Wo ist der Mensch? - MedForum Dresden

Wir wissen alle, dass unser Studium ein hohes Maß an Disziplin, Zeit und Anstrengung einfordert. ... Klar, oben alle Fachbücher und Vorlesungen rein, wie-.
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Wo ist der Mensch? – Julia Kiss

Wo ist der Mensch? – Was ein gestutzter Lorbeer mit unserem Studium zu tun hat. Gedanken, wie ihr sie vielleicht kennt.

Eine Geschichte von Julia Kiss.

Herr K. betrachtete ein Gemälde, das einigen Gegenständen eine sehr eigenwillige Form verlieh. Er sagte: „Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu Festlichkeiten ausgeliehen. Dazu mußte er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zuviel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: „Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?” (Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner) Als ich im Sommer 2011 meine Zusage für einen Studienplatz an der Medizinischen Fakultät in Dresden aus dem Briefkasten zog, war ich stolz und dankbar zugleich. Medizin nicht ohne Dresden war mein Wunsch, Hochschulrankings waren mir immer ziemlich gleich gewesen. Alle Stereotype über Medizinstudenten, die man so vom Hörensagen kannte, hatte ich im Hinterkopf, fest entschlossen, keine Telefonbücher auswendig zu lernen. Was ist von meinem Vorsatz geblieben? Wir wissen alle, dass unser Studium ein hohes Maß an Disziplin, Zeit und Anstrengung einfordert. Verständlicherweise ist dies notwendig, um durch die Prüfungen zu kommen, die mir manchmal mehr Stresstest als Wissensüberprüfung zu sein scheinen. Schritt um Schritt vorwärts. Mittlerweile streckt das Physikum seine klebrigen Finger nach uns aus. Sind wir doch irgendwann an diesem Punkt angekommen, nur was war der Preis? Was und wie bin ich bereit zu zahlen, für welche Fähigkeiten, die ich mir im Medizinstudium aneignen kann? Das sind die zentralen Fragen, die das Anliegen meines Artikels bilden. Nicht nur das Physikum betreffend, sondern auch jedes weitere Semester, das uns näher an die Lebensrealität der Patienten und den Berufsalltag führt. Es gibt einige Aspekte, die mir nach wie vor unangenehm sauer aufstoßen, Unmut bereiten, mich abstoßen. Um in diesem Studiengang von Semester zu Semester zu kommen muss ich mir innerhalb kurzer Zeit viele Lehrinhalte aneignen und das in einer Art und Weise, die weder der Erkenntnis, der Naturwissenschaft noch dem Individuum, für das wir später die Verantwortung übernehmen in irgendeiner Weise gerecht wird. Lehrveranstaltungen können nur die Qualität haben, die der Lehrbeauftragte und auch die Studenten ihnen verleihen: Ich habe den Eindruck, dass wir oftmals als Automaten wahrgenommen werden, die Detailwissen parat haben müssen. Klar, oben alle Fachbücher und Vorlesungen rein, wiederkäuen und erbrechen werden sie es schon von selbst. Hier ist die Frage, bitte die Antwort dazu, wenn es geht nicht im ganzen Satz. Selten geht der Anspruch darüber hinaus oder gar in ethischphilosophische Dimensionen, als seien diese nicht Teil des Arztberufes. Wo ist der Mensch?

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Wo ist der Mensch? – Julia Kiss

Andererseits beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass einige Studenten es genauso wollen, es für normal befinden oder als gegeben hinnehmen. Manche scheinen auf ein Stichwort zu warten, woraufhin sie explizit aus dem Silbernagl zitieren können. Einfach die Schiene mitfahren, es wird schon richtig werden. Ich kann mir schwer vorstellen, dass ihr das so wollt. Oder etwa doch? Zugegeben, viele Sachverhalte muss man einfach lernen und wissen und Rahmen bieten Sicherheit. Was muss ich tun, um in der kurzen Zeit zurecht zu kommen? Wie kriege ich meinen Rücken an die Wand? Nicht zuletzt wird diese fragwürdige Haltung manchmal zur Notwendigkeit, um eine Prüfung zu schaffen, dies jedoch unter der Prämisse, den Anspruch an sich selbst und seinen Modus des Studienrens und Verstehens als blutiges Opfer in den Prüfungsraum zu legen. Ich zweifle das System der Prüfungen an einigen Stellen an. Veranstaltungen zu „Kreuzelstrategien“ bestärken mich in grotesker Art und Weise darin. „Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren.“ Manchmal träume ich davon, es mit einem dicken Edding in die Hörsäle zu pinseln. Bei allem Wider ist es nicht der Fall, dass das „geisteswissenschaftliche Drumherum“ nicht zum Tragen käme. Diese lichten Momente existieren, wo in Lehrveranstaltungen persönlich-praktische Erfahrungen weitergegeben werden, relevante Fragen aufgeworfen, Aussagen getroffen, die nicht durch das Setzen eines Kreuzes als richtig oder falsch beurteilt werden können. Vielen Dank an dieser Stelle! Als Studenten können wir von den beruflichen und menschlich-emotionalen Erfahrungen der Professoren und Dozenten nur profitieren. Ohren auf! Ich möchte diesbezüglich keine Namen nennen oder gerade nicht nennen. Doch ich freue mich sehr, wenn Beschriebenes im Unibetrieb vorkommt und ich wünsche mir, gerade im Hinblick auf die Klinik, weitere derartige Situationen. Aber, liebe Kollegen, wie nehmen wir dieses Angebot wahr? Mokieren wir, wenn die Zauberworte „prüfungsorientiert“ oder „klausurrelevant“ nicht gefallen sind? Lauf wir wie auf Eiern, wenn es mal keine Standardisierungen gibt, keine So-ist-es-und-nicht-anders-Aussagen? Was uns als Wahrheit verkauft wird, sind Annahmen über die Realität: die Vorstellung, wie der Mensch eventuell funktionieren könnte. Das kann man sich ab und zu ins Bewusstsein rufen. Das ist eine überspitzte Darstellung. Aber habt ihr schon mal überlegt, ob wir das Wesen der Dinge erfassen können, indem wir benennen, Namen geben? Wie wichtig ist es dir, den Begriff zu kennen, wie wichtig, eine leise Ahnung vom großen Ganzen zu bekommen? --Schau ich mir in den Seminaren eure Gesichter an, sehe ich junge Menschen mit ihren individuellen Hintergründen. Berufliche Vorbildung, Auslandsaufenthalte, frisch vom Abitur oder bereits mit kleiner Familie. Darin Potenzial und persönliche Stärken, Interessen und Leidenschaften.Schade wäre es, wenn all das in Uniformität und Entsprechenwollen untergehen würde. Ich denke, ihr habt eine Ahnung davon, wie stark ihr seid und sein könnt, wenn es darauf ankommt. Wir sollten auch nicht Gleichgültigkeit walten lassen, wenn wir sehen, dass Menschen um uns herum nicht klarkommen, sei es privat oder universitär. Wenn sie jemanden brauchen, der sich ihnen als Mensch nähert, Hoffnung vermittelt: ich finde, das ist eines der ältesten Prinzipien des Arztberufes. Seht euch um und seht auch euch an. Es gibt Kollegen, die so stark abgenommen haben, dass es einem Sorge bereiten sollte, andere nehmen zu, rauchen das Doppelte an Zigaretten, schlafen schlecht, sind permanent krank oder irgendwie psychisch angeschlagen. Wie es sich auch äußert, es sind alles nachvollziehbare Reaktionen auf ein Nichtzurechtkommen mit dem Berg an Erwartung, Müssen, vielleicht Anderswollen. Wie auch immer ihr euch derzeit durchschlagt, meiner Meinung nach ist es wichtig, „beiläufigen“ Themen und Herangehensweisen, denen an der Uni wenig Tribut gezollt wird, nicht in der Versenkung verschwinden zu lassen. Zum einen müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass uns eines Tages ein hilfesuchender Mensch gegenüber steht, der nicht ausschließlich durch Formeln, Normwerte und Symptome charakterisiert werden kann. Dann habe ich vielleicht eine Kugel, aber der Lorbeer ist mir abhanden gekommen. Genau dieser Mensch verdient es, dass wir uns schon jetzt schulen, seine Lebensund Leidenssituation zu erfassen, empathisch und liebevoll zu begegnen, Unausgesprochenes zu hören. Das Terrain dafür ist überall, natürlich auch im Umgang miteinander am Campus. |2

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Zum anderen ist es genau jetzt an der Zeit, sich zu essentiellen Themen zu positionieren. Nicht was sagen die WHO, Studien oder Statistiken, sondern was ist deine Einstellung zu Fragen nach dem Wert ungeborenen Lebens, letzte Wünsche vor dem Tod, dem Arabischen Frühling? Manchmal klingen diese Möglichkeiten an- lehnt sie nicht ab. Wann wollen wir sonst anfangen, über solche Dinge nachzudenken? In der Assistenz, dumpf von jahrelangem Lernen, kanalisiert, beschränkt? Bitte, lasst euch von der Erwartungshaltung des IMPP, der mündlichen Prüfungen oder eurer Eltern nicht das Rückgrat brechen. Sicher verlangt uns dieser Modus operandi viel ab. Jedoch bin ich überzeugt, dass man immer die Wahl hat, seine Lebens-und Studiensituation umzugestalten. Wie soll das gehen? Entzieht euch nicht den Aktivitäten, die euch die Seele streicheln und eure Freizeit gestalten, mit dem Argument, es sei keine Zeit dafür. Diese sind Teil unseres Werkzeugs und keine wilden Triebe! Genausowenig, wie Phänomene, die in kein aktuelles medizinisches Erklärungsmodell passen, um der Form willen zu stutzen sind! Mir gefällt die Vorstellung, den Arztberuf als Heilkunst zu erfassen. Das zeigt die schöngeistige Dimension, die auch darin vorhanden ist, wenn man sie sehen möchte. Wir stehen hier und links und rechts davon gibt es so viel mehr. „Um Lebendes zu erforschen, muss man sich selbst am Leben beteiligen.“ (Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis) Zusammenfassend sei gesagt, dass es bis zu einem gewissen Grad an uns liegt, welche anderen Einflüsse wir zulassen und mit welcher Haltung wir das MTZ betreten. Besitzen wir noch die Fähigkeit, uns zu empören, zu reflektieren? Was nützen mir mein Recht und Freiheit, wenn ich nicht davon Gebrauch mache? Macht euch bitte ab und zu klar, warum ihr hier seid, was eure persönliche Veranlassung war Medizin zu studieren, was ihr beitragen könnt, dass von Bedeutung ist. Fühlt euch eingeladen in Dialog und Diskussion zu treten. Mit euren Kommilitonen (von wegen selbes Boot), mit den Lehrenden, mit mir.

Kontaktdaten werden über den Fachschaftsrat weitervermittelt. [email protected]

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