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18.09.2017 - Option spricht die Erfahrung, dass die VN politisch und organisatorisch ...... waffneten Konflikt handeln würde und das humani- täre Völkerrecht ...
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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Peter Rudolf

VN-Friedensmissionen und der Einsatz militärischer Gewalt

S 18 September 2017 Berlin

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Inhalt

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

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Einleitung

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Zum Wandel der Rolle militärischer Gewalt in Friedenseinsätzen

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Vom robusten Peacekeeping zu Stabilisierungseinsätzen

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Zum Umgang mit organisierter Heuchelei

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Wider die Überdehnung des Peacekeeping

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Abkürzungen

Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Amerika

Problemstellung und Schlussfolgerungen

VN-Friedensmissionen und der Einsatz militärischer Gewalt Die Einsätze, die unter den weiten Begriff von Friedensoperationen der Vereinten Nationen (VN) fallen, unterscheiden sich sowohl im Mandat als auch in der personellen Ausstattung. Vielfach beschränken sie sich nicht auf militärisches Peacekeeping, sondern haben multidimensionalen Charakter: Sie verbinden militärische sowie zivile Elemente und zielen auf die Konsolidierung des Friedens nach Bürgerkriegen. Blauhelme kommen auch dort zum Einsatz, wo noch kein Frieden existiert, der zu bewahren wäre. Funktionen und Formen des Peacekeeping haben sich im Laufe der Zeit auf operativer Ebene beträchtlich gewandelt. Doch auf deklaratorischer Ebene halten die VN an den drei klassischen Grundprinzipien des Peacekeeping fest, nämlich Zustimmung der Konfliktparteien, Unparteilichkeit und Anwendung militärischer Gewalt nur zum Zwecke der Selbstverteidigung und, wie es heißt, zur Verteidigung des Mandats. Das bedeutet: Militärische Gewalt soll nur dann angewendet werden, wenn dies zum Schutz von Zivilisten und zur Abwehr von »Störern« eines Friedensprozesses unvermeidlich ist. Nirgendwo ist die Kluft zwischen tradierten, aber umgedeuteten Prinzipien und der Einsatzrealität größer als in einigen Stabilisierungsmissionen in Afrika, namentlich in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali und der Zentralafrikanischen Republik. Im Rahmen dieser Missionen werden staatliche Kräfte auch mit offensiven militärischen Operationen gegen nicht-staatliche Kräfte unterstützt. Verwischt ist in diesen Missionen die ohnehin dünne Trennlinie zwischen »robusten« friedensbewahrenden Einsätzen, in denen von Gewalt auf »taktischer Ebene« auch proaktiv Gebrauch gemacht werden darf, und friedensdurchsetzenden Operationen, in denen Gewalt auf »strategischer Ebene« ohne Zustimmung der Konfliktparteien zur Anwendung kommt. In Anbetracht dieser Entwicklung wird seit einiger Zeit darüber diskutiert, ob an den alten Prinzipien des Peacekeeping festgehalten werden soll oder ob diese an die veränderten Herausforderungen angepasst werden sollten. Im Zentrum der Debatte steht die Frage nach der Rolle militärischer Gewalt, nach den Bedingungen und Grenzen eines Gewalteinsatzes. In der vorliegenden Studie wird diese Debatte rekonstruiert. Zunächst werden die Probleme und ImSWP Berlin VN-Friedensmissionen und der Einsatz militärischer Gewalt September 2017

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

plikationen analysiert, die mit dem Einsatz militärischer Gewalt in sich wandelnden VN-Friedenseinsätzen einhergehen, dann die Optionen diskutiert, die es für den Umgang mit der Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität in dieser Frage gibt, und abschließend in einer normativen Zuspitzung Argumente wider die Militarisierung und Überdehnung des Peacekeeping angeführt. Ziel dieser Studie ist es, das Bewusstsein für die Problematik des Einsatzes militärischer Gewalt in VN-Friedensmissionen zu schärfen – nicht zuletzt deshalb, weil in den jüngsten Leitlinien der Bundesregierung zur Krisenverhinderung, Konfliktbewältigung und Friedensförderung die Bereitschaft zu einem stärkeren Engagement in friedenserhaltenden VN-Missionen in Aussicht gestellt wurde. Sollte Deutschlands Bewerbung um einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat 2019/20 erfolgreich sein, dann wäre die deutsche Politik wohl mehr noch als bisher mit dem Thema konfrontiert. Drei Optionen lassen sich in der innerhalb und außerhalb der VN geführten Debatte über die Zukunft des Peacekeeping und die Rolle militärischer Gewalt erkennen: Die erste Option ist eine Beschränkung von VN-Friedensmissionen auf eher traditionelle friedenserhaltende Maßnahmen, die zwar den robusten defensiven Einsatz militärischer Gewalt ein-, aber den offensiven erzwingenden Einsatz ausschließen. Letzterer wäre, falls notwendig, an regionale Organisationen oder Ad-hoc-Koalitionen zu delegieren. Für diese Option spricht die Erfahrung, dass die VN politisch und organisatorisch für offensive Missionen nicht geeignet sind. Die asiatischen und afrikanischen Länder, die den Löwenanteil des militärischen Personals stellen, sind bestrebt, die Risiken für ihre Soldaten zu minimieren, und hegen daher ohnehin Skepsis gegenüber dem robusten Einsatz militärischer Gewalt und möglichen Verwicklungen in Kampfhandlungen. Die zweite Option wäre die Ausarbeitung einer Doktrin für VN-Stabilisierungsmissionen oder – politisch wohl weniger heikel und weniger strittig – für VNmandatierte Stabilisierungsoperationen. Für diese Option spricht die Erwartung, dass mit solchen Aufgaben auch in Zukunft zu rechnen ist und es daher eines klaren konzeptionellen Rahmens bedarf, der bislang fehlt. Das hieße allerdings, den schwammigen und phrasenhaften, aber flexibel interpretierbaren Begriff der »Stabilisierung« in ein handlungsleitendes Konzept zu übersetzen – keine leichte Aufgabe. Die dritte Option besteht in der Fortsetzung der bisherigen Linie eher situativen Handelns, idealerweise SWP Berlin VN-Friedensmissionen und der Einsatz militärischer Gewalt September 2017

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mit besserer Ausstattung und genaueren Leitlinien für Missionen mit Zwangscharakter, jedoch unter Vermeidung kontroverser Grundsatzdiskussionen und ohne Entwicklung eines neuen doktrinären Rahmens. In welche Richtung die weitere Entwicklung auch immer gehen wird, es sprechen nicht nur politischpragmatische, sondern auch gewichtige normative Argumente dafür, das VN-Peacekeeping als eine von Kampf- und Kriegseinsätzen zu unterscheidende eigenständige Praxis des Konfliktmanagements zu bewahren. Die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt im Rahmen eines »robusten« Peacekeeping mag unerlässlich sein, um die Zivilbevölkerung zu schützen und »Störer« eines Friedensprozesses in Schach zu halten. Doch dem Wesen des Peacekeeping nach handelt es sich bei den Gruppen, gegen die sich der militärische Zwang richtet, nicht um Feinde, die es auszuschalten gilt, sondern um Mitglieder einer Gesellschaft, die in einen Friedensprozess einzubeziehen sind. Daher ist es problematisch, friedenserhaltende Missionen zu militarisieren und in eine in vielerlei Hinsicht fragwürdige, diffuse Stabilisierungslogik einzubinden. Ein solcher Ansatz lässt Blauhelme zur Partei in bewaffneten Konflikten werden und gefährdet die Rolle der VN als Vermittler. VN-Friedensmissionen sollten nicht mit Aufgaben überfrachtet werden, die ihren normativen Anspruch untergraben und ihre Legitimität eher schwächen als stärken.

Einleitung

Einleitung

Friedenseinsätze der VN haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte beträchtlich gewandelt. 1 Das Spektrum reicht vom eher traditionellen Peacekeeping, bei dem Blauhelme zur Überwachung eines (zwischenstaatlichen) Waffenstillstands entsendet werden und die Voraussetzungen für eine Friedensregelung verbessern sollen, über sogenannte komplexe Friedensoperationen, die nach dem Ende des Kalten Krieges in zahlreichen Bürgerkriegsländern zum Einsatz kamen, bis hin zur Entsendung von Friedenstruppen in Konstellationen, in denen es darum geht, ein Land überhaupt erst zu befrieden. 2 Seit Anfang der 2000er Jahre ist der Schutz von Zivilpersonen in den Fokus gerückt. Friedenseinsätze wurden »robuster« – und zwar in dem Sinne, dass militärische Gewalt nicht nur zur Selbstverteidigung, sondern auch zur Verteidigung des Mandats eingesetzt werden darf, das heißt dann, wenn bestimmte Kräfte Zivilisten oder den Frieden bedrohen. Zumindest einige Friedenseinsätze dienen ausdrücklich dem Zweck, bei der Stabilisierung eines 1 Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Version des Artikels »UN Peace Operations and the Use of Military Force«, in: Survival: Global Politics and Strategy, 59 (Juni/Juli 2017) 3, S. 161–182 (Zugriff am 6.9.2017). 2 Die Ausdrücke Friedenseinsatz bzw. Friedensmission werden hier als Oberbegriffe gewählt, unter die im Rahmen des Diskurses in den VN eine Vielzahl von Missionen fallen – von rein politischen über friedenserhaltende bis hin zu friedensdurchsetzenden Missionen. Der Begriff weist eine gewisse Unschärfe auf; eine autoritative Definition gibt es nicht. Im Folgenden geht es um jene »Peacekeeping«-Missionen, die in die Zuständigkeit des Department of Peacekeeping Operations der VN fallen. Nach Beendigung des Einsatzes in der Elfenbeinküste am 30.6.2017 sind das gegenwärtig 15 Missionen; seit 1948 sind es insgesamt 71. Informationen zu diesen Einsätzen finden sich unter . Im Bericht des VN-Generalsekretärs zur Zukunft der »peace operations« bezieht sich dieser Begriff »to all-field based peace and security operations mandated or endorsed by the Security Council and/or the General Assembly, including peacekeeping operations and special political missions, as well as the envoys and regional offices carrying out my good offices«, The Future of United Nations Peace Operations: Implementation of the Recommendations of the High-level Independent Panel on Peace Operations, Report of the Secretary-General, 2.9.2015, A/70/357-S/2015/682, S. 3.

Landes zu helfen, das sich noch in einem bürgerkriegsähnlichen Gewaltkonflikt befindet. 3 Die Aufgaben und Formen von Friedensoperationen haben sich beträchtlich verändert und erweitert. 4 Doch die VN halten auf konzeptioneller Ebene hartnäckig an den drei klassischen Grundprinzipien des Peacekeeping fest: Zustimmung der Konfliktparteien als Voraussetzung für die Mission, Unparteilichkeit (im Sinne eines Schiedsrichters, der die Einhaltung der Regeln notfalls auch mit Sanktionen durchsetzt) und Einsatz militärischer Gewalt nur zum Zwecke der Selbstverteidigung und der Verteidigung des Mandats. Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen diesen überkommenen Prinzipien und der Einsatzrealität größer als in einigen Missionen in Afrika, die mehr mit Aufstandsbekämpfung und Antiterrorismusoperationen gemein haben als mit dem traditionellen Peacekeeping. Insbesondere bei den VN-Einsätzen in der Demokratischen Republik Kongo, Mali und der Zentralafrikanischen Republik ist die Grenze zwischen friedenserhaltenden und friedensdurchsetzenden Missionen verwischt. Nicht ohne Grund wird in den VN seit einiger

3 Für einen Überblick über diesen Wandel und die damit verbundenen Probleme siehe Alex J. Bellamy/Charles T. Hunt, »Twenty-first Century UN Peace Operations: Protection, Force and the Changing Security Environment«, in: International Affairs, 91 (2015) 6, S. 1277–1298. 4 Blickt man auf die gegenwärtigen Friedenseinsätze der VN, lassen sich – von den traditionellen Missionen zur Überwachung zwischenstaatlicher Grenzen und Waffenstillstandsvereinbarungen (etwa Zypern, Libanon, Indien/Pakistan, westliche Sahara) abgesehen – vier Typen unterscheiden: erstens die Überwachung von Friedensvereinbarungen oder Waffenstillstandsabkommen (etwa Liberia); zweitens die Unterstützung beim Aufbau neuer Staaten (Süd-Sudan, Kosovo); drittens Einsätze, die Zivilisten in Situationen schützen sollen, in denen keine Friedensabkommen existieren (etwa Darfur, Zentralafrikanische Republik, Haiti) und viertens Einsätze, die vor allem der Absicherung von Regierungen oder Friedensprozessen vor Aufständischen dienen (DR Kongo, Mali). Zu dieser Typologie siehe Chiyuki Aoi/Cedric de Coning/John Karlsrud, »Introduction: Addressing the Emerging Gap between Concepts, Doctrine, and Practice in UN Peacekeeping Operations«, in: dies. (Hg.), UN Peacekeeping Doctrine in a New Era: Adapting to Stabilisation, Protection and New Threats, Abingdon/New York: Routledge, 2017, S. 1–30 (20ff).

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Einleitung

Zeit darüber diskutiert, ob an den alten Grundprinzipien festgehalten werden soll oder ob diese antiquiert sind und den neuen Konfliktkonstellationen und der tatsächlichen Praxis zahlreicher Friedensoperationen angepasst werden sollten. 5 Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden um eine Einschätzung der Implikationen und Probleme, die mit dem Einsatz militärischer Gewalt in sich wandelnden VN-Friedensoperationen verbunden sind – traditionell »die quälendste Herausforderung« solcher Missionen. 6 Der Fokus liegt auf den mit »enforcement peacekeeping« bezeichneten Missionen, in denen sich die Problematik des Einsatzes militärischer Gewalt am deutlichsten stellt. 7 Wie die Rolle militärischer Gewalt verstanden wird, ist von grundlegender Bedeutung für die Identität des Peacekeeping in Abgrenzung zur Kriegführung. Aus normativer Perspektive handelt es sich beim Peacekeeping um eine gewachsene Praxis sui generis. Trotz der damit einhergehenden problematischen Seiteneffekte (insbesondere sexuelle Ausbeutung und sexueller Missbrauch) ist sie es wert, vor einem weiteren Verlust an Legitimität bewahrt zu werden. 8 Was diese Praxis gefährdet und sich in der seit langem zu vernehmenden Rede von der »Krise« des Peacekeeping niederschlägt, 9 ist zum einen die Diskrepanz zwischen Anspruch und tatsächlichem Leistungsvermögen, zum anderen die Differenz zwischen dem Beharrungsvermögen überkommener Prinzipien und der Realität mancher Einsätze. Die geplanten Kürzungen des amerikanischen Finanzierungsanteils an VN-Friedensoperationen dürften die Debatte über den Nutzen und die Grenzen des

5 Diese Kontroverse hat sich niedergeschlagen im Report of the High-Level Independent Panel on United Nations Peace Operations, Uniting our Strengths for Peace – Politics, Partnership and People, 16.6.2015, S. 32f. 6 Trevor Findlay, The Use of Force in UN Peace Operations, Oxford/ New York: Oxford University Press, 2002, S. 351 (»the most vexing of all the challenges that face UN peace operations«); Übersetzung aus dem Englischen wie auch in allen folgenden Fällen durch den Autor. 7 Mateja Peter, »Between Doctrine and Practice: The UN Peacekeeping Dilemma«, in: Global Governance, 21 (2015) 3, S. 351–370 (353). 8 Zu dieser Problematik siehe etwa Jasmine-Kim Westendorf/ Louise Searle, »Sexual Exploitation and Abuse in Peace Operations: Trends, Policy Responses and Future Directions«, in: International Affairs, 93 (2017) 2, S. 365–387. 9 Zu den Problemen des Peacekeeping als Überblick unverändert lesenswert: Denis M. Tull, Die Peacekeeping-Krise der Vereinten Nationen: Ein Überblick über die Debatte, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Januar 2010 (SWP-Studie 1/2010).

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Peacekeeping beleben. 10 Nicht alle kritischen Fragen, die die Trump-Administration stellt, können als Ausfluss einer fundamentalen Antipathie gegenüber den VN im Allgemeinen und dem Peacekeeping im Besonderen abgetan werden. Vielleicht führt die durch Sparzwänge ausgelöste Debatte zur Rückbesinnung auf die Möglichkeiten und Grenzen dessen, was Peacekeeping leisten kann, wenn es im Einsatzland an einem politischen Prozess mangelt, der abgestützt werden kann; zu einer Diskussion darüber, was von jenen Regierungen einzufordern ist, die die VN militärisch unterstützen; zu einer Klärung der Frage, wann Missionen zu beenden sind, wenn es keine Fortschritte auf dem Weg zu einer politischen Regelung gibt. 11 Den folgenden Ausführungen liegen drei evidenzgeleitete Annahmen zugrunde. Erstens: Peacekeeping funktioniert – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Friedensoperationen, das heißt vor allem die Entsendung von Friedenstruppen, können in vielen Fällen gewaltmindernd und gewaltverhindernd wirken: gewaltmindernd, wenn Friedenstruppen in noch »heiße« Konflikte entsandt werden; gewaltverhindernd, insofern die Anwesenheit angemessen ausgestatteter und in ausreichender Stärke entsandter Friedenstruppen das Risiko reduzieren kann, dass es zur massenhaften Tötung von Zivilisten kommt; gewaltverhindernd auch, insofern sich das Risiko verringert, dass nach einer Verhandlungslösung später erneut ein Bürgerkrieg ausbricht. 12 Peacekeeping ist jedoch eine eher kurz10 Siehe Somini Sengupta, »U.N. Peacekeeping Faces Overhaul as U.S. Threatens to Cut Funding«, in: The New York Times, 24.3.2017. 11 Siehe Letter Dated 4 April 2017 from the Permanent Representative of the United States of America to the United Nations Addressed to the Secretary-General, S/2017/287, 5.4.2017, (Zugriff am 6.9.2017). 12 Siehe Virginia Page Fortna, Does Peacekeeping Work? Shaping Belligerents’ Choices after Civil War, Princeton/Oxford: Princeton University Press, 2008; Lisa Hultman/Jacob Kathman/Megan Shannon, »Beyond Keeping Peace: United Nations Effectiveness in the Midst of Fighting«, in: American Political Science Review, 108 (November 2014) 4, S. 737–753; Lisa Hultman/ Jacob Kathman/Megan Shannon, »United Nations Peacekeeping and Civilian Protection in Civil War«, in: American Journal of Political Science, 57 (October 2013) 4, S. 875–891; Erik Melander, »Selected to Go Where Murderers Lurk? The Preventive Effect of Peacekeeping on Mass Killings of Civilians«, in: Conflict Management and Peace Science, 26 (2009) 4, S. 389–406; T. David Mason et al., »When Civil Wars Recur: Conditions for Durable Peace after Civil Wars«, in: International Studies Perspectives, 12 (2011), S. 171–189; Als Überblick über den Stand der Forschung siehe ausführlicher Peter Rudolf, Friedensopera-

Einleitung

fristige Übergangslösung. Es geht dabei um das Behandeln von »Symptomen« 13, nicht um die nachhaltige Befriedung gewalttätiger Gesellschaften. Dazu bedarf es inklusiver politisch-institutioneller Regelungen. Zweitens: Friedenskonsolidierung im Sinne des »liberal peacebuilding« funktioniert selten. Die Herausbildung von Good Governance, Rechtsreformen und der Aufbau demokratischer Institutionen erfordern tiefe Eingriffe in politische Systeme. Eine politische und gesellschaftliche Transformation in diesem Sinne ist selbst dort schwierig, wo staatliche Eliten in hohem Maße von internationalen Gebern abhängig sind. Nur zwei der 19 bedeutenderen VN-Friedensaufbaumissionen nach 1989 trugen zur Entstehung liberaler Demokratien bei (nach den Kriterien von Freedom House), nämlich jene in Namibia und in Kroatien. Nimmt man die weniger anspruchsvolle Staatsform einer »electoral democracy« zum Maßstab, sind es neun. Dass die Chancen gering sind, über Peacebuilding auch eine funktionierende liberale Demokratie aufzubauen, hat nicht mit der Größenordnung und der Ausstattung der Friedensmissionen zu tun, sondern mehr mit dem Umfang der Möglichkeiten, auf lokale Eliten Einfluss zu nehmen. Sind diese Eliten sehr stark von externen Akteuren abhängig, sei es um ihre Ziele (etwa Sezession) zu erreichen oder weil sie finanziell am Tropf hängen, sind die Chancen größer. Fehlen starke Druckmittel oder sehen Eliten ihre Interessen und ihre Position durch eine Demokratisierung gefährdet, ist wenig zu erreichen. 14 Drittens: Stabilisierungseinsätze, gewissermaßen die realpolitische Version der Friedenskonsolidierung, haben viel mit der problematischen Idee, ja Ideologie der sogenannten zivil-militärischen Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency, kurz COIN) gemein. 15 Diese tionen: Wirksamkeit und Erfolgsbedingungen. Ein Blick auf den Stand der Forschung, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2015 (SWP-Aktuell 68/2015). 13 »Peacekeeping fundamentally deals with symptoms. But we have to deal with the fact that people are dying and getting raped right now.« So Samantha Power als VN-Botschafterin unter Barack Obama, zitiert in James Traub, »Can Attack Helicopters Save U.N. Peacekeeping?«, in: Global Peace Operations Review, Annual Compilation 2015, S. 112–117. 14 So die Ergebnisse von Christoph Zürcher et al., Costly Democracy: Peacebuilding and Democratization after War, Stanford: Stanford University Press, 2013; siehe auch Caroline A. Hartzell, »Peacebuilding after Civil War«, in: Edward Newman/ Karl DeRouen, Jr. (Hg.) Routledge Handbook of Civil Wars, London/New York: Routledge, 2014, S. 376–386. 15 Zu COIN siehe Michael Fitzsimmons, »Hard Hearts and

versteht sich als konzeptioneller Rahmen für einen asymmetrischen kriegerischen Konflikt zwischen einem staatlichen Akteur und einem oder mehreren nicht-staatlichen Akteuren, in dem militärische, wirtschaftliche, politische und propagandistische Mittel eingesetzt werden, um eine bedrohte Regierung an der Macht zu halten. Das COIN-Konzept, wie es vor dem Hintergrund des Irak-Krieges entworfen wurde, ist in diesem Sinne gewissermaßen die militarisierte Fortsetzung des Modells des »liberal peacebuilding«. 16 COIN ist geistig im sozialtechnokratischen Optimismus älterer Modernisierungstheorien verwurzelt. Dieser lebt in der Annahme fort, bei ausreichendem Einsatz von Ressourcen und einem langen Atem lasse sich im Grunde überall ein effektiver, von der breiten Mehrheit der Bevölkerung als legitim anerkannter Staat aufbauen. Dieser Staat könne über die Bereitstellung öffentlicher Leistungen, darunter insbesondere Sicherheit, in der bewaffneten politischen Konkurrenz mit den Aufständischen die Loyalität der Bevölkerung gewinnen. Doch wirtschaftliche und politische Modernisierungsprozesse, die als Allheilmittel für die Entschärfung angenommener Grundursachen eines Aufstands gelten, müssen keineswegs stabilisierend wirken; sie können vielmehr eine geradezu gegenläufige Dynamik in Gang setzen. Auch kann nicht zwangsläufig angenommen werden, dass externe Unterstützer und bedrohte Regierung ein Interesse an Reformen teilen. Wie COIN fußen auch militärgestützte Stabilisierungsoperationen auf der Prämisse, mit der richtigen Strategie und dem entsprechenden Einsatz von Ressourcen sei die Stabilisierung fragiler Staaten möglich – eine Hypothese, für die es kaum Belege gibt. 17

Open Minds? Governance, Identity and the Intellectual Foundations of Counterinsurgency Strategy«, in: The Journal of Strategic Studies, 31 (Juni 2008) 3, S. 337–365; M.L.R. Smith/David Martin Jones, The Political Impossibility of Modern Counterinsurgency: Strategic Problems, Puzzles, and Paradoxes, New York: Columbia University Press, 2015; Jason Lyall/Isaiah Wilson, »Rage against the Machines: Explaining Outcomes in Counterinsurgency Wars«, in: International Organization, 63 (Januar 2009) 1, S. 67–106; Peter Rudolf, Zivil-militärische Aufstandsbekämpfung. Analyse und Kritik der Counterinsurgency-Doktrin, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Januar 2011 (SWPStudie 2/2011). 16 Siehe Astri Suhrke, »Reconstruction as Modernisation: The ›Post-conflict‹ Project in Afghanistan«, in: Third World Quarterly, 28 (2007) 7, S. 1291–1308. 17 Siehe dazu auch Christopher H. Tuck, »The ›Practice‹ Problem: Peacebuilding and Doctrine«, in: Parameters, 46 (Sommer 2016) 2, S. 69–80.

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Einleitung

Aus den drei skizzierten evidenzgeleiteten Annahmen ergibt sich eine Folgerung: Man sollte Friedenseinsätze nicht mit Aufgaben überlasten, die aller Erfahrung nach kaum zu leisten sind. Friedensoperationen konnten in der Vergangenheit vielfach einen Beitrag zur Verminderung und Verhinderung von Gewalt leisten. Dies könnte sich in Zukunft jedoch als schwieriger erweisen, wie gelegentlich unter Verweis auf veränderte Konfliktkonstellationen befürchtet wird. Entscheidende Faktoren sind die Internationalisierung von Bürgerkriegen, das heißt die Teilnahme externer Akteure, die Vermischung mit organisierter Kriminalität und die wachsende Beteiligung extremistischer islamistischer Gruppen. 18 Daher stellt sich der deutschen Politik die Frage, ob und in welchem Maße solche Missionen finanziell und operativ stärker unterstützt werden sollen. 19 In den neuen Leitlinien der Bundesregierung zur Krisenprävention heißt es: »Deutschland ist bereit, sich verstärkt in friedenserhaltenden Missionen der VN zu engagieren.« 20 Das »Bewerbungspapier« für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat 2019/20 deutet ein verstärktes Engagement zumindest an. 21 Ob und unter welchen Bedingungen dies geschieht, ist eine politische Entscheidung. Sie sollte jedoch in Kenntnis und Reflexion der Probleme erfolgen, die mit dem sich wandelnden Peacekeeping und der Rolle militärischer Gewalt verbunden sind.

18 Siehe Sebastian von Einsiedel, Major Recent Trends in Violent Conflict, Tokio: United Nations University, Occasional Paper, November 2014, S. 4–7. Die Rede ist bereits von den »neuen neuen Bürgerkriegen«, so Barbara F. Walter, »The New New Civil Wars«, in: Annual Review of Political Science, 20 (2017), S. 469–486. 19 Als Plädoyer für mehr Engagement, jedoch ohne die Probleme des sich wandelnden Peacekeeping zu reflektieren, siehe Markus Kaim/Lena Strauß, Mehr deutsche Blauhelme. Vier Gründe für ein stärkeres Engagement der Bundesrepublik im VNPeacekeeping, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2017 (SWP-Aktuell 40/2017). 20 Die Bundesregierung, Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Leitlinien der Bundesregierung, Berlin, Juni 2017, S. 59; (Zugriff am 6.9.2017). 21 Deutschland, eine Stimme für Frieden, Gerechtigkeit, Innovation, Partnerschaft in den Vereinten Nationen (Broschüre zur Kandidatur Deutschlands für den UN-Sicherheitsrat 2019–2020), New York, 17.7.2017; .

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Zum Wandel der Rolle militärischer Gewalt in Friedenseinsätzen

Zum Wandel der Rolle militärischer Gewalt in Friedenseinsätzen

Auch wenn sich Funktionen und Formen des Peacekeeping auf operativer Ebene erheblich verändert haben, bleiben die VN auf deklaratorischer Ebene den drei klassischen Grundprinzipien treu. 22 Das breite Verständnis von Selbstverteidigung, nämlich im Sinne des Widerstands gegen Versuche, die Friedenskräfte bei der Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben zu hindern, findet sich erstmals in einem Bericht des damaligen VN-Generalsekretärs Kurt Waldheim aus dem Jahre 1973, der sich mit der UN Emergency Force auf der Suez-Halbinsel (UNEF II) befasst. Doch in der Praxis hatte dieses Konzept lange keine große Bedeutung. Das heißt nicht, dass es nicht einzelne Fälle gab, in denen im Laufe von VN-Friedenseinsätzen ein offensiver Einsatz militärischer Gewalt autorisiert wurde, gewissermaßen als letzter verzweifelter Versuch: Dies war im Kongo 1960 der Fall, in Somalia 1992, im früheren Jugoslawien im gleichen Jahr und in OstTimor 1999. Doch erst 1999 setzte die Phase eines »robusten« Peacekeeping ein. 23 Beginnend mit der UN Mission in Sierra Leone (UNAMSIL) erlaubte der Sicherheitsrat den Blauhelmen in den meisten Einsätzen von Anfang an, zum Schutz von Zivilisten gegen eine unmittelbare Bedrohung alle notwendigen Mittel zu ergreifen, und zwar unter Verweis auf Kapi22 In diesem Zusammenhang ist es nicht notwendig, näher auf das Prinzip der Zustimmung der Konfliktparteien einzugehen. Nur so viel: Die dauerhafte Zustimmung des Gastlands kann nicht vorausgesetzt werden, wie einige Fälle gezeigt haben, in denen die Regierung die ursprüngliche Vereinbarung im Verlauf der Zeit in Zweifel zog. Insofern die Präsenz von Blauhelmen oft Teil einer komplexeren Mission ist, die faktisch auch Interventionen in bestehende Machtstrukturen beinhaltet, ist es nicht verwunderlich, dass Eliten immer auch kalkulieren, ob eine Friedensmission weiterhin mit ihren Machtinteressen zu vereinbaren ist, siehe dazu Denis M. Tull, »When They Overstay Their Welcome: UN Peacekeepers in Africa«, in: Journal of International Peacekeeping, 17 (2013) 3–4, S. 179–200. 23 Der Begriff »robustes Peacekeeping« wird im VN-Jargon mitunter nicht nur mit Blick auf die Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt verwendet, sondern auch in dem breiteren Sinne, dass der gesamte Einsatz mit Blick auf die politische Strategie und ausreichende militärische Fähigkeiten robust sein sollte, siehe Thierry Tardy, »A Critique of Robust Peacekeeping in Contemporary Peace Operations«, in: International Peacekeeping, 18 (April 2011) 2, S. 152–167.

tel VII der VN-Charta – die Anrufung von Kapitel VII war im Fall von friedensbewahrenden Einsätzen bis dahin eine seltene Ausnahme. 24 Konzeptionell aufbauend auf dem sogenannten Brahimi Report (benannt nach dem Vorsitzenden der von Generalsekretär Kofi Annan einberufenen Kommission, Lakhdar Brahimi) vom August 2000, autorisierte der VN-Sicherheitsrat nun vielfach Peacekeeping-Missionen, die den Gewalteinsatz erlaubten: nicht nur, um Zivilisten zu schützen, sondern auch um Kräfte abzuschrecken, die den Friedensprozess gewaltsam stören, oder um staatliche Autoritäten bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zu unterstützen. Die Wende zum »robusten« Peacekeeping ging einher mit einer Neuinterpretation, ja Uminterpretation zweier traditioneller Prinzipien des Peacekeeping. Im Brahimi Report wurde Unparteilichkeit definiert als »Einhaltung der Prinzipien der Charta und der Ziele des Mandats, das in diesen Prinzipien der Charta verwurzelt ist«. 25 Dieser Wandel von »passiver zu aktiver Unparteilichkeit« und die veränderte Rolle militärischer Gewalt im Peacekeeping waren eng miteinander verbunden. Militärische Gewalt – so die Vorstellung –

24 Für Einzelheiten siehe James Sloan, »The Evolution of the Use of Force in UN Peacekeeping«, in: The Journal of Strategic Studies, 37 (2014) 5, S. 674–702. Für einen Überblick über die Entwicklung siehe auch Winrich Kühne, »Vom traditionellen Peacekeeping zu robusten, multidimensionalen Friedenseinsätzen. Entwicklung, Lessons Learned, ungelöste Probleme«, in: Thomas Hoppe (Hg.), Verantwortung zu schützen. Interventionspolitik seit 1990 – eine friedensethische Bilanz, Berlin: Verlag Dr. Köster 2014, S. 55–99. 25 United Nations, General Assembly/Security Council, Report of the Panel on United Nations Peace Operations, 21.8.2000, A/55/305-S/2000/809, S. 9 (»adherence to the principles of the Charter and to the objectives of a mandate that is rooted in those Charter principles«). Im Laufe der Zeit hatte es immer wieder Verwirrung über die Bedeutung der Begriffe Neutralität/Unparteilichkeit gegeben, die gelegentlich vermengt oder synonym gebraucht wurden. Der Begriff Neutralität wird mit Blick auf das Peacekeeping schon seit längerem nicht mehr verwendet, siehe Dominick Donald, »Neutral Is Not Impartial: The Confusing Legacy of Traditional Peace Operations Thinking«, in: Armed Forces & Society, 29 (2003) 3, S. 415–448; Hikaru Yamashita, »›Impartial‹ Use of Force in United Nations Peacekeeping«, in: International Peacekeeping, 15 (November 2008) 5, S. 615–630.

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Zum Wandel der Rolle militärischer Gewalt in Friedenseinsätzen

sollte unparteilich zum Schutze von Zivilisten und zur Eindämmung von Störern des Friedensprozesses zum Einsatz kommen. 26 Der Schutz der Zivilbevölkerung war, wie es scheint, der wichtigste treibende Faktor bei dieser Entwicklung hin zu einer »Militarisierung« von Friedenseinsätzen. 27 Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Ruanda und auf dem Balkan wurde der Schutz von Zivilisten geradezu unerlässlich für die Legitimität von Friedenseinsätzen, für ihre Akzeptanz in jenen Ländern, in denen der Frieden gesichert werden soll. Ohne Sicherheit vor willkürlicher Gewalt war eine Friedenskonsolidierung, wie sie die VN in einer Reihe komplexer Friedensmissionen umzusetzen versuchten, nicht möglich. 28 Was den Schutz der Zivilbevölkerung angeht, findet sich in den Resolutionen, die friedenserhaltende Einsätze autorisieren, in der Regel die folgende Formulierung: »Der Sicherheitsrat, [...] tätig werdend nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen [...] ermächtigt [Name der Friedensmission], alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten und in ihren Einsatzgebieten die Zivilbevölkerung vor [unmittelbarer] drohender körperlicher Gewalt zu schützen, unbeschadet der Hauptverantwortung der Regierung [Name des Gastlands].« 29 Bemerkenswert ist, dass das Wort »unmittelbar« (»imminent«) nicht mehr in den Sicherheitsratsresolutionen für MONUSCO (Mission der VN für die Stabilisierung in der DR Kongo), MINUSCA (Multidimensionale Integrierte Stabilisie26 Emily Paddon Rhoads, Taking Sides in Peacekeeping: Impartiality and the Future of the United Nations, Oxford: Oxford University Press, 2016, Kapitel 2: From Passive to Assertive Impartiality, S. 46–91. 27 Eine detaillierte kritische Analyse der »Militarisierung« des Peacekeeping hin zu »quasi-enforcement actions« bietet James Sloan, The Militarisation of Peacekeeping in the Twenty-First Century, Oxford/Portland, Oregon: Hart Publishing, 2011. 28 Siehe Victoria Holt/Glyn Taylor/Max Kelly, Protecting Civilians in the Context of UN Peacekeeping Operations: Successes, Setbacks and Remaining Challenges, New York: United Nations, 2009, S. 3–4 (Independent study jointly commissioned by the Department of Peacekeeping Operations and the Office for the Coordination of Humanitarian Affairs). 29 »The Security Council [...] Acting under Chapter VII […] authorizes [name of peacekeeping operation] to use all necessary means, within the limits of its capabilities and areas of deployment, to protect civilians under [imminent] threat of physical violence, without prejudice to the responsibility of the host Government«, United Nations, Department of Peacekeeping Operations/ Department of Field Support, DPKO/DFG Policy on the Protection of Civilians in United Nations Peacekeeping, 1.4.2015, keine Paginierung.

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rungsmission der VN in der Zentralafrikanischen Republik) und UNMISS (Mission der VN in Südsudan) auftaucht. Unmittelbarkeit im Sinne »unmittelbarer Bedrohung« hat eine recht breite Bedeutung: Liegt eine erkennbare feindliche Absicht eines potentiellen Täters vor, hat er die Fähigkeit, Schaden zuzufügen, gibt sein bisheriges Verhalten Anlass, dies zu erwarten, und besteht die entsprechende Gelegenheit, dann ist dies laut Interpretation des Department of Peacekeeping Operations (DPKO) Grund zur Annahme einer »unmittelbaren Bedrohung«. 30 Dem konzeptionellen Rahmen und den Prinzipien für den Schutz der Zivilbevölkerung gemäß sind Bedrohungen, die durch Gewalt abzuwenden sind, »alle feindseligen Handlungen oder Situationen, die wahrscheinlich zu Tod oder ernsthaften körperlichen Verletzungen führen, sexuelle Gewalt eingeschlossen, unabhängig vom Ursprung«. 31 Zur Abwehr solcher Bedrohungen und zur Unterbindung von Gewaltakten gegen die Zivilbevölkerung dürfen Friedenstruppen militärische Gewalt »auf taktischer Ebene« einsetzen. Die Pflicht zum Schutz der Zivilbevölkerung ist den Leitlinien entsprechend eine »aktive Pflicht«. Das heißt: Nicht nur Reaktionen gegen stattfindende Angriffe sind gefordert, sondern auch die Abschreckung und aktive Vorbeugung potentieller Angriffe. Der Schutz von Zivilisten mit militärischen Mitteln ist, das sei hinzugefügt, ein Element unter dreien; die beiden anderen sind der Schutz durch Dialog und Vermittlung (»engagement«) und die Schaffung eines schützenden Umfelds. Auch wenn in den Mandaten der Mehrzahl der gegenwärtigen VN-Friedensoperationen ausdrücklich der Schutz der Bevölkerung gefordert wird, ist der Kontrast zwischen dem Anspruch, Zivilisten zu schützen, und der Einsatzrealität nach wie vor groß. Laut einem Bericht der VN scheuen Blauhelme nach wie vor davor zurück, Zivilisten durch Einsatz militärischer Gewalt vor Angriffen zu schützen. 32 Truppen30 »A POC threat is considered imminent as soon as the mission has a reasonable belief that a potential perpetrator displays a hostile intent, capacity, historical record and opportunity to inflict physical violence«, ebd. 31 »All hostile acts or situations that are likely to lead to death or serious bodily injury, including sexual violence, regardless of the source of the threat«, ebd. 32 Eine Evaluation von acht dieser Missionen (die Mali-Mission gehörte noch nicht dazu, ihr Einsatz begann erst im April 2013) zeigte »a persistent pattern of peacekeeping operations not intervening with force when civilians are under attack«, United Nations, General Assembly, Evaluation of the Implementation and Results of Protection of Civilians Mandates in

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stellende Länder vermeiden es, das Leben ihrer Soldaten aufs Spiel zu setzen. In den VN besteht kein Konsens in der Frage des Einsatzes von militärischer Gewalt in Friedensoperationen. Diese Bestimmungen der Mandate lösten innerhalb der VN heftige Kontroversen aus zwischen jenen Ländern im »Süden«, die die meisten Soldaten für solche Missionen stellen, und den Ländern des »Nordens«, die den Hauptteil der Kosten dafür übernehmen. Wohlhabende Industriestaaten entsenden kaum Blauhelme. Traditionell kommt ein großer Teil der Soldaten aus Bangladesch, Indien, Pakistan und Nepal (gegenwärtig führt Äthiopien die Liste an). Seit die Mandate den Schutz von Zivilisten einschließen, besteht unter den truppenstellenden Staaten offenbar das Gefühl, unterfinanziert, überstrapaziert und erhöhten Gefahren ausgesetzt zu sein. 33 Diese Kontroverse schlägt sich konkret in der unterschiedlichen Interpretation des Begriffs der »unmittelbaren Bedrohung« nieder. Wie Interviews mit Blauhelmen gezeigt haben, betrachten diese den Einsatz militärischer Mittel gegen Regierungskräfte, die Gewaltakte gegen die Bevölkerung verüben, als unrealistisch. Und da es in Friedenseinsätzen faktisch zwei Befehlsstränge gibt, agieren Friedenstruppen mitunter unter sogenannten »nationalen Caveats«, die ein Ziel haben: nämlich den Einsatz militärischer Gewalt und damit die Verwicklung in Kampfhandlungen so unwahrscheinlich wie möglich zu machen. 34 Nationale Vorbehalte dieser Art gelten weithin als ein Problem für friedenserhaltende Einsätze. Die sogenannten Kigali-Prinzipien, zu denen sich eine mittlerweile etwa 40 Staaten umfassende Gruppe im Mai 2015 bekannt hat, fordern die VN-Mitglieder dazu auf, »sich keine Caveats oder andere Restriktionen auszubedingen, die uns daran hindern, Zivilisten in Übereinstimmung mit dem Mandat zu beschützen«. 35 United Nations Peacekeeping Operations, Report of the Office of Internal Oversight Services, 7.3.2014, S. 1. 33 Sicherlich würde die Frage, ob die »division of labour – in which the rich provide the money and the poor provide the blood – is utterly immoral and unacceptable«, wie Lakhdar Brahimi argumentiert, eine ausführliche Diskussion verdienen, »The State of Peace Operations: An Interview with Lakhdar Brahimi«, SIPRI (online), 31.10.2016, (Zugriff am 25.11.2016). 34 United Nations, General Assembly, Evaluation of the Implementation [wie Fn. 32], S. 13–15. 35 »Not to stipulate caveats or other restrictions that prevent us from fulfilling our responsibility to protect civilians in accordance with the mandate«, The Kigali Principles on the Pro-

Aber nationale Caveats sind eine Realität in den meisten multilateralen militärischen Operationen. Staaten wollen die Kontrolle über ihre Streitkräfte nicht gänzlich aufgeben; sie sind bestrebt, die Risiken für ihre Soldaten zu begrenzen. Und Peacekeeping ist nicht ohne Risiko. Doch nicht feindliche Handlungen, sondern Krankheiten und Unfälle stellen für die entsandten Einheiten bei weitem die größte Gefahr dar. Trotz der robusten Mandate, mit denen viele Missionen ausgestattet sind, ist es weder relativ noch in absoluten Zahlen zu einem signifikanten Anstieg der Verluste durch gegnerische Einwirkung gekommen (was daran liegen kann, dass die Verwicklung in Kampfhandlungen vermieden wird). Als Einsatz mit einer außergewöhnlichen Todesrate durch Feindeinwirkung ist lediglich die Mali-Mission MINUSMA zu nennen. 36 Für Friedensmissionen ist es zur Herausforderung geworden, mit solchen nationalen Vorbehalten umzugehen, die in zweierlei Form auftreten: zum einen in der Gestalt »allgemeiner« Caveats, die truppenstellende Staaten klar in dem Verhandlungsprozess artikulieren, in dem das Memorandum of Unterstanding vereinbart wird; zum anderen in der Gestalt »versteckter« Vorbehalte, die sich bei der Durchführung der Mission in »stillschweigendem Ungehorsam« niederschlagen. Schließlich haben truppenstellende Staaten aus dem Süden neben anderen auch finanzielle Interessen, sich an Missionen zu beteiligen. 37 An der tection of Civilians, 17.11.2016, Punkt 4, . 36 Siehe Jaïr van der Lijn/Tomo Smit, Peacekeepers Under Threat? Fatality Trends in UN Peace Operations, Solna: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), September 2015 (SIPRI Policy Brief); James I. Rogers/Caroline Kennedy, »Dying for Peace? Fatality Trends for United Nations Peacekeeping Personnel«, in: International Peacekeeping, 21 (2014) 5, S. 658– 672; Marina E. Henke, Has UN Peacekeeping Become More Deadly? Analyzing Trends in UN Fatalities, New York: International Peace Institute, Dezember 2016. 37 Wie zutreffend beobachtet wurde: »The debate is not about whether member states will or will not abandon caveats but how to set up a mechanism to deal with the inevitability of them«, Alexandra Novosseloff, »No Caveats, Please? Breaking with a Myth in UN Peace Operations«, Center on International Cooperation (online), 12.9.2016, (Zugriff am 6.9.2017). – Auf die Debatte, welche Rolle finanzielle Interessen in Form von VN-Zahlungen für entsandte Soldaten spielen, muss hier nicht näher eingegangen werden. Die neuere Forschung tendiert dazu, dieses Motiv zu relativieren und eine Vielzahl von Faktoren als Erklärung heranzuziehen, warum sich Staaten mit eigenem Personal an Friedensmissionen und damit an der Bereitstellung eines öffentlichen Guts

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Rechenschaftspflicht für Blauhelme, die es mit dem Schutz von Zivilisten zu leicht nehmen, fehlt es nach wie vor – ein Problem, das VN-Generalsekretär António Guterres im jüngsten Bericht zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten sehr deutlich benannte. 38

beteiligen: etwa die Rolle westlicher Auslandshilfe oder das Interesse, sicherheitspolitisch als notwendig angesehene, im Krisenfall relativ schnell zurückziehbare Truppen im Ausland zu stationieren, die, im Inland präsent, die Gefahr eines Militärputsches erhöhen könnten, siehe Andrew Boutton/Vito D’Orazio, Buying Blue Helmets: Western Aid and the Construction of UN Peacekeeping Missions, 20.2.2017, (Zugriff am 6.9.2017); Jacob M. Kathman/Molly M. Melin, »Who Keeps the Peace? Understanding State Contributions to UN Peacekeeping Operations«, in: International Studies Quarterly, 61 (2017) 1, S. 150–162. 38 »Peacekeepers must recognize their responsibility to act, to the full extent of their mandates and capabilities, to prevent and respond to threats against civilians and must be held accountable for underperformance or non-performance«, United Nations Security Council, Report of the Secretary-General on the Protection of Civilians in Armed Conflict, S/2017/414, 10.5.2017, S. 13.

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Vom robusten Peacekeeping zu Stabilisierungseinsätzen

Vom robusten Peacekeeping zu Stabilisierungseinsätzen

Leicht zu erklären ist, warum die VN trotz veränderter Friedensoperationen konzeptionell an den traditionellen Prinzipien des Peacekeeping festhalten – und damit an einer Unterscheidung zwischen Friedenserhaltung auch in seiner robusten Form auf der einen und Friedensdurchsetzung auf der anderen Seite. Einerseits berücksichtigt man mit diesem politischen Kompromiss die Vorbehalte truppenstellender Länder gegenüber dem Einsatz militärischer Gewalt, andererseits ermöglicht man diesen aber zumindest in begrenztem Maße. 39 Im VN-Diskurs wird an der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Peacekeeping auch in robuster Form, das den Einsatz von Gewalt auf »taktischer« Ebene gestattet, und »peace enforcement«, dem Einsatz militärischer Gewalt auf »strategischer Ebene« ohne Zustimmung der Konfliktparteien, festgehalten. Für die Anwendung militärischer Gewalt im Sinne des robusten Peacekeeping gilt die folgende Leitlinie: Der Einsatz von Gewalt ist das äußerste Mittel, auf das nur in präziser, verhältnismäßiger und angemessener Form zurückgegriffen werden darf, das heißt Gewalt soll nur in der geringstmöglichen Intensität angewendet werden, die für das Erreichen der Ziele notwendig ist. Ziel ist nicht die Besiegung eines Gegners, sondern die Beeinflussung und Abschreckung jener Kräfte, die den Friedensprozess gewaltsam gefährden oder Zivi-

39 »Robust peacekeeping, then, serves the function of providing for the possibility of having to use force while retaining the traditional framework and principles of classical peacekeeping«, Mats Berdal/David H. Ucko, »The Use of Force in UN Peacekeeping Operations: Problems and Prospects«, in: The RUSI Journal, 160 (2015) 1, S. 6–12 (11). – Mit Blick auf die Erweiterung von der Selbstverteidigung zur Verteidigung des Mandats wurde zutreffend argumentiert: »The reality is that once self-defense is so expanded it is no longer individual self-defense, but is a mandate that permits a certain level of enforcement (of measures of the type envisaged by Article 40 of Chapter VII), though short of full peace-enforcement under Article 42 of Chapter VII«, Nigel D. White, »Peacekeeping and International Law«, in: Joachim A. Koops/Norrie MacQueen/ Thierry Tardy/Paul D. Williams (Hg.), The Oxford Handbook of United Nations Peacekeeping Operations, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 43–59 (52).

listen Schaden zufügen. 40 Das heißt nicht, dass militärische Gewalt nur reaktiv eingesetzt werden darf. Ihr robuster Einsatz ist auch »proaktiv« gestattet, im Sinne vorbeugenden Handelns, wenn ein Kommandeur vor Ort auf der Basis ihm vorliegender Informationen (»reasonable belief«) zu der Einschätzung gelangt, dass Gewalt droht (»hostile intent«). 41 So griffen Friedenstruppen in der Zentralafrikanischen Republik im Februar 2017 Mitglieder einer bewaffneten Gruppe an, die sich der Stadt Bambari näherten und eine »rote Linie« überschritten, die MINUSCA gezogen hatte, um Zivilisten in der Stadt zu schützen. Einer der Milizionäre wurde dabei getötet – eine Tötung, die rechtlich nur unproblematisch ist, wenn es sich um einen bewaffneten Konflikt handeln würde und das humanitäre Völkerrecht zur Anwendung käme. 42 Dem traditionellen Verständnis zufolge handeln auch robust agierende friedenssichernde Kräfte im Rahmen des menschenrechtlichen Paradigmas. Dem zufolge wird der Einsatz von (tödlicher) Gewalt eng beschränkt als Instrument der Rechtsdurchsetzung verstanden. Das heißt: Auch wenn der Sicherheitsrat nach Kapitel VII den Einsatz »aller notwendigen Mittel« zur Durchsetzung des Mandats autorisiert und insofern die »aktive Selbstverteidigung« erlaubt, gilt erst einmal das menschenrechtliche Paradigma. Während das humanitär-völkerrechtliche (Kriegs)-Paradigma einen weiten rechtlichen Spielraum für den Einsatz militärischer Gewalt eröffnet, sind Friedenstruppen nicht legitimiert, offensiv militärische Gewalt

40 United Nations, Department of Peacekeeping Operations/ Department of Field Support, United Nations Peacekeeping Operations: Principles and Guidelines, New York 2008, S. 31–35. 41 Siehe United Nations, Department of Peacekeeping Operations/Department of Field Support, Use of Force by Military Components in United Nations Peacekeeping Operations: Guidelines 1.2.2017, S. 12. Ziel dieser Leitlinien ist es, den Spielraum zu definieren, den Peacekeeper beim Einsatz militärischer Gewalt haben. 42 Siehe Patryk I. Labuda, »The UN Goes to War in the Central African Republic: What Are the Limits of Peacekeeping?«, Just Security (online), 23.3.2017, (Zugriff am 6.9.2017).

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gegen Personen oder Gruppen zu gebrauchen, die als feindliche Kämpfer angesehen werden können. 43 Doch mit dem Übergang vom robusten Peacekeeping zu Stabilisierungsoperationen in der DR Kongo, Mali und – in geringerem Umfang – der Zentralafrikanischen Republik ist die Trennlinie zwischen Friedenserhaltung und Friedensdurchsetzung verwischt. Ihren Mandaten gemäß handelt es sich bei diesen Einsätzen explizit um »Stabilisierungsmissionen« in anhaltenden Konflikten. 44 Die Missionen sollen staatliche Autoritäten bei der Aufrechterhaltung von Ordnung unterstützen. Ihre Nähe zu Counterinsurgency-Operationen im Sinne der westlichen COIN-Doktrin ist sehr deutlich, was sich in der Betonung der Sicherheit der Bevölkerung und der Notwendigkeit eines umfassenden integrierten Ansatzes zeigt. 45 Mit gutem Grund wurde daher die Frage aufgeworfen, ob Einsätze dieser Art nicht die Peacekeeping-Doktrin der VN sprengen. 46 Die Rede ist bereits vom Beginn einer neuen Ära des Peacekeeping. Die jüngeren Mandate liefen nicht 43 Siehe Rob McLaughlin, »The Legal Regime Applicable to Use of Lethal Force When Operating under a United Nations Security Council Chapter VII Mandate Authorising ›All Necessary Means‹«, in: Journal of Conflict and Security Law, 12 (2008) 3, S. 389–417; Nigel D. White, »Security Council Mandates and the Use of Lethal Force by Peacekeepers: What Place for the Laws of War?«, in: Caroline Harvey/James Summers/Nigel D. White (Hg.), Contemporary Challenges to the Laws of War: Essays in Honour of Professor Peter Rowe, Cambridge: Cambridge University Press, 2014, S. 95–116. 44 Der Begriff »Stabilisierung« erscheint im Namen einer Reihe von Einsätzen der jüngsten Vergangenheit. Zu nennen sind: Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der VN in der Zentralafrikanischen Republik (MINUSCA), Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der VN in Mali (MINUSMA), Mission der VN für die Stabilisierung in der DR Kongo (MONUSCO) und – schon vor längerer Zeit – Stabilisierungsmission der VN in Haiti (MINUSTAH) sowie in den 1990er Jahren in der Bezeichnung der von den VN autorisierten, aber von der Nato geführten Stabilization Force in Bosnia. Die Begriffe »Stabilität« oder »Stabilisierung« finden sich zudem in den Zielbeschreibungen noch weiterer VN-Missionen, darunter auch einigen mit rein politischem Mandat, siehe Thomaz Napoleão/Mariana Kalil, »Stabilization as the Securitization of Peacebuilding? The Experience of Brazil and MINUSTAH in Haiti«, in: Brasiliana – Journal for Brazilian Studies, 3 (März 2015) 2, S. 87–112. 45 Siehe Karsten Friis, »Peacekeeping and Counter-Insurgency – Two of a Kind?«, in: International Peacekeeping, 17 (Februar 2010) 1, S. 49–66. 46 Cedric de Coning, »What does ›Stabilisation‹ mean in a UN Peacekeeping Context?«, 19.1.2015; (Zugriff am 25.11.2016).

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mehr auf ein traditionelles, auch nicht mehr auf ein multidimensionales, sondern auf ein »enforcement peacekeeping« 47 hinaus und stünden für eine »neue Generation friedenssichernder Operationen« 48, bei denen es faktisch um Stabilisierungsoperationen oder Counterinsurgency-Operationen geht – auch unter direkter Teilnahme westlicher Streitkräfte. Kennzeichnend für diese Einsätze ist, dass politische Lösungen dadurch durchgesetzt werden sollen, dass staatliche Kräfte auch mit offensiven Operationen gegen nicht-staatliche Akteure unterstützt werden, und zwar in Situationen, in denen es kein umfassendes Friedensabkommen gibt, ja vielleicht überhaupt nicht geben kann. Denn bei diesen Gewaltakteuren handelt es sich vielfach um Gruppen, denen aufgrund ihrer Menschenrechtsverletzungen und ihrer Kriegsverbrechen keine Legitimität verliehen werden soll. Im Kongo erweiterte der VN-Sicherheitsrat im März 2013 in Resolution 2098 das Mandat der MONUSCO und autorisierte eine »force intervention brigade«, die erste offensive Streitmacht im Rahmen einer VN-Peacekeeping-Mission. 49 Die Interventionsbrigade ist ermächtigt, »gezielte offensive Operationen« durchzuführen, »um die Ausdehnung aller bewaffneten Gruppen zu verhindern, diese Gruppen zu neutralisieren und sie zu entwaffnen, um so zu dem Ziel beizutragen, die Bedrohung zu reduzieren, die diese bewaffneten Gruppen für die staatliche Autorität und die Sicherheit von Zivilisten im Osten der DRC darstellen, und Raum für

47 Hierzu und zum Folgenden siehe Peter, Between Doctrine and Practice [wie Fn. 7], S. 353. 48 John Karlsrud, »The UN at War: Examining the Consequences of Peace-Enforcement Mandates for the US Peacekeeping Operations in the CAR, the DRC and Mali«, in: Third World Quarterly, 36 (2015) 1, S. 40–54 (43). 49 Zur Interventionsbrigade siehe Ray Murphy, »UN Peacekeeping in the Democratic Republic of Congo and the Protection of Civilians«, in: Journal of Conflict and Security Law, 21 (2016) 2, S. 209–246; Touko Piiparinen, »Intervening to Strengthen Sovereignty: The Lessons of the UN Intervention Brigade for Global Peacekeeping«, in: International Relations, 30 (2016) 2, S. 154–175; als kritische Einschätzung siehe besonders auch Denis M. Tull, Peacekeeping und der Einsatz von Gewalt. Warum die Interventionsbrigade im Kongo kein Erfolgsmodell ist, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2016 (SWP-Aktuell 22/2016); ders., »The Limits and Unintended Consequences of UN Peace Enforcement: The Force Intervention Brigade in the DR Congo«, International Peacekeeping (online), 2.8.2017, (Zugriff am 6.9.2017).

Vom robusten Peacekeeping zu Stabilisierungseinsätzen

Stabilisierungsaktivitäten zu schaffen«. 50 Zum ersten Mal wurden im Mandat einer Friedensmission konkrete Gegner benannt, darunter die Lord’s Resistance Army (LRA) und die Democratic Forces for the Liberation of Rwanda (FDLR). Das im April 2013 erteilte Mandat der VN-Mission in Mali (MINUSMA) enthält zwar keine derart offensive Ausrichtung. 51 Aber faktisch wurde auch eine offensive Streitmacht für den Kampf gegen islamistische Rebellen im Norden Malis legitimiert – und zwar in Gestalt der nicht unter VN-Kommando agierenden französischen Kräfte (»Operation Serval«). 52 Die ausdrückliche Autorisierung des Einsatzes militärischer Gewalt gegen bestimmte Konfliktparteien im Kongo war ein außergewöhnlicher Schritt, den der Sicherheitsrat nicht als Präzedenzfall und als Abkehr von den überkommenen Prinzipien des Peacekeeping verstanden wissen wollte. 53 Begleitet wurde die Resolution von unterschiedlichen Interpretationen und der deutlich artikulierten Besorgnis zahlreicher Staaten, darunter mit Pakistan eines der wichtigsten Truppensteller. Strittig blieb insbesondere, ob und in welchem Umfang die Interventionsbrigade mit den regulären MONUSCO-Blauhelmen vereinigt oder ob beide getrennt gehalten werden sollten. 54 Offenbar war man sich, als die Resolution verabschiedet wurde, nicht im Klaren darüber, welche rechtlichen Probleme die Zusammenführung der beiden Truppen nach sich ziehen würde. 55 Rechtlich

50 »Prevent the expansion of all armed groups, neutralize these groups, and to disarm them in order to contribute to the objective of reducing the threat posed by armed groups on state authority and civilian security in eastern DRC and to make space for stabilization activities«, United Nations Security Council, Resolution 2098 (2013), 28.3.2013, S. 7. 51 United Nations Security Council, Resolution 2100 (2013), 25.4.2013. 52 Siehe Sergei Boeke/Bart Schuurman, »Operation ›Serval‹: A Strategic Analysis of the French Intervention in Mali, 2013– 2014«, in: Journal of Strategic Studies, 38 (2015) 6, S. 801–825. 53 So wurde betont, diese Autorisierung erfolge auf »an exceptional basis and without creating a precedent or any prejudice to the agreed principles of peacekeeping«, United Nations Security Council, Resolution 2098 (2013) [wie Fn. 50], S. 6. 54 Siehe Hugh Breakey/Sidney Dekker, »Weak Links in the Chain of Authority: The Challenges of Intervention Decisions to Protect Civilians«, in: International Peacekeeping, 21 (2014) 3, S. 307–323 (318–319). 55 Zu den rechtlichen Konsequenzen siehe Scott Sheeran/ Stephanie Case, The Intervention Brigade: Legal Issues for the UN in the Democratic Republic of Congo, New York/Wien/Manama: International Peace Institute, November 2014.

birgt die Mischung aus traditionellem Peacekeeping und offensiven Kräften Probleme im Hinblick auf den Status der Friedenstruppen: Peacekeeper unterliegen völkerrechtlich einem besonderen Schutz, sei es basierend auf der UN Convention on the Safety of United Nations and Associated Personnel von 1994, sei es auf der Grundlage des humanitären Völkerrechts und des dort verankerten geschützten Status von Nichtkombattanten. Eine zweideutige Rolle gefährdet diesen Status. Blauhelme gelten wie Zivilisten traditionell als geschützte Personen. In den Fällen, in denen sich internationale Straftribunale mit der Legalität oder Illegalität von Angriffen gegen Blauhelme befassten, bezogen sie sich auf die drei traditionellen Prinzipien des Peacekeeping. Aber mit der Wende zum robusten und schließlich zum erzwingenden Peacekeeping verliert diese Argumentationslinie an Überzeugungskraft. Sollte der Internationale Strafgerichtshof einmal darüber zu entscheiden haben, ob Rebellen, die die Interventionsbrigade als Teil von MONUSCO angegriffen haben, strafrechtlich zu belangen seien, dürfte schwerlich zu argumentieren sein, dass es sich bei den Angegriffenen um geschützte Personen handele. 56

56 Siehe Devon Whittle, »Peacekeeping in Conflict: The Intervention Brigade, MONUSCO, and the Application of International Humanitarian Law to United States Forces«, in: Georgetown Journal of International Law, 46 (2015), S. 837–875; Lars Müller, »The Force Intervention Brigade – United Nations Forces beyond the Fine Line Between Peacekeeping and Peace Enforcement«, in: Journal of Conflict and Security Law, 20 (2015) 2, S. 359–380; Magdalena Pacholska, »(Il)legality of Killing Peacekeepers: The Crime of Attacking Peacekeepers in the Jurisprudence of International Criminal Tribunals«, in: Journal of International Criminal Justice, 13 (2015) 1, S. 43–72.

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Zum Umgang mit organisierter Heuchelei

Zum Umgang mit organisierter Heuchelei

Das Peacekeeping ist seit längerem durch ein bestimmtes Maß an »organisierter Heuchelei« gekennzeichnet, und zwar insofern, als Rhetorik und Handeln, deklaratorische Politik und operative Umsetzung auseinanderfallen. Die Divergenz zwischen dem Anspruch, den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen, und den begrenzten, bei weitem hierfür nicht ausreichenden personellen und materiellen Kapazitäten in zahlreichen Friedensmissionen ist offensichtlich. Nun scheint eine gewisse »organisierte Heuchelei« unvermeidlich, ja geradezu notwendig für eine internationale Organisation wie die VN – ist sie doch einer Vielzahl mitunter widersprechender Anforderungen und Erwartungen ausgesetzt, die schwerlich, zuweilen gar nicht zu erfüllen sind. Sie befriedigt diese reaktiv mit Worten, Entscheidungen und Handlungen, die vielfach im Widerspruch zueinander stehen oder zumindest nicht kongruent sind. 57 Seit einiger Zeit ist die Diskrepanz zwischen den traditionellen Grundprinzipien des Peacekeeping und der Realität vieler Friedensoperationen und ihres Mandats so deutlich zu erkennen, dass eine Diskussion darüber begonnen hat, wie mit diesem Faktum umgegangen werden kann. Doch zu der Frage, ob an den alten Grundprinzipien festgehalten werden soll oder ob sie antiquiert sind und den neuen Konfliktkonstellationen sowie der ihnen korrespondierenden Praxis zahlreicher Friedensoperationen angepasst werden sollten, gibt es im Rahmen des VN-Systems Meinungsverschiedenheiten. Diese Kontroverse spiegelt sich im Report of the High-Level Independent Panel on United Nations Peace Operations wider. 58 57 Michael Lipson, »Peacekeeping: Organized Hypocrisy?«, in: European Journal of International Relations, 13 (2007) 1, S. 5–34; siehe ferner Robert Egnell, »The Organised Hypocrisy of International State-building«, in: Conflict, Security & Development, 10 (September 2010) 4, S. 465–491. Das Konzept der »organized hypocrisy« stammt ursprünglich aus der Organisationstheorie und ist von Nils Brunsson entwickelt worden. 58 Darin heißt es: »Some Member States, including many leading troop contributors, have expressed to the Panel their strong view that the three core principles of peacekeeping should be upheld […]. Others, however, have suggested they are outmoded and require adjustment.« Im Anschluss: »The Panel is convinced of the importance of the core principles of peacekeeping to guide successful United Nations peace-

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Was die traditionellen Prinzipien des Peacekeeping betrifft, so reflektieren die Autoren des Berichts die Debatte, ohne jedoch wirklich Neuland zu betreten. Unparteilichkeit wird verstanden als »Festhalten« am Mandat der Mission in ausgewogener Weise. Dazu gehört der Schutz der Zivilbevölkerung gegen Bedrohungen jedweden Ursprungs und die Suche nach politischen Lösungen, die die »legitimen Interessen und Beschwerden aller Parteien und der Gesellschaft als Ganzem« widerspiegeln. Die 16 Panel-Mitglieder erkennen in ihrem Report realistischerweise an, dass die Zustimmung zur Aufnahme von Blauhelmen in vielen Konfliktszenarien sich faktisch auf die Zustimmung der Regierung beschränkt. Ziel müsse es jedoch sein, die Zustimmung möglichst aller Konfliktparteien zu gewinnen; dementsprechend sollten friedenserhaltende Missionen in einen »robusten politischen Prozess« eingebunden sein. Was den Einsatz militärischer Gewalt angeht, so findet sich in dem Bericht die Standardaussage, dass dies auch die Verteidigung des Mandats einschließe – mit dem Hinweis, es bedürfe einer Klärung, welche Teile des Mandats den Einsatz militärischer Gewalt notwendig machen könnten. 59 Deutlich schlagen sich in dem Bericht schließlich die verbreiteten Zweifel an der Fähigkeit der VN nieder, friedensdurchsetzende Einsätze (Enforcement-Einsätze) durchzuführen. 60 Zu Recht wird in dem Bericht beanstandet, der Begriff der Stabilisierung bedürfe der Klärung. Stabilisierung ist in der Tat geradezu zu einer »abgedroschenen Phrase«, zu einem »schwammigen Sammelbegriff« gekeeping operations in observing ceasefires and implementing peace agreements. At the same time, the Panel stresses its concern that the principles of peacekeeping should never be used as an excuse for failure to protect civilians or defend the mission proactively«, Uniting our Strengths for Peace [wie Fn. 5], S. 32. 59 Ebd., S. 33. 60 »Extreme caution should guide the mandating of enforcement tasks to degrade, neutralize or defeat a designated enemy. Such operations should be exceptional, time-limited and undertaken with full awareness of the risks and responsibilities for the UN mission as a whole. Where a parallel force is engaged in offensive combat operations it is important for UN peacekeeping operations to maintain a clear division of labour and distinction of roles«, ebd., S. X.

Zum Umgang mit organisierter Heuchelei

worden. 61 Er hat die Funktion, Peacekeeping und Peacebuilding zu verbinden. 62 Wie eine Untersuchung des Stabilisierungsdiskurses im Rahmen der VN ergab, ist das Stabilisierungskonzept mit Elementen verbunden, die sehr deutlich westliches Denken widerspiegeln: Darauf weisen die Mischung aus zivilen und militärischen Ansätzen sowie das Ziel, legitime staatliche Autorität in defekten Staaten wiederherzustellen – durch die Bereitstellung grundlegender staatlicher Leistungen und flankiert durch den Einsatz militärischer Gewalt zur Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols. 63 Die Nähe zur Doktrin zivil-militärischer Aufstandsbekämpfung, wie sie im Zuge des Irak- und Afghanistan-Krieges entwickelt wurde, ist unverkennbar. An einer konsensualen Definition des Konzepts der Stabilisierung fehlt es in den VN, eine Stabilisierungsdoktrin hat sich nicht herauskristallisiert. Und damit ist auch kaum zu rechnen: Es scheint schlichtweg kein Interesse daran zu bestehen, den Begriff zu klären und eine handlungsleitende Doktrin zu entwickeln. Politisch hat es Vorteile, den Begriff schillernd und vieldeutig zu lassen, denn das ermöglicht jenen drei Staaten, die die Urheber der meisten Resolutionen zum Peacekeeping sind, den USA, Großbritannien und Frankreich, den Aufgabenbereich der Einsätze flexibel zu interpretieren. Würde man eine explizite Stabilisierungsdoktrin auszuarbeiten versuchen, böte ein solcher Prozess jenen Ländern eine Gelegenheit zur Einflussnahme, die einer solchen Form des Peacekeeping skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, darunter nicht zuletzt truppenstellende Staaten. Zweideutigkeit mag zwar in den VN politisch attraktiv sein, doch diese geht auf Kosten konzeptioneller Klar-

61 Hugo De Vries, The Ebb and Flow of Stabilization in the Congo, Nairobi: Rift Valley Institute, Februar 2016, S. 1, 3 (PSRP Briefing Paper 8), dort die Bezeichnungen »buzzword« und »catchall term«. 62 Robert Muggah, »Reflections on United Nations-led Stabilization: Late Peacekeeping, Early Peacebuilding or Something Else?«, in: Robert Muggah (Hg.), Stabilization Operations, Security and Development: States of Fragility, London/New York: Routledge, 2014, S. 56–70 (66). – Als Grundsatzkritik siehe Roger Mac Ginty, »Against Stabilization«, in: Stability: International Journal of Security & Development, 1 (2012) 1, S. 20–30. 63 Siehe David Curran/Paul Holtom, »Resonating, Rejecting, Reinterpreting: Mapping the Stabilization Discourse in the United Nations Security Council, 2000–14«, in: Stability: International Journal of Security & Development, 4 (2015) 1, S. 1–18 (4).

heit in der Einsatzrealität, weil »Praktiker« Stabilisierung sehr unterschiedlich verstehen. 64 Welche Möglichkeiten gibt es für den Umgang mit »organisierter Heuchelei« im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt in Friedensoperationen? Grundsätzlich bieten sich drei Optionen. 65 Die erste Option wäre die Rückkehr zu einem eher traditionellen Peacekeeping entlang der drei Kernprinzipien. Aber dieser Weg erscheint wenig realistisch, da für viele asymmetrische Konfliktszenarien der offensive Einsatz militärischer Gewalt nicht ausgeschlossen, ja notwendig werden kann. Das wirft die Frage auf, ob in diesen Szenarien Interventionskräfte getrennt von den Blauhelmen eingesetzt werden sollten, statt beide in einer zweideutigen Mission zu vereinigen und die Differenz zwischen unterschiedlichen Zweckbestimmungen und Rollen zu verwässern. 66 Die Delegation friedensdurchsetzender Aufgaben an regionale Organisationen oder Ad-hoc-Koalitionen (»peace operations by proxy« 67) schafft jedoch unter Umständen neue Probleme: Zwar beschleunigen derartige Arrangements in der Regel die Entsendung von Truppen; die Staaten, die sich an solchen Operationen beteiligen, verfolgen vielleicht jedoch eigene Partikularinteressen und sind möglicherweise schwerer für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. 68

64 Cedric de Coning, »Is Stabilisation the New Normal? Implications of Stabilisation Mandates for the Use of Force in UN Peace Operations«, 4.10.2016, (Zugriff am 25.11.2016); Aditi Gorur, Defining the Boundaries of UN Stabilization Missions, Washington, D.C.: Stimson Center, 2016. 65 Siehe Sofia Sebastian, The Perils of Peacekeeping in Unstabilized Environments, Zürich: ETH Zürich, Center for Security Studies, 26.3.2015. 66 Zu dieser Option siehe Vesselin Popovski, »De-Mythologizing Peacekeeping«, in: Journal of International Peacekeeping, 19 (2015) 1–2, S. 33–55. 67 Dieser Begriff erfasst gut folgende Szenarien: (a) NichtVN-Kräfte unterstützen VN-Kräfte (französische Truppen – MINUSMA), (b) VN-Kräfte unterstützen entweder Regierungskräfte (Kongo) oder AU-Kräfte (Somalia), Jérémie Labbé/Arthur Boutellis, »Peace Operations by Proxy: Implications for Humanitarian Action of UN Peacekeeping Partnerships with non-UN Security Forces«, in: International Review of the Red Cross, 95 (2013) 891/892, S. 539–559. 68 Siehe Karima Tawfik, »Delegating Peace Enforcement Missions – But to Whom? What the U.N.’s Recent Recommendation Reveals about Today’s Crisis in Legitimate Actors for Robust Peace Operations«, in: Michigan Law Review First Impressions, 115 (Oktober 2016) 1, S. 1–17.

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Die zweite Option wäre die Ausarbeitung einer Doktrin für »enforcement peacekeeping« oder Stabilisierungsmissionen – und zwar im Unterschied zu klassischem oder robustem Peacekeeping. 69 Dem stehen nicht nur die inhaltlichen Schwierigkeiten entgegen, ein diffuses Konzept handlungsleitend zu operationalisieren, sondern auch die bereits erwähnten politischen Vorbehalte traditioneller Truppensteller. Deren Bedenken könnte man entgegengekommen, indem konzeptionell und operativ deutlich unterschieden würde zwischen friedenserhaltenden Missionen der VN und VN-mandatierten Stabilisierungsoperationen, die von Koalitionen der Willigen durchgeführt würden. 70 Diese Option wäre nah an der Position, die die USA zumindest unter Präsident Barack Obama vertraten. 71 Sie reflektiert den Umstand, dass es Staaten mit besonderen Interessen an einem bestimmten Konflikt bedarf, die weniger risikoscheu sind als die traditionellen truppenstellenden Staaten. Im Falle der Interventionsbrigade in der DR Kongo waren es vor allem Südafrika und Tansania, die Soldaten entsandten. 72 Die dritte Option wäre ein Weitermachen wie bisher. Idealiter jedoch würden friedensdurchsetzende Missionen, sollten sie notwendig werden, mit an-

69 Als Plädoyer, für UN-Stabilisierungsmissionen eine »Stabilisierungsdoktrin« auszuarbeiten, siehe Chiyuki Aoi/Cedric de Coning, »Conclusions: Towards a United Nations Stabilization Doctrine – Stabilization as an Emerging UN Practice«, in: Aoi/ de Coning/Karlsrud, UN Peacekeeping Doctrine [wie Fn. 4], S. 288–310. 70 Zu dieser Option siehe John Karlsrud, »UN Peace Operations and Counter-Terrorism – A Bridge too Far?«, in: Global Peace Operations Review, Annual Compilation 2015, S. 118–124. 71 »UN peace operations are not ordinarily designed and equipped to deploy into situations of active armed conflict where the main protagonists (and their external backers) are not yet ready to stop fighting. Even when there is a partial peace in place, UN peacekeepers can face severe difficulties when opposed and overmatched by well-armed and organized adversaries seeking to deny their involvement and presence. As such, peace operations cannot substitute for diplomatic solutions to end a war, nor for more forceful military interventions that need to carried out in non-permissive environments by individual states or coalitions that possess the will and capacity to do so«, The White House, Memorandum for the Heads of Executive Departments and Agencies. Subject: United States Support to United Nations Peace Operations, Washington, D.C., 28.11.2015. 72 Siehe Mats Berdal, »The State of UN Peacekeeping: Lessons from Congo«, Journal of Strategic Studies (online), 30.8.2016, S. 1718, (Zugriff am 25.11.2016).

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gemessenen Ressourcen ausgestattet und mit klaren Leitlinien versehen. Wenn der Bericht des damaligen VN-Generalsekretärs Ban Ki-moon zu den Empfehlungen des High-Level Panel ein Indiz dafür ist, zu welcher Option die VN wahrscheinlich tendieren, dann ist es eine Form des »Weiterwurstelns«. Der Bericht teilt zwar die Zweifel an der Fähigkeit zu friedensdurchsetzenden Missionen, lässt jedoch vieles offen – auch die Möglichkeit, dass in einzelnen Fällen »der Sicherheitsrat eine VNFriedensoperation fordern mag, um spezifische und klar bestimmte Enforcement-Aufgaben zur Unterstützung einer politischen Regelung zu erfüllen, die breite internationale und nationale Unterstützung genießt. Eine VN-Friedensoperation ist jedoch nicht dafür konzipiert und ausgestattet, politische Lösungen durch den nachhaltigen Einsatz von Gewalt zu erzwingen.« 73

73 »In some cases, the Security Council may request a United Nations peace operation to undertake specific and clearly delineated enforcement tasks in support of a political settlement that has broad international and domestic backing. However, a United Nations peace operation is not designed or equipped to impose political solutions through sustained use of force«, The Future of United Nations Peace Operations [wie Fn. 2], S. 4.

Wider die Überdehnung des Peacekeeping

Wider die Überdehnung des Peacekeeping

Aus politischer Sicht ist die bewusste Unschärfe dieser Position verständlich, vielleicht unvermeidlich. Aber aus normativer Perspektive sprechen starke Gründe dafür, Peacekeeping als eine qualitativ von Kampfund Kriegseinsätzen zu unterscheidende Praxis zu bewahren. Für diese Auffassung lässt sich nicht nur das immer wieder zu hörende pragmatische Argument anführen, die VN seien aus einer Reihe von Gründen nicht für »quasi-enforcement actions« geeignet. 74 Solche Stabilisierungsmissionen sind Einsätze in andauernden Gewaltkonflikten; es sind Einsätze zur Unterstützung von Regierungen in ihrem Kampf gegen spezifische identifizierte Gruppen, die nicht als legitime, in eine politische Friedensregelung zu integrierende Konfliktparteien angesehen werden. Vielmehr handelt es sich dabei um Akteure, die faktisch als Feinde gelten, die zu besiegen sind. Entsprechend sind Einsätze dieser Art mit einem Mandat versehen, das den offensiven Gebrauch militärischer Gewalt gestattet. Diese Charakteristika unterscheiden solche Stabilisierungseinsätze von anderen friedenserhaltenden Einsätzen der VN. 75 Die Trennlinie wird in scharfer Form sichtbar, wenn man sich den normativen Kern des Peacekeeping und dessen Grundprinzipien vor Augen führt. Diese Prinzipien, die sich im Laufe der Zeit entwickelten, haben gewissermaßen einen »konstitutionellen Status« gewonnen, insofern sie das »Wesen des Peacekeeping« und den Unterschied zu anderen Ansätzen des Konfliktmanagements und der Konfliktlösung zum Ausdruck bringen. 76 In friedensdurchsetzenden Einsätzen gibt es eine Konfliktpartei, gegen die militärische Zwangsmittel im strategischen Sinne angewendet werden, als primäres Instrument, um eine politische 74 Wie Mats Berdal, »The State of UN Peacekeeping« [wie Fn. 72], S. 22 schreibt: »Conflicting national priorities, limited resources and risk aversion among TCCs will always ensure that missions will be hampered by split and uncertain loyalties.« Der Begriff »quasi-enforcement actions« findet sich in Sloan, Militarisation of Peacekeeping [wie Fn. 27], S. 295. 75 De Coning, »Is Stabilization the New Normal?« [wie Fn. 64]. 76 Nicholas Tsagourias, »Consent, Neutrality/Impartiality and the Use of Force in Peacekeeping: Their Constitutional Dimension«, in: Journal of Conflict & Security Law, 11 (2006) 3, S. 465–482 (466).

Regelung durchzusetzen. Unparteilichkeit und Zustimmung der Konfliktparteien fehlen bei dieser Form der Zwangsausübung notwendigerweise. Auch das Peacekeeping bedient sich militärischer Mittel, doch mit einer essentiellen Differenz zu anderen Formen des Einsatzes oder der Androhung militärischer Gewalt: nämlich der leitenden Annahme, Peacekeeper hätten keine Feinde; keine Feinde, die militärisch zu besiegen oder zu neutralisieren sind, Feinde, deren Tötung erlaubt ist, solange der bewaffnete Konflikt anhält und die Regeln des humanitären Völkerrechts beachtet werden. In der Praxis ist die »Trennlinie zwischen Friedensdurchsetzung und friedenserhaltenden Missionen mit Zwangselementen sehr fein«. 77 Aber konzeptionell kommt dieser Unterscheidung eine wichtige Rolle zu. Peacekeeping geht einher mit einem gewissen Maß an Zwang, insbesondere gegen sogenannte »Spielverderber« (»spoiler«, wie es im einschlägigen Jargon heißt), darunter Milizen und Banden, die den Friedensprozess und/oder die Sicherheit der Zivilbevölkerung bedrohen. 78 Aber auch solche Akteure gelten im Rahmen des Peacekeeping nicht als Feinde, die notfalls zu töten sind, sondern als Mitglieder einer Gesellschaft, in der der Frieden zu erhalten oder aufzubauen ist. Daraus leiten sich besondere normative Restriktionen für den Einsatz militärischer Gewalt ab, nämlich die Verpflichtung zu einem auf das notwendige Mindestmaß beschränkten abgestuften Einsatz. 79 Diese Einschränkung ist besonders wichtig, da das Konzept der »spoiler«, die abgeschreckt oder neutralisiert werden müssen, nicht unproblematisch ist. Sicher existieren in manchen Fällen »total spoilers«, etwa dschihadisti77 Ebd., S. 471ff (472) (»the dividing line between peace enforcement and PKOs with coercive components is very fine«). 78 »In such situations, the Security Council has given United Nations peacekeeping operations ›robust‹ mandates authorizing them ›to use all necessary means‹ to deter forceful attempts to disrupt the political process, protect civilians under imminent threat of physical attack, and/or assist the national authorities in maintain law and order«, United Nations, Department of Peacekeeping Operations/Department of Field Support, United Nations Peacekeeping Operations: Principles and Guidance [wie Fn. 40], S. 34. 79 Siehe Daniel H. Levine, The Morality of Peacekeeping, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2014.

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sche Gruppen, die sich in einen politischen Prozess, der auf eine Kompromisslösung abzielt, nicht integrieren lassen. Aber in vielen Fällen nutzen Akteure »spoiling« als Taktik, um politische Ziele durchzusetzen. Bestimmte Kräfte als »spoiler« zu identifizieren, spiegelt die staatsorientierte Tendenz von Friedensmissionen wider. Zu kurz kommt aus dieser Perspektive der Umstand, dass staatliche Akteure oft Teil des Problems sind. 80 Die Bereitschaft zum robusten und proaktiven Einsatz militärischer Gewalt mag in vielen Friedensmissionen erforderlich sein, um Zivilisten zu schützen. Folgt Peacekeeping jedoch einer Stabilisierungslogik und geraten Einsätze immer robuster und proaktiver, 81 werden die Blauhelme Teil des Problems und Konfliktpartei – mit all den Risiken und unbeabsichtigten Folgewirkungen, die damit einhergehen können. 82 Erstens: Wenn Blauhelme faktisch Partei ergreifen, beruht dies auf einer Einschätzung, welches die zu neutralisierenden »Störer« sind. Die Gefahr hierbei ist, dass die VN sich fragwürdige Narrative zu eigen machen, die staatliche Akteure in ihrem Eigeninteresse propagieren. 83 Zweitens ist mit dem Risiko oder Nebeneffekt zu rechnen, dass VN-Unterstützung bei der Bekämpfung bewaffneter Gruppen den Anreiz für die Regierung verringert, sich den Problemen zuzuwenden, die zu

80 Siehe Ben Shepherd, The ›Spoiler‹ Concept, Conflict and Politics: Who ›Spoils‹ What, for Whom?, London: Foreign and Commonwealth Office/The London School of Economics and Political Science, 2010; Peter Nadin/Patrick Cammaert/Vesselin Popovski, »Introduction«, in: Adelphi Series, 54 (2014) 449, S. 11–16; grundsätzlich zur Problematik und zur Unterscheidung zwischen »limited, greedy, and total spoilers« siehe Stephen John Stedman, »Spoiler Problems in Peace Processes«, in: International Security, 22 (1997) 2, S. 5–53. 81 So heißt es in Resolution 2364 vom 29.6.2017, mit der der VN-Sicherheitsrat das Mandat für MINUSMA verlängert: »Requests MINUSMA to achieve its more proactive and robust posture to carry out its mandate.« 82 »The transformation in impartiality has deeply politicized peacekeeping and, in some cases such as Congo, effectively converted UN forces into one warring party among many«, Paddon Rhoads, Taking Sides in Peacekeeping [wie Fn. 26], S. 7. Siehe auch Lisa Hultman, »Robust Peacekeeping: A Desirable Development?«, E-International Relations (online), 2.9.2014, (Zugriff am 25.11.2016). 83 Siehe Kristof Titeca/Daniel Fahey, »The Many Faces of a Rebel Group: the Allied Democratic Forces in the Democratic Republic of Congo«, in: International Affairs, 92 (2016) 5, S. 1189–1206.

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einem Aufstand geführt haben, und sich um politische Lösungen zu bemühen. 84 Drittens implizieren Stabilisierungsmissionen wie im Falle der DR Kongo die territoriale Ausdehnung staatlicher Autorität. Was als Teil der Stabilisierung gedacht ist, kann negative Folgen haben. Eine Kennerin der Situation im Kongo hat diesen unerwünschten Nebeneffekt wie folgt beschrieben: »Unglücklicherweise führt die Ausdehnung der Autorität eines räuberischen Staates nur dazu, dass eine Gruppe von Tätern (ausländische und kongolesische Rebellen) durch eine andere ersetzt wird (staatliche Machthaber und staatliche Sicherheitskräfte).« 85 Viertens ist die Unterstützung von Regierungskräften mit dem Risiko verbunden, Komplize bei der massiven Verletzung von Menschenrechten zu werden. 86 In Reaktion auf dieses politische Dilemma promulgierte der damalige VN-Generalsekretär Ban Ki-moon die sogenannte »Human rights due diligence policy on United Nations support to non-United Nations security forces«. 87 Die Richtlinie legt fest, dass jede VN-Einrichtung, die direkt mit einer solchen Unterstützung befasst ist, eine Risikoeinschätzung im Hinblick auf schwere Menschenrechtsverletzungen durchführen 84 Siehe de Coning, »Is Stabilization the New Normal?« [wie Fn. 64]; Charles T. Hunt, »All Necessary Means to What Ends? The Unintended Consequences of the ›Robust Turn‹ in UN Peace Operations«, in: International Peacekeeping, 24 (2017) 1, S. 108–131. 85 Séverine Autesserre, »Dangerous Tales: Dominant Narratives on the Congo and Their Unintended Consequences«, in: African Affairs, 111 (2012) 443, S. 202–222 (220): »Unfortunately, extending the authority of a predatory state merely results in replacing one group of perpetrators (foreign and Congolese rebel groups) with another (state authorities and state security forces).« 86 Siehe Frédéric Mégret, »Between R2P and the ICC: ›Robust Peacekeeping‹ and the Quest for Civilian Protection«, in: Criminal Law Forum, 26 (März 2015) 1, S. 101–151. 87 Diese Richtlinie, die nicht nur für das Peacekeeping gilt, legt Folgendes fest: »United Nations support cannot be provided where there are substantial grounds for believing that there is a real risk of the receiving entities committing grave violations of international humanitarian, human rights or refugee law and where the relevant authorities fail to take the necessary corrective or mitigating measures«, United Nations General Assembly/Security Council, Identical Letters Dated 25 February 2013 from the Secretary-General Addressed to the President of the General Assembly and to the President of the Security Council, 5.3.2013, A/67/775-S/2013/110, S. 2; siehe auch Helmut Philipp Aust, »The UN Human Rights Due Diligence Policy: An Effective Mechanism against Complicity of Peacekeeping Forces?«, in: Journal of Conflict & Security Law, 20 (2015) 1, S. 61– 73.

Abkürzungen

muss, bevor sie Sicherheitskräften wie etwa in der DR Kongo Beistand leisten darf. Fünftens schließlich ist in Stabilisierungsmissionen kaum zu erwarten, dass Blauhelme Gewalt gegen staatliche Kräfte anwenden, auch wenn diese massive Menschenrechtsverletzungen begehen oder die Umsetzung des Mandats gefährden. So kommt eine neuere Studie zu dem Ergebnis, dass die Präsenz von Blauhelmen die Zahl ziviler Opfer durch Rebellen verringert, nicht aber die Zahl der Opfer durch Sicherheitskräfte der Regierung, auf deren Zustimmung die VN bei der Weiterführung der Mission angewiesen sind und mit der sie in Stabilisierungseinsätzen zusammenarbeiten. 88 Gewalt wird gegen Rebellen eingesetzt. Das gibt Anlass zu Zweifeln an der Unparteilichkeit der VN und kann deren politische Legitimität gefährden. 89 Kurzum: Aus pragmatischen und aus normativen Gründen sind die Militarisierung des Peacekeeping und die Einbettung in eine Stabilisierungslogik als problematische Entwicklungen zu werten. 90 Sie führen dazu, dass die VN zweifelhafte Regime politisch und moralisch unterstützen und damit ihre Rolle als Vermittler gefährden.

Abkürzungen AU COIN DFS DPKO MINUSCA

MINUSMA

MONUSCO

POC UNMISS VN

Afrikanische Union Counterinsurgency (United Nations) Department of Field Support (United Nations) Department of Peacekeeping Operations Mission multidimensionnelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation en République centrafricaine (Multidimensionale integrierte Stabilisierungsmission der VN in der Zentralafrikanischen Republik) Mission multidimensionnelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali (Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der VN in Mali) Mission de l’organisation des Nations Unies pour la stabilisation en RD Congo (Mission der VN für die Stabilisierung in der DR Kongo) Protection of Civilians United Nations Mission in the Republic of South Sudan Vereinte Nationen

88 Siehe Allison Carnegie/Christoph Mikulaschek, The Promise of Peacekeeping: Protecting Civilians in War, 1.2.2017, (Zugriff am 6.9.2017). 89 Wie Jean-Marie Guéhenno, der frühere Under-Secretary General for Peacekeeping, schrieb: »If the UN becomes the auxiliary of a government whose legitimacy and representativeness is still questioned, it may lose not only its military credibility but its political legitimacy, putting at risk what is potentially its most valuable contribution: the capacity to foster compromise among various groups as the indispensable base of lasting peace«, Jean-Marie Guéhenno, The Fog of Peace: A Memoir of International Peacekeeping in the 21st Century, Washington: Brookings Institution Press, 2015, S. 147; siehe besonders auch Nicole Ball/Erwin van Veen/Megan Price, Fighting for Peace: The Tricky Business of Using Greater Force in UN Peace Operations, Den Haag: Clingendael, Netherlands Institute of International Relations, März 2015, S. 7. 90 Zur Kritik siehe auch Richard Gowan, »The Peacekeeping Quagmire«, in: Georgetown Journal of International Affairs, 16 (Sommer/Herbst 2015) 2, S. 39-46.

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