Was tun bei gehörlosen Kindern mit Verhaltensstörungen?

keine Verhaltensstörungen, da die Zuschreibung auf der Grundlage falscher Bewer- tungsmaßstäbe erfolgte. Auch abweichendes Verhalten „das zufällig, ...
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Frank Alibegovic

Was tun bei gehörlosen Kindern mit Verhaltensstörungen?

disserta Verlag

Alibegovic, Frank: Was tun bei gehörlosen Kindern mit Verhaltensstörungen?. Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-726-3 PDF-eBook-ISBN: Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.....................................................................................9 2. Grundlegende Begriffe..............................................................13 2.1 Verhaltensauffälligkeit............................................................................13 2.1.1 Einteilungen.....................................................................................13 2.1.2 Häufigkeit.........................................................................................17 2.1.3 Ursachen und Handlungsmöglichkeiten...........................................18 2.2 Gehörlosigkeit.........................................................................................19 2.2.1 Einteilungen.....................................................................................19 2.2.1.1 Nach Ausmaß............................................................................20 2.2.1.2 Nach Art.....................................................................................21 2.2.1.3 Nach Kulturzugehörigkeit...........................................................25 2.2.2 Häufigkeit.........................................................................................27 2.2.3 Ursachen..........................................................................................29 2.2.4 Förderungsmöglichkeiten.................................................................30 2.2.4.1 Medizinisch-technische Förderung............................................31 2.2.4.2 Auditiv-verbale Förderung.........................................................33 2.2.4.3 Bilinguale Förderung..................................................................36 2.3 Zusammenfassung.................................................................................41

3. Formen.......................................................................................43 3.1 Häufigkeit von Auffälligkeiten bei Gehörlosen........................................43 3.1.1 Gehörlose mit Mehrfachbehinderungen...........................................43 3.1.2 Gehörlose mit Verhaltensauffälligkeiten...........................................46 3.2 Arten der Verhaltensauffälligkeiten.........................................................57 3.3 Zusammenfassung.................................................................................65

4. Erklärungsansätze.....................................................................67 4.1 Ansatzpunkt Kind....................................................................................68 4.1.1 Was ist Sprache?.............................................................................69 4.1.1.1 Die Bedeutung von Sprache......................................................69 4.1.1.2 Der Aufbau von Sprache...........................................................70 4.1.2 Gehörlose Kinder und Lautsprache..................................................71 4.1.2.1 Der Lautspracherwerb in seinem zeitlichen Verlauf...................72

4.1.2.2 Schwierigkeiten des Lautspracherwerbs für das gehörlose Kind... 73 4.1.3 Folgen der reduzierten Kommunikationsfähigkeit............................75 4.2 Ansatzpunkt Eltern.................................................................................81 4.2.1 Beziehungsstörung und mangelnde Akzeptanz...............................81 4.2.2 Ungünstiges Erziehungsverhalten....................................................86 4.3 Ansatzpunkt Fachleute...........................................................................90 4.3.1 Reduktion auf Kommunikation und Identität.....................................91 4.3.2 Falsche Zuschreibung wegen ungenügender Kulturkenntnis.........102 4.4 Zusammenfassung...............................................................................108

5. Pädagogische Handlungsmöglichkeiten...............................111 5.1 Ansatzpunkt Kind..................................................................................112 5.1.1 Adäquate Möglichkeiten der Kommunikation eröffnen...................112 5.1.2 Training sozialer Kompetenzen......................................................115 5.1.2.1 Konstruktiver Umgang mit der Gehörlosigkeit.........................115 5.1.2.2 Kiosk-Projekt............................................................................118 5.1.3 Gehörlose Personen in den Erfahrungskontext einbeziehen.........120 5.2 Ansatzpunkt Eltern...............................................................................121 5.2.1 Akzeptanz fördern..........................................................................122 5.2.2 Netzwerke bilden und Belastbarkeit stärken..................................129 5.2.2.1 Erfahrungsaustausch unter betroffenen Eltern........................129 5.2.2.2 Familienentlastende Dienste (FED).........................................130 5.2.2.3 Kontakt zu gehörlosen Bezugspersonen herstellen.................131 5.3 Ansatzpunkt Fachleute.........................................................................133 5.3.1 Leiblichkeit er- und anerkennen.....................................................133 5.3.2 Interkulturalität als Norm des pädagogischen Handelns................138 5.4 Zusammenfassung...............................................................................143

6. Schluss.....................................................................................145 Literatur........................................................................................149 Abbildungsverzeichnis...............................................................163 Tabellenverzeichnis....................................................................164

1. Einleitung Warum beschäftigt sich das vorliegende Buch gerade mit Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen? Die Entscheidung für dieses Thema lässt sich aus zwei Richtungen heraus begründen. Aus der Perspektive der Hörgeschädigtenpädagogik und der Verhaltensgestörtenpädagogik. Wissenschaftler und vor allem Praktiker der ersten Disziplin stellen fest, dass gehörlose Kinder und Jugendliche immer häufiger auch zusätzliche Behinderungen haben. Zwar treten auch zusätzliche körperliche oder geistige Behinderungen oder Einschränkungen im Bereich Lernen auf. Im Besonderen sind mit den erwähnten Mehrfachbehinderungen aber Verhaltensauffälligkeiten gemeint. Es macht den Anschein, als würden diese bei Gehörlosen sogar häufiger auftreten, als in einer vergleichbaren Gruppe ohne Hörschädigung. Durch die veränderte Klientel entsteht für Lehrer, Erzieher und andere in diesem Bereich Tätige notwendigerweise auch eine veränderte Anforderung an das Arbeiten mit diesen Kindern und Jugendlichen.1 Um diesem Anspruch zu genügen, informieren sie sich deswegen möglicherweise mittels Literaturrecherchen über Verhaltensauffälligkeiten oder durch den Kontakt mit Praktikern aus der Disziplin der Verhaltensgestörtenpädagogik. Eventuell wird von ihnen interdisziplinäres Arbeiten mit Vertretern beider Richtungen initialisiert. Hier kann nun die Begründung des Themas aus der zweiten Richtung festgestellt werden. Denn wenn die Verhaltensgestörtenpädagogen mit der üblichen Vorgehensweise auf die verhaltensauffälligen und gehörlosen Kinder zugehen, werden sie oft feststellen, dass ihr Ansatz und ihre Methoden nicht greifen. Durch die erschwerte Kommunikation kann es häufig dazu kommen, dass sie erst gar keinen Zugang herstellen und somit auch keinerlei positiven Einfluss auf sie ausüben können. „Bei der Lösung all dieser Probleme ist die Mitarbeit von verschiedenen Fachleuten unerläßlich: Psychiatern, Psychologen und Therapeuten verschiedenster Richtungen. Hierbei stellen sich neue Probleme und Schwierigkeiten ein, die sich für den Psychiater oder Psychologen ergeben, wenn er sich, meist bedrängt von vielen anderen Aufgaben, auch noch gehörloser Kinder annehmen soll. Da er nur schwer den sprachlichen Zugang finden und zudem die ihm vertrauten Therapieformen kaum anwenden kann, wird er zu oft die Aufgabe nicht vollständig lösen können.“ (KUNZ 1988, S. 180).

Es wäre für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit dieser Klientel also notwendig, dass sich der Praktiker sowohl mit der Hörgeschädigten- als auch mit der Verhaltensge1

Eine kurze Anmerkung zur Formulierung: Wenn im Folgenden die maskuline Form eines Wortes verwendet wird, ist damit immer auch die feminine Form gemeint. Es soll dadurch niemand ausgegrenzt werden. Dieser Schreibstil wurde rein aus Gründen der Einfachheit und Leserlichkeit des Textes gewählt.

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störtenpädagogik beschäftigt und die jeweiligen Ansätze und Vorgehensweisen miteinander abgleicht. Eine bloße Addition des Wissens und der Methoden beider Bereiche ist jedoch nicht fruchtbringend. Erst durch die Zusammenführung und Verschmelzung der jeweiligen Möglichkeiten unter Berücksichtigung der Grenzen beider Disziplinen – in Anbetracht und unter Abwägung der Möglichkeiten und Grenzen des sich vor dem Pädagogen befindlichen Kindes – könnte die volle Wirkung entfaltet werden. In diesem Zusammenhang muss noch folgende Anmerkung getroffen werden. Der mittlerweile schon jahrzehntelang andauernde „Methodenstreit“ über die richtige Förderung von gehörlosen Kindern und Jugendlichen innerhalb der Hörgeschädigtenpädagogik ist dem Autor durchaus bewusst. Die vorliegende Arbeit möchte sich jedoch weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen. Weder die Förderung mit Lautsprache noch die mit Gebärdensprache kann für die gesamte Klientel der Hörgeschädigtenpädagogik als „der“ richtige Weg bezeichnet und gefordert werden. Vielmehr ist es angebracht, genau diejenige Vorgehensweise zu favorisieren, die für das jeweilige Kind die optimale Ausnutzung seiner Möglichkeiten darstellt. Anders formuliert: Ressourcenorientiertes Denken und Handeln ist angebracht. Und das umso mehr, je weniger Ressourcen das Kind z. B. auf Grund einer Mehrfachbehinderung – oberflächlich betrachtet – zur Verfügung hat. Gerade dann ist es äußerst bedeutsam, sein Potenzial zu erkennen und voll auszuschöpfen. Doch bevor in diesem Werk auf die Handlungsmöglichkeiten eingegangen wird, müssen erst einige Vorarbeiten geleistet werden. In Kapitel 2 werden zunächst die elementaren Begriffe Verhaltensauffälligkeit und Gehörlosigkeit differenziert erläutert und in Abgrenzung zu verwandten Formulierungen festgelegt, damit im weiteren Verlauf dieser Arbeit klar ist, was bzw. wer gemeint ist. Wie später gezeigt wird, unterscheiden sich Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern allerdings qualitativ nicht von denen hörender Kinder. Für die Beschreibung der in dieser Arbeit anvisierten Zielgruppe ist deswegen vor allem der Begriff Gehörlosigkeit bzw. die hinter diesem Begriff stehende Disziplin samt ihrer unterschiedlichsten Konzepte ausschlaggebend. Deswegen wird auf diesen Bereich ausführlich eingegangen. Zuvor wird jedoch die Bezeichnung Verhaltensauffälligkeit erläutert und gezeigt werden, was damit gemeint ist und warum im weiteren Verlauf dieser Arbeit gerade dieser Begriff und nicht ein vergleichbarer verwendet wird.

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In Kapitel 3 wird anschließend untersucht, ob die erwähnte Beobachtung zur (steigenden) Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen überhaupt zutreffend ist. Hierzu werden die Ergebnisse einiger empirischer Studien zusammenfassend dargestellt. Außerdem wird gezeigt, ob es bestimmte gehörlosentypische Verhaltensauffälligkeiten gibt. Danach wird in Kapitel 4 analysiert, welche Erklärungen es für die Auffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen gibt. Es kann dabei nicht auf jeden einzelnen Ansatz zur Ursachenerklärung für jegliche Verhaltensauffälligkeit umfassend eingegangen werden.2 Statt dessen werden spezielle Risikofaktoren für ihre Entstehung bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen gezeigt. Es wird hierbei aber nicht nur ein Aspekt untersucht und somit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Monokausales Vorgehen und Denken soll dadurch verhindert werden. Deswegen werden sowohl Risikofaktoren in der Person des Kindes, Ursachen, die sich eher den Eltern zuordnen lassen, als auch Bedingungen, auf Seiten der Fachleute berücksichtigt. Hinterfragt werden also Umstände, die sich in der Person, den Eltern als unmittelbaren oder den Fachleuten als mittelbaren Bezugspersonen verorten lassen und die möglicherweise als Erklärung für die Verhaltensauffälligkeit des gehörlosen Kindes bzw. Jugendlichen fungieren können. Kapitel 5 stellt das für die meisten Leser wohl wichtigste Element dieser Arbeit dar. Hier wird gezeigt, welche Handlungsmöglichkeiten Pädagogen, Lehrer, Erzieher und auch Eltern haben, die mit verhaltensauffälligen, gehörlosen Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Hier wird einer vergleichbaren Struktur wie schon im Kapitel davor gefolgt. Es werden sowohl verschiedene Ansatzpunkte beleuchtet – das Kind selbst, seine Eltern und das es betreuende Fachpersonal – als auch verschiedene Stadien von Prävention bis Intervention angeführt. In Kapitel 6 werden die Kerngedanken dieses Buches zusammengefasst und ein Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten gegeben. Das Ziel dieses Buches ist zum einen eine theoretische Einführung in den Themenkomplex Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen, Angaben zu ihrer Häufigkeit und den Hintergründen zu präsentieren. Und zum anderen praktische Hinweise zu den unmittelbaren und mittelbaren Handlungsmöglichkeiten zu geben. Damit soll ein Beitrag zur besseren Förderung und damit auch Erziehung und Bildung gehörloser Kinder und Jugendlicher geleistet werden.3 2 3

Vgl. hierzu AHRBECK ET AL. 2006; BENKMANN 1989; HANSEN ET AL. 1991; HAVERS 1981; HOLTZ, KRETSCHMANN 1989; MYSCHKER 2005; SCHLOTTKE ET AL. 2005; SEITZ 1981. Auch wenn im Verlauf des Buches die Begriffe Erziehung und Bildung zumeist synonym verwendet werden, ist zu beachten, dass es große Bedeutungsunterschiede gibt, die nicht nur für die Pädagogik, sondern auch für die Sonderpädagogik äußerst wichtig sind. Sehr ausführlich und tiefgründig geht MOSER auf die Frage nach der Bildung in der Sonderpädagogik ein (vgl. 2003).

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2. Grundlegende Begriffe Wie im geisteswissenschaftlichen Bereich üblich, wird zunächst eine Begriffsklärung durchgeführt. Es ist allerdings nicht möglich, eine umfassende und alle Faktoren einbeziehende Definition der beiden zentralen Begriffe zu erarbeiten und zu präsentieren. Denn selbst in Werken, die sich nur mit einer Disziplin beschäftigen, findet sich keine von allen vollständig akzeptierte Definition. Statt dessen soll eine knappe Einführung in die Bedeutung der beiden zentralen Begriffe Verhaltensauffälligkeit und Gehörlosigkeit in Abgrenzung verwandter Formulierungen vorgenommen werden. Damit wird verhindert, dass Leser und Autor unterschiedliche Vorstellungen von diesen Begriffen haben und es in Folge dessen wegen differierender, gedanklicher Voraussetzungen zu einem falschen Verständnis der darauf folgenden Textpassagen kommt. Vielmehr wird erarbeitet, mit welcher Bedeutung die Begriffe im Weiteren verwendet werden. Dadurch wird eine gemeinsame Basis geschaffen, die die Grundlage für die weiteren Erörterungen bildet.

2.1 Verhaltensauffälligkeit 2.1.1 Einteilungen Einteilungen von Verhaltensauffälligkeiten können auf der Grundlage verschiedener Kriterien durchgeführt werden. Eine erste Hilfe hierzu und auch zum Verständnis der Bedeutung dieses Begriffs ist die getrennte Untersuchung der beiden Worte, aus denen er zusammengesetzt wird.4 Es geht um ein Verhalten, das auffällig ist. Unter Verhalten wird in einem engeren Sinne das nach außen in Erscheinung tretende Agieren einer Person verstanden, das von anderen wahrgenommen werden kann. Dieses sehr enge Verständnis von Verhalten ist im Kontext der Verhaltensgestörtenpädagogik jedoch keineswegs ausreichend. Denn zusätzlich zu dieser ersten Komponente des sichtbaren Handelns wird in einem weiteren Verständnis von Verhalten darunter auch das Erleben und Wahrnehmen von Emotionen verstanden, was von außenstehenden Personen nur sehr schwer wahrgenommen werden kann. Und die kognitive Komponente spielt ebenfalls eine Rolle, da es auch um die Bewertung – als einem kognitiven Akt – von Wahrnehmungen, Eindrücken, Emotionen und Handlungsmög4

Vgl. im Folgenden STEIN 2006; SCHAD, STEIN 2005.

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lichkeiten geht. Und auch bei diesen Verhaltensarten im weiteren Sinn kann es zu Auffälligkeiten kommen. Die Nennung dieser drei Komponenten des Verhaltens gibt Hinweise auf eine erste, häufig vollzogene Einteilung von Verhaltensauffälligkeiten in einen emotionalen und einen sozialen Bereich. Diese Einteilung geschieht auf der Grundlage der Zuordnung des Verhaltens, Erlebens und Verarbeitens auf die zwei genannten Bereiche. Diese Unterteilung folgt den Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung der KULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) vom 10.3.2000, wobei der kognitive Bereich, zumindest der Begrifflichkeit nach, außen vor gelassen wird. Zum Beispiel wird die emotionale Regulationsfähigkeit und das Selbstwertgefühl dem emotionalen Bereich zugeschrieben, während Kommunikationsfähigkeit, Sachlichkeit und Toleranz dem sozialen Bereich angehören.5 Eine andere Einteilung, die sich von der gerade angeführten in Bezug auf die jeweils zugeteilten Erscheinungsformen inhaltlich kaum unterscheidet, ist die in externalisierende und internalisierende Verhaltensauffälligkeiten. Die klassisch externalisierenden Auffälligkeiten agieren nach außen so wie z. B. aggressives, impulsives und hyperaktives Verhalten. Diese sind somit im Großen und Ganzen mit Verhaltensauffälligkeiten im sozialen Bereich gleichzusetzen. Die klassisch internalisierenden Auffälligkeiten sind dagegen mit dem emotionalen Bereich so gut wie gleichzusetzen. Beispiele hierfür sind „ein negatives Selbstkonzept und ein geringer Selbstwert, starke Ängstlichkeit oder auch Depressivität“ (STEIN 2006, S. 28). Die Kriterien für die bisher genannten Einteilungen basieren auf der Grundlage der Erscheinungsform der Verhaltensauffälligkeit. Eine Alternative hierzu nennt BACH, wenn er entsprechend dem Außmaß – unabhängig vom Bereich – der Auffälligkeit verschiedene Bezeichnungen zur genauen Beschreibung und einem exakteren Verständnis der gemeinten vorschlägt.6 Er nennt die vier Begriffe Pseudoverhaltensstörung, Verhaltensstörung, Verhaltensbehinderung und Verhaltensbeeinträchtigung. Pseudoverhaltensstörungen sind an sich gar keine Verhaltensstörungen, da die Zuschreibung auf der Grundlage falscher Bewertungsmaßstäbe erfolgte. Auch abweichendes Verhalten „das zufällig, aufgrund äußeren Zwangs, direkt durch motorische, sensorielle Schäden, durch Schäden der Sprechwerkzeuge, durch intellektuelle Schäden oder durch akute organische Erkrankungen bedingt ist,“ zählt er zu den Pseudobeeinträchtigungen (BACH 1989, S. 8, 5 6

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Vgl. STEIN 2006, S. 26, Tabelle 1. Vgl. im Folgenden BACH 1989, S. 4–8.

Hervorhebung im Original). Mit Verhaltensstörung meint er verlässlich beobachtbares, wiederholt auftretendes, abweichendes Verhalten, dass auf Grund seiner häufigen Durchführung auf eine entsprechende „individuale Bereitschaft schließen“ lässt (BACH 1989, S. 7, Hervorhebung im Original). Verhaltensbehinderungen grenzt er von diesen ab, indem er damit extremes Verhalten in Bezug auf die Länge des Zeitraums, in der es auftritt und ein gravierendes Ausmaß in Umfang und Grad bezeichnet. Und der Begriff Verhaltensbeeinträchtigung ist von ihm letztlich als ein Überbegriff gemeint, unter dem die anderen subsumiert werden können. Es bleibt anzumerken, dass die genannten Einteilungen trotz ihrer Nützlichkeit bezüglich der Strukturierung der Erscheinungsformen des verhaltensauffälligen Kindes immer auch eine gewisse Unsicherheit offen lassen, da Abgrenzungen häufig schwer fallen und deswegen unmöglich alle Phänomene einem Bereich eindeutig zugeordnet werden können. Der zweite Teil des Wortes Verhaltensauffälligkeit deutet ebenfalls wichtige Aspekte an. Zunächst einmal gibt es eine Person, der das Verhalten auffällt. Dabei gibt es für die Person, der ein Verhalten auffällt bzw. auffallen soll, verschiedene Schwierigkeitsgrade, die genannten Komponenten tatsächlich zu bemerken. Denn das körperliche Handeln des Kindes, etwas zu werfen, zu sagen oder zu schreien, fällt Außenstehenden natürlich wesentlich leichter auf, als die Wahrnehmungen und Emotionen des Kindes oder seine (auch unbewusste) Bewertung der momentanen Situation. Diese abgestuften Herausforderungen an den Pädagogen, vom eindeutig sicht- oder hörbaren Handeln, über die möglicherweise durch Mimik ausgedrückten Emotionen, bis hin zu den unsichtbaren Bewertungen die im Kopf des Kindes stattfinden, gehören jedoch zu den unbedingt zu bewältigenden Aufgabenstellungen eines Pädagogen, der feststellen will, ob das Kind als verhaltensauffällig zu bezeichnen ist oder nicht. D. h. zudem, Verhaltensauffälligkeiten kommen als solche immer nur im sozialen Kontext zum Tragen, auch wenn hierzu nicht unbedingt eine andere Person (körperlich) anwesend sein muss. Außerdem fällt der Person dieses Verhalten auf, weil es von dem üblichen Verhalten abhebt. Es wird also – zumeist unbewusst – eine Norm zugrunde gelegt, die dafür maßgeblich ist, ob ein Verhalten als auffällig bezeichnet wird oder nicht.7 In diesem Zusammenhang müssen mehrere Arten von Normen angeführt werden, die als Bewertungsgrundlage fungieren können: í

7

soziokulturelle Normen

Vgl. SCHAD, STEIN 2005, S. 421–422.

5

í

explizite Normen (Gesetze und Vorschriften)

í

statistische Normen (empirische Daten oder individuelle Erfahrung)

í

Normen, die sich aus Überlegungen wissenschaftlicher Ansätze ergeben

Der Aspekt der Normabhängigkeit der Bewertung einer Handlung als Verhaltensauffälligkeit ist ein zentrales Moment, weil hierdurch die Relativität der Zuschreibung deutlich wird.8 Für die Einteilung von Verhaltensauffälligkeiten werden häufig medizinische Kategorien bzw. Klassifikationssysteme wie das ICD-10 oder das DSM-IV herangezogen. Allerdings sind diese Klassifikationen nicht universal gültig, sondern nur ein System von Kategorien oder Normen, welches als Grundlage einer Bewertung dienen kann. Es gibt – wie bereits gezeigt – neben der Bezeichnung Verhaltensauffälligkeit noch weitere Begriffe mit einer ähnlichen oder evtl. auch deckungsgleichen Bedeutung, wobei hier nicht der richtige Ort ist, sie alle zu nennen und zu diskutieren.9 Sehr weit verbreitet sind unter Anderem die Bezeichnungen „verhaltensgestört“ und „psychosozial beeinträchtigt/gestört“. Der zweite Begriff wird z. B. in der Psychologie herangezogen, um förderliche oder gefährdende Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Kindes zu beschreiben. Und die Bezeichnung „verhaltensgestört“ ist in der Alltagssprache aber auch in der Wissenschaft sehr geläufig, wenn auch in letzterer mit einer anderen Konnotation. So impliziert dieser Begriff, dass eine Verhaltensstörung nicht nur beim Kind zu verorten ist, sondern dass das als gestört bewertete Verhalten des Kindes in Wirklichkeit nur wie ein Signal für eine dahinter liegende Störung fungiert. „Die Verhaltensstörung wird als Symptom des gestörten Systems gefaßt und nicht am Individuum festgemacht“, schreibt DIETZE dazu (1998, S. 144). Dennoch wurde bisher und wird auch im Weiteren hauptsächlich der Begriff „verhaltensauffällig“ verwendet. Das hat zwei Gründe: Zum einen sind „… Begriffe wie »Verhaltensauffälligkeiten« oder der »Verhaltensstörungen« insbesondere für Kinder und Jugendliche reserviert…“ (SCHAD, STEIN 2005, S. 419). Und das ist vom Alter her die Zielgruppe, um die es in diesem Buch geht. Zum anderen wurde vorhin bereits ausgeführt, dass bei der Bezeichnung „verhaltensauffällig“ immer schon eine bewertende Person und das Vorhandensein einer Norm oder Regel mitgedacht werden. Wenn also im Folgenden von „Verhaltensauffälligkeiten“ die Rede ist, dann sollen zugleich diese beiden Aspekte 8 9

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Dieser Aspekt wird im Laufe des vorliegenden Buches immer wieder auftauchen. Vgl. hierzu BACH 1989, S. 9–11.

ins Bewusstsein kommen und auch weiterhin präsent bleiben. Wie oft treten Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen auf?

2.1.2 Häufigkeit Entsprechend der angeführten Einteilungsmöglichkeit in externalisierende bzw. soziale und in internalisierende bzw. emotionale Verhaltensauffälligkeiten und der damit einhergehenden unterschiedlichen Schwierigkeit ihrer Feststellung wäre es zu erwarten, dass z. B. aggressive und hyperaktive Störungen wesentlich häufiger auftreten bzw. bemerkt werden als Störungen aus dem internalisierenden bzw. emotionalen Bereich. Als Standardarbeit zur Erforschung der Prävalenz wird immer wieder die von IHLE, ESSER durchgeführte Metastudie zitiert (vgl. 2002). Sie untersuchten eine ganze Reihe bis dahin vorliegender Erhebungen, filterten methodisch unsauber geführte Arbeiten und auch solche, die keine genaue Vergleichbarkeit ermöglichten, aus und kamen bei dem Vergleich der 19 übriggebliebenen Untersuchungen zu überraschenden Ergebnissen. Unterteilt nach den einzelnen Arten von Verhaltensauffälligkeiten kamen sie zu folgenden Prävalenzraten: í

Angststörungen 10,4 %

í

„dissoziale“ Störungen 7,5 %

í

depressive und hyperkinetische Störungen jeweils 4,4 %

Interessant ist hier, dass eben nicht eine externalisierende (oder soziale) Verhaltensauffälligkeit an erster Stelle steht, sondern eine an sich schwerer festzustellende internalisierende wie die Angststörung. Und als durchschnittliche Auftretenshäufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten konnten sie eine Rate von 18 % ermitteln. Bezüglich der Geschlechterverteilung einzelner Arten von Verhaltensauffälligkeiten stellten sie fest, dass Hyperkinetische Störungen, Dissoziales Verhalten und Alkohol- und Drogenmissbrauch signifikant häufiger bei Jungen auftraten, wohingegen Essstörungen und psychosomatische Störungen bei Mädchen häufiger vorkamen. Keinen geschlechtsspezifischen Unterschied gab es allerdings bei den meist eher Mädchen zugeschriebenen Auffälligkeiten wie Angst oder Depressionen. Welche Ursachen die jeweiligen Verhaltensauffälligkeiten hatten, wurde von ihnen aber nicht untersucht.

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2.1.3 Ursachen und Handlungsmöglichkeiten Auf alle Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten in einem kurzen Unterkapitel einzugehen, ist so gut wie unmöglich. Es gibt beinahe ein Dutzend Theorien zu ihrer Erklärung, zu denen es teils zig eigene Veröffentlichungen gibt. 10 Das gleiche trifft auf die Handlungsmöglichkeiten zu. In Bezug auf die Möglichkeiten der Förderung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher können kaum allgemeine Aussagen getroffen werden, da die vorgeschlagenen Handlungsansätze zum einen von der speziellen Art der Verhaltensauffälligkeit und zum anderen auch von der zugrunde gelegten Theorie zur Erklärung der Auffälligkeit abhängig sind. Deswegen können hier lediglich die unterschiedlichen Theorien benannt werden, verbunden mit einem Hinweis auf die entsprechende Literatur. Das Gleiche gilt für die Handlungsmöglichkeiten und die unten stehenden Theorien, aus denen Programme und Trainingsmaßnahmen manchmal auch ohne die explizite Nennung der zugrunde gelegten Theorie abgeleitet wurden. í

Psychoanalyse

í

Individualpsychologie

í

Lernpsychologie

í

Selbstkonzept-Theorie nach Rogers

í

Bindungstheorie

í

Theorie der Selbst- und Handlungsregulation

í

Systemtheorie

í

Subkultur und Kulturkonflikt

í

Theorien des differentiellen Lernens

í

Anomietheorien

í

Labeling Approach

í

Biophysisch-medizinische Theorien

10

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Zu den folgenden Ausführungen vgl. überblicksweise SCHAD, STEIN 2005, S. 425–427; STEIN 2006, S. 30–32; MYSCHKER 2005, S. 81–129; BACH 1989; BENKMANN 1989.

Ein weiterer Grund für diese verkürzte Vorgehensweise ist die bereits angeführte Tatsache, dass sich Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen qualitativ nicht von denen Hörender unterscheiden.11 D. h., dass die Verhaltensauffälligkeiten gehörloser Kinder grundsätzlich auch die gleichen Ursachen haben können wie die Auffälligkeiten hörender Kinder. Gleiches gilt vermutlich auch für die Handlungsmöglichkeiten, wobei dieser Aspekt später noch näher beleuchtet wird. Allerdings gibt es spezielle Risikofaktoren im Kontext der Gehörlosigkeit für das Entstehen von Verhaltensauffälligkeiten. Auf diese wird in Kap. 4 gesondert eingegangen. Da somit der Begriff Verhaltensauffälligkeit erläutert und die Verwendung gerade dieser Bezeichnung begründet wurde, kommen wir zum zweiten grundlegenden Begriff.

2.2 Gehörlosigkeit Auch die Bedeutung (bzw. die Bedeutungen) des Begriffs „Gehörlosigkeit“ wird umrissen und die in diesem Buch anvisierte Zielgruppe beschrieben. Es soll kurz angeführt werden, welche Möglichkeiten der Einteilung es in diesem Kontext gibt und warum in den späteren Kapiteln nicht von Hörgeschädigten oder andersartig Bezeichneten gesprochen wird. Auch wird gezeigt, wie häufig Hörschädigungen im Allgemeinen auftreten und darauf aufbauend werden Zahlen zur Prävalenz von Gehörlosigkeit bei Kinder und Jugendlichen genannt. Außerdem wird ansatzweise auf die Ursachen von Gehörlosigkeit und die unterschiedlichen Möglichkeiten der Förderung von gehörlosen Kindern und Jugendlichen eingegangen.12

2.2.1 Einteilungen Zu Beginn dieser Ausführungen ist festzuhalten, dass es nicht den Gehörlosen oder die Hörgeschädigte gibt. Bei Menschen mit einer Schädigung des Hörvermögens handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe: „Darüber hinaus weist praktisch jeder Hörgeschädigte hinsichtlich seines Hörschadens und seiner kommunikativen Situation individuelle Unterschiede und Auffälligkeiten auf“ (LEONHARDT 2002, S. 20). Auch HINTERMAIR, LEHMANN-TREMMEL bestätigten diesen Umstand: „Wichtig ist uns, dass wahrgenommen wird, dass die Population der hörgeschädigten Kinder eine äußerst heterogene Gruppe ist und entsprechend dieser Heterogenität mit pädagogi11 12

Vgl. Kap. 3.2. Vgl. im Folgenden FENGLER 1990; LEONHARDT 2002; KAUL 2006.

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