanist Ladislau Mittner hat darauf hingewiesen, dass sich in «Fiorenza» bereits die Erzählstruktur des «Zauberbergs» ankündigt, wo Dialoge, heftige moral-politische Auseinandersetzungen, Reflexionen über Kunst, Musik, Wissenschaft, Medizin und Psychologie etwa die Hälfte des Romanes ausmachen. Einen «höheren Ton» hat Thomas Mann mit seinem dennoch lesenswerten Theaterstück nicht erreicht. Er selbst sprach später vom «Sorgenkind», das sich auf der Bühne als «lebensunfähig» erwies. Es ist nun neu erschienen (zusammen mit sieben Gedichten und einem Filmentwurf), als Band der Grossen Ausgabe von Thomas Manns Werk bei S. Fischer. Eine gute Gelegenheit, eine fast vergessene Arbeit von Thomas Mann zu lesen. ●

«Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiss nie, was man kriegt.» Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher ähnelt einer solchen Pralinenschachtel, in der sowohl bekannte als auch neue Pralinés zur genussvollen Lektüre einladen. Obwohl der Titel eines Buches jenen Aspekt darstellt, der die Aufmerksamkeit zuerst fesselt, gerät er beim Lesen meist in Vergessenheit. Was man erst dann bemerkt, wenn derjenige, dem man begeistert von der neuen Lektüre erzählt, die Frage nach dem Buchtitel stellt. Annette Pehnt, Friedemann Holder und Michael Staiger brechen mit der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher, in der sie Titel-Geschichten von 71 Autoren versammeln, eine Lanze für jenes Element des literarischen Schaffens, das vielfach dessen Ausgangspunkt und Inspirationsquelle darstellt. So berichtet Clemens J. Setz davon, wie der Titel «Mein Abend mit den drei vollkommen identischen Tauben» ihm einst im Traum erschien und wie er seit Jahren immer wieder versucht die dazu passende Geschichte zu schreiben. Dass ein Wort wie «Kannibale» im Romantitel eher unpassend ist, wie Paul Ingendaay von seiner Verlegerin erfuhr, verweist auf die Schwierigkeiten und ungeschriebenen Gesetze der Titelfindung. Ironischerweise stimmt der Titel der «Bibliothek der ungeschriebenen Bücher» nur zum Teil mit deren Inhalt überein. Die Mehrzahl der Autoren und Autorinnen berichtet über Titel von ungeschriebenen Büchern, aber es finden sich auch Texte über geschriebene Bücher, die auf Drängen des Verlags hin einen anderen als den vom Autor favorisierten Titel erhielten. Die Titel-Geschichten aus allen Gattungen und Genres reichen von skurrilwitzigen Anekdoten bis hin zu philosophisch-autobiografischen Exkursen zum Verhältnis von Autor und Werk. Die Abbildungen der potenziellen Buchcover machen die Lektüre auch zu einem visuell-ästhetischen Vergnügen. Wer sich für die Geschichte hinter geschriebenen und ungeschriebenen Geschichten und die Bedeutung von Titeln interessiert, Einblicke in den Alltag eines Schriftstellers erhaschen möchte und sich für die visuelle Buchgestaltung begeistert, für denjenigen ist die «Bibliothek der ungeschriebenen Bücher» ein Muss. Denn diese literarische Wundertüte lädt zum Neu- und Wieder-Entdecken verschiedenster Autoren ein und ist damit als literarischer Adventskalender oder unter dem Weihnachtsbaum auch das ideale Geschenk für Bücherfreunde jeder Art. ●

816 S., 97 Grafiken, 18 Tab. Geb. sFr 40,90 (UVP) ISBN 978-3-406-67131-9

„Dieses Buch wird die Ökonomie verändern und mit ihr die ganze Welt.“ Paul Krugman, The New York Review of Books

„Eine brilliante Erzählung über Reichtum und Armut.“ Nikolaus Piper, Süddeutsche Zeitung

848 S., 110 farbige Abb. u. 19 Ktn. Ln. sFr 53,90 (UVP) ISBN 978-3-406-66657-5

Fünf Millonen Jahre Menschheitsgeschichte – von den Anfängen bis zur Entstehung der frühen Hochkulturen. „Unglaublich spannend und stilistisch brillant erzählt.“ RBB

C.H.BECK www.c hb eck .de

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11

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Belletristik

Roman Kristof Magnusson ist ein Meister präziser Milieustudien

Ärzte sind auch nur Menschen

Kurzkritiken Belletristik Patrick Modiano: Gräser der Nacht. Deutsch von Elisabeth Edl. Hanser, München 2014. 176 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 18.90.

Zadie Smith: Die Botschaft von Kambodscha. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 118 Seiten, Fr. 12.90, E-Book 10.–.

Nach dem überraschenden, aber hochverdienten Nobelpreis für den Franzosen Patrick Modiano hat Hanser die Produktion von dessen nächstem Roman beschleunigt und legt ein für Frühjahr 2015 vorgesehenes Werk bereits jetzt vor. «Gräser der Nacht» ist ein typischer Modiano: atmosphärisch dicht, von hoher sprachlicher Eleganz – und abermals eine Spurensuche im Halbschatten. Der IchErzähler, ein angehender Schriftsteller namens Jean, geht aus der Distanz von Jahrzehnten einer Geschichte nach, die sich im Paris der 1960er Jahre zugetragen hat. Er hat damals Dannie kennengelernt, eine bezaubernde junge Frau ohne feste Adresse und mit falschen Papieren. Sie gehörte zu einem Kreis im Quartier Montparnasse, der politische Kontakte zu Marokko unterhielt. Was mag aus ihr geworden sein? Die Recherchen führen Jean zu einem ungeklärten Todesfall. Funkelnde Prosa, kongenial übersetzt.

Fatou ist aus Afrika nach London gekommen. Hier arbeitet sie gegen Kost und Logis bei der Familie Derawal. Sie putzt, kocht, hütet die Kinder. Sie wird kurz gehalten, auch schikaniert. Montags geht sie mit der stibitzten Dauerkarte der Familie ins Schwimmbad. Auf dem Weg kommt sie an der Botschaft von Kambodscha vorbei. Dort spielen zwei Unsichtbare hinter den hohen Mauern Badminton. Das beschäftigt sie. Andrew, auch ein Migrant, lädt sie jede Woche in ein tunesisches Café ein und erklärt ihr die Welt. Sie mag ihn, aber sie liebt ihn nicht. Eines Tages erstickt das jüngste der drei Derawal-Kinder fast an einer verschluckten Murmel. Fatou eilt rettend herbei. Doch das wird ihr letztlich zum Verhängnis. Die Familie kann es nicht ertragen, der Domestikin dankbar sein zu müssen, und feuert sie. Zadie Smith ist mit dieser Erzählung ein kleines Meisterstück aus dem Multikulti-London gelungen.

Wienachtsgschichte von Klaus Schädelin bis Pedro Lenz. Hrsg. v. Roland Schärer. Cosmos, Muri 2014. 143 Seiten, Fr. 29.–.

Ricarda Junge: Die letzten warmen Tage. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 432 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 23.–.

Klaus Schädelin und Pedro Lenz sind 2 von 15 Schweizer Autorinnen und Autoren dieses WeihnachtsgeschichtenBandes. Ihre Namen stehen für die Spannbreite der Auswahl, die der Cosmos-Programmleiter Roland Schärer getroffen hat: hier der schreibende Pfarrer und Politiker, dort der kritische SpokenWord-Performer mit seinem Gespür für eskalierende Situationen. Und für solche ist Weihnachten ja prädestiniert: Die Familie sitzt beisammen, oft länger, als es für die Anwesenden erträglich ist. Auch das Krippenspiel an der Schule kann zum Fiasko werden, wie man in Pedro Lenz’ Geschichte «Lukas zwöi» amüsiert liest. In manchen Texten steckt viel Nostalgie, etwa in Ernst Burrens Gedicht «gott ist die liebe» oder in Achim Parterres listiger Kürzestgeschichte «Blockflöte». Insgesamt 29 Geschichten für Bus- und Tramfahrten in der Adventszeit.

Die letzten warmen Tage hat Christine an der Ostsee verbracht. Sie war elf, das Jahr: 1961. Dann reiste die Familie nach West-Berlin aus, ihr Vater verschwand. Wir erfahren diese Geschichte von Anna, Christines Tochter und Ich-Erzählerin in Ricarda Junges neuem Roman, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart springt. Anna, Anfang 30, lebt in Berlin, ist Romancière bei Nacht, Produktetexterin bei Tag. Zufällig lernt sie «Consti» kennen, der die Reihe ihrer destruktiven Liebschaften fortführt und damit Annas vergeblichen Versuch, den familiären Ballast abzuschütteln. «Die letzten warmen Tage» ist eine melancholische deutsch-deutsche Geschichte. Am stärksten sind die Kindheitspassagen, etwas pathetisch wird es in der Gegenwart. Es ist der vierte Roman der 35-jährigen Autorin, die 2003 mit dem Erzählungsband «Silberfaden» debütierte.

Kristof Magnusson: Arztroman. Kunstmann, München 2014. 320 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.–.

GUNNAR KLACK

Von Sandra Leis Wenn es ihr nicht gut geht, erinnert sie sich gerne an ihr Medizinstudium und denkt mit Wehmut an die «Jahre der Ruhe und Berechenbarkeit». Anita Cornelius ist eine Notfallärztin in einem Spital in Berlin-Kreuzberg, deren Privatleben immer mehr in Schieflage gerät. Sie lebt seit einem Jahr getrennt von Mann und Sohn, die bei der Freundin des Mannes ein neues Zuhause gefunden haben. «Gut gemanagt» hätten sie die Trennung: Davon ist Anita zu Beginn überzeugt. Bis sie schliesslich zur Einsicht kommt, dass die Vorstellung von einem harmonischen Patchwork-Leben eine Illusion ist. Spätestens als die neue Lebensgefährtin ihren Traum von einem Leben auf dem Land in die Realität umsetzen will, ist die Eintracht dahin. Anita kämpft um ihren 14-jährigen Sohn, realisiert, dass ihr Einfluss schwindet, und regt sich auf, wenn er neoliberale Parolen von sich gibt. Trotzdem endet der Roman mit frohen Weihnachten. Das mag kitschig klingen, aber Magnusson zeichnet keine Götter in Weiss, sondern Menschen. Er, der mit den Romanen «Zuhause» und «Das war ich nicht» viel Lob geerntet hat und mit der verfilmten Komödie «Männerhort» auch als Theaterautor reüssierte, ist ein Menschenkenner und ein hartnäckiger Rechercheur. Der 38-Jährige ist mehrfach im Rettungswagen mitgefahren: Er weiss, wovon er schreibt, und verfügt auch über das nötige medizinische Vokabular. Er skizziert einen alten verwahrlosten Mann, eine Studentin, die Opfer ihres Gesundheitswahns wird, oder einen Jugendlichen, der in einem Auto eingeklemmt ist – präzise Milieustudien. Anita liebt ihren Beruf: Er macht sie lebenserfahren und gibt ihr Halt. Als allein lebende Frau hingegen muss sie sich neu erfinden. Erste Hilfe leistet ausgerechnet Anitas Mutter, mit der sie seit Jahren wenig verbindet. Die Tochter erwartet «erst Fragen, dann Ratschläge, dann Vorwürfe», doch nichts dergleichen passiert. Im Gegenteil: Die Mutter nimmt Anteil, beichtet ihre eigenen Ausbruchsphantasien und bewundert Anita für ihren Mut. Ein anrührender Moment, der zeigt, dass der Autor nicht nur einen rasanten und unterhaltsamen Arztroman geschrieben hat, sondern immer wieder auch Raum schafft für humane Begegnungen. ●

Manfred Papst

Regula Freuler

Manfred Papst

Regula Freuler

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13

Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Moa Eriksson Sandberg: Plötzlich war der Wald so still. Beltz & Gelberg, Weinheim 2014. 191 Seiten, Fr. 19.90 (ab 12 Jahren).

Jugendthriller Über die Freiheit im Internet und das Copyright

Martha Heesen: Hunde muss man gar nicht mögen. Gerstenberg, Hildesheim 2014. 112 Seiten, Fr. 16.90 (ab 9 Jahren).

Raubkopieren ist gefährlich

Cory Doctorow: Pirate Cinema. Aus dem Amerikanischen von Oliver Plaschka. Heyne, München 2014. 512 Seiten, Fr. 22.90, E-Book 14.90 (ab 14 Jahren). Von Daniel Ammann Das Flair der schwedischen Autorin für sinnliche Naturbeschreibungen formt schon den Anfang. Hanna wird in diesem Sommer zwölf; zu den Ferien gehören Holundersirup und Baden im Waldsee. Doch kommt Melancholie auf; das unbeschwerte Leben gerät ins Wanken. Ein Mädchen verschwindet und wird später tot im Wald gefunden. Zudem streiten sich Hannas Eltern, und sie fühlt sich zu alt zum Spielen und zu jung, um erwachsen zu sein. Sie ist ratlos zwischen ihren Freundinnen: die eine ist verspielt, die andere bereits interessiert an Jungen. Die Autorin schildert den Anfang der Pubertät, Unsicherheit, Empfindlichkeit und den Wunsch nach Anerkennung glaubwürdig. Hannas Inneres widerspiegelt sich im Wald und den Begebenheiten darin, ohne dass dies aufgesetzt wirkt.

Nene und Coppe wollen zusammen ein Baumhaus bauen. Bevor sie damit anfangen können, wird Coppe angefahren. Nach vielen Wochen kommt er aus dem Krankenhaus, doch er bewegt sich hölzern, sagt kaum etwas und lässt sich für nichts begeistern. Nene beginnt ihm aus dem Weg zu gehen – erst recht, als Coppe einen Hund bekommt, der ihm nun alles bedeutet. Als der Hund eines Tages im reissenden Fluss davongetrieben wird, beweist Nene ihre Freundschaft. Der Roman zeigt, wie ein Kind von einer plötzlichen Veränderung überfordert ist und wie es ihm dennoch gelingt, gut zu reagieren. Heesen erzählt in schlichter Sprache und zugleich mit Gespür für die widersprüchlichen Gefühle ihrer Hauptfigur. Diese kommen auch in Maja Bohns treffenden Illustrationen zum Ausdruck.

Andrea Lüthi

Andrea Lüthi

Harald Rosenløw Eeg: Aber raus bist du noch lange nicht. Gerstenberg, Hildesheim 2014. 272 Seiten, Fr. 22.90 (ab 14 Jahren).

Ulf Nilsson: Kommissar Gordon. Der erste Fall. Moritz-Verlag, Frankfurt 2014. 109 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 Jahren).

Fünf Jugendliche überleben eine Explosion im U-Bahn-Tunnel. Eingeschlossen in einem Wagen warten sie auf Rettung. Die Fünfzehnjährigen sind aus der gleichen Klasse: Bruno ist in Anjo verliebt und hofft, sie mit seiner Graffitikunst zu beeindrucken. Anjo widmet sich neuerdings dem Koran. Musterschülerin Ida hütet zwei Geheimnisse. Dann gibt es noch Sherpa, der als Drogenkurier jobbt. Der fünfte, Albert, ist der Sohn der norwegischen Ministerpräsidentin. Wenn er andere demütigt, fühlt er sich gut. In Rückblenden erfahren wir mehr über die Teenager, die sich so unvermittelt mit dem Tod auseinandersetzen müssen. Man stutzt, rätselt über die Hintergründe und kann doch dem Sog der teils gruseligen Handlung kaum widerstehen. Ein teuflisch gut gemachter Thriller.

Im Winterwald geht ein Nüsseklauer um, Eichhörnchen ist entsetzt – ganz klar: Kommissar Gordon, Kröterich mit Lieblingsbeschäftigung Stempeln, muss den Fall übernehmen. «Niemand verdächtig. Oder: Alle verdächtig», kombiniert er weise. Unkonventionell sind seine Ermittlungsmethoden, erst recht die verhängten, fast schon gütigen Strafen. Denn dieser Kinder-Krimi ist grossartig anders als die üblichen Genre-Titel: voll leiser Spannung, Denksport, Wortakrobatik. Es besteht übrigens der Verdacht, dass auf «Kommissar Gordon – Der erste Fall» kein zweiter folgen wird – dafür stehen der schwedische Autor Ulf Nilsson, seine deutsche Stimme Ole Könnecke, die Illustratorin Gitte Spee und der Moritz-Verlag viel zu sehr für Phantasie und gegen Mainstream. Stempel drauf!

Verena Hoenig

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

Christine Knödler

Autor, Blogger und Internetaktivist Cory Doctorow hat schon mehrfach gezeigt, dass er es versteht, seine Anliegen in eigentliche Thementhriller zu verpacken. Seine zukunftweisenden Geschichten handeln vom ewigen Leben im Netz, von Online-Rollenspielen oder den unabsehbaren Folgen von Big Data und staatlicher Überwachung. In seinem jüngsten Werk geht es jetzt um Filmkunst, Kreativität und Copyright im digitalen Zeitalter. Der 16-jährige Ich-Erzähler Trent McCauley ist so etwas wie ein cineastischer DJ. Sämtliche Filme seines Idols Scot Colford lädt er aus dem Netz herunter und montiert die Clips liebevoll zu neuen Abenteuern. Die poetischen bis parodistischen Mash-ups finden bald eine Fangemeinde, aber den Filmstudios und ihren politischen Vasallen sind solche Machwerke ein Dorn im Auge. Mit rigorosen Gesetzen suchen sie die aufkeimende Raub- und Kopierkultur zu unterbinden. Schon Teenager wandern hinter Gitter, weil sich auf ihren Festplatten Songs und Filme finden, für die sie nicht bezahlt haben. Als Trents Familie wegen seiner Umtriebe das Internet gekappt wird, reisst er kurzerhand aus und taucht in London unter. Dort schliesst er sich einem gewieften Obdachlosen und Hausbesetzer an und findet in der kulturellen Underground-Szene neue Freunde, die erste grosse Liebe und seine künstlerische Berufung. Im Kampf für faire Nutzungsrechte wird er als Remix-Filmemacher mit dem anspielungsreichen Pseudonym Cecil B. DeVil bald zur Legende – und damit erneut zur Zielscheibe der Gesetzeshüter. Wie seine Figuren ist Doctorow überzeugt, dass Kultur, persönliche und kreative Freiheit zu den Errungenschaften zählen, die wir schützen und gegen Grosskonzerne und ihre Anwälte verteidigen müssen. «Sobald du etwas in die Welt entlässt», sagt Trents ebenso kluge wie kämpferische Freundin, «gehört es ihr auch. Es ist dann Teil der Geschichten, die wir einander erzählen, um unser Leben besser zu verstehen.» Doctorows Personal fungiert aber nicht bloss als dessen Sprachrohr. Der Autor trifft den Ton der Zeit und schafft lebensnahe und streitbare Figuren, die einem ans Herz wachsen. ●

Vergangenheit Wie lebten unsere Grosseltern als Kinder?

Ein Familienbuch

Kurzkritiken Andreas Plitsch, Dirk Steinhöfel: Irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht. Arena, Würzburg 2014. 48 S., Fr. 29.90 (ab 9 J.).

Meike Blatzheim, Beatrice Wallis (Hrsg.): Das ist genau mein Ding! Beltz & Gelberg, Weinheim 2014. 208 S., Fr. 24.90 (ab 14 J.).

Höhlen bergen Wunder. Tropfsteine funkeln in ihnen oder Kristalle. Lavahöhlen befinden sich so dicht unter der Erdoberfläche, dass Baumwurzeln durch die Decke wachsen, was bizarr aussieht! Es gibt Höhlen, die horizontal verlaufen, andere vertikal wie Schächte, und manche sind so lang, dass man noch keine Endpunkte gefunden hat. Jede Höhle hat ihren ureigenen Charakter. Mit seiner Begeisterung für diese unterirdischen Welten steckt ein alter Mann in der Rahmenhandlung zwei Kinder an. Kunstfertige Illustrationen und Fotografien veranschaulichen das Erzählte. Was es mit dem sagenumwobenen «Licht im Berg» auf sich hat, erklärt der Autor, der selbst Höhlenforscher ist, natürlich auch. Wer jetzt Lust hat, ein Höhle zu besuchen, findet Angaben auch für die Schweiz.

Gerrit will sich nicht dem Arbeitsleben unterordnen, um seine Zeit frei einzuteilen. Marijpol ist Comiczeichnerin, und Elias ist politisch aktiv, weil er an Veränderungen glaubt. Ben schliesslich findet, das heutige Bildungssystem mache alle gleich. Er hat seinen eigenen Beruf erfunden: Mit einem Blog und Workshops will er Menschen helfen, ihre Stärken zu finden. Genau darum geht es auch in dem Sachbuch: In Interviews, Berichten oder Tagebuchnotizen erzählen Jugendliche und Erwachsene von ihrer Leidenschaft, die ihren Lebensstil mitprägt. Das Buch ermuntert und regt an. Doch auch Hindernisse werden angesprochen, sei es Geldknappheit oder die Tatsache, dass eine Leidenschaft eines Tages erlischt – wie bei der Spitzenschwimmerin, die sich von ihrem Sport abwandte.

Anja Tuckermann: Alle da! Unser kunterbuntes Leben. Klett, Leipzig 2014. 40 Seiten, Fr. 19.90 (ab 5 Jahren).

Bärbel Oftring: Voll eklig! 55 eklige Dinge und was dahinter steckt. Haupt, Bern 2014. 132 Seiten, Fr. 27.90 (ab 8 J.).

Kasperli wusste, wie’s geht: «Kinder, seid ihr alle da?» Die Antwort: «Ja!» Heute ist die Lage komplizierter. Denn «Alle da!» stösst nicht nur auf Gegenliebe. Vorurteile wecken Ängste gegen das Fremde – genau da setzen Anja Tuckermann und Tine Schulz an. Souverän aus Kindersicht erzählen sie, warum und auf welchem Weg Menschen ihre Heimat verlassen. Krieg, Hunger, Armut, Unterdrückung, Flucht – all das kommt vor, Trennendes wird nicht eingeebnet, und doch ist die Perspektive eindeutig: «Alle da!» setzt aufs Kunterbunte, Lebensbejahende, auf Verständnis statt Abgrenzung, auf Bereicherung, Möglichkeiten und das, was Menschen verbindet. Eine warmherzige, kluge Einführung ins und Anleitung zum Thema Multikulti-Miteinander.

Vor Eiter, Kot und Kadavern gruseln sich alle Menschen. Evolutionär gesehen kein Wunder, denn sich angewidert von solchen Mikroben-Brutstätten abzuwenden, schützt vor Infektion. Was uns sonst noch so abstösst, ist jedoch häufig kulturell bedingt. Manche knuspern gern Insekten, andere geniessen vergammelte Kuhmilch, auch Käse genannt. «Voll eklig!» buchstabiert die Aversionen von Aas über Furz bis Zecke durch. Es nutzt die Tatsache, dass der Wäääh-Reflex bei Kindern stets mit Faszination gepaart ist, um Wissen in die Köpfe zu schmuggeln und manchen Widerwillen zu überwinden, etwa mit «Nicht-mehr-ekeln-Tipps». Vorgemacht hat dies vor 20 Jahren die witzige, leider nie ins Deutsche übersetzte «Grossology». Mit diesem Band hat sie einen würdigen Nachfolger gefunden.

Katharina Tanner (Text), Laura Jurt (Bild): Sockenschlacht und Löwenzahn. Mädchen und Buben in der Schweiz von früher. Limmat, Zürich 2014. 104 Seiten, Fr. 39.90 (ab 9 Jahren). Von Hans ten Doornkaat Man staunt, dass nicht längst ein Lesebuch dieser Art erschienen ist. Kein Kinderbuchverlag hat den grossformatigen Band lanciert, sondern der Limmat-Verlag, der auch Volkskundliches herausgibt, das Werk von Meinrad Inglin oder eben erst «Das Lachen meines Vaters», die Erinnerungen von Urs Schaub. «Sockenschlacht und Löwenzahn» ist ein Drei-Generationen-Buch und vor allem ein Glücksfall für Enkelkinder und Grosseltern. In exemplarischen Kindheitsbildern wird hier von sechs Kindern erzählt, etwa von Martha (1946) aus einen Bergbauernhof bei Zermatt, von Patricia (1943), dem jüdischen «Finöggeli» aus St.Gallen, oder von Erwin (1956), dem «Sprenzel» im Luzerner Hinterland. Die sechs Kinderwelten sind regional und sozial unterschiedlicher als heutige medienbeeinflusste Kindheiten mit nationalen Stars und internationalen Inhalten. Katholizismus oder protestantische Werte waren im Alltag präsent. Doch Katharina Tanner geht über das allgemein Historische hinaus. Sie erzählt von Nöten und Wünschen, von geklautem Geld und rasch verdrückter Glace oder von blossen Füssen in frischen Kuhfladen. So knapp ihre Sprache ist, die Autorin spürt sinnlichen Erfahrungen, Schmerz und Freuden nach. Dazu gehören auch Genüsse wie gebrannte Crème. Das Rezept dafür und für andere Gerichte werden gleich mitgeliefert. Und weil Autos den öffentlichen Raum noch weniger dominierten, sah man viel Kinderspiele im Freien. Lumpe-Legge oder Kutschfahrten mit dem Leiterwagen werden erklärt, wobei die Zeichnungen da wichtiger sind als der Text. Man erwartet in einem solchen Band alte Fotos. Doch diese hätten einen Bruch mit dem Konzept typischer Kindheiten bedeutet, vor allem aber hätte die Gefahr eines Sammelsuriums bestanden. Indem nun Laura Jurt Fotos nachzeichnet, Geräte und Spielabläufe skizziert und die Kinder porträtiert, hat sie als Illustratorin die vielfältigen Quellen zu einem gestalteten Ganzen verbunden. Das Beste allerdings, das in diesem einmaligen Familienbuch steckt, ist der Impuls, dass Grosseltern und Eltern anfangen, eigene Erlebnisse und Erfahrungen neu zu erinnern und zu erzählen. ●

Verena Hoenig

Christine Knödler

Andrea Lüthi

Sabine Sütterlin

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Essay

Der Benediktinerpater und Naturwissenschafter Flurin Maissen (1906–1999) war im letzten Jahrhundert eine prägende Figur des Klosters Disentis. Generationen von Gymnasiasten hat er neben der Physik auch in die Welt der Musik eingeführt. Einer seiner Schüler, der Schriftsteller, Philosoph und Literaturkritiker Iso Camartin, schildert, wie ihn sein Lehrer über die Schule hinaus geprägt hat

WieichdieMusik liebenlernte

Im Gymnasium warteten wir ungeduldig darauf, dass ab der 4. Klasse der Mathematikunterricht durch das Fach Physik ergänzt wurde. Man empfand es als eine wertvolle Annäherung an die Lebenswirklichkeit, wenn die algebraischen Gleichungen durch Fragen der Optik, der Akustik oder der Schwerkraft erweitert wurden. Unser Physiklehrer war Pater Flurin Maissen, der liebenswürdigste Sonderling und der begabteste Erfinder und Freigeist der damaligen Klostergemeinschaft. Er war eigentlich alles: Naturwissenschafter und Benediktiner, Sprachforscher und Musikenthusiast, Mineraloge und Pionier in Energiefragen, Kämpfer gegen fettige Klosterküche und für gesunde Ernährung, Mechaniker und Motorenexperte, Regisseur der rätoromanischen Theatergruppe und einige Jahre auch Animator des Schulorchesters. Promoviert hatte er über die «Strahler der Surselva», das heisst über die einheimischen Kristallsucher. Ich nannte ihn unseren «Pater necessarius», in der doppelten Bedeutung: Er war derjenige, der im Lehrkörper einfach notwendig war wegen seiner universalen Fähigkeiten und seiner nie enttäuschenden Hellhörigkeit für die Fähigkeiten der Schüler. Gleichzeitig war er aber auch: «ne-cessarius»: derjenige, der nie auf- und nachgab, bevor er in dem, was für ihn wichtig schien, nicht einen Schritt weiter gekommen war.

Iso Camartin Iso Camartin, geboren 1944 in Chur, wuchs in Disentis auf, wo er von 1959 bis 1965 die Klosterschule besuchte. Er studierte Philosophie und Romanistik in München, Bologna und Regensburg. Von 1974 bis 1977 forschte er an der Harvard-Universität und hatte danach Lehraufträge an verschiedenen Schweizer Universitäten inne. 1985 bis 1997 war Camartin ordentlicher Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an der ETH und an der Universität Zürich. Von 2000 bis 2003 leitete er die Kulturabteilung des Schweizer Fernsehens. Seither ist er als freier Publizist und Schriftsteller tätig. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören «Die Bibliothek von Pila» (Suhrkamp 1994), «Jeder braucht seinen Süden» (Suhrkamp 2003) und «Im Garten der Freundschaft» (C. H. Beck 2011). Zwischen 2004 und 2012 leitete Iso Camartin die «Opernwerkstatt» am Zürcher Opernhaus. Daraus entstand sein neuestes Buch: «Opernliebe. Ein Buch für Enthusiasten», das soeben im C. H. Beck Verlag erschienen ist (384 Seiten, Fr. 29.90).

Kämpferischer Freigeist

Unter den Stimmen unserer Patres und Lehrer gab es viele Varianten: die piepsig peinigenden und die polternden, die heiseren und die näselnden, die verdruckten und die süsslichen. Solche sogar, die beim Singen der gregorianischen Passion in der Karwoche eigentlich nur für die Figur des Judas taugten. Pater Flurin sang bei dieser Gelegenheit jeweils den Christus, und dies mit einem derart samten-voluminös dahinströmenden Bassklang, dass die in der Osterzeit immer sehr kalte Klosterkirche sich sogleich spürbar erwärmte. Es war Wohlklang pur, aus dem man nicht nur die Güte der Christusfigur, sondern auch die Trauer über die Aussichtslosigkeit des Passionsgeschehens heraushörte. In der direkt an das Physikzimmer angrenzenden Werkstatt hatte Pater Flurin Dinge, die uns bei einem dem Gelübde der Armut verpflichteten Mönch überraschten. Unter anderem einen automatischen Polentakocher, der über eine von ihm selbst konstruierte Zeitschaltung seine Tätigkeit aufnahm, während Pater Flurin frühmorgens noch in der Kirche mit dem Beten der Matutin beschäftigt war. Er ass am Morgen, wie alteingesessene Rätoromanen, am liebsten eine warme Polenta mit Milch. Pater Flurin war aber auch der stolze Besitzer eines professionellen Tonbandgerätes «Revox». Er bekam von der Fabrik jeweils das neueste Gerät geschenkt, weil er eine Schnell-Stopptaste erfunden und entwickelt hatte, welche von der Firma danach serienmässig in die Geräte eingebaut wurde. Da er ein beachtlicher Hornist war und im Akustikunterricht die Eigenschaften aller Holzund Blechblasinstrumente selbst vorzuführen vermochte, hatte er in seiner Diskothek, die eine an ein gutes Lautsprechersystem angeschlossene «Revox-Bandothek» war, die wunderbarste Musik für Bläser aus der Zeit der Wiener Klassik und Romantik verfügbar. Zum Beispiel das

Trompetenkonzert von Haydn, das Klarinettenkonzert von Mozart, Symphonien von Beethoven, Schubert und Bruckner, vor allem solche, in denen Blasinstrumente herausragend schöne solistische Passagen hatten, etwa die Trompete in Bruckners Dritter oder die Hörner im Scherzo von Bruckners Vierter. Alle diese Werke habe ich zum ersten Mal in Pater Flurins Physikwerkstatt gehört, wahrgenommen und liebgewonnen. Er hatte mich «angeworben», um ihm in der Freizeit beim Drucken und Versenden seiner sprachwissenschaftlichen Polemiken gegen die tonangebenden Linguisten der Rätoromanen zu helfen. Denn Pater Flurins Liebe zur Musik war so eigenwillig, wie es seine Thesen über die

In seiner Werkstatt hatte Pater Flurin einen automatischen Polentakocher, der über eine von ihm konstruierte Zeitschaltung den Betrieb aufnahm, während er noch in der Kirche die Matutin betete. sprachliche Herkunft und die grammatischen Grundregeln des Surselvischen waren. So konnte er mit der Musik von Brahms so wenig anfangen wie mit den orthographischen Neuerungen der Churer Rätoromanisten. Brahms bestrafte er – trotz meiner insistenten Korrekturversuche – durch Hörverweigerung, und den «Falschmünzern der Sprache» erklärte er offen den Krieg. Dieser Eigensinn sorgte bei ihm für unerschöpfliche Mengen an kämpferischer Energie, die er in Form von angriffigen Pamphleten gegen konformistische Pfuscher und «Churer Freimaurer» unter einheimischen Pfarrern, Lehrern, Intellektuellen und Freigeistern verbreitet wissen wollte. So wurde Pater Flurins Werkstatt in gewissen Zeiten zum eigentlichen Widerstandsnest und zur konspirativen Druckerei gegen die offizielle Sprachpolitik des Kantons, immer erfüllt von wunderbarer Musik, die in seiner privaten Physik-, Musik- und Sprachwerkstatt erklang. Jahre später übernahm Pater Flurin die Aufgabe des Verwalters des Benefeci Rumein, eines Klostergutes im Lugnez, und reiste von dort an zwei Tagen der Woche im eigenen Citroën zum Physikunterricht in die obere Surselva. In Rumein hatte er schon weit freieren Handlungsraum für seine eigentlichen Interessen als



16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

In der Behandlung der zur Physik gehörigen Teildisziplinen war er äusserst parteiisch. Er unterrichtete am liebsten und am längsten das, was ihn selbst am meisten interessierte. So verbrachte er mit uns viel Zeit mit Fragen der Mineralogie. Vor allem aber liebte er alles, was mit der Erzeugung, Ordnung und Wahrnehmung von Tönen zu tun hatte. Optik, Mechanik, Gravitation dagegen: lauter Nebensachen. Schön war vor allem Pater Flurins Kunst, die Akustik zum Musikunterricht umzuformen. Nun hatte er selbst eine Stimme, die aufhorchen liess. In der Tat der schönste Bass-Bariton der gesamten damals noch grossen Klostergemeinschaft.

BILDAGENTUR HUBER DANIEL SCHÖNBÄCHLER

«Der liebenswürdigste Sonderling und begabteste Erfinder»: Pater Flurin Maissen (1906–1999) war Physiklehrer am Gymnasium des Klosters Disentis im Kanton Graubünden (oben). Hier 1999, fotografiert vom späteren Abt Daniel Schönbächler. 7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

Essay ▲

noch in der Mönchsgemeinschaft. Dort wurde er erst recht zum nonkonformistischen Erneuerer, vor allem in ökologischen Fragen. Er entwickelte die erste private Biogasanlage Graubündens. Mit den Bauern der Umgebung setzte er neue Ideen um, etwa in der Förderung von biologisch angebautem Sanddorn. In Rumein war er sein eigener Hausherr, fern vom zögerlichen Abt und von nörgelnden Mitbrüdern, und ganz in seinem Element.

ISOLDE OHLBAUM / LAIF

Kanonisches Recht hin oder her

Über Pfingsten besuchte ich ihn nach der Zeit der Klosterschule immer wieder mit einer Gruppe von Assistentenkollegen aus Deutschland zu einem «Rumein-Pfingstseminar». Es freute ihn ungemein, wenn in seinem Haus über Lebensverbesserungen jeder Art nachgedacht wurde. Da kam es mehrfach vor, dass er mir am Pfingstsonntag sagte: «Der Geist weht, wie und wo er will! Heute gehst du auf die Kanzel und predigst. Erzähle einfach über eure Gespräche! Das tut den Kirchgängern gut, wenn sie einmal etwas anderes hören als mich!» Was kann ein ehemaliger Schüler den festen Überzeugungen eines verehrten Lehrers entgegensetzen? Ich folgte brav seinen Anordnungen. Die Frage, wer nach kanonischem Recht auf die Kanzel darf und wer nicht, hat ihm keine schlaflosen Nächte bereitet. Doch zurück zur Liebe und zur Musik: Unter den Seminarteilnehmern in Rumein befand sich auch mein Kollege Elmar Weingarten, damals Assistent an der Universität Regensburg, später Intendant der Berliner Philharmoniker und bis vor kurzem des Zürcher Tonhalle-Orchesters. Elmar Weingarten war wiederum mit der berühmten Klarinettistin Sabine Meyer befreundet, welcher er das Haus von Pater Flurin empfahl für eine Arbeitswoche mit ihrem damaligen Bläserensemble. Sabine Meyer kam und – wen wundert es? – Pater Flurin war begeistert, Gastgeber zu sein für einige der allerbesten Bläsersolisten der Welt, die bei ihm Mozart und Krommer, Mendelssohn und Dvořák spielten. Endlich hörte er Klarinetten, Bassettklarinetten, Bassetthörner, Oboen, Fagotte, Natur- und Ventilhörner so, wie er sie gerne selbst gespielt haben würde. Die Musiker probten, gaben Konzerte in der näheren Umgebung, machten sogar Aufnahmen in der Talkirche von Pleif. Rumein wurde für ihn während einiger Tage des Jahres zum himmlischen Vorhof. Zwischen Sabine Meyer und ihm entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu seinem Tod im April 1999 anhielt. Als ich ihn einmal besuchte, nachdem die Musiker kurz zuvor sein Haus verlassen hatten, wollte er mir den langsamen Satz der «Gran Partita» von Mozart vorspielen. Ich habe weder früher noch später Tränen in den Augen von Pater

Publizist Iso Camartin, von Pater Flurin auch als Prediger eingesetzt, hier in seiner Wohnung in Zürich (2011).

Flurin gesehen. Ging ihm etwas an die Seele, erhob er sich sonst wortlos und verschwand kurz in sein Schlafzimmer. Aber bei dieser Gelegenheit blieb er, und die Tränen waren da. Er sagte nur: «Jahrelang habe ich mich mit mittelmässiger Schulmusik und zu tief intonierter, grausam falsch klingender Gregorianik im Kloster abfinden müssen. Jetzt, im Alter und hier in

Die Frömmigkeit Pater Flurins sei die diskreteste, die ihm begegnet sei, sagt sein Schüler Iso Camartin, und seine Liebe zur Musik die echteste. Rumein, haben die Musiker mir vorgeführt, dass Musik das Grösste ist, das der liebe Gott uns mit seiner Schöpfung zum Geschenk gemacht hat.» Seine Frömmigkeit war die diskreteste, die mir je begegnet ist. Seine Liebe zur Musik die echteste, die man sich vorstellen kann. Wie und warum wird gerade Musik für viele Menschen zu einem derartigen Daseinsglück, ja zu einem geradezu ekstatischen Lebensgefühl? Über die Wirkungen und die Nachhaltigkeit dessen, was uns an der Wiege gesungen wurde, gibt es unterschiedliche Meinungen. Dass frühkindliche Prägungen für spätere Lebensphasen von Bedeutung sind, ist eine Annahme, die Kinderpsychologen heute mit Hirnforscherinnen teilen. Meine Mutter sang, mein Vater spielte Flügelhorn, beide mit gutem Musikgehör, beide

musikalische Laien. Ich durfte ab dem vierten Altersjahr auf der Orgelbank der Dorfkirche neben meinem späteren Klavierlehrer sitzen, der ein hervorragender Musiker war und mir das erste Gefühl dafür gab, wie man durch Musik vom Boden abheben kann und in ein magisches Schweben gerät. Der beste Platz in jeder Kirche dieser Welt ist darum für mich die Orgelbank. Da geschehen die wahren Wunder! Vor mehr als 15 Jahren hat ein Musikpsychologe namens Robert Jourdain ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Das wohltemperierte Gehirn – Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt». Darin heisst es: «Für kurze Momente lässt uns Musik über unsere wirkliche Grösse hinauswachsen und die Welt geordneter erscheinen, als sie in Wahrheit ist. Wir reagieren nicht nur auf die Schönheit der anhaltenden tiefen Zusammenhänge, die sich uns eröffnen, sondern auch auf die Tatsache, dass wir sie wahrnehmen. In dem Masse, wie unsere Gehirne hochschalten, fühlen wir, wie sich unser Dasein erweitert, und wir erkennen, dass wir mehr zu sein vermögen, als wir normalerweise sind, und dass die Welt mehr ist, als sie zu sein scheint. Das ist Grund genug für Ekstase.»

Gesang der Klarinettenfamilie

Eine der jüngsten Einspielungen, die Sabine Meyer veröffentlicht hat, sind Transkriptionen verschiedener Mozart-Arien. Anstelle der menschlichen Stimme hören wir den wortlos hier lyrisch-weichen, dort virtuos-brillanten Gesang der Klarinettenfamilie in gekonnten Bearbeitungen von Andreas Tarkmann. Sabine Meyer spielt mit dem Kammerorchester Basel, einfühlend dirigiert von Andreas Spering. Alles wunderbar. Was ich aber Pater Flurin, dem grössten Promotor meiner Liebe zur Musik, mitbringen werde, wenn ich mich selbst auf den Weg zur Insel der Seligen mache, sind die zwei auf dieser CD eingespielten Arien aus «La Clemenza di Tito», dem Wunderwerk aus Mozarts letztem Lebensjahr. Im Rondo der Vitellia «Non più di fiori» und in der Arie des Sesto «Parto, parto» ist die Mezzo-Stimme von Polina Pasztircsák einmal mit dem Bassetthorn im Dialog, dann mit der Bassettklarinette. Mozart hat die obligaten Bläserpassagen für seinen Freund und Logenbruder Anton Stadler geschrieben. Mit unbeschreiblicher Zuneigung. Diese zwei Arien gehören zum Vollkommensten in der Kunst, eine Stimme, ein Soloinstrument und ein Orchester miteinander sprechen zu lassen. «Ah, qual poter, oh Dei, donaste alla beltà! – Welche Macht, o Götter, habt ihr der Schönheit verliehen!» Pater Flurin muss es hören. So gespielt, wie Sabine Meyer es tut. Es wird noch im Jenseits seine Seligkeit verdoppeln. l

Zürich

Basel

Bederstrasse 4

Güterstrasse 137

Bern

Länggassstrasse 46 10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA= 10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=

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100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

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Aarau

Ruopigenstrasse 18

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Kunst Kinder

Hel vetika

Freihofweg 2 Sport

Politik Literatur

Hobby Reisen Kochen

u.v.m.

Kolumne

Charles LewinskysZitatenlese Ein Dichter, der liest, ist wie ein Koch, der isst.

Kurzkritiken Sachbuch Giulia Marthaler (Fotos), René Donzé (Text): Unzertrennlich. Ein Stück Kindheit. Till Schaap, Bern 2014. 112 Seiten, Fr. 39.90.

Michal Typolt-Meczes u.a.: Kosher for . . . Essen im Judentum. Jüdisches Museum Wien. Metro, Wien 2014. 220 S., Fr. 46.90.

Kuscheln, etwa in Verbindung mit Justiz, ist eher in Verruf geraten. Im Bildband «Unzertrennlich» jedoch bricht «NZZ am Sonntag»-Redaktor René Donzé eine Lanze für das Kuscheltier, den Teddybären, das «Bäbi» oder «Puppi» aus längst vergangenen Kindheitstagen. Zwei Dutzend Menschen – Grafiker, Lehrerin, Piercerin, Musiker, Beamtin, Zauberer und viele andere – erzählen von ihren Weggefährten fürs ganze Leben. Sie erinnern an Momente der Intimität und der Vertrautheit; sie trösten in der Verlassenheit und begleiten beim Trauern. Das Plüschtier spiegelt auch eine Liebesgeschichte mit sich selbst. Hugo, Bäri, Elke oder wie sie alle heissen, zeigen, wie überlebenswichtig kuscheln sein kann – auch für die scheinbar Rationalen unter uns. Der berührende Einblick in 25 Lebenswelten ist illustriert mit ausdrucksstarken Fotos von Giulia Marthaler.

Was man schon immer über die jüdischen Speisegesetze wissen wollte, sich aber nicht zu fragen getraute: Hier erhält man erschöpfend Auskunft. Der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in Wien im Jüdischen Museum (bis 8. März 2015) erschienene, grossformatige und reich illustrierte Bildband erklärt die jahrhundertealten Traditionen, gibt Informationen zur koscheren Küche sowie über die dazu nötigen Utensilien. Gleichzeitig beschreibt er die Rituale an besonderen Festtagen wie Pessach (Auszug aus Ägypten) oder Sukkot (Laubhüttenfest). Man erfährt, ob Pizza und Kebab koscher sind, und natürlich dürfen auch die entsprechenden Rezepte nicht fehlen: Lokschenkigl (Nudelauflauf), Challa (Zopfbrot) oder Krepplach (Ravioli), deren dreieckige Form an die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob erinnern sollen.

Friedrich Dönhoff: Ein gutes Leben ist die beste Antwort. Geschichte J. Rosensteins. Diogenes, Zürich 2014. 175 S., Fr. 29.90.

Erna Eugster: Dreckloch. Heim, Anstalt, Klinik – administrativ versorgt. Xanthippe, Zürich 2014. 188 S., Fr. 29.90.

Unsentimentaler kann eine Familientragödie nicht erzählt werden, als es Jerry Rosenstein mit 86 Jahren tut, während er mit Autor Friedrich Dönhoff (ein Neffe der Gräfin) unterwegs ist. Bilder einer gemütlichen Autoreise durch das heutige Deutschland wechseln mit jenen vom damaligen Albtraum: Die jüdische Familie Rosenstein flieht mit den drei Söhnen in die Niederlande, wird dort 1940 von den Nazis eingeholt und deportiert. Die beiden älteren Brüder kommen um, Jerry überlebt zusammen mit seinem Vater Auschwitz, wandert mit den Eltern in die USA aus. Gesprochen wurde darüber nie. Leben – nicht reden, lautet das Familienmotto. Selten ist Schweigen als Überlebensstrategie so klar dargestellt worden. Kein Wunder kann der Sohn auch nicht sagen, dass er schwul ist. Ein eindrücklicher Bericht von einem, der nach einer furchtbaren Jugend ein gutes Leben fand.

Man kann und will es heute kaum glauben, mit welch brutalem Unverständnis ein rebellischer, wütender Teenager noch in den 70er Jahren von allen Seiten behandelt worden ist. Dabei hatte Erna Eugster allen Grund zu Wut und Rebellion: Seit frühester Kindheit wurde sie vom Vater mit Nichtbeachtung und Desinteresse behandelt, von der Mutter mit täglichen Prügeln, mit Schimpftiraden und mit Ohrfeigen. Beides setzte sich fort in den Heimen, Erziehungsanstalten, Kliniken und Gefängnissen, zwischen denen die angeblich «asoziale» und «freche» Erna hin und her geschoben wurde, ohne tatsächlich je ein Delikt begangen zu haben oder verurteilt worden zu sein. Ihr später Lebensbericht als «administrativ Versorgte» ist nicht nur herzerweichend, er illustriert auch den immensen gesellschaftlichen Lernprozess im Umgang mit jugendlicher Verwahrlosung und Rebellion.

LUKAS MAEDER

Karl Kraus

Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuester Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen.

Normale Menschen verstehen nicht immer auf Anhieb, was weniger normale Menschen – in diesem Fall Fachleute für Steuerfragen – eigentlich sagen wollen, wenn sie etwas verkünden. Den folgenden Satz sollten Sie deshalb ganz langsam lesen: «Das Honorar eines Autors für die Lesung aus seinem Werk unterliegt dem ermässigten Umsatzsteuersatz von 7%, wenn die Lesung mit einer Theatervorführung vergleichbar ist.» Kapiert? Nicht ganz? Dann will ich Ihnen diese Entscheidung des 12. Senats des Finanzgerichts Köln gern erläutern. Geklagt hatte eine Autorin, die aus eigenen Werken gelesen hatte und deren Honorar vom Finanzamt mit dem vollen Umsatzsteuersatz von 19 Prozent belegt worden war. Sie ihrerseits war der Ansicht, dass es sich bei einer Lesung um eine künstlerische Veranstaltung handle, für die der reduzierte Satz gelte. Das Finanzgericht gab ihr recht. Allerdings mit eben jener Einschränkung, die Sie zwar gelesen, aber bestimmt nicht in der Fülle ihrer Auswirkungen verstanden haben: Die Lesung muss mit einer Theatervorführung vergleichbar sein. Was bedeutet – und Finanzbeamte sind in der Ausdeutung von Gesetzen kreativer als jeder Kreationist in der Auslegung von Bibelversen: Jene Kollegen, die bei ihren Lesungen nie von ihren Büchern aufblicken und nur eintönig vor sich hin nuscheln, zahlen auch weiterhin den vollen Steuersatz. Denn da ist weit und breit nichts vom Charakter einer Theatervorstellung zu spüren. Wer Steuern sparen will, wird also in Zukunft gestikulieren, dramatische Grimassen schneiden und vielleicht ab und zu einen Salto einlegen. Was eben so zu einer richtigen Theatervorstellung gehört. Er kann auch gern zwischendurch das eine oder andere Volkslied singen. Falls sein zuständiger Finanzbeamter ein regelmässiger Theaterbesucher ist, wird er dann sofort notieren: «Stilistisch von Marthaler beeinflusst.» Es könnte finanztechnisch auch empfehlenswert sein, vor der Lesung beim Kostümverleih vorbeizuschauen oder sich einen falschen Bart zu kleben. Und vielleicht, wer weiss, lässt sich der Steuersatz sogar noch weiter senken. Man müsste dafür einfach sehr, sehr theatralisch lesen. Als sich Rainald Goetz damals beim Ingeborg-Bachmann-Preis während seiner Lesung die Stirn aufschlitzte, hätte er eigentlich sogar Geld rausbekommen müssen. Aber für Klagenfurt ist das Finanzamt Köln ja nicht zuständig.

Urs Rauber

Kathrin Meier-Rust

Geneviève Lüscher

Kathrin Meier-Rust

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Sachbuch Biografie Zum 50. Todesjahr erscheint eine ebenso kluge wie lesenswerte neue Lebensbeschreibung des englischen Kriegspremiers Winston Churchill (1874–1965)

UnbegabterSchüler wirdspät zumStaatsmann

Thomas Kielinger: Winston Churchill. Der späte Held. C. H. Beck, München 2014. 400 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 24.–. Winston Churchill: Reden in Zeiten des Krieges. Europa-Verlag, Zürich 2014. 384 Seiten, Fr. 24.90. Von Urs Bitterli In der Wahrnehmung des Kindes, das man damals war, reduzierte sich der Zweite Weltkrieg auf den spannenden Titanenkampf zwischen einem bösen und einem guten Menschen. Der böse Mensch hauste nördlich der Rheingrenze, hielt zornige Radioreden und machte das Kind mit der Wortgewalt der deutschen Hochsprache bekannt. Der gute Mensch wohnte weit entfernt auf einer Insel, rauchte dicke Zigarren, und sein Name wurde von den Erwachsenen höchst merkwürdig und ganz anders, als man ihn schrieb, ausgesprochen. Als der gute Mensch den Krieg gewonnen hatte, besuchte er die Schweiz, machte Malferien am Genfersee und hielt an der Universität Zürich seine grosse Rede zur deutschfranzösischen Aussöhnung und europäischen Einigung. Die Behörden verhielten sich zurückhaltend; doch die Bevölkerung empfing Winston Churchill mit dankbarer Bewunderung. In Nachkriegsdeutschland war solch bewundernder Zugang zum britischen Kriegspremier aus nachvollziehbaren Gründen erschwert, sein Name wurde eher mit den alliierten Flächenbombardements als mit der Befreiung vom Diktator in Verbindung gebracht. Es ist wohl kein Zufall, dass die erste deutschsprachige Biografie von einem Emigranten, 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

dem in England lebenden Journalisten Sebastian Haffner, stammt. Haffner ist durch seine «Anmerkungen zu Hitler» berühmt gewordenen, und auch in seiner 1967 erschienenen, noch immer lieferbaren Kurzbiografie Churchills verbinden sich Intelligenz und Intuition des Autors zu überzeugender Leistung. Aber wichtiges Quellenmaterial, etwa der Briefwechsel mit Roosevelt oder die «Downing Street Diaries» des Privatsekretärs John Colville, war damals noch nicht verfügbar, und die massgebliche mehrbändige Biografie von Martin Gilbert stand erst in ihren Anfängen.

Galt als Opportunist

Zum 50. Todesjahr Churchills am 25. Januar 2015 legt nun Thomas Kielinger, Londoner Korrespondent der Tageszeitung «Die Welt», eine Biografie vor, die sich zum Ziel setzt, «das Politische und das Psychologische als gleichrangige Aspekte im Wechselspiel der Herausbildung einer einzigartigen Persönlichkeit» zu verstehen. Winston Churchill ist bekanntlich erst spät, im Alter von 65 Jahren und mit seiner Ernennung zum Premierminister im Mai 1940, zur geschichtlichen Figur geworden, die wir kennen. Das vorangegangene Leben des Sprösslings aus verarmtem englischem Hochadel war wechselhaft und liess eher den Aussenseiter als den künftigen Staatsmann erkennen. Als Schüler schien Churchill wenig begabt, und sein autobiografisches Werk «My Early Life» ist eine tröstliche Lektüre für jeden Schulversager. Als Offizier im Kolonialdienst war er ein Imperialist reinsten Wassers und zeigte eine Kampfbereitschaft, die sich im Widerstand gegen Hitler zwar als

unentbehrlich erweisen sollte, aber für das politische Tagesgeschäft schlecht geeignet war. Vielen galt Churchill, der zweimal die Partei gewechselt hatte, als unzuverlässiger Opportunist. Es bedurfte einer eigentlichen Notsituation, um diese widersprüchliche Persönlichkeit zum Mann der Stunde zu machen. Diese Notsituation entstand mit dem Bankrott von Chamberlains Appeasementpolitik nach dem Münchner Abkommen vom September 1938. Thomas Kielingers Biografie folgt mit spürbarer Empathie der Laufbahn dieses Mannes, der früh davon überzeugt war,

dieser verzweifelten Lage hielt Winston Churchill stand, und es ist schlechterdings unvorstellbar, wer an seiner Stelle hätte standhalten können. Man ermisst, wenn man Kielingers packende, aber jede heroisierende Überhöhung vermeidende Schilderung liest, an welch seidenem Faden damals die Zukunft der Demokratie in Europa hing. Und man denkt unwillkürlich an Jacob Burckhardt, welcher die «Seelenstärke» als die herausragende Tugend der grossen historischen Persönlichkeit bezeichnet hat. Zwischen Juni 1940 und Juni 1941 war England das einzige Bollwerk gegen Hitlerdeutschland. Zur Entlastung Englands kam es erst, als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion angriff und die Japaner im selben Jahr Pearl Harbour bombardierten. Nun traten Roosevelt und Stalin als Hauptakteure hervor und bestimmten die politische Strategie über das Kriegsende hinaus. Churchill konnte sich mit seinem Plan, die Befreiung Europas durch einen Vorstoss über Triest nach Wien und Prag zu erreichen und Mitteleuropa so dem Zugriff der Russen zu entziehen, nicht durchsetzen.

PHOTOPRESS / KEYSTONE

«Let Europe arise»

dass er vom Schicksal dazu ausersehen sei, Grosses zu leisten und davon der Welt Rechenschaft zu geben. Der Politiker Churchill war immer auch der Historiker seiner eigenen Taten, und sein Werk bildet zusammen mit der kaum übersehbaren Fülle von Berichten der Zeitgenossen einen Fundus von Quellen, dessen reiche Vielfalt den kühnsten Biografen schrecken könnte. Thomas Kielinger geht mit bemerkenswerter Unbekümmertheit ans Werk, setzt mit Sachverstand sinnvolle Schwerpunkte und formuliert flüssig und gewandt. Er befasst sich besonders eingehend mit

dem bei uns weniger bekannten Werdegang Churchills vor dem Zweiten Weltkrieg, zitiert gern ausführlich und beweist ein sicheres Gespür für die erhellende Anekdote und die wirkungsvolle Pointe. Aber das Charakterbild, das er von Churchill zeichnet, ist glaubwürdig und vermag durchwegs zu überzeugen. Nach der französischen Niederlage im «Blitzkrieg» war England ganz auf sich allein gestellt, und eine Fortführung des Kampfes schien aussichtslos. Landheer und Marine waren unvorbereitet und schlecht gerüstet, und die Unterstützung durch die USA lag in weiter Ferne. In

Am 19. September 1946 besucht Winston Churchill die Schweiz. In Zürich (hier Münsterbrücke) wird er begeistert empfangen.

Kielingers Biografie fasst sich bei der Darstellung des Kriegsverlaufs und der Nachkriegszeit kurz. Im Juli 1945 verlor Churchill die Wahlen und trat zurück. Die Bürger hatten begriffen, dass dieser so unsoldatisch wirkende ältere Herr im Nadelstreifenanzug und mit Melone, der zur Inkarnation ihres unbeugsamen Widerstandswillens geworden war, sein Bestes nur im Krieg geben konnte. Als Churchill 1951 nochmals Premierminister wurde, war er zu alt, um dem Amt gewachsen zu sein. Die wichtigste Waffe in Winston Churchills Kampf gegen Hitlerdeutschland war, neben persönlichem Mut und legendärer Arbeitskraft, seine Kunst der Rede. Es ist sehr zu begrüssen, dass gleichzeitig mit Thomas Kielingers Biografie im Europa-Verlag eine erweiterte Neuauflage von Churchills Kriegsreden erschienen ist. Der Band, sorgfältig übersetzt von Walther Weibel und kompetent eingeleitet von Klaus Körner, enthält nun auch die Zürcher Rede vom 19. September 1946, die mit den berühmten Worten endet: «Therefore I say to you, let Europe arise.» Die deutschen Sozialhistoriker haben, in berechtigter Reaktion auf die heroisierende Biografik nationalistischer Geschichtsschreiber, dazu geneigt, die Bedeutung des Individuums in der Geschichte herabzusetzen. Das Beispiel eines Winston Churchill zeigt indessen, dass sich die Wirkungsmacht einer Persönlichkeit, wenn sie in einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Umständen auftritt, durchaus geschichtsbestimmend auswirken kann. In diesem Punkt, und nur in diesem, waren sich Hitler und Churchill verwandt. Von beiden gilt, dass die europäische Geschichte anders verlaufen wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte. ●

Urs Bitterli ist emeritierter Professor für Geschichte der Universität Zürich.

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Sachbuch

Weiblichkeit Die Journalistin Henriette Schroeder geht der Frage nach, warum sich viele Frauen auch unter widrigsten Umständen schön machen

LippenstiftfürdieWürde

Henriette Schroeder: Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeiten grosser Not. Elisabeth Sandmann, München 2014. 304 Seiten, Fr. 36.90.

Auschwitz, das belagerte Sarajevo, die DDR, China unter Mao Zedong, der Iran der Mullahs – im Buch «Ein Hauch von Lippenstift für die Würde» versammelt die Journalistin und Dokumentarfilmerin Henriette Schroeder Erzählungen von Frauen, die Unmenschliches überlebt haben. Der rote Faden, der durch dieses Sammelsurium des Schreckens führt, ist das Thema des sich Schmückens, des sich Herausputzens, des sich Pflegens, egal unter welchen Bedingungen. Zu Wort kommen unbekannte, aber auch prominente Namen wie Nobelpreisträgerin Hertha Müller und PussyRiot-Aktivistin Nadezhda Tolokonnikova; ergänzt werden die persönlichen Texte von Interviews mit Expertinnen wie der Direktorin der Kommunikationsabteilung der Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen, Melissa Flemming, und Christiana Amanpour, der bekannten CNNKorrespondentin. Entstanden ist eine ergreifende zeitgeschichtliche Collage, zusammengesetzt aus Momentaufnahmen aus sehr intimer Perspektive. Das Mitteilen der persönlichen Vorlieben für Kleidungsstücke, Schminkutensilien und persönliche Pflegerituale bringt einem die Porträtierten sehr nahe. Man erfährt von einer Modeschau im KZ, in der die Insassinnen bitter-ironisch ihre zerlöcherten Uniformen als den letzten Schrei vorstellen, lernt, dass man aus Schuhcrème und Streichholzschwärze Wimperntusche herstellen kann, und was es während des Bosnienkrieges mit dem «Cupping» auf sich hatte, dem Duschen mit nur einer Tasse Wasser. Fotos aus dem Privatbesitz der Porträtierten und aus Agenturen ergänzen die Texte.

JEROME DELAY / AP

Von Malena Ruder

Trotz Bosnienkrieg wird die 17-jährige Imela Nogic am 29. Mai 1993 zur «Miss Belagertes Sarajevo» gewählt.

Schade nur, dass ein grosser Teil des Vorwortes von Schroeder dazu dient, etwaige Kritiker des oft als banal angesehenen Themas Kosmetik schon im Vorfeld auszuhebeln. Das wäre nicht nötig gewesen, begreift man doch, dass die im KZ vom Mund abgesparte Margarine, die als Gesichtscrème verwendet wird, nichts mit Eitelkeit zu tun hat, sondern damit, sich einen letzten Rest Normalität zu bewahren, einen Rest von Kontrolle über den eigenen Körper – und damit auch über das eigene Leben. Leider verlässt Schroeder in ihrem Text die Ebene der Einzelschicksale und der persönlichen Botschaften und nähert sich gefährlich der Botschaft, eine Frau zu sein bedeute, möglichst immer schön und gepflegt zu sein, selbst unter schlimmsten Umständen. Ein gepflegter Auftritt wird als Schlüssel zur «weiblichen Würde» deklariert, wie auch immer sich diese von der Menschenwürde unterscheiden mag. Die Geschichten der Porträtierten machen deutlich, dass es auch in extremen

Situationen eine sehr individuelle Entscheidung ist, wie wichtig einem das Aussehen ist. Die Bosnierin Senka Kurtovic etwa ging während der Belagerung Sarajevos immer geschminkt, frisiert und mit gebügelter Bluse ins Büro: «Schminken war Pflicht, jedes Mal so, als ob es das letzte Mal wäre. Selbstverständlich haben sich auch meine Kolleginnen geschminkt, sogar diejenigen, die das früher nie taten.» Lisa Kutzinski, im Zweiten Weltkrieg Gefangene im KZ Oederan, schreibt der Autorin hingegen in einem Brief: «Nein, weibliche Würde war im Lager kein Begriff; wenn Sie jederzeit dem Tod in die Augen schauen, haben Sie nicht viel für Schönheit und Würde übrig.» Auch vermisst man ein wenig die männliche Seite dieser Thematik, Beispiele für die Fixierung auf den Körper in extremen Situationen gäbe es, etwa die Gefängnisinsassen, die sich mit Muskelbergen bepacken. Denn sich um sein Aussehen zu sorgen, ist noch nie ausschliesslich weibliches Terrain gewesen. ●

Mord und andere kleine Geschenke des Himmels

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Schenken Sie doch mal was Sinnvolles! Zur Abwechslung vielleicht einen kleinen Mord? Hinreissend ironisch und mit luzidem Blick für die menschlichen Abgründe erschafft Pecorelli seine Geschichten. Ein Lesevergnügen erster Güte. 10CAsNsjY0MDAx1TUyMrE0NAYAO7m6LA8AAAA=

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22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

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Geschichte Der letzte Band des Historischen Lexikons der Schweiz ist erschienen

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Von René Roca Anlässlich der Buchvernissage des 13. und zugleich letzten Bandes des «Historischen Lexikons der Schweiz» (HLS) überboten sich Grussadressen überbringende Politiker geradezu mit Superlativen. Alt Bundesrat Moritz Leuenberger hielt fest, das neue Lexikonwerk sei «die Seele der Schweiz», und der Zürcher Stadtrat Richard Wolff rief gar aus, für ihn sei das «kolossale Werk» der endgültige Beweis: «La Suisse existe!» Die Fakten beeindrucken tatsächlich: Das HLS ist das umfassendste, je vom Bund finanzierte geisteswissenschaftliche Unternehmen der Schweiz. Mit dem Lexikon erhält man einen Überblick über die Geschichte der Schweiz von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart. Die Stiftung HLS zeichnet verantwortlich für ein – weltweit einmaliges – viersprachiges Lexikon. Die 13 Bände wurden in drei Landessprachen gedruckt, eine rätoromanische Ausgabe in 2 Bänden. Damit stellt das HLS auch ein in höchstem Masse über die Sprachgrenzen wirkendes, identitätsstiftendes Werk dar. Das Lexikon besteht aus rund 36 000 Artikeln, die von rund 3000 Mitarbeitern verfasst wurden. Die Artikel verteilen sich auf vier Kategorien: Biografien, Familien-, Orts- und Sachartikel.

Digital- vor Printausgabe

Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) entschied sich 1987 für ein neues gedrucktes Lexikon zur Schweizer Geschichte. Bundesrat und Parlament unterstützten das Vorhaben und waren für das finanzielle Polster besorgt. Ohne diese Unterstützung der öffentlichen Hand, wäre das Projekt nicht gelungen. Das HLS wurde als Nachfolger des beliebten zweisprachigen «Historisch-Biographischen Lexikons der Schweiz» (HBLS, 1921–1934) konzipiert, dabei verschloss man sich der digitalen Revolution aber nicht. Das digitale «E-HLS» überholte gar die erste gedruckte Ausgabe und ging 1998 mit 8000 Artikeln online. Der erste gedruckte Band wurde dann 2002 dreisprachig veröffentlicht, danach folgte jedes Jahr ein weiterer Band. Treibende Kraft hinter dem Grossprojekt war seit 1988 Chefredaktor Marco Jorio. Zusammen mit seinem Team verdient er viel Lob für seinen kontinuierlichen Einsatz. Auch der 13. Band, wiederum veröffentlicht im Basler Schwabe-Verlag, ist eine wunderschöne Ausgabe. Er bietet –

Lexikon atmet Vielfalt

Die 1856/57 erbaute eiserne Brücke über die Thur: Die Bahn führte von Winterthur nach Schaffhausen. Illustration aus dem letzten Band des Historischen Lexikons der Schweiz.

Alle gedruckten Bände sind jeweils mit 600 bis 700 sorgfältig ausgewählten Abbildungen illustriert. Nebst Reproduktionen seltener Bilder, Bücher, Flugblätter und Fotografien finden sich in jedem Band zahlreiche Infografiken, will heissen Karten, Tabellen und Diagramme, die von der Bildredaktion des HLS eigens für die Buchausgaben erstellt wurden. Aus dem HLS ist so ein bibliophiles Werk erster Güte entstanden, und die Illustrationen bieten mit präzisen Legenden zusätzliche Erkenntnisgewinne. Aufgrund der Vergabe von Bildrechten ist die Illustration der Artikel nur in der gedruckten

Version möglich und bleibt also deren Privileg! In den 1970er und 1980er Jahren vollzog sich in der Geschichtswissenschaft ein Paradigmawechsel. Gewisse Historikerkreise forcierten eine «Histoire totale», das heisst den Einbezug von Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte, trugen aber damit nicht nur zu einer Öffnung, sondern auch zu einer ideologischen Engführung bei. Da aber für das HLS verschiedene Historikergenerationen aus allen Sach- und Sprachgebieten mitarbeiteten, atmet das Lexikon eine gesunde Vielfalt. Trotzdem fällt bei einigen Artikeln der Zeitgeist auf, so zum Beispiel wenn für das 19.Jahrhundert der Begriff «Katholizismus» allzu einseitig mit «Antimodernismus» gleichgesetzt wird. Solcher Ballast sollte baldmöglichst abgeworfen werden. Dazu kommt, dass die Geschichtsforschung ja nicht stehen bleibt. Was tun? Inhaltliche Neubearbeitungen in der Online-Version und die Planung von Supplement-Bänden (wie beim HBLS) sollten im Vordergrund stehen. Welche Chancen hat die Lexikografie in Zeiten von Wikipedia? Als «offenes Lexikon» sind die Artikel von Wikipedia in wissenschaftlichen Arbeiten nicht zitierfähig. Diese Schwäche von Wikipedia bietet Chancen für eine neue, wissenschaftliche Lexikografie. Vertrauenswürdige «Referenzdatenbanken» vermögen Themen adäquat zu vertiefen. In diesem Sinne ist bereits ab 2017 das «neue HLS» als digitales Informations- und Dienstleistungszentrum der Schweizer Geschichte angedacht, und das ist sehr zu begrüssen. ●

René Roca ist Historiker, Gymnasiallehrer und leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch).

JAKOB EGGLI / ZENTRALBIBLIOTHEK ZÜRICH

in etwa gleich wie die 12 Vorgänger – rund 3000 Artikel auf gut 900 Seiten und ist vor allem geprägt durch die vier reich bebilderten Kantonsartikel Waadt, Wallis, Zug und Zürich. Ein weiteres Schwergewicht bilden – wie in jedem Band – grosse Sachartikel, hier etwa zu den beiden Weltkriegen, wobei besonders derjenige zum Ersten Weltkrieg im Gedenkjahr kompetent den neuesten Forschungsstand zusammenträgt. Zentral sind auch die Artikel zum Westfälischen Frieden von 1648 und zum Wiener Kongress 1814/15, beide Friedensschlüsse zeigen die schon damalige Verflechtung der Eidgenossenschaft im internationalen Umfeld auf. Unter den Biografien finden sich neben bekannten Persönlichkeiten wie etwa Friedrich Traugott Wahlen auch Diplomaten wie Frédéric Walthard, der unermüdlich den Aufbau der Europäischen Freihandelszone (Efta) betrieb, die oft hinter ihren Chefs ein Schattendasein führten, aber für die Schweiz einen grossen Einsatz leisteten. Auch die Familienartikel sind wieder vertreten, etwa mit den Zurlauben aus Zug.

Stiftung HLS (Hrsg.): Historisches Lexikon der Schweiz. Band 13, Vio–Zs. Schwabe, Basel 2014. 918 Seiten, mit Abbildungen, Tabellen, Grafiken, Fr. 298.–.

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Sachbuch

Vorgeschichte Der Prähistoriker Hermann Parzinger legt ein monumentales Werk über die ersten fünf Millionen Jahre der Menschheit vor

DasLebenvorderSchrift

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. C. H. Beck, München 2014. 848 Seiten, Fr. 59.90, E-Book 41.–.

Das Vorhaben ist nicht unbescheiden: Hermann Parzinger, seit 2008 Präsident der Stiftung Preussischer Kulturbesitz in Berlin und eigentlich ein sehr vielbeschäftigter Mann, Prof. Dr. Dr. hc. mult. und Familienvater, hat nichts weniger als die Geschichte vor der Geschichte geschrieben. In der Einführung in das fast 1000seitige Monumentalwerk verwahrt sich der Autor gegen den Begriff «Vorgeschichte». Zu Recht, auch wenn diese Bezeichnung kaum noch auszurotten ist. Tatsache ist, dass Kulturwissenschafter, wenn sie über das Werden der Menschheit räsonieren, meist erst bei den Hochkulturen beginnen – Mesopotamien, Ägypten, China, bei Kulturen also, welche die Schrift beherrschten. Was vorher war, wird, wenn überhaupt, mit wenigen Sätzen abgetan: Australopithecus, Neandertaler, Homo Sapiens sind die Schlagworte. Begründung: Man wisse ja kaum etwas über diese sehr frühe und sehr lange Zeit der Menschheit.

WERNER FORMAN / GETTY IMAGES

Von Geneviève Lüscher

Globalgeschichte

Parzinger widerspricht: «Immer dann, wenn der Mensch schöpferisch tätig wird, nimmt er sein Geschick in die Hand und gestaltet Geschichte.» Er zeigt, wie viel die Forschung mittlerweile über diese fünf Millionen Jahre zusammengetragen hat, verglichen mit denen die Zeit von den Hochkulturen bis heute nur einen Wimpernschlag dauert. Es ist der erste Versuch einer Globalgeschichte der schriftlosen Kulturen und insofern ein grossartiges Werk, das auch von der ungeheuren Belesenheit des Autors zeugt. Fast 100 Seiten umfasst der kleingedruckte Anhang mit Literaturangaben. Es entspringt wohl der Unbescheidenheit des Autors, dass er diese Forscher und Forscherinnen nirgends verdankt, die weltweit in mühseliger Kleinarbeit die Puzzlesteine erarbeitet haben, die er für sein Grossbild verwenden durfte. Aber natürlich ist es allein sein Verdienst, dass er es gewagt hat, auf deren Schultern zu steigen. Seriöse und lesbare Überblickswerke sind Stiefkinder der archäologischen Forschung. Parzinger beginnt seine Monumentalgeschichte in Afrika, mit der Evolution des menschlichen Gehirns, dem aufrechten Gang und dem Freiwerden der Hände, die es Homo habilis vor rund 2 Mio. Jahren ermöglichten, die ältesten 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

Olmekische Sitzfiguren aus Ton (Mexiko). Die Olmeken entwickelten die älteste Hochkultur in Mesoamerika, die von 1500 bis 500 vor Christus blühte.

Steinwerkzeuge zu schaffen, den ersten Ausdruck menschlicher Kultur. In kenntnis- und detailreichen Schritten führt er dann seine Leserschaft vom afrikanischen Aasfresser zum Wildbeuter, der sich bis um 13 000 vor Christus weltweit verbreiten konnte. Es folgt – kontinent- und kapitelweise – die Entwicklung zur bäuerlichen Lebensweise mit Viehzucht, Ackerbau, Keramik- und Textilherstellung, einem der wohl «bedeutendsten Umbrüche der Menschheitsgeschichte». Den Schluss bilden die komplexen Gesellschaften am Vorabend der ersten Hochkulturen.

Aasfresser wie Wildbeuter

Der Gang durch die Zeiten und über die Kontinente ist anspruchsvoll, und es bleibt unklar, an wen sich der Autor richtet. Er pflegt einen distanziert-wissenschaftlichen, auf die materielle Kultur fokussierten Ton, der den Menschen in

den Hintergrund treten lässt. Nicht immer gelingt es, den Fachjargon aussen vor zu lassen. Was kann sich der Laie unter «Klingenindustrie» oder einem «megaronförmigen» Kultbau vorstellen? Mehr Karten, um sich auf der Welt zurechtzufinden, wären eine Hilfe gewesen. Synoptische Tabellen fehlen völlig; sie hätten dem Laien, der sich in der Weite der Zeit verliert, Orientierung gegeben. Denn die schier endlose Abfolge von Fundorten und Kulturbezeichnungen ermüden. Hilfreich sind die dazwischengestreuten Zusammenfassungen und auch die in einer Randspalte aufgelisteten Schlagworte. Für Fachleute ist das Buch eine Fundgrube, allerdings fehlen die für sie wichtigen Nachweisbelege. Für Laien eignet es sich am ehesten als bebildertes Nachschlagewerk. Leider liefert der Anhang zwar ein Orts-, aber kein Sachregister. So wird man nur zufällig auf die älteste Kultivierung der Erbse im Vergleich zum Kürbis stossen oder erfahren, wann und wo der Mensch mit dem Ahnenkult, der die ersten sozialen Differenzierungen anzeigt, begonnen hat. Den grossen Überblick liefert Parzinger im letzten, anregenden Kapitel «Vergleichende Schlussbetrachtungen», das hauptsächlich den Gründen für den Übergang von der wildbeuterischen Lebensweise zu Ackerbau und Viehzucht nachgeht. Es sei eine besondere Erkenntnis seines Buches, schreibt der Autor – sie ist allerdings nicht wirklich neu –, dass die verschiedenen Kulturmerkmale sesshafter und bäuerlicher Gesellschaften grundsätzlich überall, aber weltweit nicht gemeinsam und nicht gleichzeitig auftreten würden. Jede Weltregion durchlief die Entwicklung in ihrem eigenen Rhythmus. Dort allerdings, wo es Nahrung im Überfluss gab, lebten Menschen weiterhin als Jäger und Sammlerin. Es fehlte, laut Parzinger, die Triebfeder, das «beständige Streben des Menschen nach Verbesserung seiner Lebensverhältnisse in einer sich wandelnden Umwelt». Jedoch seien Umwelt und Klima nicht allein Anlass zur Änderung der Lebensweise. Dem Mensch wohne auch ein Drang inne, die von der Natur gesetzten Grenzen zu überwinden. Alle, auch die erfolgreichsten Kulturen sind wieder verschwunden – ausnahmslos und überall auf der Welt. Diese Hinfälligkeit sei unsere conditio humana, ist Hermann Parzingers ernüchterndes Fazit. ●

Geschichte Während heimische Söldner und Handwerker ihr Glück seit Jahrhunderten in der Fremde suchen, kommen ausländische Migranten erst seit 150 Jahren in die Schweiz

VonderMassenauswanderung zurMasseneinwanderung

André Holenstein: Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte. Hier + jetzt, Baden 2014. 288 Seiten, Fr. 52.90. Von Tobias Kaestli Im populären Geschichtsbild hält sich der schweizerische Gründungsmythos mit Tell und Rütlischwur bis heute. Lange wurde er als unabdingbarer Teil des schweizerischen Nationalbewusstseins angesehen und für politisch überaus nützlich gehalten. Deshalb fühlten sich Historiker bis ins 20. Jahrhundert bemüssigt, auf ihn Rücksicht zu nehmen. Anders André Holenstein, Profes-

sor für ältere Schweizer Geschichte und vergleichende Regionalgeschichte an der Uni Bern. In seinem neusten Werk hält er kurz und bündig fest, das Landfriedensbündnis von 1291 habe nichts mit einer Staatsgründung zu tun. Seine kurz gefasste Darstellung der Schweizer Geschichte setzt erst im 15. Jahrhundert ein. Die damals entstehende und sich entwickelnde schweizerische Eidgenossenschaft beschreibt er einerseits unter dem Gesichtspunkt ihrer realen Verflechtung mit den umliegenden Mächten und Märkten. Andererseits schildert er, wie gerade wegen dieser engen Verflechtung das Bedürfnis entstand, sich gegen jene Mächte abzugrenzen und die politische Eigenständigkeit

Vatikan Aus der Küche der Schweizergarde

Was könnte besser zum «Buon pranzo»-Papst passen als ein Rezeptbuch aus der Feder von zwei Schweizergardisten. Gegen 60 Gerichte präsentieren Hellebardier David Geisser, im Zivil gelernter Koch, und Wachtmeister Erwin Niederberger, Konditor-Confiseur und seit 15 Jahren im Dienst der Schweizergarde. Darunter die Lieblingsgerichte von drei Päpsten (Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus), aber auch von «gewöhnlichen» Würdenträgern und Gardeoffizieren. Schon Johannes XIII. wusste: «Buona cucina fa buona disciplina». Der Fotoband führt uns die ganze irdische Pracht von den Saltimbocca alla Romana, Campanelle mit Rucola, dem Kabeljau Borgo Pio (siehe Bild) bis zur Obwaldner Eieromelette mit frischen Kräutern vor Augen, die man augenzwinkernd dem Heiligen Bruder

Klaus zuschreibt. Sollten einem die erlesenen Köstlichkeiten nicht passen, nehme man sich Kardinal Kurt Koch zum Vorbild, dessen Lieblingsessen so mehrheitsfähig ist wie kein zweites: Wiener Schnitzel mit Preiselbeermarmelade und Pommes Allumettes. Alle Gerichte sind von der polnischen Fotografin Katarzyna Artymiak liebevoll ins Bild gesetzt und von David Geisser zum Nachkochen beschrieben. Fotos schmucker Schweizergardisten in farbenprächtigen Gewändern sowie Tischgebete runden das päpstlich-schweizerische Opus ab – ein wahrer Leckerbissen! Urs Rauber David Geisser, Erwin Niederberger: Päpstliche Schweizergarde – Buon Appetito. Rezepte, Geschichten und prominente Porträts. Werd & Weber, Thun 2014. 192 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, Fr. 64.90.

im Mythos der Neutralität und des Sonderfalls Schweiz zu verankern. Ein erstes Thema, das Holenstein zur Illustration der Verflechtungsthematik aufgreift, ist die Reisläuferei. Vor allem die französischen Könige versicherten sich während Jahrhunderten der Unterstützung durch Schweizer Söldner, die seit den Burgunderkriegen als besonders kampftüchtig galten. Hohe Geldsummen flossen, wobei der grösste Teil nicht an die Söldner selbst ging, sondern an die eidgenössischen Offiziere, die Söldner anwarben, und an die Regierenden, die die Anwerbungen ermöglichten. Durch Plündern und Beutemachen konnten aber auch gewöhnliche Söldner zu einem gewissen Reichtum gelangen. Die Reformatoren geisselten das dadurch geförderte unmoralische Luxusleben. Die Regeln wurden verschärft, das Beutemachen schwieriger. Das Reislaufen verlor an Attraktivität. Die Söldnerwerber halfen sich damit, dass sie zunehmend Ausländer in die Schweizer Regimenter einschleusten. Deren Anteil nahm stark zu, besonders dann, wenn Kriege drohten. Während des Siebenjährigen Kriegs stieg der Anteil der Ausländer in bernischen Regimentern von 37 Prozent (1757) auf 56 Prozent (1763) an. Ein zweites Thema ist die Arbeitsmigration. Am Beispiel der Bündner Zuckerbäcker oder der Gepäckträger und Verladearbeiter in den italienischen Seehäfen beschreibt Holenstein das Phänomen. Dabei vermeidet er jeden Miserabilismus, zeigt vielmehr, wie es viele im Ausland zu hohem Ansehen und Wohlstand brachten, was dann letztlich auch wieder der Heimat zugutekam. Umgekehrt gab es auch in der frühen Neuzeit schon Immigranten, Glaubens- und Wirtschaftsflüchtlinge, die in die Schweiz kamen. Zum Massenphänomen wurde die Immigration jedoch erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weitere Themen sind das Bankenwesen und der grenzüberschreitende wissenschaftliche Gedankenaustausch. Mit seiner bis in die Gegenwart führenden Darstellung schaltet sich Holenstein explizit in die aktuelle Europadiskussion ein: Wer die Abschottung der Schweiz mit dem Hinweis auf historische Traditionen zu begründen versuche, beziehe sich auf den Mythos, aber nicht auf die wissenschaftliche Geschichtsforschung. Demgegenüber möchte er sein historisches Wissen, das sich erkennbar auf dem neusten Stand der Forschung befindet, als Orientierungshilfe anbieten. Seine Darstellung schafft Übersicht und Einsicht. Bekanntes und weniger Bekanntes rückt er so ins Blickfeld, dass man es neu oder schärfer sehen kann. Es ist ein Vergnügen, ihn auf seinen Spaziergängen durch die Schweizer Geschichte zu begleiten. ● 7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25

Sachbuch

Wiener Kongress (1) Napoleon gegen den Rest Europas – von Adam Zamoyski mit stupender Darstellungskraft beschrieben

GrossesPokerspielderSieger

Adam Zamoyski: 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. C. H. Beck, München 2014. 720 Seiten, Fr. 44.90. Von Kathrin Meier-Rust

«Ganz Europa in meinem Vorzimmer»: Metternich (in Rot) am Wiener Kongress 1815.

LEEMAGE

«Als ich gestern hier ankam, fand ich ganz Europa in meinem Vorzimmer versammelt», schrieb Fürst Metternich im September 1814 an seine Frau. Der österreichische Aussenminister übertrieb nur wenig. Geplant als kurzes Treffen der Aussenminister der Sieger über Napoleon – Russland, Preussen, Österreich und England – kamen schliesslich Vertreter von fast 200 Staaten, Städten, Miniherrschaften, Körperschaften und Familien nach Wien, um ihre Ansprüche und Anliegen geltend zu machen. Nicht minder gigantisch ist das Buch, das der in London lebende Historiker Adam Zamoyski diesem Ereignis widmet. Während der eigentliche «Wiener Kongress» vom September 1814 bis Juni 1815 dauerte, beginnt sein Werk in jener Dezembernacht im Jahr 1812, in der Napoleon, mit knapper Not der Katastrophe seines Russlandfeldzuges entronnen, inkognito im Schlafzimmer seiner Kaiserin in Paris eintrifft. Damit schliesst Zamoyski direkt an sein grossartiges Werk «1812» an, das freilich mit dem Russlandfeldzug eine ungleich kompaktere Handlung erlaubte, als es nun das schier uferlose Schachern zwischen den rivalisierenden europäischen Mächten vor, in und nach Wien tut. Zamoyski begegnet dieser Herausforderung zweifach. Zum einen verwebt er die eigentlichen Verhandlungen dicht

mit den Ereignissen, die damals die europäische Welt in Atem hielten: der langsam vorrückende, stets unsichere Kampf der Alliierten gegen Napoleon, dessen Abdankung, die Einsetzung eines unfähigen, aber eben bourbonischen Louis XVIII. Dann das neuerliche Erscheinen des «Ungeheuers» Napoleon, der Triumph der 100 Tage und seine endgültige Niederlage bei Waterloo, nach der er, zurück in Paris, als Erstes ein heisses Bad nahm, um dann die Flucht nach Amerika zu planen. Zum anderen bereichert Zamoyski das schier endlose «Pokerspiel» und seine vielen berühmten Mitspieler beständig mit Quellentexten, die jene historische

Epoche liebevoll und mit Witz zeigen: Unvergesslich etwa die englische Damenwelt, die, 20 Jahre von der französischen Mode abgeschnitten, nach Napoleons Sturz sofort nach Paris strömt, dort jedoch mit ihren gewagten Eigenkreationen solche Menschenaufläufe verursacht, dass die Polizei einschreiten muss. Die Liebesschwüre eines Metternich an eine neue Geliebte, von der er allerdings zum eigenen Kummer sagen muss, sie pflege «so oft zu lieben, wie andere zu dinieren». Der fromme Zar Alexander, der Metternich zu einem kleinen Souper mit einer Pietistin einlud, wobei an der Tafel das vierte Gedeck leider leer blieb – es war «für Jesus». Kurz: unterhaltender kann die Geschichte des «Wiener Kongresses» nicht geschrieben werden. Ja, der Wiener Kongress etablierte nach jahrzehntelangen Kriegen endlich Frieden in Europa und er legte Grenzen fest, die teilweise – etwa im Fall der Schweiz – bis heute gültig sind. Trotzdem widerspricht Zamoyski in seinem Fazit der gängigen positiven Wertung, die etwa auch Henry Kissinger als grosser Kongress-Spezialist vertritt. Mit einer Aufzählung der Kriege und Revolutionen des 19. Jahrhunderts und ihrer Opfer widerspricht er der gängigen These, der Kongress habe einen 100-jährigen Frieden in Europa begründet. Zu sehr habe, so Adam Zamoyski, die oft absurde Restauration der Zu- und Besitzstände des Ancien Régime – selbst die Strassenbeleuchtung wurde mancherorts wieder abgeschafft – den neuen Zeitgeist und den jungen Nationalismus verkannt. Der sollte dann im 19. Jahrhundert umso stärker explodieren. ●

Wiener Kongress (2) Die wichtigsten Aussenminister Europas ordneten den Kontinent neu

Der Kongress tanzt, doch er bewegt sich nicht Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas. Siedler, Berlin 2014. 432 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 24.90. Von Victor Mauer «Le congrès danse mais ne marche pas.» Schon bald wurde der Ausspruch zum geflügelten Wort. Rauschende Feste waren ein integraler Bestandteil des Wiener Kongresses, und Thierry Lentz, Direktor der Fondation Napoléon, schildert die gesellschaftlichen Vergnügungen auf unterhaltsame Weise. Doch sie blieben das, was sie waren: Begleiterscheinungen eines Ereignisses, dessen Schlussakte vom 9. Juni 1815 zu einem Schlüsseldokument der Moderne und Anker der Ordnung des 19. Jahrhunderts wurde. Das Sicherheitssystem der Wiener Friedensordnung basierte auf der Idee 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

des Gleichgewichts, das zwar die machtpolitische Konkurrenz nicht ausschaltete, aber überlagert wurde von dem gemeinsamen Interesse, die politisch-territoriale Ordnung Europas durch eine Art Sicherheitsrat der Grossmächte zu garantieren. Die 14 Kapitel beruhen auf einer Kombination aus chronologischem und thematischem Ansatz. Ausgehend von der ersten Abdankung Napoleons, porträtiert Lentz die Hauptakteure: Metternich als konservativen Balancekünstler; Castlereagh als Pragmatiker; Hardenberg als ehrgeizigen Realisten; Nesselrode von machtpolitischer Stärke getrieben und Talleyrand als gerissenen Aussenminister, der den Zwist unter den Siegern nutzte, um den Kriegsverlierer wieder in die erste Riege der europäischen Mächte zu katapultieren. Prägnant analysiert er ihre Motive, Ziele und Verhandlungsstrategien, die Arbeitsweise des Kongresses,

die zentralen Streitpunkte, Erfolge und Versäumnisse. Angesichts der komplizierten Umstände sei der bestmögliche Kompromiss gelungen. Man mag den Neuzuschnitt Europas, die vernachlässigten nationalen und liberalen Strömungen des Zeitalters, die unbefriedigende Lösung der deutschen Frage und das Interventionsrecht der Grossmächte negativer gewichten, als Lentz das tut. Dass die Wiener Ordnung eine Friedensperiode einläutete, die 40 Jahre dauerte, ja Europa ein Jahrhundert ohne allgemeinen Krieg bescherte, ist indes ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass das Kongress-system keineswegs den Keim des Niedergangs in sich trug. Vor allem aber führt Lentz Goethes Verdikt ad absurdum, wonach der Kongress sich nicht zum Nacherzählen eigne, weil er keinen Gehalt gehabt habe. Zum Bicentenaire legt Lentz ein beeindruckendes Werk vor. ●

Kolonialhilfe Der bekannte «Urwalddoktor» und Nobelpreisträger Albert Schweitzer (1875–1965) war ein Meister der Selbstinszenierung

Sebastian Moll: Albert Schweitzer. Meister der Selbstinszenierung. Berlin University Press, Berlin 2014. 250 Seiten, Fr. 44.90. Von Urs Rauber Für Generationen von Menschen war «Urwalddoktor» Albert Schweitzer (1875– 1965) eine der grossen Ikonen des 20. Jahrhunderts. Der aus dem elsässischen Kaysersberg stammende deutschfranzösische Arzt gründete 1913 das Spital von Lambarene im zentralafrikanischen Gabun und galt fortan als der christliche Entwicklungshelfer in Afrika. Darüber hinaus war er Autor zahlreicher theologischer und philosophischer Schriften, virtuoser Organist und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1952. Der «gütige Urwalddoktor» hatte allerdings auch oft übersehene Qualitäten: So war er insbesondere ein grossartiger Inszenator seiner selbst, wie eine neue akribische Untersuchung des Kölner Theologen Sebastian Moll zeigt. Albert Schweitzer, der äusserlich immer mehr einer Mischung zwischen Josef Stalin und Albert Einstein glich, verfasste insgesamt fünf autobiografische Werke – das erste im Alter von 46 Jahren. Darin präsentierte er sich nicht nur als uneigennütziger Kolonialhelfer, der zu den Ärmsten der Armen in den Busch ging, sondern auch als grosser Denker, der die zeitgenössische Religion und Philosophie revolutioniert haben will. Moll weist nach, wie der Pfarrerssohn und studierte Theologe Schweitzer seinen eigenen Beitrag zur Jesus-Forschung überhöhte; dass er kein radikaler kirchlicher Reformer war (wie er in seiner Autobiografie beteuert); und dass sein Entschluss, nach Lambarene zu gehen, weniger einem hehren Helferwillen entsprang als einer fundamentalen Krise, in

die er in seinem dreissigsten Lebensjahr geraten war. Schon der Zürcher Psychoanalytiker C. G. Jung, ein Zeitgenosse, vermutete als Motiv Schweitzers eine Enttäuschung, die dieser zu kompensieren suchte, indem er «ein weisser Heiland bei den Negern» wurde – «wie rührend und wie verführend» (C. G. Jung in einem Brief von 1953). Der Verfasser zerzaust auch Schweitzers sorgfältig gepflegtes Bild, er habe mit seiner Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben eine Art Synthese zwischen Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche geschaffen. Melodramatisch schilderte der Urwaldarzt in seiner Schrift «Aus meinem Leben und Denken» (1931), wie ihm der Begriff «Ehrfurcht vor dem Leben» im September 1915 in Afrika «urplötzlich» eingefallen sei, als er in einem Fluss mit dem Schleppkahn durch eine Herde Nilpferde schipperte. Als erster habe er den Begriff dann in die Philosophie eingeführt. Schweitzers Drang, die Philosophie mit neuen Fragen etwa zur Tierethik bereichert zu haben, sei «geradezu lächerlich», schreibt Moll. Bereits vor fünf Jahren war im C.-H.Beck-Verlag die grosse Schweitzer-Biografie von Nils Ole Oermann erschienen, die den Nobelpreisträger neben all seinen Verdiensten auch kritisch würdigte, da er sein eigenes Wirken beschönigte. Sebastian Moll respektiert ohne Umschweife die grosse Lebensleistung des Wohltäters und christlichen Missionars, verstärkt aber die Kritik, indem er den Nobelpreisträger zwar nicht als Hochstapler, doch «begnadeten Selbstdarsteller» charakterisiert: «Er hat das Meisterstück vollbracht, dass die Welt ihn bis heute genauso sieht, wie er sich selbst sah.» Auch Heilige, so zeigt Sebastian Moll, kochen nur mit Wasser – vor allem wenn es um die Sicherung ihres eigenen Lebenswerks geht.

ERICA ANDERSON / AP

CarlGustavJungnannteihnden «weissenHeilandbeidenNegern»

Albert Schweitzer um 1950 in Lambarene, Gabun: ein Bild, das er gern von sich pflegte.

Die aufschlussreiche Publikation krankt allerdings daran, dass sie nur wenig zur Biografie und Gesamtwürdigung Albert Schweitzers beiträgt und sich stattdessen zu stark auf die Details konzentriert. Die ausführlichen Erläuterungen über Albert Schweitzers frühe Prägung sowie die Ausflüge zu philosophischen und theologischen Zeitgenossen Schweitzers mögen zwar für die Beweisführung des Autors von Belang sein, für heutige Leserinnen und Leser führen sie zu sehr ins Unterholz der Geisteswelt des 19. Jahrhunderts. Das sachlich durchaus überzeugende Buch hätte durch eine Straffung an ein paar Stellen gewiss noch gewonnen. ●

Die indizierte Ausgabe der Ketzerbriefe 157/158

Erweiterte Neuauflage, € 12.90 / 180 S. / ISBN 978-3-89484-826-2

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7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

Sachbuch

Landschaftspflege Geschichte, Hintergründe und Anleitungen zum Bau einer Trockenmauer

Stein auf Stein auf Stein

Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz (Hrsg.): Trockenmauern. Grundlagen, Bauanleitung, Bedeutung. Haupt, Bern 2014. 470 Seiten, Fr. 109.–. Von Sarah Fasolin Kann man 470 Seiten über Trockenmauern schreiben? Man kann. Und sogar sehr gut, wie das gleichnamige Buch auf beeindruckende Weise zeigt. Denn es gibt dazu mehr zu sagen, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Zum Beispiel über die Geschichte der Trockenmauern, über Steine und Bauweisen. Über die Flora und Fauna, die sich in den Mauernischen ansiedeln. Oder auch über die Bedeutung dieser Mauern für die Landschaft, und weshalb es gemäss den

Schreibenden Sinn macht, die Steine wieder aufzuschichten, wo der Zahn der Zeit zu sehr genagt hat. Die einzelnen Kapitel stammen aus der Feder verschiedener Experten und bauen aufeinander auf. Manchmal holen sie weit aus, finden aber immer wieder zum Kern der Sache zurück. Zahlreiche Fotos und sorgfältige Zeichnungen illustrieren, worum es geht. Die Herausgeberin «Stiftung UmweltEinsatz Schweiz» (SUS) schliesst mit diesem Buch eine Lücke. Dies ist insofern erstaunlich, als Trockenmauern in vielen Ländern Europas die Landschaften prägen. In der Schweiz sind dies zum Beispiel die Weideabgrenzungen im Jura, Häuser und Brücken im Tessin oder kilometerlange Stützmauern in der Waadt und im Wallis. Was so selbstverständlich

zur Landschaft gehört, wäre als Baukunst beinahe vergessen gegangen. Zu Beginn der 1990er Jahre, als sich die SUS für Trockenmauern zu interessieren begann, fand diese bereits niemanden mehr, der das Handwerk beherrschte. Der englische Trockenmauerbauer Richard Tufnell musste eingeflogen werden, um den Schweizern zu zeigen, wie man die Steine korrekt verbaut. Mit dem Buch und seinen detaillierten Anleitungen wird dies nicht mehr nötig sein. Ein Standardwerk liegt nun vor. Eines, das im Regal eines jeden Gartenbauers, Architekten, Landschaftsplaners, Wanderers, Denkmalpflegers und Bauern nicht fehlen darf. Aber auch für Laien eignet es sich. Denn nach 470 Seiten ist jeder ein kleiner Experte – zumindest theoretisch. ●

Mittelalter Tausende von Bittschriften an den Papst spiegeln die Lebenswelt des Spätmittelalters

Von den Nöten der armen Sünder

Arnold Esch: Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt. C. H. Beck, München 2014. 544 S., Fr. 37.90. Von Peter Durtschi Er sei 70-jährig, da könne er in der Fastenzeit nicht so einfach auf Fleisch oder Milchprodukte verzichten, sagt der Benediktinerabt aus dem nordfranzösischen Evreux. Ein spanischer Geistlicher aus der Diözese Segovia gesteht: Im Alter von 14 Jahren habe er, als ein Sarazene zum Tod durch Steinigung verurteilt worden sei, mitgeworfen. Zwei Geschichten aus dem Leben von Klerikern und Laien, die in Bittschriften an den Papst greifbar werden. Sie tragen ihr An-

liegen nach Rom, oder sie berichten, wie es dazu kam, dass sie Schuld auf sich geladen haben, was Folgen für ihre Karriere haben konnte. Heute liegen ihre Bittschriften im Archiv der Apostolischen Pönitentiare in Rom, dem höchsten Buss- und Gnadenamt der Kirche. Allein im Zeitraum 1439–1484 kamen auf diese Weise rund 97 000 Suppliken zusammen. Der deutsche Mediävist und Romkenner Arnold Esch hat für seine bemerkenswerte Darstellung gut 2400 Fälle untersucht, die aus ganz Europa, von Portugal bis Polen, von Schottland bis Sizilien stammen. Greifbar werden Schicksale von Leuten, die keine Chance hatten, je in einer historischen Quelle erwähnt zu werden oder gar zu Wort zu kommen. Denn die Kirche, schreibt Esch, «fragte

hier nicht nach der historischen Erheblichkeit eines Menschen, sondern nach der Gefährdung seines Seelenheils. Und darin – aber auch im Anspruch, die dafür allein zuständige Institution zu sein – achtete sie die Menschen gleich.» Und so verwebt Esch auf elegante Weise Schicksale zu einem bunten Bild des Lebens im Spätmittelalter. Wir erfahren, wie sich Menschen bei Ausbruch der Pest verhalten, wie sie an der Universität, im Wirtshaus gestritten haben. Wir sehen, wie weit die Gewissensforschung gehen konnte. Und wir erahnen, dass man die Erzählungen in diesen Bittschriften nicht einfach beim Wort nehmen kann – wie alle Aussagen vor Gericht haben sie die Tendenz, die eigene Rolle herunterzuspielen, wie Arnold lakonisch konstatiert. ●

Politik Jakob Kellenberger beklagt, dass keine offene Diskussion über den Bilateralismus geführt werde

Diplomat verteilt Zensuren

Jakob Kellenberger: Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH – EU. NZZ Libro, Zürich 2014. 253 S., Fr. 39.90. Von Christine Scherrer Wenn Jakob Kellenberger in seinem Buch von «modrigen Pilzen» schreibt, dann hat das nichts mit Weltflucht zu tun. Im Gegenteil: Er wehrt sich gegen eine unkritische Verwendung politischer Begriffe, die ihm – auf ihre Substanz hin befragt – oftmals nurmehr spröde und staubig erscheinen. In diesem Sinne stellt der ehemalige Leiter des Integrationsbüros EDA/EVD und einstige Chefunterhändler der ersten bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union die Kategorien Souveränität und 28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

Neutralität zur Disposition, wie er auch den «Superstaat» auf seine Semantik hin prüft. Die sprachkritischen Erwägungen spitzt der frühere IKRK-Präsident aber auf die ihn eigentlich umtreibende Frage zu: Wo liegt die Schweiz? Und wie ist es um ihr Verhältnis zur EU bestellt? Kellenbergers Buch ist ein Traktat über die Integrationspolitik der Schweiz unter dem Blickwinkel ihrer geografischen und historischen Verortung. Es nimmt Klarstellungen vor und räumt mit Fehl- und Vorurteilen auf – etwa, dass ein Beitritt die Schweiz massgeblich in ihren Volksrechten beschnitte. Es deckt aber auch Schwächen der EU auf: Nicht nur hat die Eurokrise neue Ressentiments unter den Mitgliedstaaten geschürt; die Haftbarkeit, die nicht vorgesehen war, hat auch das Vertrauen in die EU als

Rechtsgemeinschaft geschmälert. Im Grundsatz beklagt Kellenberger, dass heute, da die Zeichen für eine Integration insgesamt günstiger stünden, keine offene Diskussion über die Beziehung der Schweiz zur EU geführt werde. Wenn Kellenberger die nationalkonservativen Kreise für ihre Vereinnahmung der Begriffe tadelt und die linken Politiker wegen ihrer «mangelnden Entschiedenheit» rügt, sieht er sich selbst erst recht zum freien Sprechen und Schreiben veranlasst. Einmal kohärent, dann launenhaft, ein andermal ernst, dann hoch ironisch; aber immer leidenschaftlich und niemals langweilig fordert Kellenberger den Zu- oder Widerspruch heraus. Er könnte so die ungezwungene Diskussion entfachen, die sein Buch doch eigentlich verneint. ●

Biografie Als Jugendpastor in Rostock fiel Joachim Gauck in der DDR nicht weiter auf. Seine Berufung kam erst, als die Berliner Mauer ins Wanken geriet

DesPfarrersWeg inshöchsteStaatsamt Johann Legner: Joachim Gauck. Träume vom Paradies. Bertelsmann, München 2014. 384 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90.

Wer wie Johann Legner vier Jahre lang Pressesprecher des damaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck, war und auch danach noch ständig Kontakt zu seinem früheren Chef hielt, gerät allzu leicht in den Verdacht, ein willfähriger Autor zu sein, der mit Kritik am heutigen deutschen Bundespräsidenten sparsam umgeht. Doch dieser Vorwurf wäre im vorliegenden Fall fehl am Platz. Legner geht jedem Hinweis nach, zählt die Fehler und Schwächen des Porträtierten auf und verleugnet die Familiengeschichte der Gaucks nicht. Ja, die Eltern und Grosseltern waren der Versuchung des Nationalsozialismus erlegen. Ein Onkel brachte es trotz brauner Vergangenheit in der DDR zum Superintendanten und Bischof in der Evangelischen Kirche. Er hatte grossen Einfluss auf den Neffen und dessen Berufswahl. Das Ereignis, das den jungen Gauck prägte und das auch heute noch immer wieder von ihm erwähnt wird, war 1951 die Verhaftung des Vaters durch den sowjetischen Militärgeheimdienst ohne erkennbaren Grund. Der Vater habe sich nicht als Gegner der SEDHerrschaft ausgezeichnet, schreibt Legner. Er war wohl ein Zufallsopfer des stalinistischen Terrors geworden. Er kam erst vier Jahre später nach Bundeskanzler Adenauers legendärem Besuch in Moskau wieder frei.

Unscheinbarer Chaot

Der Lebensweg Gaucks war auf eine merkwürdige Weise ungewöhnlich. Als Landpfarrer und später als Stadtjugendpastor in Rostock fiel das heutige Staatsoberhaupt nicht weiter auf. Die Stasi wusste nicht recht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Legner beschreibt ihn als jemand, der provozierte, aber nicht jene Linie überschritt, die die DDR-Staatsmacht zum Eingreifen gezwungen hätte. Sein Biograf nennt ihn zudem einen Chaoten, einen «Mann, dem man Gefühle, Empfindungen, Einsichten oder Erkenntnisse anvertraut, ebenso eine Bühne mit einem Rednerpult, keinesfalls aber eine Kasse, einen Schlüsselbund, einen Terminkalender oder gar eine grosse Organisation». Seine Kirchenoberen müssen es ganz ähnlich gesehen haben. Der Aufstieg in der Kirchenhierarchie blieb ihm verwehrt, mit einer Ausnahme. Ihm wird die Vorbereitung der

SIEGFRIED WITTENBURG / EPA

Von Gerd Kolbe

«Ein Mann, dem man Gefühle oder eine Bühne anvertraut, aber keine Kasse oder grosse Organisation»: Der begnadete Redner Joachim Gauck als Pastor in der Marienkirche in Rostock (16. 11. 1989).

Kirchentage anvertraut. Dies hatte den Vorteil, dass er Kontakte zu kirchlich orientierten westdeutschen Politikern wie dem späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker oder dem Sozialdemokraten Erhard Eppler knüpfen konnte. Gauck hat mit der Pastorentochter Angela Merkel eins gemein: Beide waren DDR-Oppositionelle der zweiten Stunde; ihre Berufung kam, als die Berliner Mauer im Oktober 1989 schon wankte. Als Prediger in der Rostocker Marienkirche, der sagte, was man in der DDR besser nicht sagte, zog Gauck Zehntausende in seinen Bann. Seine politische Tätigkeit nahm hier ihren Anfang. Stetes Ziel seines Handelns und Redens war die Freiheit. Als andere noch die DDR nur reformieren wollten, trat er ohne Umschweife für die Wiedervereinigung ein. Selten hat man jemanden erlebt, der so zielstrebig auf seine künftige Aufgabe, auf das Amt des Stasi-Behördenchefs, hinarbeitete. Gauck war und ist bis heute unnachgiebig der Auffassung, dass es nur einen Weg zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur und ihres Geheimdienstes geben könne, nämlich die völlige Öffnung der Archive. Jeder sollte erfahren, wer ihn ausspioniert hatte und wer sein Peiniger war. In Bonn, aber auch in Teilen der DDR-Übergangsregierung mit Politikern jeder Couleur sah man dies anders. Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble (der seinerzeit den Einigungsvertrag zwischen den beiden Deutschland aushandelte) hätten, wie Legner in einem der wohl spannendsten Kapitel des Buches beschreibt, die Geheimdossiers am liebsten «vernichtet oder auf viele Jahrzehnte weggesperrt». Sie wollten nicht, dass die Stasi-

Dossiers die politische Atmosphäre im vereinten Deutschland vergifteten. Es gab in den Archiven zudem Telefonmitschnitte, die den damaligen Bundeskanzler in einem anderen Licht hätten erscheinen lassen können.

Stasiakten können lügen

Doch Gauck gewann. Die letzte, schon demokratisch gewählte DDR-Volkskammer bestand darauf, den Umgang mit der Stasi-Hinterlassenschaft gesetzlich zu regeln. Die westdeutsche Seite gab nach, um die Wiedervereinigung nicht zu gefährden. Die Zweifel verstummten allerdings bis heute nicht. Vielen Juristen sträuben sich immer noch die Haare. Vor einem ordentlichen Gericht gilt die Unschuldsvermutung. Es gibt Verjährungsfristen. Ein Betroffener wäre als Richter befangen. Legner schildert Fälle, in denen der Rechtsstaat auf der Strecke blieb. Zu wenig wurde darauf Rücksicht genommen, dass Geheimdienstakten auch lügen können. Gauck und seine Behörde griffen laut Legner bisweilen zur «Methode der öffentlichen Blossstellung», um die Beschäftigung früherer Stasi-Mitarbeiter zu verhindern. Auch wenn es dreier Anläufe bedurfte: Für Gauck öffnete die Leitung der StasiBehörde dennoch den Weg ins höchste Staatsamt. Geschätzt wird er dort als wortgewandter Redner mit moralischem Kompass. Er hat die Gabe, auf Menschen zuzugehen und – meistens jedenfalls – im rechten Augenblick das Richtige zu sagen. Das Verhältnis der Kanzlerin zum Präsidenten allerdings ist gespannt. Denn klassische Diplomatie ist nicht seine Stärke, wie sich in Legners Buch ebenfalls nachlesen lässt. ● 7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29

Sachbuch

Ökonomie Liberale Vorschläge, wie das Finanzkasino wieder auf den Pfad der Tugend zu bringen sei

ZwangslektürefürPolitiker

Marc Chesney: Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise. Der Aufstieg der Finanzaristokratie und das Versagen der Demokratie. Versus, Zürich 2014. 100 Seiten, Fr. 19.90, E-Book 18.90. Von Charlotte Jacquemart «Finanzprofessor Marc Chesney gelingt es, auch einem völligen Ökonomiebanausen Zusammenhänge klarzumachen. Man möchte hoffen, dass seine Erkenntnisse bald politische Folgen zeitigen – und befürchtet das Gegenteil.» Das ist das Feedback eines Lesers der «NZZ am Sonntag» auf ein Interview mit Finanzprofessor Marc Chesney vor Jahresfrist. Darin bezeichnete der französischschweizerische Doppelbürger nicht nur die hiesigen Grossbanken als gefährlich gross für die Schweiz, sondern er kriti-

sierte das Gehabe einer neuen Finanzaristokratie, die es als Minderheit immer öfters schaffe, ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Das gefährde letztlich die Demokratie, glaubt der Ökonom. Seine fundamentale Kritik hat Chesney nun in ein kleines Büchlein gefasst, das so verständlich geschrieben ist, dass es ohne jegliches Vorwissen genossen werden kann. Marc Chesney, der an der Universität Zürich quantitative Finanzwissenschaften lehrt, fällt seit einigen Jahren durch seine kritische Haltung gegenüber der Finanzbranche auf. Sein Hauptvorwurf: Ein grosser Teil des Finanzsektors diene nicht mehr der Realwirtschaft, wie es in Theorie sein sollte, sondern nur noch sich selbst beziehungsweise den Eigeninteressen einiger weniger. Was seine Argumentation besonders glaubhaft macht, ist die Tatsache, dass Chesney sie

auf den Pfeilern des (echten) Liberalismus aufbaut. Gemäss dem liberalen Denker und Wissenschafter Ludwig van Mises nämlich gilt: «Der Liberalismus hat immer das Wohl des Ganzen, nie das irgendwelcher Sondergruppen im Auge gehabt.» Die Logik des Finanzsektors aber folge diesem Grundsatz schon lange nicht mehr, sagt Chesney. Der Autor lässt es aber nicht bei der Kritik bewenden, sondern macht Vorschläge, wie man das «Finanzkasino» wieder auf den Pfad der Tugend zurück bringen könnte. Seine Ideen reichen vom Trennbankensystem über eine Steuer auf alle elektronischen Banktransaktionen bis hin zu einer Agentur à la «Swissmedic», die schädliche Finanzprodukte vorab verbieten würde. Für demokratisch gewählte Politiker müssten die 100 Seiten Chesneys eigentlich Zwangslektüre sein. ●

Das amerikanische Buch Amazone bricht Ketten des Patriarchats Sie reist in einem unsichtbaren Flugzeug. Ihre Armbänder können Kugeln stoppen. Wen «Wonder Womans» goldenes Lasso umschlingt, der muss die Wahrheit sagen. Selbstverständlich besitzt sie auch übermenschliche Kräfte. Schliesslich ist «Wonder Woman» eine Amazonenprinzessin und obendrein unsterblich. Diese Attribute machten ihre Premiere in einem Heft der New Yorker «All Star Comics» Ende 1941 zu einer Sensation. Als einzige weibliche Heldin stieg sie neben Superman oder Batman in den klassischen Kanon des amerikanischen Comics auf. Von Anfang an stiessen sich katholische Bischöfe und andere Wächter der öffentlichen Moral jedoch nicht nur am Selbstbewusstsein und dem knappen Kostüm der Comic-Amazone. Männliche Schurken schlugen «Wonder Woman» zwar in jedem ihrer Abenteuer in Ketten. Aber sie konnte sich stets befreien und triumphierte am Ende. Dieses rituelle Muster und die Kreativität der Fesselungen mutete Kritiker fetischistisch an. Die Moralapostel waren auf der richtigen Fährte. William Moulton Marston (1893–1947), der Schöpfer von «Wonder Woman», war ein Bondage-Fetischist. Doch gleichzeitig war der Neuengländer mit einem Harvard-Doktortitel in Psychologie ein früher Anhänger der Frauenemanzipation, der von einer Zukunft Amerikas unter einem Matriarchat überzeugt war. Dies hielt Marston jedoch nicht von einer privaten Paschaexistenz ab. Dabei sorgte seine Frau Elizabeth Holloway als Journalistin für den Lebensunterhalt und seine Geliebte Olive Byrne zog in einem gemeinsamen Haushalt die vier Kinder 30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7. Dezember 2014

tion aus Erzählkunst, Recherchefleiss und weitem Horizont, die sie selbst zu einer Art Wunderfrau macht. Neben ihrer Professur ist Lepore eine produktive Redaktorin beim «New Yorker» und hat bislang zehn Bücher über amerikanische Geschichte publiziert. Nie zuvor fand sie jedoch derart positive Resonanz und das vom konservativen «Wall Street Journal» bis zum linksliberalen «The Atlantic».

«Wonder Woman», Superheldin der US-Comic-Szene, kreiert von einem Bondage-Fetischisten. Autorin Jill Lepore (unten).

beider Frauen mit Marston auf. Dieses Arrangement war umso ungewöhnlicher, da Byrne hochgebildet war und als Studentin offen gegen die damaligen Normen rebelliert hatte. Das lag in ihrer Familie, war sie doch die Nichte der Feministin Margaret Sanger (1879–1966).

Geschickt und unterhaltsam webt Lepore die Vita Marstons und seiner Frauen in die Entwicklung der Psychologie als Fachwissenschaft, des Feminismus und der Comic-Industrie. Marston erscheint dabei als schillernde Figur: ein Idealist mit grossen Schwächen, ein Aufschneider und Hochstapler, der gleichwohl als Erfinder des Lügendetektors gilt. Diese Umtriebigkeit führte schliesslich zur Geburt von «Wonder Woman». Der Comic-Verleger William Gaines hatte ihn um ein Gutachten zur Wirkung seiner Heftchen auf die kindliche Psyche gebeten. Marston nutzte den Kontakt, um das Konzept einer weiblichen Superheldin anzubieten. Dabei griff er auf die Ideen des Feminismus zurück, die er vor dem Ersten Weltkrieg als Harvard-Student kennengelernt hatte.

Diese komplizierten Zusammenhänge erhellt die Harvard-Historikerin Jill Lepore mit ihrem Bestseller The Secret History of Wonder Woman (410 Seiten, Knopf). In Umrissen war das skandalöse Privatleben Marstons zwar schon seit einigen Jahren bekannt. Aber Lepore erschloss Nachlässe ihrer Protagonisten und schuf daraus ein vollständigeres und lebendiges Bild. Dabei gelingt der 48-Jährigen hier erneut die Kombina-

Wie Lepore zeigt, verlor «Wonder Woman» nach Marstons Tod ihre emanzipatorische Botschaft. Aber in den 1970er Jahren wurde sie als Ikone des Feminismus sowie für das amerikanische Fernsehen neu entdeckt und bis heute ziert ihr Bild die Brotbüchsen amerikanischer Schulmädchen. 2016 soll «Wonder Woman» endlich auch die Kinos erobern. Von Andreas Mink ●

Agenda

Bildband Maigrets Welt in zeitgenössischen Fotos

Agenda Dezember 14 Basel Sonntag, 7. Dezember, 19.30 Uhr Geliebter Lügner. Lesung nach Briefen von S. P. Campbell und G. B. Shaw. Fr. 16.–. Theater Basel, Nachtcafé. Theaterstr. 7. Karten: Tel. 061 265 11 33. Donnerstag, 11. Dezember, 19.30 Uhr Iso Camartin: Opernliebe. Lesung mit Apéro, Fr. 25.–. Literaturhaus Basel im Theater Basel (s. oben). Samstag, 13. Dezember, 17 Uhr Guy Krneta: Unger üs. Buchtaufe mit Lesung, Musik und Apéro. Literaturhaus Basel im Gare du Nord, Schwarzwaldallee 200. Info: www.garedunord.ch

Bern

Gleichwohl überzeugt diese sorgsam gestaltete Zusammenstellung von Fotografien und kurzen Zitaten aus dem Werk des Maigret-Schöpfers. 2007 ist dieser Band in Frankreich erschienen; nun liegt er auch in deutscher Übersetzung vor. Unser Bild zeigt das Bistro «Chez Victor» im Pariser Arrondissement Ménilmontant. Willy Ronis hat die stimmungsvolle Aufnahme im Jahr 1955 geschaffen. Im Buch illustriert sie Simenons Roman «Maigret als möblierter Herr». Manfred Papst Michel Carly (Hrsg.): Maigrets Frankreich. Diogenes, Zürich 2014. 216 Seiten, Fr. 74.90.

Bestseller Herbst 2014 Belletristik

Sachbuch

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Paulo Coelho: Untreue. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 23.90. Ken Follett: Kinder der Freiheit. Bastei Lübbe. 1216 Seiten, Fr. 33.90. Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 22.90. Guillaume Musso: Vielleicht morgen. Pendo. 480 Seiten, Fr. 22.90. Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe. Diogenes. 256 Seiten, Fr. 30.90. Charles Lewinsky: Kastelau. Nagel & Kimche. 400 Seiten, Fr. 28.90. Nele Neuhaus: Die Lebenden und die Toten. Ullstein. 560 Seiten, Fr. 29.90. Daniel Glattauer: Geschenkt. Zsolnay. 334 Seiten, Fr. 28.90. Wolf Haas: Brennerova. Hoffmann und Campe. 240 Seiten, Fr. 23.90. Volker Klüpfel, Michael Kobr: Grimmbart. Droemer/Knaur. 480 Seiten, Fr. 29.90.

Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 27.90. Hape Kerkeling: Der Junge muss an die frische Luft. Piper. 320 Seiten, Fr. 22.90. Guinness World Records 2015. Hoffmann und Campe. 256 Seiten, Fr. 29.90. Brigitte Trümpy-Birkeland: Sternenkind. Wörterseh. 192 Seiten, Fr. 36.90. Hans Küng: Glücklich sterben? Piper. 160 Seiten, Fr. 21.90. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 39.90. Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat. Propyläen. 368 Seiten, Fr. 29.90. Aicha Laoula Schmocker: Verkauft! Cameo. 416 Seiten, Fr. 39.90. Niklaus Flütsch: Geboren als Frau – Glücklich als Mann. Wörterseh. 256 Seiten, Fr. 36.90. Bronnie Ware: Leben ohne Reue. Arkana. 224 Seiten, Fr. 29.90.

Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 27.11.2014. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

KEYSTONE

Die meisten der über 200 Romane Georges Simenons spielen in Frankreich – oft in Paris, aber auch in der Normandie, der Bretagne und der Vendée, in der Provence und an der Côte d’Azur, in verschlafenen Städtchen im Landesinnern, an der Küste, auf Flüssen und Kanälen. Zu diesen Schauplätzen hat Michel Carly stimmungsvolle Schwarz-Weiss-Bilder von Klassikern der Fotografie gesucht. Gewiss: Die meisterhaften Aufnahmen von Brassaï, Cartier-Bresson, Doisneau und vielen anderen sind unabhängig von Simenons Werken entstanden und können nicht als Illustrationen im strengen Sinn gelten.

Dienstag, 9. Dezember, 18.15 Uhr Ilma Rakusa, Alain Claude Sulzer, Matthias Zschokke lesen zum Thema Berlin. Gratis. Collegium Generale, Universität, Hauptgebäude, Hochschulstrasse 4. Montag, 15. Dezember, 12.30 Uhr Roswitha Menke: Lametta-Alarm in der Mittagspause. Adventsgeschichten in der Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14. Info: www.haupt.ch

Zürich Montag, 8. Dezember, 19.30 Uhr Michael Theurillat, Christine Bonvin, Raphael Zehnder u.a.: Schweizer Krimiautoren gegen Gewalt. Lesung. PBZBibliothek Altstadt, Zähringerstrasse 1. Info: www.pbz.ch/krimitag Dienstag, 9. Dezember, 19.30 Uhr Weihnachtsbücher Novitätenschau mit Max Küng. Eintritt frei. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 00. Sonntag, 14. Dezember, 11.15 Uhr Goethes «Wahlverwandtschaften» und Mozarts «Così fan tutte» – Lesung mit Musik, Fr. 35.–. Literaturhaus in der Tonhalle, Claridenstrasse. Karten: Tel. 044 206 34 34. Dienstag, 16. Dezember, 20 Uhr Arthur Honegger: Abc 4 USA. Buchvernissage, Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten. Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77.

SRF

WILLY RONIS/RAPHO

Montag, 8. Dezember, 19.30 Uhr Virginia Arancio, Alain Wafelmann: Guitar & Poetry. Burgunder Bar, Speichergasse 15. Info: www.burgunderbar.ch

Montag, 29. Dezember, 20 Uhr Wolf Haas: Brennerova. Lesung, Fr. 35.–. Kaufleuten (s. oben).

Bücher am Sonntag Nr. 1 erscheint am 25.1.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

7. Dezember 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31

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