Wo ist eigentlich oben?

oder nicht, der Teufel möge sie holen, ich werde sie nicht mehr lieben. Und wenn ich ... det und irgendwann durch die Queen zum Ritter geschla- gen worden.
4MB Größe 3 Downloads 619 Ansichten
Franz Anker

Wo ist eigentlich oben? Autobiografische Erzählung

Dieses Buch ist mein Dank an meine Töchter.

Und mein Dank gilt der Berliner Lehrerin Monika B. für ihre meist geduldige und immer Hoffnung gebende, liebevolle Unterstützung beim Schreiben. Gleiches gilt für Lilo E., Autorin aus Hamburg, die mir mit ihrer lebensbejahenden, freundschaftlichen Art und ihrem Wissen sehr geholfen hat. Nicht vergessen will ich Ingrid Lorenz, der ich u. a. zu verdanken habe, dass ich beim Schreiben überhaupt einen Anfang fand. Danke an alle Anderen, die sich bereit fanden, meine Textentwürfe zu lesen und mich zu unterstützen, vor allem auch an die Autorin, Alexa Rostoska, die ich zusammen mit meiner guten Freundin Angelika und meinem klugen Freund, ›Professor‹ Christoph Asmussen, nennen will.

Inhalt Kapitel 1 .......................................................................... 5 Kapitel 2 ........................................................................ 41 Kapitel 3 ........................................................................ 82 Kapitel 4 ...................................................................... 125 Kapitel 5 ...................................................................... 157 Kapitel 6 ....................................................................... 183 Kapitel 7 ...................................................................... 235 Kapitel 8 ...................................................................... 279 Kapitel 9 ...................................................................... 323 Kapitel 10..................................................................... 376 Impressum ................................................................... 398 Unsere Leseempfehlung … ........................................... 400 Unsere Leseempfehlung … ........................................... 402

Kapitel 1 WO IST EIGENTLICH OBEN?

Es war die nach morgendlichem Erwachen plötzlich einsetzende Erinnerung an meine alte mechanische Schreibmaschine, die dafür sorgen sollte, dass sich das beginnende Geschehen dieses Tages völlig anders als an allen vorangegangenen entwickeln würde. Auch wenn es mir nach langem Suchen endlich gelungen war, die Maschine zu finden und aus ihrem verstaubten Altenteil herauszurumpeln, fand meine einsetzende Freude darüber ihr jähes Ende, als die von mir versuchten Anschläge sie urplötzlich in laut scheppernde Schieflage brachten, um sie gleich anschließend in ihre Einzelteile zerfallen zu lassen. Am liebsten hätte ich ihren unerwarteten Exitus jetzt als ein Zeichen gewertet, um meinen über mich gekommenen Gedanken, meine Biografie zu schreiben, genauso schnell wieder vergessen zu können und der vom Tag erdachten Entwicklung gleich ein Ende zu bereiten. Unversehens fand ich mich stattdessen vor dem Bildschirm meines PC wieder, starrte wie hypnotisiert in sein schimmerndes leeres Feld, das mich jetzt aufforderte, es mit Wörtern oder Worten zu füllen. In meiner eilig aufkeimenden Suche nach ihnen kam mir die sich bildhaft als wahr entwickelnde Vorstellung zu Hilfe, etwas wie ein ›DU‹ könnte bereits neben mir sein und schon längst darauf warten, dass ich mit ihm ein Zwiegespräch beginnen würde. Und auch, weil ich dich gar nicht kenne, nicht weiß, ob ich dir vertrauen kann, wir uns wahrscheinlich niemals

5

berühren werden, fällt es mir sehr schwer, mit dem Schreiben zu beginnen. Es erscheint beinahe unmöglich, das alles herzugeben; es könnte zum Aderlass und lebensgefährlich werden. Vielleicht würde es schon bald seinen eigenen Weg gehen, mich damit zwingen, mich ganz und gar zu offenbaren und wäre nicht mehr aufzuhalten. So lange schon war es doch so gut verschlossen und wie eingemauert. Auch sogar aus Trotz will ich jetzt weitermachen, bald so wie ein Kind, das Bewegung will, und endlich ans Licht. Das zu öffnen, wird viel länger dauern, als ich mir je vorstellen konnte, wird mir Schmerzen und Ahnungen aus dunkelster, längst vergangener Nachkriegs- und Lebenszeit zurückbringen. Und es wird weiterhin in einsamer Langsamkeit mahlen. So wie ein Mühlstein, der weiß, dass er von Anfang an dazu bestimmt ist, für immer zu bleiben, was und wo er ist, der sich deshalb immer nur um die eigene Achse drehen und am Ende zerbrechen wird. Doch will ich nicht zerbrechen, und wäre ich auch am Ende, ich muss das verhindern, brauche dringend dich dazu. Ich schaffe das alleine nicht. Plötzlich will sich Ungeduld in mir breit machen und aufkeimende, immer größer werdende Wut, weil sich noch immer gar nichts ändert. Selbst wenn meine von mir über die Jahre hinweg stets so liebevoll gehätschelten Schamgefühle und Zweifel mich jetzt ohne Unterlass argwöhnisch und misstrauisch kalt anstarren, als hätten sie gleich bemerkt, dass es ihnen an ihren schmutzigen Kragen gehen soll, glaube ich allein deshalb noch längst nicht an meinen Sieg über sie. Sie blähen sich jetzt ja noch mehr auf, wirken dadurch noch viel größer, und malten sie bisher immer nur schwarz oder weiß, so entwickeln sie plötzlich Farben auf

6

ihrer Oberfläche, wollen mich damit verunsichern, mich dazu zwingen, meine Entscheidung, mich von ihnen zu trennen, zu überdenken, mir gleichzeitig mit ihrer Übermacht und Gewaltbereitschaft drohen, mich damit davor warnen, weiterhin daran zu denken, sie verlassen oder abgeben zu wollen. Jetzt mobilisieren sie all ihre Kräfte, tanzen mir schon auf der Nase herum, wollen mir damit meine ihnen so wohlbekannte Schwäche noch deutlicher machen. Das Grauen höchst persönlich in seiner mein allumfassendes Entsetzen auslösenden Urform steigt in mir auf, stellte ich mir vor, ich müsste sie für immer behalten. Nein, ich muss sie endlich entlarven, sie besiegen und wegschaffen, ihnen nachweisen, dass sie von Anfang an nichts anderes vorhatten, als ein Lügengebäude in mir zu errichten, das am Ende aus nichts anderem als ihren brüchigen, schiefen Lebensbildern zusammengesetzt war. Ums Verrecken will ich ihre Bilder nicht mehr in und vor mir haben, doch immer noch haben sie die Oberhand, ergreifen immer wieder aufs Neue von mir Besitz. Tun gerade so, als ob in Wirklichkeit ich ihnen gehörte, ihre Vorhaben mich somit überhaupt nichts angingen. Aber was ist wirklich mit mir, was ist noch übrig? Bin ich noch frei, wenigstens ein bisschen? Bin ich in dieser Notwehrsituation ihnen gegenüber nun auch sogar schon skrupellos? Jetzt zum Beispiel, während ich mir vorstelle, ich würde diese Gedanken und daraus entstandene SchwarzWeiß-Malereien, Wut und nicht enden wollende Scham ganz vorsätzlich an dich abgeben, sie dadurch endlich loswerden und vielleicht sogar für immer vergessen, oder sie wenigstens mit dir teilen. Und sind sie mittlerweile nicht längst mein Eigentum und gehören mir? Kann ich also des-

7

halb zweifellos mit ihnen machen, was ich will? Eigentum verpflichtet ja, und Notwehr ist doch erlaubt – weiß ja jeder. Willst du sie haben, selbst dann, wenn du sie und mich, ihren bisherigen alleinigen Eigentümer, vielleicht erst einmal als irgendwie eigentümlich empfindest? Doch dies bestimmt nur deshalb, weil sie ja von jetzt an unvollständige, weil sie nun vielfach geteilte Gefühle sein würden. Und ob geteilt oder nicht, der Teufel möge sie holen, ich werde sie nicht mehr lieben. Und wenn ich mich wirklich verändern und tatsächlich frei von ihnen werden kann, könnten dann vielleicht auch Träume bald zu mir zurückfinden? Träume wie ganz früher, die mich seit Langem schon nicht mehr suchten? Die seit irgendwann einfach auf mich verzichtet hatten, als wüssten sie selbst am besten, dass es nicht mehr sinnvoll wäre, sich mit mir noch einzulassen. Und die wenigen Kontakte zu den Anderen, die ganz allein meinem Überleben dienen sollten, taugten auch zu nichts Weiterem und waren mir so wenig wert. Ich brauchte unbedingt einen Schild! Diese Notwendigkeit entsteht ja zwangsläufig aus einer Schuld. Das muss ja so sein, weil nur der es nötig hat, einen Schild zu tragen, wenn er auch Schuld trägt, und der sich deshalb wohl so sehr schämt und dahinter verstecken und schützen will – vor und während seiner Tat und danach und deswegen, logisch! Einen Schild kann man abgeben, auch seine Schuld? Und wem? Und welche Art von Schuld hatten meine Schamgefühle mir denn eigentlich eingepflanzt? Wollte ich das wirklich wissen, oder wollte ich einfach nur nicht mehr grübeln, nie mehr? Vielleicht brauchte ich anstelle eines Schildes nur einen Iglu, der ja von außen immer

8

so kalt war, der aber am besten gleich auf einer Insel wäre, um mich in ihm vor ihnen zu schützen und vor ihrer angeblich menschlichen Wärme, die sie wie einen verlogenen Dunstkreis ständig um sich herum trugen und mich damit nur krank machten. Niemand durfte mich noch bemerken, und bald schon spürte ich für immer dunkle, verschlungene und sumpfige Wege. Gesäumt waren sie von so unscharfen und immer nur verwischten Bildern. So wie in einem Irrgarten, der ohne Licht und totenstill war. Bald einer Geisterbahn ähnelnd und dazu mit einem Gefühl, in Morast versinken zu müssen. Sich dagegen zu wehren, schien von vornherein völlig aussichtslos und regelrecht abwegig. Und immer gleichen sie, diese Bilder, der rasend schnellen und trotzdem nicht enden wollenden Fahrt in dieser einen Geisterbahn. Aufgehängt ist sie mit ihrer ganzen Last an gläsernen Eiswänden, die krachend und grell bersten, eiskalte Splitter bilden und mich damit bombardieren und immer wieder verletzen sollen. Besetzt ist sie mit unzähligen schrecklichen, widerwärtigen menschlichen Gestalten. Doch meine zwanghaft sie suchenden Blicke treffen nur noch auf vorüber jagende grelle Zerrspiegel, die nichts als mein eigenes entstelltes Gesicht mir zeigen sollen, mit ihm zu beweisen, dass ich tatsächlich mit diesen NAZIS verwandt war, für immer und ohne Zweifel sogar blutsverwandt. Mit denen, die mich und meine Seele immer nur frieren ließen, Angst, Wut, Hass und übermächtige Scham in mir hervorriefen und meinen Schädel jedes Mal beinahe platzen ließen. Ich wünschte mir so sehr, aus diesem Albtraum endlich zu erwachen. Aber nein: »Das Licht wird für dich unerreichbar sein«, flüsterte die

9

Scham höhnisch ungefragt immer wieder, und wie mit den Armen eines Kraken unablässig um mich greifend, will sie mein Leben gleich im Ansatz ersticken. Und übermächtig wurde mein Bild von mir, blieb ohne jedes Licht. Begab mich damit auf von mir gefundenen, scheinbar sicheren Weg. Ließ mir eine Hintertür. Auch die zeigte mir kein Licht, diente nur meiner immer ausweglosen Flucht. Ewiges Selbstmitleid also, und Feigheit. Das erschien mir fast schon clever. Doch schlug die Scham bei jedem Benutzen dieser Hintertür besonders hart und unerbittlich auf mich ein, und ihr Schlag wurde jedes Mal härter. Bald schämte ich mich auch noch wegen der von mir scheinbar nicht veränderbaren feigen Fluchtversuche. Hätte bald den Scham-Haft e.V. gründen können, doch wo würde ich weitere Mitglieder finden? Vielleicht in England, wäre ja mit meiner ganz bestimmt unübertroffenen Zahl von SchamPunkten sehr schnell im Guinness-Buch der Rekorde gelandet und irgendwann durch die Queen zum Ritter geschlagen worden. Zum Ritter der Scham. Oder zum Ritter der unfreiwilligen Komik. Oder zum Ritter der Sinn-Suche. Oder doch lieber des Landes verwiesen worden? Hätte ich ohne meine Feigheit mit ihrer Hintertür nicht schon sehr viel früher erfahren, dass all die vielen schiefen Bilder, wären sie gleichrangig und nebeneinander aufgehängt worden, ein sich erhellendes, farbiges und gar nicht mehr schiefes Gesamtbild ergeben konnten? Ein Gesamtbild, das der übermächtigen Scham endlich ihre alles Leben erstickende Macht genommen hätte, auch, weil sie darin als die eigentlich Schamlose entlarvt worden wäre? Ja, ich werde weiterhin der Welt meine bleibende Traurigkeit über die Verbre-

10

chen der Nazis zeigen. Doch ich trage nicht ihre Schuld, und ich will nicht mehr ihre Scham für sie tragen. Und selbst dann, wenn meine trotzdem bleibende Traurigkeit mein Leben weiterhin erschweren wird, werde ich die und ihr Gefolge jetzt nicht mehr als allein Schuldige dafür benennen, dass in meiner Familie nach ihnen und ihrem Krieg so vieles schief ging. Willst du mir folgen, zurück in die Zukunft? Die nach dem Nazi-Krieg so herbeigesehnt wurde? Im Herbst 1944 war der Krieg noch nicht beendet, und inmitten all ihrer Lügen waren es nur die immer häufiger werdenden Hiobsbotschaften der Kriegspropagandisten, mit denen sie uns noch beeindrucken konnten, weil sie darin ausschließlich vor den blutigen Rachegelüsten der aus dem Osten anrückenden sowjetischen Soldaten warnten. Dazu bedienten sie sich oft eines ganz bestimmten Nachrichtensprechers, der über die ›Volksempfänger‹ mit seiner besonderen Art der Nachrichtenübermittlung in unserer kleinen Stadt bald für eine große Unruhe sorgte. Diese musste sich vor allem unter den Frauen ausbreiten, weil die meisten der Männer als Soldaten im Krieg waren. Zur Verbreitung seiner Warnungen vor den Bestien unter den sowjetischen Soldaten bediente der sich seiner widerwärtig klingenden Stimme und schmierigster Sprechweise, die nicht nur wegen des Inhalts seiner Nachrichten trotzdem eine Art von Faszination hatte, und die es ihm möglich machte, in unnachahmlicher Weise und zusätzlich zu den vom Nazi-Staat verordneten auch noch seine eigenen ganz persönlichen Hassgefühle gegenüber den sowjetischen Soldaten und dabei so regelrecht geifernd über den Sender

11

abzukotzen, dass so mancher ihm zuhörenden Frau schon übel werden konnte und ihr außerdem allergrößte Angst brachte. Das verschaffte uns, die wir östlich von Berlin in einer kleinen Stadt in Brandenburg und nicht weit entfernt von der Oder lebten, überhaupt keine Klarheit hinsichtlich der Entwicklung unserer Zukunft, und es steigerte auch nicht unsere Wehrhaftigkeit gegenüber diesen Soldaten, doch brachte es uns wahrhaft große Angst und dazu, vor ihnen und ihren Rachegelüsten die Flucht ergreifen zu wollen. Bald wurden wir zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich entschloss, gemeinsam vor jenen Bestien die Flucht zu ergreifen. Das wäre immer noch besser, als sich ihren Gelüsten auszuliefern, war bald die einhellige und alles bestimmende Meinung. Das Ziel unserer Flucht sollte Hamburg sein, und neben meiner Mutter, meinem dreijährigen Bruder und mir waren es noch unsere Großeltern sowie einige andere Verwandte, die aus jungen Frauen und deren Kindern bestanden, und die jetzt fest dazu entschlossen waren. Die Ehemänner, auch unser Vater, befanden sich als Soldaten im Kriegseinsatz. Das bedeutete, dass die Gruppe der Flüchtenden hauptsächlich von Frauen getragen werden würde, der einzig männliche Erwachsene würde unser Großvater sein.

12

Meine Mutter und meine Großeltern vor der Flucht.

Dieser männerlose Zustand brachte uns keine besonderen und zusätzlichen Befürchtungen. Noch nicht einmal über das, was aus uns werden sollte, nachdem wir Hamburg erreicht hätten, machten wir uns zu diesem Zeitpunkt große Gedanken. So nach und nach hatten sich nämlich Zeugen ihrer bereits erfolgten Rachefeldzüge in unserer kleinen Stadt eingefunden, die in ausführlicher Weise wahrhaft Grauenvolles über ihre Misshandlungen, Vergewaltigungen und Morde zu berichten wussten. Bald war es nichts als nackte Angst, die uns nun endgültig packte, vor sich her und in diese Flucht hineintrieb. Ich kann mich an sie natürlich nicht bewusst erinnern, ich war ja erst drei Monate alt. Doch, wie ich später erlebte, würden Berichte meiner Mutter, meiner Großmutter und anderer Flüchtender diese fehlende eigene Erinnerung dann

13

nach und nach ersetzen. Und weil deren Berichte sich als grundsätzlich übereinstimmend herausstellten, sich in Teilen noch ergänzen konnten, sah ich irgendwann die bewegten Bilder in der ganzen wahren Geschichte: Wir hatten die Flucht mit Hilfe eines von uns mit Hausrat beladen Pferdewagens angetreten. Eines Tages unter Tränen und mit dem gegenseitigen Versprechen, das nicht bereuen zu wollen. Doch wollten einige von uns ihren Schritt bereits nach wenigen Tagen bereuen, weil es ihnen viel zu langsam voranging und schon jetzt zur Mühsal geworden war. Nachdem schließlich auf noch nicht halber Strecke das alte Zugpferd während des Angriffs eines feindlichen Jagdbombers auf den kleinen Flüchtlingstreck tödlich verletzt in sich zusammengebrochen war, wir es an den Straßenrand schleppen und dort liegenlassen mussten, wollten einige endgültig aufgeben und umkehren. Das führte zu verzweifelten Diskussionen, doch die Mutigen unter uns gewannen schließlich, sodass alle die Flucht weiter fortsetzten. Neben unserer Trauer um das Tier, waren wir außerdem völlig entsetzt, dass ein Kampfbomber uns angegriffen hatte. Wir waren keine Soldaten, was uns die Gründe für den Angriff verschleierte und somit das wohl auf ewig ein Geheimnis des Piloten und seines Auftraggebers bleiben würde. Mit seinem MG-Feuer und den vielen Kugeln, die vor allem am Boden einschlugen, hatte sich dort so etwas wie ein Querschläger selbständig gemacht und meinen Bruder im Gesicht getroffen und verletzt. Die Verletzung heilte bereits nach wenigen Tagen, hinterließ ihm später eine kleine Narbe, die vor allem ihn selbst für immer daran erinnern würde. Wir anderen waren unverletzt geblieben. Der Verlust des

14

Pferdes zwang uns jetzt, auch den großen Wagen und die größeren Sachen unseres Hausstands zurückzulassen. Und mit ihnen noch weitere Erinnerungen. Nur zwei Handkarren, ein Kinderwagen und ein altes Fahrrad waren es noch, die uns halfen, die Flucht weiter fortzusetzen. »Er wird Ihnen sterben!«, eröffnete ein Arzt meiner Mutter, gleich nachdem er mich untersucht hatte. Den hatte sie unterwegs irgendwo aufgetrieben, weil ich zu allem bereits im Überfluss vorhandenen Elend auch noch an Keuchhusten und Lungenentzündung erkrankt war und mich so nach und nach von der Welt zu verabschieden schien, wie sie später sagte. Eine geringe Hoffnung bestünde nur dann, wenn es ihr gelänge, mich wieder »anzulegen«. Das klappte, ich wurde wieder gesund. Als sei das eine für sie wichtige Wende gewesen, berichtete sie auch Jahre später noch immer mal wieder davon, dass sie nach jedem meiner so schweren Hustenanfälle eigentlich nichts anderes als meinen nachfolgenden Tod noch erwartet hatte. Ich hatte das aber doch jedes Mal wieder überlebt und sie anschließend »immer erleichtert angestrahlt und niemals geweint«, was sie sehr beeindruckt zu haben schien, weil sie nun selbst jedes Mal »strahlte«, wenn sie diesen Satz wieder wörtlich unverändert von sich gab, so als hätte sie ihn der Wichtigkeit wegen gleich auswendig gelernt. Sollte ich mein »tapferes Verhalten« heute begründen, so würde ich sagen, dass ich wahrscheinlich deshalb niemals geweint hatte, weil ich nicht auch am Straßenrand zurückgelassen werden wollte. Oder anders: Ich wollte meiner Mutter nicht noch stärker zur Last fallen.

15