1 MDR FIGARO Hörfunk, Ausstrahlung am 27.01.2014, 12.10 Uhr

Oder wo Direktor Hassenreuther alias. Schauspieldirektor Matthias Brenner einen leeren Kinderwagen schiebt – Theater ohne Zukunft, wie es auf dem Plakat ...
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1 MDR FIGARO Hörfunk, Ausstrahlung am 27.01.2014, 12.10 Uhr Kritik „Die Ratten“ Von Stefan Petraschewsky Am Neuen Theater in Halle kam am Wochenende ein Stück von Gerhart Hauptmann auf die Bühne: „Die Ratten“ - uraufgeführt 1911 in Berlin. Hauptmann war ja dafür bekannt, daß er den Alltag der ganz normalen Menschen ungeschminkt auf die Bühne bringt, ausgehend von Armut, die die Menschen asozial macht, gewalttätig und Alkoholabhängig. „Die Ratten“, auch diese von Hauptmann so benannte „Berliner Tragikomödie“ spielt in diesem Milieu, in einer Berliner Mietskaserne - wie kommt das in Halle einhundert Jahre später auf die Bühne - Frage an MDRFigaro Theaterredakteur Stefan Petraschewsky? Ja, die Mietskaserne ist hier ein Treppenhaus, in das man sozusagen von oben hineinguckt. Wir sehen graue Betontreppen - und kein Treppenhaus aus der Gründerzeit. Es erinnerte mich an die Zeichnungen von M C Escher - das ist der Künstler, der für seine optischen Täuschungen bekannt ist; Escher zeichnet auch so ein Treppenhaus, wo man immer wieder auf derselben Ebene landet. Das kann man natürlich hier in Halle als ein Zeichen lesen: Es gibt in der Gesellschaft kein Unten und Oben mehr. Und wenn es hier in diesem Hallenser Treppenhaus nicht mehr um soziale Auf- und Abstiegsmöglichkeiten geht, worum geht es dann: Das ist hier die Frage? Aber lassen sie mich noch eins sagen: worum es hier in „Die Ratten“ konkret geht. Also Inhalt: Da ist einmal die deutsche Putzfrau Frau John, die ihr eigenes Kind verloren hat und einer polnischen Putzhilfe ihr, zunächst noch ungeborenes, Kind abschwatzt. Das Kind kommt dann auf die Welt – kommt zu Frau John, aber dann will es die Mutter wieder zurück aus Angst vor der Polizei: weil das kein amtlicher Adoptionsvorgang war. Und dann gibt es einen zweiten Handlungsstrang. Oben, auf dem Dachboden hat sich Harro Hassenreuther, ein ehemaliger Theaterdirektor, mit dem Rest seiner Theatertruppe eingenistet: Frau, Tochter, Schauspieler samt Kostüm- und Requisitenfundus. Und da wird dann über das Theater, seinen Sinn und Zweck diskutiert. Der alte Direktor ist für die gute, alte Zeit mit ihren Klassikern Goethe und Schiller. Und die jungen Schauspieler, die sind dafür, daß auf dem Theater die Welt, wie sie heute ist, zu sehen ist: - also genau das Theater, was Hauptmann zu seiner Zeit macht. „Die Ratten“ sind also auch ein Diskurs über die Rolle von Theater in der Gesellschaft: schöne Worte oder harte Realität - könnte man sagen. Und wer sind die „Ratten“ - sind das die Menschen, die in der Mietskaserne vielleicht mehr überleben als leben? Wenn man nach dem Text von Hauptmann geht, dann sind die „Ratten“ all jene, die die alten Werte in Frage stellen. Der junge Theologiestudent Spitta tut das. Und Direktor Hassenreuther sagt zu ihm: Sie sind eine Ratte! Im Garten der deutschen Kunst fressen sie die Wurzeln des Baumes des Idealismus ab: Sie wollen die Krone in den Dreck reißen.“ Dann wäre auch Hauptmann selbst mit seinen Stücken, die den Alltag zeigen, so eine „Ratte“?! Das wäre die logische Folge aus diesem Dialog über Idealismus und Realismus und über die Rolle des Theaters.

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Aber Sie haben auch eben gesagt, daß diese sozialkritische Lesart gar nicht auf die Bühne kommt. Das Treppenhaus kennt kein oben und unten. Also gehe es nicht mehr um soziale Auf- und Abstiegsmöglichkeiten - worum dann? Um das zu beantworten, fange ich mal so an: Wir haben ja in Sachsen-Anhalt, und damit auch in Halle, gerade eine schwierige Zeit. Das Land gibt deutlich weniger für die Theater aus. Von 36 Millionen € im letzten auf 30 Millionen in diesem Jahr - fast 20 % weniger. In Dessau werden Schauspiel und Ballett jetzt höchstwahrscheinlich abgewickelt. In Halle ist es noch nicht ganz klar, was da passiert – als TheaterGmbH droht vielleicht auch eine Insolvenz. Man kann das vielleicht wieder abfedern mit neuen Haustarifverträgen, wo man die Theaterkünstler schlechter bezahlt als normale Stadtangestellte. Mit anderen Worten: Schauspieler sind weniger Wert als normale Menschen! Theater sind verzichtbar - siehe Dessau! – Das ist dann die Botschaft. Als Ende letzten Jahres diese Kürzungen im Magdeburger Landtag beschlossen werden, beginnen in Halle die Proben zu den „Ratten“. Und jetzt haben sie in Halle einen Schauspieldirektor am Neuen Theater, Matthias Brenner, der in den „Ratten“ den - Zitat Hauptmann: „ehemaligen Theaterdirektor“ spielt. Und die haben eine Chefdramaturgin, Henriette Hörnigk, die die „Ratten“ hier in Szene setzt. Das schreit dann doch bei diesem Stück nach einer Inszenierung - nach einem Kommentar auf die Sparbeschlüsse, die das Theater an sich in Frage stellen. Und das passiert in Halle. Und dieser Ansatz ist in Halle sehr gut aufgegangen. Man hat dem Stück sozusagen einen doppelten Boden eingezogen, und das funktioniert und ist absolut sehenswert. Ich möchte von einer Sternstunde des Neuen Theaters in Halle sprechen! Das mit dem doppelten Boden müssen Sie nochmal erläutern. Wie kommt das rüber? Sehr didaktisch? Mit erhobenem Zeigefinger? Nein, gar nicht besserwisserisch. Es ist unterhaltsam, witzig, unverkrampft - Ganz in Sinne Hauptmanns, der das Stück ja als „Tragikomödie“ geschrieben hat. Und es ist sehr böse: Ein Beispiel - In diesem Treppenhaus, da fallen die Schauspieler immer mal wieder von der Treppe runter, kommen wieder rein, spielen weiter als wäre nichts passiert - das hat was von Ego-ShooterComputerspielen, und zeigt vielleicht, wie wir heute mit Schauspielern umgehen - was sie uns wert sind. Zweitens: Der Kostümfundus von Direktor Hassenreuther sieht aus wie eine Altkleidersammlung. Auch dieses Detail stellt die Frage nach unserer Wertschätzung des Theaters - da fällt mir ein: man müßte die Inszenierung konsequenterweise eigentlich immer mit freiem Eintritt spielen und die Zuschauer dann am Ende um eine Spende zu bitten, je nachdem, was es ihnen Wert ist – Drittens: Die Sache mit dem Kind bekommt natürlich auch einen doppelten Boden: Ein Kind ist Zukunft und Hoffnung - steht vielleicht für das Theater. Und dann sehen wir Frau John, gespielt von Bettina Schneider: schwarzer, enger Hosenanzug, riesige Löwenmähne – eine Löwenmutter, die Schauspielerin als Prototyp, die für ihr Kind, das Theater, bis zum letzten kämpft und sich dann verzweifelt unter einen Omnibus stürzt. Das ist großartig gespielt und erspielt. Der doppelte Boden, dieser Diskurs über ein Theater in Halle, funktioniert in vielen, feinen Anspielungen, wo etwa der Theaterdirektor und der - Zitat: „Hausmeister“ wie Faust und Mephisto auf der Bühne stehen. Oder wo Direktor Hassenreuther alias Schauspieldirektor Matthias Brenner einen leeren Kinderwagen schiebt – Theater ohne Zukunft, wie es auf dem Plakat für das Stück zu sehen ist. Und um nochmal Ihre Frage aufzugreifen - kommt diese Auseinandersetzung um die Rolle für ein Theater in Halle didaktisch daher - Nein. Gar nicht. Es ist eine spielerische und offene Annäherung. - Es gibt einen zentralen Satz, den der Theologiestudent sagt. Er lautet: „Wenn sich das deutsche Theater erholen will, so muß es ...“ - Und Direktor Hassenreuther ruft dann ins Publikum: „Ich möchte eine Antwort haben!“ Und wiederholt die Frage immer wieder. Diese Sätze sind aber nicht neu in das Stück hineingeschrieben, sondern Text von Hauptmann leicht verändert. Unterm Strich ist der Abend eine höchst gelungene, unterhaltsame, auch zynische Fragestunde über das Theater hier und heute und was es uns Wert ist.