Zur Ethik militärischer Gewalt - Stiftung Wissenschaft und Politik

06.03.2014 - ... möglich, wenn die ver- breitete Scheu davor überwunden werden kann, sich ...... sind, eröffnen die Möglichkeit, moralisch legitime. Präemption in ... und wann Walzers zweites Kriterium, das der aktiven. Vorbereitung, erfüllt ...
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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Peter Rudolf

Zur Ethik militärischer Gewalt

S6 März 2014 Berlin

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Inhalt

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

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Militäreinsätze und Moral Das Ethikdefizit des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland Die Scheu vor der Tradition des »gerechten Krieges«

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt Rechtfertigungsgründe Verteidigung Nothilfe und Schutzverantwortung Strafe und Abschreckung Bedingungen eines rechtfertigungsfähigen Gewalteinsatzes Verhältnismäßigkeit Vernünftige Erfolgsaussicht Gewalt als ultima ratio Rechte Absicht Rechtmäßige Autorität Kriterien für die Art des Gewalteinsatzes Sonderfall begrenzte Gewalt – Vom ius ad bellum zum ius ad vim? Folgerung: Wie die ethische Debatte belebt werden könnte

Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow der SWP-Forschungsgruppe Amerika

Problemstellung und Schlussfolgerungen

Zur Ethik militärischer Gewalt Wenn in Deutschland von Auslandseinsätzen gesprochen wird, dann oft im Zusammenhang mit einer angeblich gewachsenen internationalen Verantwortung. Im Sinne des Für-etwas-Rede-und-AntwortStehens ist Verantwortung jedoch zunächst einmal sehr konkret, denn sie bezieht sich auf die eigenen Soldaten, die in die Lage kommen, zu töten oder getötet zu werden. Soldaten müssen die Gewissheit haben, dass ihre Bereitschaft, zu töten und sich töten zu lassen, nur für moralisch legitime Zwecke eingesetzt wird. Das ist die moralische Substanz des »Vertrages«, den ein Soldat mit seinem Staat geschlossen hat. Allerdings fehlt es an einer breiten Debatte darüber, zu welchen Zwecken und unter welchen Bedingungen der Einsatz militärischer Gewalt nicht nur strategisch und völkerrechtlich, sondern auch ethisch gerechtfertigt sein kann. In offiziellen sicherheitspolitischen Dokumenten bleiben solche Fragen weitgehend ausgeklammert. Eine diffuse Verantwortungsrhetorik ersetzt jedoch keine differenzierte ethische Debatte. Eine solche ist aber nur möglich, wenn die verbreitete Scheu davor überwunden werden kann, sich auf die oft missverstandene Argumentationstradition des »gerechten Krieges« einzulassen. Diese hat in den letzten Jahrzehnten, insbesondere in den USA und in Großbritannien, eine Renaissance erlebt, als moralisch offenbar gebotene humanitäre Militärinterventionen die Grenzen einer legalistischen Beurteilung vor Augen führten. Zwar sind die Prinzipien und Kriterien, die dieser Tradition einer ethischen Bewertung militärischer Gewalt entstammen, in einer friedensethischen Einbettung Bestandteil der Sozialethik der großen Kirchen in Deutschland. Und auch in der akademischen Debatte haben sie vor allem als Folge der KosovoIntervention 1999 eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren. Doch weithin gilt diese Tradition hierzulande als Instrument zur Legitimation von Gewalt und ihr Wiederaufleben als Gefahr für die völkerrechtliche Friedensordnung. Zweifellos diente und dient der Rückgriff auf Argumentationsmuster, die in dieser Tradition stehen, auch zur Rechtfertigung von Kriegen. An einer ethischen Bewertung militärischer Gewalteinsätze kommt man indes nur vorbei, wenn man entweder eine radikalpazifistische oder eine rein realpolitische Position vertritt. Zu wenig ausgeprägt SWP Berlin Zur Ethik militärischer Gewalt März 2014

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

scheint in Deutschland das Bewusstsein dafür zu sein, dass in der bellum iustum-Tradition militärische Gewalt als Übel gilt, wenngleich manchmal als das geringere, und ihr Einsatz immer im Hinblick auf Ziele und Konsequenzen rechtfertigungspflichtig ist. In erster Linie bildet diese Tradition ein Bezugssystem, das sich dazu eignet, die Diskussion über moralische Aspekte von Militäreinsätzen zu strukturieren. Das Konzept des gerechten Krieges wendet sich gegen jede rein utilitaristische Bewertung militärischer Gewalt. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, einschränkende Kriterien für den Einsatz militärischer Gewalt zu formulieren und Prinzipien sowie vorhersehbare Handlungsfolgen zur Grundlage einer Bewertung zu machen. Die traditionelle Unterscheidung zwischen ius ad bellum (Recht zum Krieg) und ius in bello (Recht im Krieg) sowie die neuere Diskussion um ein ius post bellum (Recht nach dem Krieg) lassen den falschen Eindruck entstehen, es gehe um das Abhaken einer Art Checkliste und die getrennte Bewertung der Phasen eines Gewalteinsatzes, die in ihrer moralischen Qualität vermeintlich unverbunden sind. Stattdessen geht es darum, einen Gewalteinsatz im Hinblick auf seine Zwecke, seine Voraussetzungen und seine Umsetzung einer dauernden Gesamtbewertung zu unterziehen – und zwar vorab, begleitend und rückblickend. Eine Theorie legitimer militärischer Gewaltanwendung, die an die bellum iustum-Tradition anknüpft sowie die gegenwärtige ethische Debatte reflektiert und rekonstruiert, wirft eine Reihe von Fragen auf, die sich zugespitzt so zusammenfassen lassen: Dient der Einsatz militärischer Gewalt klar bestimmten legitimen Zwecken? Rechtfertigen diese Zwecke also eine Ausnahme vom Tötungsverbot? Sind sie verallgemeinerungsfähig und hierauf möglichst durch den Zwang zur Legitimation in multilateralen Verfahren »getestet«? Waren andere, gewaltärmere Mittel erfolglos oder bieten sie keine plausibel begründbare Erfolgsaussicht? Kann ein Einsatz militärischer Gewalt die mit ihm angestrebten legitimen Zwecke mit vernünftig begründeter Aussicht auf Erfolg dauerhaft und mit einem Minimum an Gewalt erreichen? Zwar lassen sich grundlegende Kriterien verschieden interpretieren und politische Situationen unterschiedlich einschätzen. Daher ist nicht zu erwarten, dass es in einem konkreten Fall zu einer einhelligen Bewertung kommt. Doch der explizite Rückgriff auf die Kategorien einer normativen Theorie legitimer Gewaltanwendung kann helfen, dem öffentlichen Diskurs eine Struktur zu geben. Dies könnte dazu SWP Berlin Zur Ethik militärischer Gewalt März 2014

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beitragen, dass die normativen Probleme und Dilemmata, die mit dem Einsatz militärischer Gewalt einhergehen, rationaler diskutiert werden. So ließe sich den Verengungen einer oftmals legalistisch, moralistisch oder gar rein realpolitisch geführten Debatte entgegenwirken.

Das Ethikdefizit des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland

Militäreinsätze und Moral

Das Ethikdefizit des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland In den offiziellen sicherheitspolitischen Dokumenten findet die moralische Problematik des Einsatzes von Streitkräften keine Erwähnung. Alleiniger Maßstab für einen militärischen Einsatz scheinen die Interessen Deutschlands zu sein, wenn es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 heißt: »Militärische Einsätze ziehen weitreichende politische Folgen nach sich. In jedem Einzelfall ist eine klare Antwort auf die Frage notwendig, inwieweit die Interessen Deutschlands und die damit verbundene Wahrnehmung internationaler Verantwortung den Einsatz erfordern und rechtfertigen und welche Folgen ein Nichteinsatz hat.« 1 Das Spektrum der Interessen, die dort aufgelistet sind, ist sehr breit: Zu ihnen gehören die Verhinderung, Eindämmung und Bewältigung von Krisen und Konflikten, die die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten »beeinträchtigen«, die Ermöglichung eines ungehinderten Welthandels und der Zugang zu natürlichen Ressourcen. 2 Für Entscheidungen darüber, welche Interessen den Einsatz militärischer Gewalt erfordern und moralisch rechtfertigen können, bleiben sie zu unbestimmt. 3 Die offiziellen Dokumente spiegeln in gewisser Weise wider, was den sicherheitspolitischen Diskurs insgesamt kennzeichnet: eine geringe Bereitschaft zu einer breiten, differenzierten Diskussion darüber, wann welche Interessen den Einsatz militärischer Gewalt moralisch legitimieren können. 4 Sicherlich spielen moralische Aspekte in den 1 Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien. Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, Berlin, 27.5. 2011, S. 5. Die ethische Problematik wird auch im letzten Weißbuch von 2006 nicht berücksichtigt. Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin, Oktober 2006. 2 Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien [wie Fn. 1], S. 5. 3 Siehe die kritische Analyse von Berthold Meyer, Von der Entgrenzung nationaler deutscher Interessen. Die politische Legitimation weltweiter Militäreinsätze, Frankfurt a.M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), 2007 (HSFK-Report 10/2007). 4 In der öffentlichen Diskussion wird dies des Öfteren

Debatten über Auslandseinsätze der Bundeswehr eine gewichtige Rolle: Immer wieder heißt es, Deutschland könne nicht wegsehen, wenn massiv Menschenrechte verletzt werden, und müsse seiner Verantwortung gerecht werden. 5 Doch neben einem mitunter starken Moralismus (»Nie wieder Auschwitz!«) werden vor allem völkerrechtliche, bündnispolitische und sicherheitspolitische Argumente ins Feld geführt. Wenn in der politischen Diskussion gelegentlich Kriterien für Auslandseinsätze angemahnt oder vorgeschlagen werden, sind ethische Gesichtspunkte meist nur implizit angesprochen, werden aber nicht ausgeführt. 6 bemängelt. Siehe etwa Christian Bommarius, »Hinter der Maske der Moral«, in: Frankfurter Rundschau, 10.11.2010; Georg Paul Hefty, »Die Ethik im Auslandseinsatz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.2009; Friedrich Schorlemmer, »Wann ist militärische Gewalt gerechtfertigt?«, in: Frankfurter Rundschau, 21.5.2013. Als engagierten Anstoß zu einer solchen Debatte siehe Bernd Ulrich, Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss. Eine Streitschrift, Reinbek: Rowohlt, 2011. 5 Siehe am Beispiel der Bundestagsdebatten zu Afghanistan die Analyse von Harald Müller/Jonas Wolff, »Demokratischer Krieg am Hindukusch? Eine kritische Analyse der Bundestagsdebatten zur deutschen Afghanistanpolitik 2001–2011«, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 4 (Oktober 2011) 1 (Sonderheft), S. 197–221. 6 So wurde in einem (später abgelehnten) Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Entwicklung eines Katalogs von Prüfkriterien gefordert, »der für künftige bzw. zu verlängernde Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Bewertung politischer, militärischer, völkerrechtlicher, europapolitischer, ziviler und polizeilicher Fragen dient«. Von Kriterien zur Bewertung der moralischen Dimension war nicht explizit die Rede. Siehe Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln – Unterrichtung und Evaluation verbessern, Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/5099, 16.3.2011. In der Diskussion über Kriterien für Auslandseinsätze, wie sie im politischen und politiknahen Bereich geführt wird, fehlt meist der ausdrückliche Rückgriff auf ethische Kategorien. Siehe etwa Andreas Schockenhoff, Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr, 11.9.2006, ; Rainer Arnold, »Zur Legitimation deutscher Auslandseinsätze. Sicherheitspolitik auf drei Säulen«, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 13.9.2006, (dort ist von »ethischer Verantwortung« im Sinne des Nicht-wegsehen-Dürfens bei drohendem Völkermord die Rede); Volker Perthes, »Wie? Wann? Wo? Wie oft? Vier zentrale Fragen müssen vor Auslandseinsätzen beantwortet werden«, in: Internationale Politik, Mai 2007, S. 16–21.

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Militäreinsätze und Moral

Dieses Ethikdefizit des sicherheitspolitischen Diskurses ist bedenklich. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind Militäreinsätze und sollten daher vom Extremfall aus betrachtet werden, also vom Gewaltpotential her, das ihnen innewohnt: Mit Hilfe physischer Zwangsmittel sollen Akteure von einem bestimmten Verhalten abgeschreckt oder zu einem bestimmten Handeln gebracht werden. Jeder militärische Gewalteinsatz hat eine moralische Dimension, auch wenn Begriffe wie Friedensoperationen oder Stabilisierungsoperationen die fundamentale Natur dessen vernebeln, um das es im äußersten Fall geht: um das Töten, aber auch das Risiko, getötet zu werden. Jeder größere Einsatz militärischer Gewalt über die unmittelbare nationale Verteidigung hinaus bedarf in liberalen Demokratien nicht nur der rechtlichen, sondern auch der moralischen Legitimation, nicht zuletzt um der Soldaten willen, die in einen Einsatz entsandt werden. Notwendig ist eine solche ethische Debatte insbesondere auch, damit deutsche Politik im Bündnis diskursfähig bleibt. Denn Deutschland ist sicherheitspolitisch in einen multilateralen Rahmen eingebunden, und damit in die Kooperation mit Partnerstaaten, die sich in ihren strategischen Kulturen und daher auch in der moralischen Bewertung militärischer Gewaltanwendung unterscheiden. Der vielfache Rückgriff auf das militärische Instrumentarium seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde und wird diskursiv von einem Normenwandel begleitet, einer Veränderung normativer Überzeugungen und Legitimationen. Seit den 1990er Jahren findet eine breite internationale Debatte darüber statt, ob und inwieweit die »alten« Normen für den Einsatz militärischer Macht neuen Entwicklungen angepasst werden sollen. Ursprünglich entzündete sich diese Diskussion vor allem an der Frage der humanitären Intervention, die die Grenzen eines legalistischen Ansatzes bei der Rechtfertigung militärischen Eingreifens deutlich sichtbar werden ließ. Illegal nach dem geltenden Völkerrecht, aber politisch und moralisch legitim – so lautete die in westlichen Demokratien vorherrschende Einschätzung des Krieges, den die NATO 1999 gegen Serbien führte, um, wie es damals vielen schien, Massenmord und ethnische Säuberungen zu verhindern. Die Ereignisse des 11. September 2001 (oder besser: ihre gängige Interpretation) brachten nicht nur eine Debatte ins Rollen, in welchem Maße das Konzept des präemptiven Krieges zur Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung neu formuliert werden müsse, sondern auch, ob präventive Kriege ein

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legitimes Mittel sein können, um hypothetische künftige Bedrohungen zu vermeiden. 7 Kennzeichnend für Deutschland ist eine überwiegend defensiv-pazifistische strategische Kultur und ein eher »legalistischer« Ansatz, was die Legitimität militärischer Gewaltanwendung angeht. Deshalb ist Deutschland diesem Normenwandel, wie es scheint, weitgehend sprachlos ausgesetzt. Wer aber im transatlantischen sicherheitspolitischen Diskurs über die Legitimität militärischer Gewalt mitreden will, muss sich auf die ethische Tradition des bellum iustum einlassen. Denn der Normenwandel ist von einem expliziten, zuweilen auch nur impliziten Rückgriff auf diese Tradition geprägt. 8

Die Scheu vor der Tradition des »gerechten Krieges« Die bellum iustum-Tradition geht auf römische Wurzeln zurück; Augustinus und Thomas von Aquin entwickelten sie weiter; sie strahlte in die völkerrechtliche Diskussion aus und blieb bis heute wirkungsmächtig. Trotz aller Wandlungen im Laufe der Geschichte handelt es sich insofern um eine ethische »Tradition«, als ein überlieferter Bestand an Kategorien und Kriterien eine systematische Diskussion über die moralische Legitimität militärischer Gewaltanwendung ermöglicht. 9 Diese Tradition, manchmal auch als »Lehre« 7 Zu dieser Entwicklung siehe als Überblick Thomas M. Nichols, Eve of Destruction. The Coming Age of Preventive War, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008; Janne Haaland Matlary, Values and Weapons. From Humanitarian Intervention to Regime Change?, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2006. 8 So entstammen die Kriterien, die im Bericht des vom VNGeneralsekretär in Auftrag gegebenen High-Level Panel als Richtschnur für Entscheidungen des Sicherheitsrates über den Einsatz militärischer Macht vorgeschlagen werden, eindeutig dieser Tradition – nämlich 1) »Seriousness of threat«, 2) »Proper purpose«, 3) »Last resort«, 4) »Proportional means«, 5) »Balances of consequences«. Siehe A More Secure World: Our Shared Responsibility. Report of the Secretary-General’s High-level Panel on Threats, Challenges and Change, New York: United Nations, 2004, S. 67. Auch die Kriterien, die Stefan Mair vorgeschlagen hat, greifen auf die Kriterien dieser Tradition zurück, ergänzen sie jedoch um Leitfragen zur Notwendigkeit einer deutschen Beteiligung. Stefan Mair, »Kriterien für die Beteiligung an Militäreinsätzen«, in: ders. (Hg.), Auslandseinsätze der Bundeswehr. Leitfragen, Entscheidungsspielräume und Lehren, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2007 (SWP-Studie 27/2007), S. 11–19. 9 Siehe Alex J. Bellamy, Just Wars. From Cicero to Iraq, Cambridge, MA: Polity Press, 2006, S. 6f; zu Kennzeichen und

Die Scheu vor der Tradition des »gerechten Krieges«

bezeichnet, ist in erster Linie als Bezugssystem zu sehen, mit dessen Hilfe sich die Diskussion über die moralischen Probleme strukturieren lässt, die mit der Frage von Militäreinsätzen verbunden sind. 10 All jenen, die weder jeden militärischen Einsatz, jeden Krieg ablehnen noch einer moralfreien, rein realpolitischen Sicht des militärischen Instruments anhängen, gibt die bellum iustum-Tradition eine »gemeinsame moralische Sprache«, 11 wie dies Michael Walzer formuliert hat, einer der bekanntesten politischen Philosophen und »öffentlichen Intellektuellen« der USA. Wie kein anderer hat er mit seinem erstmals Mitte der 1970er Jahre erschienenen, wiederholt aufgelegten und zur Pflichtlektüre an amerikanischen Militärakademien gewordenen Werk »Just and Unjust Wars« 12 diese Tradition in »säkularisierter« Form in der Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg wiederbelebt und bis heute die vor allem in den USA und in Großbritannien rege geführte Debatte inspiriert. Wie wirkmächtig diese Tradition ist, lässt sich daran ablesen, dass Barack Obama so unmissverständlich Rolle ethischer Traditionen siehe Terry Nardin, »Ethical Traditions in International Affairs«, in: ders./David R. Mapel (Hg.), Traditions of International Ethics, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1992, S. 1–22. Als gute Überblicke siehe James Turner Johnson, Morality and Contemporary Warfare, New Haven/London: Yale University Press, 1999; Brian Orend, The Morality of War, Peterborough, Ontario: Broadview Press, 2006; Nicholas Fotion, War and Ethics. A New Just War Doctrine, London/New York: Continuum 2007; zur Anwendung auf konkrete Fälle in der nahen Vergangenheit siehe etwa Christoph Bluth, »The British Resort to Force in the Falklands/Malvinas Conflict 1982: International Law and Just War Theory«, in: Journal of Peace Research, 24 (1987) 1, S. 5–20; Jeff McMahan/Robert McKim, »The Just War and the Gulf War«, in: Canadian Journal of Philosophy, 23 (Dezember 1993) 4, S. 501– 541; Jerome Slater, »Just War Moral Philosophy and the 2008– 09 Israeli Campaign in Gaza«, in: International Security, 37 (Herbst 2012) 2, S. 44–80. Wer sich genauer über einzelne Vertreter dieser Tradition informieren will, greife zu HeinzGerhard Justenhoven/William A. Barbieri, Jr. (Hg.), From Just War to Modern Peace Ethics, Berlin/Boston: De Gruyter, 2012. 10 Zu diesem Verständnis siehe besonders Peter Mayer, Die Lehre vom gerechten Krieg – obsolet oder unverzichtbar?, Bremen: Universität Bremen, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS), 2005 (InIIS-Arbeitspapier, Nr. 31); auch erschienen in Egbert Jahn/Sabine Fischer/Astrid Sahm (Hg.), Die Zukunft des Friedens, Bd. 2: Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, S. 381–405. 11 Michael Walzer, »The Triumph of Just War Theory (and the Dangers of Success) [2002]«, in: ders., Arguing about War, New Haven/London: Yale University Press, 2004, S. 3–22 (7). 12 Michael Walzer, Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Illustrations, 3. Aufl., New York: Basic Books, 2000.

wie kaum ein US-Präsident seine Einstellung zum Einsatz militärischer Gewalt in dieser Tradition verortete – und das in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises. 13 Wenn ein amerikanischer Präsident so ausdrücklich an diese Tradition anknüpft, tritt darin allerdings auch die Kehrseite ihres »Triumphs« klar zutage. 14 Dass Politiker und Militärs, besonders im amerikanischen und britischen Diskurs, die Doktrin des gerechten Kriegs für ihre Zwecke einspannen, kann sie leicht ihrer kritischen Funktion berauben. 15 Die Ambivalenz dieser Tradition ist gewiss nicht neu: ihre kritische, offizielle Argumente einer Prüfung aussetzenden Funktion auf der einen, ihre Krieg moralisch legitimierende Instrumentalisierung auf der anderen Seite. Die Gefahr, dass die bellum iustum-Tradition zur Aufrechterhaltung des »Mythos« eines gerechten Krieges herangezogen wird, ist nicht zu leugnen. Daher ist es Aufgabe des ethischen Diskurses, sie in ihrer kritischen Funktion zu nutzen und einer solchen »Illusion« entgegenzuwirken. 16 13 Darin betonte Obama die Notwendigkeit, über die Frage eines gerechtfertigten Krieges und die »Imperative eines gerechten Friedens« nachzudenken. Für ihn gibt es Fälle, in denen der Einsatz militärischer Gewalt moralisch gerechtfertigt ist. Zuzugeben, dass der Einsatz von Gewalt bisweilen notwendig sei, ist laut Obama kein Zynismus, sondern »recognition of history; the imperfections of man and the limits of reason«. Damit werde auch anerkannt, dass »evil does exist in the world«. Und ohne Gewalt lasse sich dem Bösen manchmal kein Einhalt gebieten. Auch wenn aus Obamas Sicht Krieg zuweilen moralisch gerechtfertigt sein könne, bleibe er doch immer eine »menschliche Tragödie«. Der Einsatz militärischer Gewalt als letztes Mittel sei nicht nur zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung legitim. Er sei auch dann gerechtfertigt, wenn es Massenmorde zu verhindern gelte, die Regierungen an ihrer Bevölkerung verüben, oder wenn es darum gehe, einen Bürgerkrieg zu beenden, dessen Auswirkungen eine ganze Region in Mitleidenschaft ziehen können. Dies seien die legitimen Gründe für den Einsatz militärischer Gewalt, bei dem die USA strengen Regeln folgen sollten, um eine Vorbildfunktion bei der Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu erfüllen. Siehe Barack Obama, Remarks by the President at the Acceptance of the Nobel Peace Prize, Oslo, 10.12. 2009, . 14 Walzer, »The Triumph of Just War Theory« [wie Fn. 11]. 15 Siehe Anthony Burke, »Just War or Ethical Peace? Moral Discourses of Strategic Violence after 9/11«, in: International Affairs, 80 (2004) 2, S. 329–353; Cian O’Driscoll, The Renegotiation of the Just War Tradition and the Right to War in the Twenty-First Century, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2008. 16 Siehe Andrew Fiala, The Just War Myth. The Moral Illusions of War, Lanham u.a.; Rowman & Littlefield Publishers, 2008; kritisch auch David K. Chan, Beyond Just War. A Virtue Ethics

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Militäreinsätze und Moral

Die Diskussion um den Kosovo-Krieg führte zwar auch in Deutschland zumindest in der akademischen ethischen Diskussion zu einer Art Wiederentdeckung der Tradition des bellum iustum. 17 Doch weithin besteht in der öffentlichen Debatte selbst unter jenen, die nicht einem grundsätzlichen Pazifismus anhängen, eine große Abneigung, sich auf diese Tradition einzulassen. Denn sie gilt im Anschluss an das Verdikt Kants oft als gefährliche Art der moralischen Legitimation von Kriegen 18 und ihr Wiederaufleben als Approach, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2012; Oliver Hidalgo, »Der ›gerechte‹ Krieg als Deus ex machina – ein agnostizistisches Plädoyer«, in: Ines-Jacqueline Werkner/ Antonius Liedhegener (Hg.), Gerechter Krieg – gerechter Frieden. Religionen und friedensethische Legitimationen in aktuellen militärischen Konflikten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 83–107. 17 Als Beiträge siehe etwa Peter Mayer, »War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien moralisch gerechtfertigt?«, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 6 (1999) 2, S. 287–321; Stefan Gruber, Die Lehre vom gerechten Krieg. Eine Einführung am Beispiel der NATO-Intervention im Kosovo, Marburg: Tectum Verlag, 2008; Reinold Schmücker, »Gibt es einen gerechten Krieg?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48 (2000) 2, S. 319–340; die Beiträge in Dieter Janssen/Michael Quante (Hg.), Gerechter Krieg. Ideengeschichtliche, rechtsphilosophische und ethische Beiträge, Paderborn: mentis, 2003; Christian Starck (Hg.), Kann es heute noch »gerechte Kriege« geben?, Göttingen: Wallstein, 2008; jüngst Friedrich Lohmann, »Krieg und Frieden: Traditionslinien und aktuelle Positionen in der philosophischen Ethik«, in: Thomas Bohrmann/Karl-Heinz Lather/Friedrich Lohmann (Hg.), Handbuch Militärische Berufsethik, Bd. 1: Grundlagen, Wiesbaden: Springer VS, 2013, S. 97– 119. Natürlich gab es auch in den Jahrzehnten zuvor immer wieder Beiträge, die sich mit dieser Tradition befassten, doch vor allem mit Blick auf deren Aporien unter den Bedingungen nuklearer Abschreckung; siehe insbesondere Uwe Nerlich/ Trutz Rendtorff (Hg.) unter Mitwirkung von Lothar Waas, Nukleare Abschreckung – Politische und ethische Interpretationen einer neuen Realität, Baden-Baden: Nomos, 1989. 18 Als frühes Beispiel für Kritik an der Anknüpfung an diese Tradition, weil sie wie in der Vergangenheit mehr zur Rechtfertigung als zur Einhegung von Kriegen dienen könne, siehe Lothar Brock, Weltbürger und Vigilanten. Lehren aus dem KosovoKrieg, Frankfurt a.M.: HSFK, 1999 (HSFK-Standpunkte 2/1999). Schon bei Kant findet sich eine ähnliche Kritik mit Blick auf die frühneuzeitliche Ausprägung der Lehre: »[...] denn noch werden Hugo Grotius, Pufendorf, Vattel u.a.m. (lauter leidige Tröster), obgleich ihr Kodex, philosophisch oder diplomatisch abgefasst, nicht die mindeste gesetzliche Kraft hat, oder auch nur haben kann (weil Staaten als solche nicht unter einem gemeinschaftlichen äußeren Zwange stehen), immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs angeführt, ohne daß es ein Beispiel gibt, daß jemals ein Staat durch mit Zeugnissen so wichtiger Männer bewaffnete Argumente wäre bewogen worden, von seinem Vorhaben abzustehen.« Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795),

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Gefahr für die völkerrechtliche Ordnung, die doch diese Lehre überwunden und durch die »allgemeine Friedenspflicht« ersetzt habe. 19 Es ist daher kein Zufall, dass auf politischer Ebene selten explizit an diese Tradition angeknüpft, geschweige denn das Reizwort »gerechter Krieg« in den Mund genommen wird. In einigen Reden hat der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière die Thematik eines moralisch gerechtfertigten militärischen Einsatzes angesprochen, jedoch ohne sich dabei ausdrücklich auf die Tradition des bellum iustum und alle dort zu findenden Prüfkriterien zu berufen, auch wenn er einige davon aufgenommen hat. In einer Rede nahm er zwar Bezug auf die »christliche Lehre vom gerechten Krieg«, um deutlich zu machen, dass die Frage der Legitimität von Gewaltanwendung eine sehr alte ist. Doch dann sagte er: »Meine Auffassung ist: Einen gerechten Krieg gibt es nicht. Es kann aber eine gerechtfertigte, legitime Anwendung von militärischer Gewalt geben.« 20 Vor dem Hintergrund der negativen Konnotation des Begriffs »gerechter Krieg« war es in gewissem Sinne provokativ, als Bundespräsident Joachim Gauck während seines Antrittsbesuchs bei der Bundeswehr davon sprach, die Bundeswehr habe »unser Zutrauen verdient, nicht nur in Debatten um den ›gerechten Krieg‹ zu bestehen, sondern auch einem ›gerechten Frieden‹ den Weg zu bahnen«. Inhaltlich schlug er in seiner Rede implizit den Bogen zu der Tradition, als er sagte: »Gewalt, auch militärische Gewalt, wird ja immer ein Übel bleiben. Aber sie kann – solange wir in der Welt leben, in der wir leben – eben nicht in einer geheilten, sondern in einer tief gespaltenen Welt, sie kann in einer solchen Welt notwendig und sinnvoll sein, um ihrerseits Gewalt zu überwinden oder zu unterbinden. Allerdings müssen wir Stuttgart: Reclam, 1953, S. 32 (Hervorhebungen im Original). 19 So etwa Otto Kimminich, »Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts«, in: Reiner Steinweg (Redaktion), Der gerechte Krieg. Christentum, Islam, Marxismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980 (Friedensanalysen 12), S. 206–223 (218). 20 Vortrag des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, zum Thema »Freiheitsdiskurs 2013 – Dürfen wir uns heraushalten?« auf Einladung der Stiftung Garnisonkirche Potsdam, Berlin, 27.5.2013; siehe auch seine Punktation zur EAK-Landesversammlung »Christsein im Spannungsfeld von Friedensethik und Verteidigungspolitik«, Dresden, 4.11.2011; Impulsvortrag des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, anlässlich der Tagung der Evangelischen Akademie Berlin zum Thema »Wie weit sollen deutsche Soldaten gehen? – Politischer Wille, sicherheitspolitische Strategie und friedensethische Normen«, Berlin, 24.9.2012.

Die Scheu vor der Tradition des »gerechten Krieges«

dann, wenn wir zu dem letzten Mittel der militärischen Gewalt greifen, diese gut begründen. Wir müssen diskutieren: darüber, ob wir mit ihr die gewünschten Ziele erreichen oder ob wir schlimmstenfalls neue Gewalt erschaffen.« 21 In der Sozialethik der christlichen Kirchen hat die Tradition des »gerechten Krieges« auch in Deutschland fortgelebt, insbesondere in der naturrechtlich ausgerichteten der katholischen Kirche. Doch unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts und der wechselseitigen atomaren Abschreckung waren die Dilemmata und Aporien der Tradition deutlich geworden. 22 In der friedensethischen Interpretation der bellum iustumTradition, wie sie mittlerweile in der katholischen Kirche und den protestantischen Kirchen weithin Akzeptanz gewonnen hat, gilt der Einsatz militärischer Macht immer als rechtfertigungspflichtiges Übel. 23 Außer zur Verteidigung der politischen Souveränität und territorialen Integrität des eigenen und anderer Staaten ist Krieg mithin nur als Nothilfe zur Abwehr humanitärer Katastrophen legitim. 24 In der kirchlichen Ausprägung haben die Kriterien der Tradition des »gerechten Krieges« einen friedensethischen Bezugsrahmen erhalten. 25 Die der Tradition 21 Bundespräsident Joachim Gauck beim Antrittsbesuch bei der Bundeswehr, Hamburg, 12.6.2012. 22 Vgl. etwa Franz Böckle/Gert Krell (Hg.), Politik und Ethik der Abschreckung. Beiträge zur Herausforderung der Nuklearwaffen, Mainz/München 1982. Zur historischen Entwicklung siehe Paulus Engelhardt, »Die Lehre vom ›gerechten Krieg‹ in der vorreformatorischen und katholischen Tradition«, in: Steinweg (Redaktion), Der gerechte Krieg [wie Fn. 19], S. 72–124; Wolfgang Lienemann, »Das Problem des gerechten Krieges im deutschen Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg«, in: ebd., S. 125–162. 23 Als einen Beitrag aus katholischer Sicht zur Debatte um die Auslandseinsätze, in dem die bellum iustum-Lehre in eine friedensethische Perspektive gestellt und die einem Militäreinsatz als ultima ratio innewohnende Tragik und Ambivalenz betont wird, siehe Stephan Ackermann, »Zur ethischen Legitimierbarkeit von militärischen Einsätzen«, in: Christoph Schwegmann (Hg.), Bewährungsproben einer Nation. Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland, Berlin: Duncker & Humblot, 2011, S. 79–86. 24 Die beiden zentralen Dokumente sind: Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 27.9.2000; Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2007. 25 Siehe dazu – aus unterschiedlichen Richtungen – die kritischen Anmerkungen einerseits von Lothar Brock, Gerechtigkeit und Frieden. Die Tücken einer tugendhaften Verbindung, Frankfurt a.M.: HSFK, 2010 (HSFK Standpunkte 10/2010), andererseits von Michael Haspel, »Die ›Theorie des gerechten Friedens‹ als

entnommenen Maßstäbe gelten, wie es in der Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche heißt, als »Prüfkriterien«, verstanden als »allgemeine Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt«. Das Kriterium der iusta causa heißt jetzt »Erlaubnisgrund«, auch die anderen Kriterien der bellum iustum-Tradition finden sich: »Autorisierung«, »richtige Absicht«, »äußerstes Mittel« (nicht chronologisch, sondern als gewaltärmstes wirksames Mittel begriffen), Verhältnismäßigkeit der Folgen, Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unterscheidungsprinzip. 26 Der Einsatz militärischer Gewalt wird in diesem Rahmen, wie zu Recht bemerkt wurde, in »Analogie zu Polizeieinsätzen verstanden«. Viele Auslandseinsätze entsprechen diesem Bild allerdings nicht, sofern sie nicht im traditionellen Bereich der friedenserhaltenden Einsätze der Vereinten Nationen (VN) verbleiben. 27 Man mag sich von der Tradition des »gerechten Krieges« distanzieren und mit dem »gerechten Frieden« normative Theorie internationaler Beziehungen? Möglichkeiten und Grenzen«, in: Jean-Daniel Strub/Stefan Grotefeld (Hg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, S. 209–225 (211). Skeptisch gegenüber einer »Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg« dagegen ist Wolfgang Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? – Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik, Potsdam, 28.4.2004. 26 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland [wie Fn. 24], S. 68ff (Zitat S. 68). Siehe auch Hartwig von Schubert, Die Ethik rechtserhaltender Gewalt, Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, 2013. Zur Anwendung auf den Einsatz in Afghanistan siehe die Erklärung der EKD, Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Ein evangelisches Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan, Hannover, 25.1.2010. Dort heißt es: »Bei den in der Friedensdenkschrift der EKD entwickelten Kriterien für den Einsatz rechtserhaltender Gewalt handelt es sich um Prüfgesichtspunkte, die es erlauben sollen, die Handlungsoptionen ethisch zu beurteilen. Wir sehen gegenwärtig nicht, dass der Einsatz anhand der friedensethischen Kriterien eindeutig gebilligt oder abgelehnt werden könnte. Sicher aber ist: Die Prüfung weist auf deutliche Defizite hin. Ein bloßes ›Weiter so‹ würde dem militärischen Einsatz in Afghanistan die friedensethische Legitimation entziehen.« Als ein seltener Versuch aus dem politischen Bereich, mit einer friedensethischen Bewertung des Afghanistaneinsatzes auf die Diskussion in den Kirchen zu antworten, siehe CDU, Ist der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan friedensethisch gerechtfertigt?, 28.1.2011 (eine frühere Version erschien bereits Anfang 2010). 27 Michael Haspel, »Friedensethik zwischen Rechtsethik und Ethik des Politischen. Reflexionen anlässlich des AfghanistanKrieges«, in: Volker Stümke/Matthias Gillner (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Kohlhammer, 2011, S. 135– 152 (141).

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Militäreinsätze und Moral

ein Gegenkonzept propagieren. Doch spätestens dann, wenn man über »legitime Interventionen« nachdenkt, ist man wieder bei der ethischen Frage nach einem gerechtfertigten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt angelangt. 28 Und es reicht auch nicht aus, die normative Debatte auf eine völkerrechtliche zu reduzieren, wie es in Deutschland noch immer gang und gäbe ist. Der eine oder andere rechtspositivistischem Denken stark verhaftete Völkerrechtler mag die Haltung einnehmen, mit der Überwindung des klassischen Kriegsvölkerrechts durch die Charta der VN sei der Rückgriff auf die Tradition des »gerechten Krieges« hinfällig geworden. Aber das positive Recht bleibt in manchem unbestimmt, unvollständig und umstritten. 29 Nirgendwo lässt sich dies deutlicher erkennen als in der internationalen Debatte darüber, wie weit das Recht auf Selbstverteidigung geht. Groß ist mittlerweile die Bandbreite der Meinungen, ob und inwieweit »antizipatorische Verteidigung« legal sein kann, sei es präemptiv, sei es präventiv. Es ist kein Zufall, dass die Befürworter eines Rechts auf weitgefasste präventive Selbstverteidigung vor allem in den USA und in Großbritannien zu finden sind, weniger dagegen in Kontinentaleuropa. Die divergierenden Bewertungen entspringen auch unterschiedlichen Rechtskulturen. 30 Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis gilt es, einen Einzelfall anhand schriftlich fixierter Regeln systematisch-logisch zu interpretieren. Im angelsächsischen Rechtsraum versucht man dagegen überwiegend, bestehende Präzedenzfälle auf einen neuen Fall anzuwenden und das Recht in der Auslegung eines Einzelfalls weiterzuentwickeln. Dabei fließen offen und bewusst normative und politische Argumente ein. Das trifft auch auf die Völkerrechtslehre zu, deren Denken dadurch gerade auch in den USA weit mehr als in Deutschland von politischen und moralischen Gesichtspunkten geprägt ist. 28 So bei Dieter Senghaas, »Gerechter Friede statt Gerechter Krieg. Die Lehre der letzten Dekade«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 55 (2010) 9, S. 89–96. 29 »Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß es zur Klärung der normativen Fragen ethischer Reflexion bedarf, da die rein juristische kategorial nicht in der Lage ist, diese Fragen zu beantworten.« Michael Haspel, Friedensethik und humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2002, S. 85. 30 Hierzu und im Folgenden stütze ich mich auf Holger P. Hestermeyer, »Die völkerrechtliche Beurteilung des Irakkriegs im Lichte transatlantischer Rechtskulturunterschiede«, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 64 (2004) 2, S. 315–341.

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In Deutschland hat besonders Jürgen Habermas fundamentale Kritik an einer mit dem Rekurs auf die Tradition des »gerechten Krieges« einhergehenden »Moralisierung« der internationalen Beziehungen und einer damit verbundenen Ersetzung des positiven Rechts durch »Moral und Ethik« geäußert. 31 Diese Kritik hat sich am Moralismus der George-W.-BushAdministration entzündet, richtet sich aber auch gegen Michael Walzer, der »seine Kriterien, so vernünftig sie sein mögen, allein aus moralischen Grundsätzen und ethischen Überlegungen« gewinne und »nicht im Rahmen einer Rechtstheorie, die die Beurteilung von Krieg und Frieden an inklusive und unparteiliche Verfahren der Erzeugung und Anwendung von zwingenden Normen knüpft«. 32 Für Habermas gibt es seit der Schaffung des Friedensvölkerrechts der VN »keine gerechten und ungerechten Kriege mehr, sondern nur noch legale oder illegale, also völkerrechtlich gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Kriege«. 33 Habermas setzt zwar nachdrücklich auf die prozedurale Legitimation als Kriterium für die Legalität, hat aber dennoch die Kosovo-Intervention verteidigt, auch wenn diese nicht vom Sicherheitsrat autorisiert war. 34 Zu Recht wurde daher moniert, seine These, es gebe nur legale und illegale Kriege, sei zu »apodiktisch, die Zurückweisung der Lehre vom gerechten Krieg zu pauschal«. 35 Vielleicht wichtiger noch: Er selbst fordert an anderer Stelle, der VN-Sicherheitsrat müsse 31 Jürgen Habermas, »Ein Interview über Krieg und Frieden« (2004), in: ders., Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 85–110 (104). 32 Ebd., S. 102. 33 Ebd., S. 101. 34 Idealiter dürfte eine Interventionsentscheidung, wie Jürgen Habermas damals argumentierte, nur »von unabhängigen Institutionen« getroffen werden, die innerhalb einer »demokratischen Weltbürgergesellschaft« Rechtszwang legitimieren. In einer Situation des »unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts« sehe sich die Menschenrechtspolitik aber unter Umständen genötigt »zum bloßen Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich befördern will«. Einem im Extremfall als Nothilfe völkerrechtlich legitimen Gewalteinsatz durch »demokratische Nachbarn« komme jedoch nicht die Qualität »eines im Rahmen einer demokratischen Weltbürgergesellschaft legitimierten Rechtszwangs« zu. Jürgen Habermas, »Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral«, in: Reinhard Merkel (Hg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 51–65 (Zitate S. 63, 61). 35 Matthias Gillner, »Verrechtlichung statt Moralisierung der Internationalen Beziehungen. Die Kritik von Jürgen Habermas an Michael Walzers Revitalisierung der ›Lehre vom gerechten Krieg‹«, in: Stümke/Gillner (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert [wie Fn. 27], S. 193–218 (215).

Die Scheu vor der Tradition des »gerechten Krieges«

»sich an justiziable Regeln binden, die allgemein festlegen, wann die UNO zum Eingreifen berechtigt und verpflichtet ist.« 36 Dies müssten logischerweise substantiell-normative Regeln sein, die ohne Rückbindung an ethische Überlegungen nicht zu gewinnen wären. Will man nicht darauf verzichten, auch die Entscheidungen des VN-Sicherheitsrates einer Bewertung zu unterziehen, so geht dies nicht ohne Rückgriff auf ethische Argumente. 37 Die Gefahr eines Moralismus ist sicher gegeben, wenn man positivrechtliche Regelungen in ihrer begrenzenden Funktion gering schätzt. Auf der anderen Seite ignoriert ein reiner Legalismus die notwendige Offenheit des Rechts für eine an moralischen Gesichtspunkten orientierte Interpretation und Fortentwicklung. 38 Im Verhältnis zum Völkerrecht hat die ethische oder wie manche auch sagen würden »moralphilosophische Konzeption« des gerechten Krieges eine kritische Funktion, sei es im Hinblick auf die ethische Bewertung legaler Kriege, sei es hinsichtlich der Weiterentwicklung des Völkerrechts. 39 Nicht um die Frage, wann Gerechtigkeit den Einsatz von Gewalt erfordert, geht es in der Theorie des »gerechten Krieges«, sondern darum, wann ein Gewalteinsatz nicht ungerecht ist oder anders ausgedrückt: wann es moralisch gerechtfertigt sein kann, militärische Gewalt anzuwenden. Die Theorie setzt einen Rahmen für die Diskussion, wozu, wann und wie militärische Gewalt moralisch erlaubt sein kann. 40 36 Jürgen Habermas, »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?«, in: ders., Der gespaltene Westen [wie Fn. 31], S. 113–193 (172; Hervorhebung im Original). 37 Siehe hierzu Michael Haspel, »Zwischen Internationalem Recht und partikularer Moral? Systematische Probleme der Kriteriendiskussion der neueren ›Just War‹-Theorie«, in: Werkner/Liedhegener, Gerechter Krieg – gerechter Frieden [wie Fn. 16], S. 71–81. 38 Grundsätzlich zur Problematik von Moralismus und Legalismus siehe Bernd Ladwig, »Militärische Interventionen zwischen Moralismus und Legalismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48 (2000) 1, S. 133–147. 39 Denn: »Ohne eine moralphilosophische Konzeption des gerechten Krieges gibt es keinen externen Standpunkt, von dem aus das Völkerrecht und seine Anwendung beurteilbar ist. Sie versucht eine Antwort zu geben auf die Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen legitimer Androhung bzw. Ausübung von Gewalt.« Barbara Merker, »Was leistet die Theorie des gerechten Krieges heute?«, in: Strub/Grotefeld (Hg.), Der gerechte Friede [wie Fn. 25], S. 117–131 (123). 40 »Just war theory is concerned with when and in what ways it is not unjust to go to war. [...] The ideas of being just (or not unjust) and being morally justified are distinguishable. For example, it might sometimes be morally justified to do

Zweifellos weckt der Begriff »gerechter Krieg« Irritationen und sollte daher am besten vermieden und durch den Begriff der »legitimen Gewaltanwendung« 41 ersetzt werden. Gleichwohl enthält diese Tradition eine komplexe ethische Argumentation, die (wie ein Autor zutreffend bemerkte) in analoger Form geradezu »wiedererfunden« werden müsste, wenn nicht an sie angeknüpft werden könnte. 42 In dieser Tradition geht es um den Versuch, einschränkende Kriterien für den Einsatz militärischer Macht zu entwerfen und sowohl Prinzipien als auch Handlungsfolgen einer Beurteilung zugrunde zu legen. 43 Insofern unterscheidet sie sich wesentlich von jeder rein konsequentialistischen Bewertung militärischer Gewalt. Aus einer solchen Perspektive, die nur die Handlungsfolgen als ethischen Maßstab gelten lässt, wäre etwa eine humanitäre Intervention im Prinzip dann gerechtfertigt, wenn mehr unschuldige Menschen vor einer unmittelbar drohenden Ermordung gerettet werden könnten, als durch die eingreifenden Truppen getötet werden. Eine solche Kalkulation ließ sich in der Tendenz bei manchen Befürwortern der und Verantwortlichen für die Kosovo-Intervention 1999 erkennen. Auf die Frage, ob zivile Opfer nicht ein zu hoher Preis für die humanitäre Intervention gewesen seien, antwortete der damalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark rückblickend: »Wir haben im Jugoslawienkrieg alles versucht, ihre Zahl so gering wie möglich zu halten. Wir haben diese Toten einkalkuliert und gegen die vielen potenziellen Opfer des serbischen Feldzuges im Kosovo abgewogen, die wir mit den Luftangriffen gerettet haben.« 44 what is unjust and morally unjustified to do what is just. However, it is not unreasonable to think that most just war theory is really about morally justifiable war.« Frances M. Kamm, The Moral Target: Aiming at Right Conduct in War and Other Conflicts, Oxford: Oxford University Press, 2012, S. 3 (Hervorhebung im Original). 41 Eine solche Begrifflichkeit berücksichtigt auch den Umstand, dass militärische Gewalt in einem breiten Spektrum zur Anwendung kommt. Der Vorschlag zur Begrifflichkeit findet sich bei Dieter Baumann, Militärethik. Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, S. 332. 42 Johan Verstraeten, »From Just War to Ethics of Conflict Resolution«, in: Ethical Perspectives, 11 (2004) 2–3, S. 99–110 (108). 43 Siehe Christian Illies, »Das normative Fundament der Gerechten Krieges und das Nachhaltigkeitsgebot der Friedenssicherung«, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, 38 (2008/2009), S. 164–187. 44 So in dem Interview »Es gab kein Zurück mehr«, in: Der Spiegel, (23.10.2000) 43, S. 170–174 (172).

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Militäreinsätze und Moral

Wenn man den Einsatz von Gewalt in seiner ganzen Komplexität moralisch beurteilen will und nicht einem bedingungslosen Pazifismus oder einer moralfreien Realpolitik anhängt, dann ist man auf die bellum iustumTradition verwiesen. Diese wird jedoch allzu oft missverstanden, und zwar im Sinne einer Art abzuhakender Kriterienliste, anhand derer ein Krieg sich abschließend moralisch als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt einstufen lasse. Stattdessen geht es darum, den Gewalteinsatz einer ständigen kritischen moralischen Reflexion und Beurteilung zu unterwerfen. 45 In der Tradition ist keine Verherrlichung des Krieges angelegt; er gilt als Übel, wenngleich im Kontrast zu einer pazifistischen Position manchmal als das kleinere Übel. Krieg ist in dieser Sicht immer eine »moralische Tragödie«. 46

45 Siehe Nicholas Rengger, »The Judgment of War: On the Idea of Legitimate Force in World Politics«, in: Review of International Studies, 31 (2005), S. 143–161 (bes. S. 152, 159). 46 Mark Evans, »In Defence of Just War Theory«, in: ders. (Hg.), Just War Theory. A Reappraisal, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2005, S. 203–222 (206).

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

Es ist sinnvoll, begrifflich zwischen der »Tradition des gerechten Krieges« und der »Theorie des gerechten Krieges« zu unterscheiden. Letztere baut auf die Tradition auf und versucht den Einsatz militärischer Gewalt systematisch und in sich konsistent zu beurteilen 47 (wobei es mehrere Varianten gibt). Die Theorie des gerechten Krieges ist eine ethische Theorie, auch wenn sich vieles, was das ius in bello betrifft, im humanitären Völkerrecht niedergeschlagen hat. 48 Zur Verwirrung trägt auch bei, dass identische Begriffe in der völkerrechtlichen und in der ethischen Diskussion zum Teil unterschiedliche Bedeutungen haben. Was die Völkerrechtler unter ius ad bellum-Proportionalität verstehen, nämlich einen streng auf die rechtfertigenden Ziele ausgerichteten Einsatz der Gewalt, wird in der ethischen Diskussion unter dem Kriterium der »rechten Absicht« diskutiert. Ius ad bellum-Verhältnismäßigkeit bezieht sich in der ethischen Debatte dagegen auf die Gesamtbewertung eines Gewalteinsatzes. Und was völkerrechtlich unter dem Begriff der Notwendigkeit verhandelt wird, dass nämlich ein Gewalteinsatz nur dann erlaubt ist, wenn keine anderen Mittel der Verteidigung bestehen, wird in der ethischen Diskussion im Kontext des Kriteriums der ultima ratio diskutiert. 49 Unterschieden wird in der Regel zwischen dem »Recht zum Krieg« (ius ad bellum) und dem »Recht im Kriege« (ius in bello). Zwar könnte man vermuten, diese Differenzierung sei sehr alt, doch bis in die frühen 1930er Jahre hinein waren die Begriffe kaum gebräuchlich und fanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Verbreitung. In der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Ausprägung der

47 Zu dieser Unterscheidung siehe Steven P. Lee, Ethics and War. An Introduction, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, S. 31. 48 Zum Verhältnis zwischen Theorie des gerechten Krieges und Völkerrecht siehe Lee, Ethics and War [wie Fn. 47], S. 32ff; Jeff McMahan, »Laws of War«, in: Samantha Besson/John Tasioulas (Hg.), The Philosophy of International Law, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 493–509. 49 Zu den Begriffen Notwendigkeit und Proportionalität im Völkerrecht siehe Judith Gardam, Necessity, Proportionality and the Use of Force by States, Cambridge: Cambridge University Press, 2004.

bellum iustum-Tradition gab es noch keine Trennung zwischen zwei unabhängigen Normensätzen. 50 Das ius ad bellum setzt Bedingungen, unter denen der Einsatz militärischer Gewalt legitim ist: dann nämlich, wenn ein rechtfertigender Grund vorliegt, eine rechtmäßige Autorität die Entscheidung trifft, die rechte Absicht leitend ist, die Verhältnismäßigkeit zwischen den Zielen und dem verursachten Schaden gegeben ist, militärische Gewalt nur als äußerstes Mittel angewandt wird, eine vernünftige Aussicht auf Erfolg besteht und der Krieg auf die Wiederherstellung eines gerechten Friedens zielt. 51 Die einzelnen Faktoren wurden innerhalb der Tradition unterschiedliche interpretiert und gewichtet. Auch die beiden elementaren Kriterien des ius in bello sind offen für Auslegungen: die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die Immunität der Nichtkombattanten. Mittlerweile haben zwei weitere Kategorien Eingang in die Diskussion gefunden: das ius ex bello (grammatikalisch korrekt auch als ius ad terminationem belli bezeichnet) und das ius post bellum. Hintergrund sind die Erfahrungen mit den militärischen Interventionen vor allem in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts: den Kriegen in Afghanistan und im Irak. Wie immer man diese Kriege unter dem Aspekt des ius ad bellum beurteilen mochte, ob als gerechtfertigt oder nicht, warfen beide jedoch die Fragen auf, welche moralischen Verpflichtungen sich aus der Besetzung eines Landes ergeben und unter welchen Bedingungen ein Rückzug 50 Siehe Robert Kolb, »Origins of the Twin Terms Jus ad Bellum/Jus in Bello«, in: International Review of the Red Cross, (1997) 320. 51 In der Tradition ist noch eine weitere Bedingung zu finden: die öffentliche Kriegserklärung, in der die Gründe angegeben werden und die dem Gegner die Möglichkeit bieten soll, durch ein Einlenken den Krieg noch abzuwenden. Tut er dies nicht, lässt sich das als Begründung dafür verwenden, dass militärische Gewalt als ultima ratio eingesetzt wird. Siehe Helen Frowe, The Ethics of War and Peace. An Introduction, London/New York: Routledge, 2011, S. 63. Kriegserklärungen waren bis zum Zweiten Weltkrieg üblich. Seitdem wird der Begriff Krieg für größere Gewalteinsätze eher ungern verwendet und formelle Kriegserklärungen gibt es kaum noch. Zu möglichen Gründen dafür siehe Tanisha M. Fazal, »Why States No Longer Declare War«, in: Security Studies, 21 (2012) 4, S. 557–593.

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

moralisch geboten ist. 52 Die Diskussion über das ius post bellum nimmt explizit die Frage nach den Prinzipien eines »gerechten Friedens« auf, den bereits Augustinus als eigentliches Ziel eines Gewalteinsatzes nannte und der besonders in der heutigen friedensethischen Einbettung der Tradition eine herausragende Rolle spielt. 53 In diesem Zusammenhang wird etwa diskutiert, unter welchen Bedingungen es legitim ist, dass die siegreiche Macht sich nicht aus Respekt vor der Souveränität eines besetzten Landes möglichst schnell zurückzieht, sondern im Gegenteil die Umgestaltung des Landes betreibt. 54 Doch zu Recht wurde eingewandt, Fragen einer gerechten Nachkriegsordnung seien im Rahmen einer breiteren Friedensethik angemessener zu diskutieren. Die Theorie des »gerechten Krieges« und ihre substantiellen und prozeduralen Kriterien dienten dagegen der Bewertung militärischer Gewaltanwendung. 55 Die Aussicht auf einen »gerechten Frieden« ist aus ethischer Perspektive ein entscheidendes Kriterium für die Beurteilung militärischer Gewaltanwendung. Das gilt für die bellum iustum-Tradition wie auch für ihre friedensethische Neuinterpretation. Der Einsatz militärischer Gewalt muss in dieser Sichtweise auf den Aufbau einer Ordnung ausgerichtet sein, die Gewalt überwindet. 56 52 Siehe David Rodin, »Ending War«, in: Ethics and International Affairs, 25 (Herbst 2011) 3, S. 359–367; Seth Lazar, Endings and Aftermath in the Ethics of War, Oxford: Centre for the Study of Social Justice (CSSJ), Department of Politics and International Relations, University of Oxford, November 2010 (CSSJ Working Paper Series, SJ016). 53 Siehe Robert E. Williams, Jr./Dan Caldwell, »Jus Post Bellum: Just War Theory and the Principles of Just Peace«, in: International Studies Perspectives, 7 (2006) 4, S. 309–320; Mark Evans, »Moral Responsibilities and the Conflicting Demands of Jus Post Bellum«, in: Ethics and International Affairs, 23 (Sommer 2009) 2, S. 147–164; Martin Frank, »Das ius post bellum und die Theorie des gerechten Krieges«, in: Politische Vierteljahresschrift, 50 (2009), S. 732–753. 54 Siehe Gary J. Bass, »Jus Post Bellum«, in: Philosophy and Public Affairs, 32 (2004) 4, S. 384–412. 55 So Lazar, Endings and Aftermath in the Ethics of War [wie Fn. 52]; ähnlich Mona Fixdal, Just Peace. How Wars Should End, New York: Palgrave Macmillan, 2012. Zu einer anderen Einschätzung, dass nämlich Verpflichtungen nach einem Gewalteinsatz bereits unter die Bedingungen des ius ad bellum (rechte Absicht) und des ius in bello (Unterscheidungs- und Verhältnismäßigkeitsgebot) subsumiert werden sollten, siehe Emily Pollard, »The Place of jus post bellum in Just War Considerations«, in: Fritz Allhoff/Nicholas G. Evans/Adam Henschke (Hg.), Routledge Handbook of Ethics and War. Just War Theory in the Twenty-first Century, New York/London: Routledge, 2013, S. 93– 104. 56 Siehe Michael Walzer, »Is Obama’s War in Afghanistan

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Insbesondere der Afghanistan-Krieg hat die in der Diskussion um den »gerechten Krieg« wenig beachtete Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen die Beendigung eines Krieges moralisch geboten ist und wie dies in verantwortungsvoller Weise geschehen kann. 57 So könne es moralisch geboten sein, einen Krieg, der ursprünglich alle Kriterien eines gerechtfertigten Krieges erfüllt hat, zu beenden, auch wenn die Ziele nicht erreicht sind. Dies wäre dann der Fall, wenn die Zuversicht in einen Erfolg nicht mehr gegeben ist. Hierbei ist zweierlei zu unterscheiden: Ist es die eingeschlagene Strategie, die aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Erfolg zeitigen wird? Oder ist der Krieg auch mit einer anderen Strategie nicht zu gewinnen, selbst wenn sie möglich und im Sinne des ius in bello moralisch akzeptabel ist? Daher sollten die Erfolgsaussichten eines Krieges und der verfolgten Strategien ständig überprüft werden. Umgekehrt könnte es angezeigt sein, einen nicht gerechtfertigten Krieg fortzusetzen, etwa wenn bei der Beendigung eine humanitäre Katastrophe, insbesondere ein Genozid, wahrscheinlich wäre. Deshalb erfordert ein Krieg oder ein militärischer Gewalteinsatz eine beständige ethische Bewertung unter den Aspekten des gerechtfertigten Grundes, der Verhältnismäßigkeit und der Erfolgsaussicht. Das heißt denn auch: Es ist moralisch geboten, ständig zu prüfen, ob politische Möglichkeiten der Kriegsbeendigung genutzt werden können. 58 Die traditionelle Unterscheidung zwischen ius ad bellum und ius in bello sowie ihre neuere Ergänzung um das ius ex bello und das ius post bellum erwecken allzu leicht den falschen Eindruck, es gehe um die separate Just?«, in: Dissent (Online Article), 3.12.2009. Aus friedensethischer Perspektive ist der Einsatz von Gewalt allein dann gerechtfertigt, »wenn sie selbst zu einem Instrument der Gewaltüberwindung wird. Dies ist die Kernaussage der modernen Friedensethik der beiden großen Kirchen; jede andere Gewaltanwendung wäre unsittlich. So ist bei dem militärischen Einsatz in Afghanistan darauf zu achten, dass durch ihn der Aufbau einer friedlichen Ordnung für die Menschen wirklich ermöglicht wird. Dies und nur dies begründet den Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan.« Heinz-Gerhard Justenhoven, »Friedensethik in veränderter Sicherheitslage«, Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), München, 16./17.4.2010 [auch in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hg.), Berichte und Dokumente, Bonn 2011, S. 40–54]. 57 Siehe Rodin, »Ending War« [wie Fn. 52]; Darrel Moellendorf, »Jus ex Bello in Afghanistan«, in: Ethics and International Affairs, 25 (Sommer 2011) 2, S. 155–164. 58 Dieser Absatz stützt sich auf Darrel Moellendorf, »Jus ex Bello«, in: The Journal of Political Philosophy, 16 (2008) 2, S. 123– 136.

Rechtfertigungsgründe

Bewertung unterschiedlicher, in ihrer moralischen Qualität unverbundener Phasen eines bewaffneten Konflikts und um das Abarbeiten einer Kriterienliste. 59 Anzustreben ist vielmehr, einen Gewalteinsatz insgesamt normativ zu evaluieren, und zwar vorausschauend, begleitend und rückblickend. Jeder Einsatz militärischer Gewalt, der die Tötung von Menschen nach sich zieht, ist grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Denn auf den ersten Blick ist eine solche Handlung moralisch in sich falsch (wie unterschiedlich philosophische oder religiöse Begründungen dafür auch sein mögen). Es bedarf daher guter Gründe, die moralische Pflicht zu verletzen, Menschen nicht zu töten und ihnen nicht zu schaden. 60 So verstanden sind es drei Grundfragen, die aus ethischer Perspektive mit Blick auf den Einsatz militärischer Gewalt zu stellen sind: erstens nach den Zwecken, die einen Gewalteinsatz legitimieren können (Wozu?), zweitens nach den Bedingungen, unter denen ein solcher Einsatz zu rechtfertigen ist (Wann?), drittens nach den Kriterien für die Art des Einsatzes (Wie?). 61 Diese drei Fragen sollen den folgenden Überblick über die gegenwärtige, in Deutschland kaum geführte und eher selten rezipierte ethische Debatte strukturieren, ihre Ansätze, Argumentationsmuster und Akzente.

Rechtfertigungsgründe Vor allem die Einschätzung dessen, was einen »gerechten« Kriegsgrund darstellen kann, hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt. In einer ersten Annäherung lässt sich sagen, dass es sich bei einem solchen Grund um ein Ziel handeln muss, das Töten rechtfertigen kann. Es muss also um die Verhinderung oder Unterbindung von Handlungen gehen, die so

59 Zu diesem falschen Verständnis siehe Orend, The Morality of War [wie Fn. 9], S. 105f; siehe auch Serena K. Sharma, »Reconsidering the Jus ad Bellum/Jus in Bello Distinction«, in: Carsten Stahn/Jann K. Kleffner (Hg.), Jus Post Bellum. Towards a Law of Transition from Conflict to Peace, Den Haag: TMC Asser Press, 2008, S. 9–30. 60 Siehe James F. Childress, »Just-War Theories: The Bases, Interrelations, Priorities, and Functions of Their Criteria«, in: Theological Studies, 39 (1978) 3, S. 427–445. 61 Zu dieser Systematik der Kriterien siehe J. Bryan Hehir, »The Just-War Ethic Revisited«, in: Linda B. Miller/Michael Joseph Smith (Hg.), Ideas and Ideals. Essays on Politics in Honor of Stanley Hoffmann, Boulder/San Francisco/Oxford 1993, S. 144– 161 (147).

gravierend sind, dass sie es rechtfertigen, deren Urheber zu töten. 62 Doch darüber, was diese Gründe sein können, streiten sich die Vertreter einer eher restriktiven und die einer eher permissiven Variante der Theorie. 63 Die restriktive Ausprägung, wie sie sich auch in der Friedensethik der großen Kirchen niedergeschlagen hat, fußt auf der Annahme, der Einsatz tödlicher militärischer Gewalt sei immer ein rechtfertigungspflichtiges Übel, wenn auch unter manchen Bedingungen ein notwendiges (»presumption against war«). 64 Diese Interpretation der Tradition führt zu einem engen Verständnis legitimer Kriegsgründe, im Wesentlichen Verteidigung und Nothilfe. Die permissive Auslegung der Tradition, wie sie besonders bei manchen konservativen Theologen in den USA zu finden ist, lehnt die »presumption against war« ab, knüpft mit der »presumption against injustice« an das mittelalterliche Verständnis der Tradition an und erweitert die Bandbreite legitimer Kriegsgründe. 65 In dieser Sichtweise wird dem »gerechten Grund« Vorrang vor anderen Bedingungen eingeräumt, insbesondere vor dem Kriterium des äußersten Mittels. 66 Beide Positionen sind keineswegs völlig unvereinbar, sondern lassen sich in konkreten Abwägungsprozessen vermitteln: Wer mit dem Hinweis auf großes Unrecht, das abgestellt werden müsse, den Einsatz militärischer Gewalt fordert, muss begründen, warum in diesem

62 »Let us assume that people can make themselves liable to be killed (for example, in self-defense or as punishment) only by virtue of seriously wronging or threatening to wrong others. On this assumption, the just causes for war are limited to the prevention or correction of wrongs that are serious enough to make the perpetrators liable to be killed or maimed.« Jeff McMahan, »Just Cause for War«, in: Ethics and International Affairs, 19 (Herbst 2005) 3, S. 1–21 (11; Hervorhebung im Original). Siehe auch etwa Ian Holliday, »When Is a Cause Just?«, in: Review of International Studies, 28 (Juli 2002) 3, S. 557–575. 63 Zu dieser Unterscheidung und zum Folgenden siehe Lee, Ethics and War [wie Fn. 47], S. 102–108. 64 Das bedeutet, »that the idea of ›respect for life‹, properly understood, sets up a very strong moral presumption against war. Since the waging of war almost invariably involves the deliberate taking of life on a massive scale, it will be immensely difficult to justify.« Richard Norman, Ethics, Killing and War, Cambridge: Cambridge University Press, 1995, S. 207. 65 So besonders James Turner Johnson/George Weigel, Just War and the Gulf War, Washington, D.C.: Ethics and Public Policy Center, 1991. 66 Kritik an dieser »permissive conception of force« ist das Thema von Nicholas Rengger, Just War and International Order. The Uncivil Condition in World Politics, Cambridge: Cambridge University Press, 2013, Zitat S. 158.

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

Fall die »presumption against war« als Norm außer Kraft gesetzt wird. 67

Verteidigung Selten wird in Zweifel gezogen, dass die Verteidigung gegenüber einem Angriff im Prinzip einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellt. Aber wie lässt sich das Recht auf nationale Selbstverteidigung ethisch begründen, wie kann es die Tötung von Menschen rechtfertigen? Zwei Begründungsstränge lassen sich erkennen. Der erste besteht darin, die staatliche Verteidigung als besondere Form individueller Selbstverteidigung zu sehen. Wie aber kann diese gemeinschaftliche Form der Selbstverteidigung gegen eine Aggression legitimiert werden, wenn diese nicht das Leben der Bürger des angegriffenen Staates bedroht, aber im Zuge eines Verteidigungskrieges zahlreiche Bürger des angegriffenen Landes sterben? In der zweiten Argumentationslinie ist nationale Verteidigung nicht als eine Art aggregierte Form individueller Verteidigung zu sehen, sondern in Analogie zu dieser: Danach ist die Verteidigung und damit auch die Tötung der Angreifer gerechtfertigt, weil es um die Bewahrung der Lebensform einer politischen Gemeinschaft geht. 68 Hat aber in ethischer Perspektive jeder Staat das Recht zur Verteidigung? Oder ist das Recht an die Verfassung des Staates geknüpft? 69

67 Siehe John W. Lango, Review of: Cian O’Driscoll, »Renegotiating of the Just War Tradition and the Right to War in the Twenty-First Century«, in: Ethics and International Affairs, 24 (Sommer 2010) 2, S. 219–220. 68 Inwieweit diese Legitimationen aus ethischer Perspektive stichhaltig sind oder ein Verteidigungskrieg eher im Sinne der Rechtsdurchsetzung begründet werden muss (was wieder neue Fragen aufwirft), soll hier nicht näher diskutiert werden. Zur Kritik der beiden genannten Begründungsstränge siehe David Rodin, War and Self-Defense, Oxford: Clarendon Press, 2002; ders., »War and Self-Defense«, in: Ethics and International Affairs, 18 (Winter 2004) 1, S. 63–68; zur kritischen Auseinandersetzung siehe die Erwiderung von Jeff McMahan, »War as Self-Defense«, ebd., S. 75–80. 69 Hier brechen Unterschiede zwischen einer kommunitaristisch-partikularistischen und einer liberal-kosmopolitischen Theorie legitimer Gewaltanwendung auf, die sich auch in der Frage der Nothilfe in Form einer humanitär begründeten Intervention widerspiegeln, wie dies im Unterkapitel »Nothilfe und Schutzverantwortung als Rechtfertigungsgrund« näher diskutiert wird. Zu einer kosmopolitischen Sicht der Theorie des gerechten Krieges siehe Simon Caney, Justice beyond Borders. A Global Political Theory, Oxford: Oxford University Press, 2005, S. 189–225.

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Gesteht man jedem Staat zu, gleichgültig ob er nun die Menschenrechte seiner Bürger achtet oder nicht, dass er sich prinzipiell gegen einen Angriff verteidigen darf, stellt sich jedoch die Frage: Rechtfertigt jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Souveränität gerichtete Angriff einen Verteidigungskrieg, etwa die Besetzung eines an sich unbedeutenden Landstrichs? Oder müssen bereits hier Verhältnismäßigkeitserwägungen ins Spiel kommen? Nach der klassischen Position, wie sie Michael Walzer vertritt, ist ungeachtet ihres Ausmaßes jede Aggression ein Verbrechen, das einen Verteidigungskrieg rechtfertigt. 70 Gemäß einer anderen Auffassung ist auch die Selbstverteidigung als der »gerechte Grund« schlechthin an eine Proportionalitätserwägung geknüpft: Danach ist nicht jede Verletzung der territorialen Integrität eines Landes eine derartige Bedrohung oder Verletzung der Rechte seiner Bürger, dass ein Krieg gerechtfertigt ist, in dem das Leben und die Rechte vieler auf dem Spiel stehen. Zum Beispiel wird die Besetzung unbewohnter Landstriche kaum die politische Selbstbestimmung der Bürger des Landes gefährden. 71 Strittig ist auch, unter welchen Bedingungen es, wenn überhaupt, ethisch begründbar ist, militärische Gewalt zur Verteidigung nicht gegen einen unmittelbar drohenden Angriff, sondern gegen eine potentielle spätere Bedrohung anzuwenden. In der kirchlichfriedensethischen Ausprägung der Tradition gilt, was im Hinblick auf den Irak-Krieg und die Option eines Präventivangriffs gegen die iranischen Nuklearanlagen formuliert wurde: Ein Präventivkrieg ist nicht erlaubt, vorbeugende Selbstverteidigung kein legitimer Rechtfertigungsgrund. 72 An der klaren Unterscheidung 70 »Aggression is a singular and undifferentiated crime because, in all its forms, it challenges rights that are worth dying for.« Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 53. 71 Siehe Larry May, »The Principle of Just Cause«, in: ders. (Hg.), War. Essays in Political Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 2008, S. 49–66; ähnlich auch Uwe Steinhoff, Zur Ethik des Krieges und des Terrorismus, Stuttgart: Kohlhammer, 2011, S. 35f. 72 Siehe Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum IrakKonflikt: Ein Präventivkrieg wäre sittlich unerlaubt, Würzburg, 20.1.2003; Gerard F. Powers (Director, Office of International Justice and Peace, United States Conference of Catholic Bishops), An Ethical Analysis of War against Iraq [2002], (Zugriff am 20.4.2012); Bischof Howard J. Hubbard, Vorsitzender des Committee on International Justice and Peace der amerikanischen Bischofskonferenz, zitiert in: »Iran’s Nuclear Threat: U.S. Military Response ›Should Be off the Table‹«, in: America.

Rechtfertigungsgründe

zwischen präemptiver Verteidigung und präventivem Krieg wird festgehalten. Präemptive Selbstverteidigung wird dabei im Sinne der engen Webster-Formel verstanden, deren Kriterien im Völkergewohnheitsrecht zu finden sind. Es handelt sich um Kriterien, die der damalige US-Außenminister Daniel Webster 1841 anlässlich eines Zwischenfalls mit Großbritannien (des sogenannten Caroline-Falls von 1837) formuliert hat. Danach ist die antizipatorische Verteidigung dann erlaubt, wenn sie zur Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung notwendig ist, es dazu keine anderen Möglichkeiten gibt, der Zeitdruck keine weiteren Beratungen gestattet und das Handeln gemessen an der Notwendigkeit verhältnismäßig ist. In der heutigen »säkularen« Spielart des Nachdenkens über gerechtfertigte Kriege wird das fundamentale Kriterium eines unmittelbar drohenden Angriffs jedoch eher kritisch beurteilt. Wie bei vielen Aspekten der ethischen Bewertung militärischer Gewalt hat auch in dieser Frage Michael Walzer mit seinem Werk »Just and Unjust Wars« die Diskussion geprägt. Er hält die Webster-Formel für zu restriktiv, erlaubten deren Kriterien doch nur die Abwehr eines beginnenden Angriffs, kurz bevor seine Wirkung zu spüren sei. Die dahinterliegende Vorstellung sei die einer gleichsam reflexhaften Reaktion. Sie entspreche jedoch nicht der Realität, in der Entscheidungen Ergebnis von Beratungen und Abwägungen seien. Nicht die Unmittelbarkeit des Angriffs, sondern das Ausmaß der Bedrohung ist für Walzer die moralisch relevante Trennlinie zwischen den beiden Arten der Antizipation, zwischen präventivem und präemptivem Krieg. 73 Walzers nach eigener Einschätzung eher vager Begriff der »ausreichenden Bedrohung« (»sufficient threat«) enthält drei Elemente: erstens eine offenkundige Absicht zu schaden (»a manifest intent to injure«), zweitens eine aktive Vorbereitung solchen Ausmaßes, dass die Absicht zu einer sicheren Gefahr wird (»a degree of active preparation that makes that intent a positive danger«), drittens eine Situation, in der der Verzicht auf den Gewalteinsatz das Risiko beträchtlich erhöht (»a general situation in which waiting, or doing anything other than fighting, greatly magnifies the risk«). Für die Legitimität antizipatorischen Handelns schlägt Walzer im Anschluss an seine Diskussion des Sechs-

The National Catholic Review, 205 (21.11.2011) 16, S. 6. 73 »The line between legitimate and illegimate first strikes is not going to be drawn at the point of imminent attack but at the point of sufficient threat.« Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], Zitate S. 81, insgesamt zur Problematik S. 74–85.

tagekriegs 74 folgende »allgemeine Formel« vor: Angesichts eines drohenden Kriegs dürfen Staaten dann handeln, wenn der Verzicht auf Präemption eine ernsthafte Gefährdung für ihre territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit darstellen würde. 75 Walzer ist damit über die traditionellen, im Gewohnheitsvölkerrecht immer wieder genannten Kriterien hinausgegangen und hat den Spielraum für Präemption erweitert, da das unmittelbare Bevorstehen eines Angriffs nicht mehr die zentrale Rolle spielt. Walzers Kriterien, die in der amerikanischen Diskussion, auch der völkerrechtlichen, sehr präsent sind, eröffnen die Möglichkeit, moralisch legitime Präemption in Richtung präventiver Kriege auszuweiten. 76 Sicher lässt sich bezweifeln, dass Verteidigung stets an einen unmittelbar drohenden Angriff gebunden sein muss, 77 denn dieses Kriterium ist keineswegs messerscharf. Einerseits ist es möglich, dass ein drohender Angriff doch nicht stattfindet, weil der potentielle Aggressor seine Absichten ändert oder weil er Drohpolitik betreibt und blufft. Andererseits könnte es Fälle geben, in denen mit großer Gewissheit ein Angriff zu erwarten ist, auch wenn das Moment der Unmittelbarkeit noch nicht gegeben ist. 78 Ungewiss74 Ob und in welchem Sinne es sich dabei um einen Präemptivkrieg handelte, muss hier nicht erörtert werden. Siehe dazu Ersun N. Kurtulus, »The Notion of a ›Pre-emptive War‹: The Six Day War Revisited«, in: The Middle East Journal, 61 (Frühjahr 2007) 2, S. 220–238. 75 »States may use military force in the face of threats of war, whenever the failure to do so would seriously risk their territorial integrity or political independence.« Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 85. 76 Siehe John W. Lango, »Preventive Wars, Just War Principles, and the United Nations«, in: The Journal of Ethics, 9 (März 2005) 1–2, S. 247–268 (bes. 258ff). Walzer hatte wohl nicht im Sinn, die Unterscheidung zwischen präemptiven und präventiven Kriegen zu verwässern oder gar einen Krieg wie den Irak-Krieg im Jahre 2003 legitimieren zu helfen. Aber die Bush-Administration hat in ihrem ausgeweiteten Konzept der Präemption wohl nicht zufällig den Begriff »sufficient threat« benutzt. The White House, The National Security Strategy, Washington, D.C., September 2002, S. 15. 77 Siehe Russell Powell, »The Law and Philosophy of Preventive War: An Institution-based Approach to Collective Selfdefense«, in: Australian Journal of Legal Philosophy, 32 (2007), S. 67–89; siehe ferner zur Debatte mit Blick auf Iran Martin Henn, »Preemption and the Limits of Just War: Fundamental Questions of U.S. Policy Formation over Iran’s Emerging Nuclear Weapons Programs«, in: Public Affairs Quarterly, 21 (Oktober 2007) 4, S. 363–379. 78 Deshalb könne ein Präventivkrieg trotz allen Missbrauchs nicht kategorisch als illegitim abgelehnt werden, behauptet

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

heit bleibt immer, wenn es um die Einschätzung von Bedrohungen geht. Kriegsvorbereitungen können auch defensiv gemeint und Ausdruck des Sicherheitsdilemmas sein, das in Krisen die wechselseitige Furcht vor Überraschungsangriffen nährt. Zudem sind Geheimdiensteinschätzungen, die solchen Bedrohungswahrnehmungen zugrunde liegen, alles andere als zuverlässig, denn Fähigkeiten lassen sich einfacher beurteilen als Absichten. Diese werden meist anhand früheren Verhaltens interpretiert. Schließlich ist die Unvorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen, die Offenheit der Zukunft, in Rechnung zu stellen. Vielleicht lässt sich der Gegner doch abschrecken, vielleicht ändern sich seine Intentionen. Je weiter die Bedrohung, die ein antizipatorischer Angriff ausschalten soll, in der Zukunft liegt, desto größer ist tendenziell die Ungewissheit. 79 Wie lässt sich angesichts dieser Schwierigkeiten eine »offenkundige« Angriffsabsicht feststellen, das erste der Kriterien im Konzept der »ausreichenden Bedrohung«? Welches sind die Indikatoren, mit denen sich die Absichten von Staaten in einem anarchischen internationalen System verlässlich bestimmen lassen? 80 Nicht minder heikel kann die Einschätzung sein, ob und wann Walzers zweites Kriterium, das der aktiven Vorbereitung, erfüllt ist. Reicht dazu schon der Besitz von Massenvernichtungswaffen aus? Diese Frage wurde verschiedentlich im Hinblick auf den Irak-Krieg 2003 diskutiert. Doch vieles spricht dafür, dass der Besitz solcher Waffen erst im Lichte der bisherigen Erfahrungen mit dem betreffenden Land zu einer bedrohlichen Fähigkeit wird. Zu fragen wäre dann: Hat es schon einmal Massenvernichtungswaffen eingesetzt? Hat es sich einer internationalen Aggression schuldig gemacht? Hat es in einem Krieg gezielt Nichtkombattanten angegriffen? 81

Whitley Kaufman, »What’s Wrong with Preventive War? The Moral and Legal Basis for the Preventive Use of Force«, in: Ethics and International Affairs, 19 (Herbst 2005) 3, S. 23–38. 79 Siehe Karl P. Mueller et al., Striking First. Preemptive and Preventive Attack in U.S. National Security Policy, Santa Monica: RAND Corporation, 2006, S. 32ff; Richard K. Betts, »Striking First: a History of Thankfully Lost Opportunities«, in: Ethics and International Affairs, 17 (Frühjahr 2003) 1, S. 17–24. 80 Zu dieser Kritik an Walzers Konzept des »sufficient threat« siehe David Rodin, »The Problem with Prevention«, in: Henry Shue/David Rodin (Hg.), Preemption. Military Action and Moral Justification, Oxford/New York: Oxford University Press, 2007, S. 143–170 (169f). 81 So die Kriterien bei Orend, The Morality of War [wie Fn. 9], S. 79f.

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Lassen sich Kriterien ähnlich derer, die Walzer für einen gerechtfertigten Präemptivkrieg aufgestellt hat, auch für einen Präventivkrieg finden, um ihn so von einem Angriffskrieg abzugrenzen und gleichzeitig die von der Existenz von Massenvernichtungswaffen bestimmte Situation zu berücksichtigen? Lassen sich Kriterien formulieren, die defensive Kriege – traditionelle Verteidigungskriege, präemptive Kriege und präventive Kriege – von einer ungerechtfertigten Aggression unterscheiden? Die politisch-philosophische Diskussion bietet einige Ansätze zu einer solchen Unterscheidung. In seiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Irak-Krieg zu rechtfertigen war, hat Richard B. Miller folgende Kriterien für eine »proaktive Politik, die zugleich defensiv ist« vorgeschlagen: 82 (1) Es besteht eine reale Gefahr durch einen Gegner, der von seinen Fähigkeiten und Absichten her eine erhebliche Bedrohung darstellt. (2) Es muss Verhältnismäßigkeit in dem Sinne gewahrt sein, dass der Verzicht auf Handeln zu einer größeren Gefährdung in der Zukunft führen würde. (3) Der Gegner muss in der Vergangenheit offene Feindseligkeit an den Tag gelegt haben. (4) Aufgrund seiner militanten Ideologie besteht keine Hoffnung, diesen Gegner von einem Gewalteinsatz abzuschrecken. In diesen wie auch anderen Versuchen, 83 legitime Präventivverteidigung von illegitimen Angriffskriegen zu unterscheiden, ist es ausschlaggebend, als wie wahrscheinlich eine künftige, nicht abzuhaltende Bedrohung eingeschätzt wird. Diese Abwägung stützt sich zum einen auf die Fähigkeiten, zum anderen auf die vermuteten Intentionen des Gegners, für die sein bisheriges Verhalten als Indikator gilt. Doch die der Präventivverteidigung zugrundeliegende Annahme eines irgendwann in der Zukunft mit großer Gewissheit zu erwartenden, nicht abschreckbaren Angriffs, gegen den eine Verteidigung nur mit geringeren Erfolgsaussichten und/oder höheren Kosten möglich wäre, als es jetzt der Fall ist, ruht auf einer spekulati82 »[...] proactive policy that is also defensive«. Richard B. Miller, »Justifications of the Iraq War Examined«, in: Ethics and International Affairs, 22 (Frühjahr 2008) 1, S. 43–67 (50). Miller ist skeptisch gegenüber Präventivkriegen. Er nennt einen hypothetischen Fall, bei dem die genannten Bedingungen erfüllt wären: Ein den USA feindlich gesinnter »Schurkenstaat« entwickelt ein Ebola-Virus, das an Terroristen weitergegeben werden könnte. Auch nach internationalem Druck durch die Vereinten Nationen gibt der Staat die Forschung nicht auf. 83 Siehe auch Michael W. Doyle, Striking First. Preemption and Prevention in International Conflict, Princeton: Princeton University Press, 2008, S. 46–63.

Rechtfertigungsgründe

ven Wahrscheinlichkeitseinschätzung. 84 Das macht es unmöglich, Notwendigkeit (im Sinne der ultima ratio) und Verhältnismäßigkeit einer Präventivverteidigung zu beurteilen. Zur Abwehr einer hypothetischen Bedrohung werden Unschuldige getötet: Unschuldige sowohl in dem traditionellen Verständnis, dass sie keine aktive Bedrohung darstellen, als auch in dem Sinne, dass sie keine Verantwortung für eine beabsichtigte spätere Aggression haben. Selbst wenn »nur« Soldaten getötet würden, wären diese keine Personen, die ihr Recht verwirkt hätten, nicht angegriffen zu werden. Es mögen Soldaten sein, die später in einem möglichen Krieg zu Angreifern geworden wären, aber noch sind sie nicht verantwortlich für etwas, das ihre Tötung entschuldbar machen könnte. Theoretisch mag es einen rechtfertigungsfähigen Grund für eine präventive Verteidigung geben, doch in der Praxis ist ein Präventivkrieg kaum zu legitimieren. 85 Denn der Einsatz militärischer Mittel ist nach der bellum iustumTradition immer nur als ultima ratio begründbar, als »letztes Mittel«, wenn andere Mittel erfolglos waren und/oder keine begründete Aussicht auf Erfolg haben. 86

zu gebieten. 87 Lange wurde die damit verbundene Problematik vor allem unter dem Aspekt »Menschenrechte versus Souveränität« debattiert. Denn eine menschenrechtlich begründete Militärintervention kollidiert mit dem herkömmlichen Verständnis des Souveränitätsprinzips und der ihm inhärenten Norm der Nichteinmischung. Souveränität meint im Kern das von außen anerkannte Recht einer territorial begrenzten politischen Einheit, höchste politische Autorität im Innern auszuüben. 88 Man kann Souveränität als eine Form »organisierter Heuchelei« 89 bezeichnen, da die in diesem Begriff enthaltenen Prinzipien stets verletzt und eingeschränkt wurden. Doch das berührt Souveränität als normatives Konzept nicht, wie es sich in der VN-Charta in den Begriffen »politische Unabhängigkeit« und »territoriale Unversehrtheit« niedergeschlagen hat. Der politisch-ethische Kern des Souveränitätsprinzips und der diesem innewohnenden Norm der Nichteinmischung dient zweierlei: zum einen der Bewahrung des zwischenstaatlichen Friedens und staatlicher Autonomie, zum anderen der Sicherung der Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften und der in ihnen lebenden Individuen. 90

Nothilfe und Schutzverantwortung Weithin gilt im Rahmen der bellum iustum-Tradition die Nothilfe, nämlich die Verteidigung Dritter gegen massive Menschenrechtsverletzungen, als möglicher legitimer Rechtfertigungsgrund für den Einsatz militärischer Gewalt. Traditionell wird ein solcher Einsatz als »humanitäre Intervention« diskutiert: Gemeint ist damit das militärische Eingreifen eines oder mehrerer Staaten in einem Land ohne Zustimmung seiner Regierung oder gegen ihren Widerstand, mit dem erklärten Ziel, massiven Menschenrechtsverletzungen Einhalt

84 Die damit verbundenen Probleme bleiben bestehen, auch wenn man die Entscheidung zu einem präventiven Einsatz militärischer Gewalt an die Legitimation durch ein institutionalisiertes multilaterales Verfahren welcher Art auch immer bindet, wie es Allen Buchanan vorschlägt: »Institutionalizing the Just War«, in: Philosophy and Public Affairs, 34 (2006) 1, S. 2– 38. 85 So Jeff McMahan, »Preventive War and the Killing of the Innocent«, in: Richard Sorabji/David Rodin (Hg.), The Ethics of War. Shared Problems in Different Traditions, Aldershot: Ashgate, 2006, S. 169–190 (185ff); siehe auch Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 80. 86 So Nicholas Rengger, »The Greatest Treason? On the Subtle Temptations of Preventive War«, in: International Affairs, 84 (September 2008) 5, S. 949–961 (956ff).

87 Zu dieser Definition siehe etwa Stefan Oeter, »Humanitäre Intervention und Gewaltverbot: Wie handlungsfähig ist die Staatengemeinschaft?«, in: Hauke Brunkhorst (Hg.), Einmischung erwünscht? Menschenrechte in einer Welt der Bürgerkriege, Frankfurt a.M. 1998, S. 37–60 (37). Zur historischen Entwicklung von Doktrin und Praxis humanitärer Intervention sowie zu ihrer Problematik siehe Francis Kofi Abiew, The Evolution of the Doctrine and Practice of Humanitarian Intervention, Den Haag/ London/Boston: Kluwer Law International, 1999; Oliver Ramsbotham/Tom Woodhouse, Humanitarian Intervention in Contemporary Conflict. A Reconceptualization, Cambridge: Polity Press, 1996; Nicolas J. Wheeler, Saving Strangers. Humanitarian Intervention in International Society, Oxford: Oxford University Press, 2000; Peter Rudolf, Menschenrechte und Souveränität: Zur normativen Problematik »humanitärer Intervention«, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2001 (SWP-Studie 40/ 2001). 88 Siehe Thomas J. Biersteker/Cynthia Weber, »The Social Construction of State Sovereignty«, in: dies. (Hg.), State Sovereignty as Social Construct, Cambridge: Cambridge University Press, 1996, S. 1–21; Daniel Philpott, »Ideas and the Evolution of Sovereignty«, in: Sohail H. Hashmi (Hg.), State Sovereignty: Change and Persistence in International Relations, University Park: The Pennsylvania State University Press, 1997, S. 15–47. 89 Stephen D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, Princeton: Princeton University Press, 1999. 90 Siehe dazu Stanley Hoffmann, »Sovereignty and the Ethics of Intervention«, in: ders., The Ethics and Politics of Humanitarian Intervention, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1996, S. 12–37 (12ff).

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

Doch ist das Souveränitätsprinzip zu respektieren, wenn ein Staat massiv die Menschenrechte verletzt? Hierauf gibt es zwei grundsätzliche Antworten aus liberaler Sicht internationaler Politik und daraus sich ergebender moralischer Verpflichtungen über staatliche Grenzen hinaus. Entscheidend ist dabei, ob man eher dem Kosmopolitismus oder dem Partikularismus zuneigt, ob man also einen moralischen Universalismus vertritt, in dem die Grundrechte eines jeden Menschen von gleicher Bedeutung sind (Kosmopolitismus), oder ob man einen Vorrang für die Rechte der eigenen Mitbürger anerkennt und moralische Verantwortung in abgestuftem Sinne versteht (Partikularismus). 91 Die klassische partikularistische Position findet sich bei Michael Walzer. Aggressionen und damit auch militärische Interventionen haben, wie Walzer argumentiert, als Verbrechen zu gelten, weil die Bürger des angegriffenen Landes gezwungen werden, ihr Leben für ihr Recht auf Selbstbestimmung aufs Spiel zu setzen. Eine Aggression bedrohe somit nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr moralisches Recht, über ihre politische Organisationsform frei zu bestimmen. Das Recht von Staaten auf politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität, wie es sich im Souveränitätsprinzip ausdrückt, ist aus dieser Sicht die »kollektive Form« individueller Rechte. 92 Die politische Organisationsform eines anderen Staates mag liberalen Demokratievorstellungen nicht entsprechen. Grundsätzlich gelte jedoch das Prinzip der Legitimitätsvermutung, welches das Nichtinterventionsgebot abstützt: nämlich die Annahme, dass Regierungen Legitimität zukomme. Es gelte nur dann nicht, wenn für den Außenstehenden aufs deutlichste sichtbar werde, dass der Zusammenhalt (»fit«) zwischen Regierung und Gemeinschaft nicht mehr existiere. Außenstehende, die die Kultur und Geschichte einer politischen Gemeinschaft nur unzureichend kennen, sollten laut Walzer von diesem Zusammenhalt zunächst einmal ausgehen. 93 Im Falle von Massaker, Versklavung oder Vertreibung einer sehr großen Zahl von Menschen sei dieser Zusammenhalt indes nicht mehr anzunehmen, und 91 Grundsätzlich zu diesen beiden Ansätzen siehe Christoph Broszies/Henning Hahn, »Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext«, in: dies. (Hg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin 2010, S. 9–52. 92 Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 51–55. 93 Michael Walzer, »The Moral Standing of States: A Response to Four Critics«, in: Charles R. Beitz u.a. (Hg.), International Ethics, Princeton: Princeton University Press, 1985, S. 217–243 (220).

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damit kehre sich die ursprüngliche Legitimitätsvermutung um. Solange dieser Fall nicht eintrete, sei eine Intervention eine Aggression und damit unmoralisch, weil die Bürger des betroffenen Landes sich aller Voraussicht nach aus Wertschätzung für ihre politische Gemeinschaft verpflichtet fühlen würden, Widerstand zu leisten und ihr Leben zu riskieren. Walzer ist insofern ein Liberaler, als bei ihm die Rechte des Einzelnen im Mittelpunkt stehen. Die Rechte finden ihre Anerkennung und Durchsetzung jedoch nur über den politischen Prozess in politischen Gemeinschaften. Anders stellt sich die Frage menschenrechtlich begründeter Militärinterventionen aus kosmopolitischer Sicht dar. Diesem Denken entsprechend kann ein diktatorischer Staat als eine Form illegitimer, die Menschenrechte nicht respektierender Herrschaft keine Souveränitätsrechte gegen eine Intervention beanspruchen. Deshalb sei eine militärische Intervention zugunsten grundlegender Menschenrechte moralisch gerechtfertigt und als gerechter Krieg zu betrachten. Humanitäre Intervention werde zur moralischen Pflicht, wenn die Möglichkeit bestehe, schlimme Übel zu beenden. 94 Diese kosmopolitische Perspektive liegt dem Prinzip der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect, R2P) zugrunde, das seit der Veröffentlichung des Berichts der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) im Jahre 2001 den normativen Rahmen für die Debatte über humanitär begründete Militärinterventionen verändert hat. 95 Staatliche Souveränität wird in diesem Kontext nicht mehr länger als Kontrolle verstanden, sondern als Verantwortlichkeit für die Respektierung der Menschenrechte. In extremen Fällen sei ein militärisches Eingreifen gefordert, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung nicht 94 Eine klare kosmopolitische Perspektive zur Frage humanitärer Interventionen findet sich in der ethischen Debatte bei David Luban, »Just War and Human Rights«, in: Beitz, International Ethics [wie Fn. 93], S. 195–216; siehe ferner etwa Fernando R. Tesón, »The Liberal Case for Humanitarian Intervention«, in: J. L. Holzgrefe/Robert A. Keohane (Hg.), Humanitarian Intervention. Ethical, Legal, and Political Dilemmas, Cambridge: Cambridge University Press, 2003, S. 93–129. 95 Siehe International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), The Responsibility to Protect, Ottawa: International Development Research Centre, Dezember 2001. Mit der Einrichtung dieser Kommission hatte die kanadische Regierung das Anliegen des damaligen VN-Generalsekretärs Kofi Annan aufgegriffen, einen Konsens in der Frage menschenrechtlich begründeter Militärinterventionen zu schaffen. Der Begriff »humanitäre Intervention« wurde bewusst nicht mehr benutzt.

Rechtfertigungsgründe

gerecht werden. Zum einen gelte dies dann, wenn ein Verlust an Menschenleben in großem Ausmaß (»large scale«) zu beklagen sei oder drohe, gleichgültig ob durch staatliches Handeln oder Versagen staatlichen Schutzes, zum anderen in Fällen »ethnischer Säuberungen« großen Ausmaßes. In beiden Fällen ist eine Intervention nach Meinung der Kommission gerechtfertigt. Die Schutzverantwortung in dem Sinne, wie sie unter dem Dach der VN Zustimmung erfahren hat, ist in einigen Punkten enger gefasst. Im Abschlussdokument des VN-Gipfeltreffens 2005 (»R2P 2005«) ist von der Verantwortung die Rede, Bevölkerungen vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Damit enthält es eine Liste spezifischer Fälle von Verbrechen. Der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch die VN, fällt eine subsidiäre Rolle zu, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung offenkundig nicht nachkommen. Dies umfasst im Einzelfall auch die Bereitschaft zum Einsatz von Zwangsmitteln nach Kapitel 7 der VN-Charta, falls sich friedliche Mittel als unangemessen erweisen. 96 Auch wenn R2P keine rechtliche Norm, sondern ein politisch-moralisches Prinzip ist, hat es doch dazu beigetragen, die Nothilfe als legitimen Grund für den Einsatz militärischer Gewalt im internationalen Diskurs zu verankern. Sofern im allgemeinen R2P-Diskurs (nicht jedoch im engeren Verständnis von R2P 2005) eine moralische Pflicht zur Nothilfe postuliert wird, besteht ein Spannungsverhältnis zur bellum iustumTradition. Denn ihre Grundfrage lautet, wann und wie ein militärischer Gewalteinsatz gerechtfertigt, nicht aber wann er verpflichtend sein könnte. 97 Der NATO-Einsatz gegen das Gaddafi-Regime 2011 war der erste Krieg, der politisch weithin mit dem Prinzip der »Schutzverantwortung« legitimiert wurde. Ob ein überzeugender Rechtfertigungsgrund für einen Krieg im Dienste der Nothilfe vorlag, blieb jedoch strittig. Es ging darum, erwartete, aber keineswegs sichere Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden, deren mögliches Ausmaß nicht vorhersehbar war. So 96 United Nations General Assembly, 2005 World Summit Outcome, A/60/L.1, New York, 15.9.2005, S. 31. Zur Entwicklung und Problematik von R2P siehe auch Peter Rudolf, Schutzverantwortung und humanitäre Intervention. Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Februar 2013 (SWP-Studie 3/2013). 97 Siehe dazu Henrik Friberg-Fernros, »Allies in Tension: Identifying and Bridging the Rift between R2P and Just War«, in: Journal of Military Ethics, 10 (2011) 3, S. 160–173.

begründete die US-Administration die Intervention mit einer »unmittelbaren Bedrohung« für die libysche Bevölkerung sowie mit der Notwendigkeit, einer »möglichen humanitären Katastrophe massiven Ausmaßes« Einhalt zu gebieten und ein »mögliches Massaker« zu verhindern. 98 Angesichts dessen, was Gaddafi bislang schon getan und weiter angekündigt hatte, war für Befürworter des Eingreifens die unmittelbare Gefahr von Massenverbrechen nicht zu leugnen. 99 Doch wie schon im Falle des Kosovo herrscht nach wie vor Uneinigkeit darüber, welche Grausamkeiten im Falle eines Interventionsverzichts tatsächlich begangen worden wären. Auch der humanitär begründete Krieg gegen Serbien beruhte auf Annahmen über wahrscheinliche Entwicklungen für den Fall, dass in den Konflikt nicht eingegriffen würde. 100 Die KosovoIntervention wurde als »antizipatorische humanitäre Intervention« charakterisiert, der eine bestimmte Sicht vergangener Handlungen der serbischen Regierung und der künftigen Risiken zugrunde lag. 101 Es sei dahingestellt, ob man im Anschluss an Walzers Unterscheidung von präemptiven und präventiven Kriegen das antizipatorische Handeln im Falle Kosovos eher als präventive, im Falle Libyens als präemptive humanitäre Intervention bezeichnen mag. 102 In beiden Fällen stellte sich das Problem, wahrscheinliche Entwicklungen zu prognostizieren. Ist es aber vertretbar, auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeitseinschätzung einen Krieg zu führen? Verlässlicher ist die Basis humanitär begründeten Intervenierens dagegen, wenn eine wie immer bestimmte Schwelle an Gewalt bereits überschritten ist. Aber wo setzt man eine solche Schwelle an? Michael Walzer, der sich im Lauf der letzten Jahrzehnte immer mehr zu einem Befürworter humanitärer Interventionen entwickelt hat, bezeichnete die Libyen-Interven98 Deputy Secretary of State James Steinberg, Assessing the Situation in Libya, Statement before the Senate Foreign Relations Committee, Washington, D.C., 31.3.2011 (»immediate threat«, »potential humanitarian disaster of massive proportions«, »potential massacre«). 99 So Alex J. Bellamy, »Libya and the Responsibility to Protect: The Exception and the Norm«, in: Ethics and International Affairs, 25 (Herbst 2011) 3, S. 263–269 (265). 100 Wheeler, Saving Strangers [wie Fn. 87], S. 34f. 101 Jonathan I. Charney, »Anticipatory Humanitarian Intervention in Kosovo«, in: American Journal of International Law, 93 (Oktober 1999) 4, S. 834–841. 102 Die Begrifflichkeit findet sich bei Terry Nardin, »From Right to Intervene to Duty to Protect: Michael Walzer on Humanitarian Intervention«, in: The European Journal of International Law, 24 (2013) 1, S. 67–82 (79).

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tion als falsch und verwies vor allem auf die unklaren Ziele. Für ihn war es keine humanitäre Intervention, um ein Massaker zu stoppen, denn ein extremer Fall wie in Ruanda oder in Darfur lag seiner Auffassung nach nicht vor. 103 Offenbar handelte es sich aus seiner Sicht in Libyen nicht um Gewalttaten, die, wie er es in »Just and Unjust Wars« als Erlaubnisgrund formulierte, das »moralische Gewissen der Menschheit« erschütterten. 104 Er rechnete zwar mit brutaler Unterdrückung, aber nicht mit einem gewaltigen Blutbad, da die meisten Aufständischen wohl rechtzeitig aus Bengasi geflohen wären. In der Frage »Intervenieren oder nicht?« ging es laut Walzer darum, ob man einen scheiternden Aufstand unterstützen solle oder nicht. Der Sturz eines Tyrannen und der Aufbau einer Demokratie sei eine Aufgabe, die von der eigenen Bevölkerung selbst bewältigt werden müsse und von außen nur mit nichtmilitärischen Mitteln unterstützt werden solle. Dagegen war die Schwelle zum Eingreifen für diejenigen überschritten gewesen, die sich an den Kriterien orientierten, welche etwa die ICISS formuliert hatte, nämlich Verlust von Menschenleben in großem Maßstab oder großangelegte ethnische Säuberung. 105 Selbst wenn man akzeptiert, dass im Falle Libyens die Schwellenkriterien für ein militärisches Eingreifen erfüllt waren und daher ein gerechtfertigter Grund vorlag, bleibt die moralische Legitimität der Intervention fraglich. Denn eine anfänglich vielleicht gerechtfertigte humanitäre Intervention wurde zu einem Krieg mit dem Ziel des Regimesturzes ausgeweitet. Das war vor allem aus Verhältnismäßigkeitsgründen problematisch: Zum einen stand zu befürchten, dass einer solchen Militäraktion zahlreiche Unschuldige zum Opfer fallen würden, zum anderen war keineswegs gewiss, dass ein neues Regime die Einhaltung der Menschenrechte wirklich garantieren würde. 106 103 Siehe Michael Walzer, »The Wrong Intervention«, in: Dissent (Online Article), 21.3.2011; siehe auch die Erwiderungen und Reaktionen von Darrel Moellendorf, »Libya and NonIntervention«, in: Dissent (Blog), 23.3.2011; Alan Johnson, »Libya: A Response to Michael Walzer«, in: Dissent (Blog), 26.3.2011; Michael Walzer, »Intervention and the Work That Follows: A Reply to Alan Johnson and Darrel Moellendorf«, in: Dissent (Blog), 28.3.2011. 104 Für ihn sind humanitäre Interventionen dann gerechtfertigt, »when it is a response (with reasonable expectations of success) to acts ›that shock the moral conscience of mankind‹«. Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 107. 105 So die Position von James Pattison, »The Ethics of Humanitarian Intervention in Libya«, in: Ethics and International Affairs, 25 (Herbst 2011) 3, S. 271–277. 106 Siehe ebd. Zur Problematik siehe auch Lars Brozus/

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Strafe und Abschreckung Die Verteidigung eines anderen Staates gegen eine Aggression (kollektive Verteidigung) ist ein Einsatz militärischer Gewalt im Interesse der Bewahrung internationaler Ordnung. Können aber auch andere Weltordnungsinteressen militärische Gewaltanwendung rechtfertigen? Oder wird damit Staaten ein Freibrief ausgestellt, eigene Interessen unter dem Deckmantel der Weltordnung durchzusetzen? 107 Diese Frage stellte sich im Spätsommer 2013, als die ObamaAdministration militärische Gewalt gegen Syrien als legitime Straf- und Abschreckungsmaßnahme darstellte. Es ging erklärtermaßen darum, die Botschaft auszusenden, dass die USA bereit waren, das AssadRegime zur Rechenschaft zu ziehen und eine Normverletzung mit einem begrenzten Militäreinsatz zu ahnden. 108 Die Obama-Administration argumentierte, die Durchsetzung einer wichtigen internationalen Norm stelle einen legitimen Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar. 109 In seiner Osloer Rede vom Dezember 2009 hatte Obama einen solchen Rechtfertigungsgrund für den Einsatz militärischer Gewalt (neben der individuellen und kollektiven Verteidigung und der humanitären Nothilfe) zwar nicht ausgeführt, aber doch vorsichtig angesprochen: »Jene Regime, die die Regeln verletzen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.« 110 Christian Schaller, Über die Responsibility to Protect zum Regimewechsel, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2013 (SWP-Studie 13/2013). 107 Zur Frage, inwieweit ordnungspolitische Ziele den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen können, siehe Stanley Hoffmann, Duties beyond Borders. On the Limits and Possibilities of Ethical International Politics, Syracuse: Syracuse University Press, 1981, S. 61ff. 108 Siehe Barack Obama, Remarks by the President in Address to the Nation on Syria, Washington, D.C., 10.9.2013. Es ging auch darum, gegenüber anderen Problemstaaten amerikanische Glaubwürdigkeit zu demonstrieren. Siehe die Rede von VNBotschafterin Samantha Power vor dem Center for American Progress, abgedruckt in: Max Fisher, »Samantha Power’s Case for Striking Syria«, in: Washington Post, 7.9.2013. Auf amerikanischer Seite spielte R2P bei der Legitimation des angedrohten Angriffs keine Rolle. Im Unterschied zur britischen Position berief man sich auch nicht auf eine angebliche gewohnheitsrechtliche Doktrin humanitärer Intervention (Chemical Weapons Use by Syrian Regime – UK Government Legal Position; von R2P war in diesem Dokument nicht die Rede). 109 So der stellvertretende Sicherheitsberater Tony Blinken in einem Interview, zitiert nach Jack Goldsmith, »More on the UN Charter, Syria, and ›Illegal but Legitimate‹«, in: Lawfare, 5.9.2013. 110 »Those regimes that break the rules must be held ac-

Bedingungen eines rechtfertigungsfähigen Gewalteinsatzes

Die angedrohte Intervention in Syrien wurde zu Recht als eine solche Bestrafung gesehen. 111 Doch »Bestrafung« mag im Mittelalter als »gerechter Grund« innerhalb der bellum iustum-Tradition gegolten haben, in der heutigen Ausprägung ist dies nur noch selten der Fall. 112 Nicht ohne Grund: Selbst wenn die »Bestrafung« von einer Instanz wie dem Sicherheitsrat angeordnet worden wäre und damit nicht im Ermessen eines Staates läge, bliebe das Problem, dass nicht nur Schuldige bestraft werden, sondern immer auch Unschuldige, die nicht verantwortlich für ein Verbrechen sind. 113 Ein gerechtfertigter Grund für eine Militärintervention hätte im Falle Syriens die Verhinderung und Abschreckung weiterer Chemiewaffenangriffe sein können. Akzeptiert man dies, bleiben weitere Kriterien, an denen gemessen werden kann, ob ein Militäreinsatz moralisch zu rechtfertigen ist, darunter der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Demnach bestünde der Maßstab für einen Gewalteinsatz darin, ob das durch die Intervention verhinderte Unrecht an Zivilisten größer wäre als der Schaden, der Zivilisten (im Sinne von Nichtkombattanten) zugefügt wird. Das bedeutet erst einmal, Militärschläge müssten effektiv den künftigen Einsatz chemischer Waffen verhindern, gleichzeitig aber unbeabsichtigte Opfer unter der Zivilbevölkerung so weit wie möglich vermeiden, das heißt auch unter Inkaufnahme von Risiken für die eigenen Streitkräfte. 114 Fraglich wäre jedoch geblieben, ob ein begrenztes Bombardement das Ziel der Ab-

countable.« Obama, Remarks by the President at the Acceptance of the Nobel Peace Prize [wie Fn. 13]. 111 Siehe Matthew Beard, »War as Punishment: President Obama’s Syrian Solution«, in: ABC Religion and Ethics, 2.9.2013. 112 Siehe dazu David J. Luban, War as Punishment, Washington, D.C.: Georgetown University Law Center, 19.5.2011 (Georgetown Public Law and Legal Theory Research Paper, Nr. 11–71); Kenneth W. Kemp, »Punishment as Just Cause for War«, in: Public Affairs Quarterly, 10 (Oktober 1996) 4, S. 335– 353; Shawn Kaplan, »Punitive Warfare, Counterterrorism, and jus ad bellum«, in: Allhoff/Evans/Henschke (Hg.), Routledge Handbook of Ethics and War [wie Fn. 55], S. 236–249. 113 Aus diesem Grund werden Bestrafungskriege abgelehnt von Frowe, The Ethics of War and Peace [wie Fn. 51], S. 80–83. Ein Befürworter der Anwendung strafender Militärgewält räumt das Problem zwar ein, stellt aber fest: »Nonetheless, concern with such deaths cannot prevent the use of punitive measures to enforce norms.« Anthony F. Lang, Jr., »Crime and Punishment: Holding States Accountable«, in: Ethics and International Affairs, 21 (Sommer 2007) 2, S. 239–257 (255). 114 Dieser Abschnitt folgt Jeff McMahan, »Is There a Moral Argument for Just War in Syria?«, in: Huffington Post, 29.8.2013; siehe auch James Pattison, »Myths about Syria«, Blog, University of Denver, Dezember 2012.

schreckung erreicht hätte, und ein stärkerer Angriff hätte vermutlich eine moralisch inakzeptabel hohe Zahl von Zivilisten getötet. 115 Gerade bei der Abschreckung stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit besonders dringlich. Welches wäre das dem Ziel proportionale Maß an Gewalt, welches das Assad-Regime oder auch andere von einem künftigen Chemiewaffeneinsatz abschrecken würde? Darauf kann es keine Antwort geben. Daher können Gewalteinsätze, die Abschreckung bewirken und damit auf Mutmaßungen über die Reaktion des Gegners beruhen, dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht wirklich Genüge tun. 116

Bedingungen eines rechtfertigungsfähigen Gewalteinsatzes Jeder militärische Gewalteinsatz bedarf aus der ethischen Perspektive, die in der bellum iustum-Tradition wurzelt, eines überzeugenden Rechtfertigungsgrundes. Liegt dieser nicht vor, kann es keinen moralisch legitimierten Gewalteinsatz geben. Überdies ist er erst dann zu rechtfertigen, wenn eine Reihe anderer Bedingungen erfüllt sind, darunter insbesondere die Verhältnismäßigkeit, die bereits verschiedentlich zur Sprache kam. Das Vorliegen eines gerechtfertigten Grundes lässt sich ohne Wahrscheinlichkeitsabwägungen diskutieren. Anders ist dies bei einigen der weiteren Bedingungen. Ob das durch den Krieg erreichbare »Gute« in einem akzeptablen Verhältnis zu den Opfern steht und zu einem Zugewinn an Gerechtigkeit führt, ob nichtkriegerische Mittel eine Erfolgschance gehabt hätten, ob ein Gewalteinsatz langfristig erfolgreich ist: das sind zweifellos Einschätzungen, die spekulativ und unsicher bleiben, auf die aber nicht verzichtet werden kann. 117 115 So die Argumentation eines grundsätzlichen Befürworters humanitärer Interventionen, der zu dem Schluss kommt: »The United States should stay out.« Fernando Teson, »Syria and the Doctrine of Humanitarian Intervention«, Bleeding Heart Libertarians, 2.9.2013, (eingesehen am 3.2.2014). 116 Siehe Donald Sensing, »Just War and Syria Strikes, Part One«, in: Sense of Events (Blog), 2.9.2013; zur Frage der Abschreckungswirkung siehe besonders Stephen Biddle, Assessing the Case for Striking Syria, Prepared Statement before the House Committee on Homeland Security Hearing on »Crisis in Syria: Implications for Homeland Security«, Washington, D.C., 10.9.2013. 117 Deshalb haben sie, so wird gelegentlich vorgebracht, nicht das gleiche Gewicht in einer ethischen Bewertung eines

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

Verhältnismäßigkeit Proportionalität ist das Kriterium, das einen legitimen Gewalteinsatz weiter beschränkt, auch wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Der Grund für eine Intervention oder gar einen Krieg mag ein »gerechtfertigter« sein. Stehen aber die Güter, die ein Gewalteinsatz verwirklichen oder schützen soll, in einem ausgewogenen Verhältnis zu dem Schaden, den dieser verursacht? Verhältnismäßigkeit im moralischen Sinne bemisst sich an dem Guten, das erreicht werden soll. In einem Verteidigungskrieg gegen ein mörderisches Regime dürfe man, so lässt sich argumentieren, mehr Schaden zufügen als in einem Krieg wie etwa um die FalklandInseln. 118 Wie lässt sich aber das rechte Verhältnis zwischen legitimen Zwecken und negativen Folgen bemessen? Es besteht nicht nur das (epistemische) Problem, mögliche Folgen eines Gewalteinsatzes einzuschätzen, handelt es sich dabei doch um kontrafaktische Vermutungen. 119 Auch ist es eine Ermessensfrage, wie unterschiedliche Werte miteinander verglichen und gegeneinander aufgerechnet werden sollen, etwa die Opfer eines Krieges gegen die Bewahrung der Souveränität oder die mögliche Abschreckung künftiger Aggressionen. Jede Verhältnismäßigkeitseinschätzung steht in dieser Hinsicht vor drei grundlegenden Fragen. Erstens: Welche Werte sollen in die Einschätzung aufgenommen werden – nur die mit dem rechtfertigenden Grund verbundenen oder auch positive Ergebnisse, die sozusagen zusätzlich erzielt werden? Zweitens: Welches sind die Übel, die berücksichtigt werden müssen – nur jene, die das eigene Handeln verursacht (fallen darunter auch die Opfer unter den Soldaten eines ungerechtfertigt kämpfenden Gegners?), oder auch jene, die durch Entscheidungen des Gegners hervorgerufen wurden? Und drittens: Wie lassen sich beide gegeneinander abwägen? Darauf gibt es unterschiedliche Antworten. Man könnte die gesamten guten und schlechten Folgen in die Kalkulation einbeziehen und prüfen, welche mehr ins GeKrieges wie der gerechtfertigte Grund. Siehe etwa Darrel Moellendorf, »Is the War in Afghanistan Just?«, in: Imprints. A Journal of Analytical Socialism, 6 (2002) 2 (online), . 118 So Thomas Hurka, »Proportionality in the Morality of War«, in: Philosophy and Public Affairs, 33 (2005) 1, S. 34–66 (44). 119 Siehe David Mellow, »Counterfactuals and the Proportionality Criterion«, in: Ethics and International Affairs, 20 (Winter 2006) 4, S. 439–454.

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wicht fallen: Der Gewalteinsatz wäre dann verhältnismäßig, wenn die positiven Ergebnisse die negativen überwiegen. Andere würden einem Gewalteinsatz schon dann Verhältnismäßigkeit zusprechen, wenn er nicht viel mehr Schaden als Nutzen hervorbringt. 120 Kaum weniger schwierig werden Verhältnismäßigkeitseinschätzungen, wenn man nicht alle guten und schlechten Folgen in die Betrachtung einbezieht, sondern die Verhältnismäßigkeit daran festmacht, wie viele Menschen infolge eines Militäreinsatzes zu Schaden kommen. Stehen die Ziele, die mit einem Gewalteinsatz verfolgt werden, in einem angemessenen Verhältnis zur Zahl der unschuldigen Opfer? Dies wäre eine Möglichkeit der Abwägung. Eine andere bestünde darin, die Opfer unter den eigenen Soldaten bei der Einschätzung zu berücksichtigen. 121 Wie immer auch die Verhältnismäßigkeitseinschätzung aussieht, sie unterscheidet sich von einer rein utilitaristischen Bewertung eines Gewalteinsatzes, die nach dem Gesamtnutzen im Vergleich zum Gesamtschaden fragt. In der Bewertung aus der Perspektive der Theorie legitimer Gewalt dagegen wird das Gute, das zu erreichen ist, allein am gerechtfertigten Grund gemessen; andere Güter im Sinne positiver Nebeneffekte gehen nicht in die Kalkulation ein. 122 Das Kriterium der Proportionalität schließt das Kriterium der Aussicht auf Erfolg logischerweise ein, denn ein Gewalteinsatz ohne Erfolgsaussicht kann niemals verhältnismäßig sein. Daher diskutieren nicht alle Autoren die vernünftige Erfolgsaussicht als eigenständiges Kriterium, sondern als Element der Verhältnismäßigkeitseinschätzung. 123 Ja, es findet sich 120 Zu diesen Unterscheidungen siehe Hurka, »Proportionality in the Morality of War« [wie Fn. 118], S. 38ff; ders., »Proportionality and Necessity«, in: Larry May (Hg.), War. Essays in Political Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 2008, S. 127–144; ferner Lee, Ethics and War [wie Fn. 47], S. 85– 93. 121 Dazu Jeff McMahan, »Proportionality in the Afghanistan War«, in: Ethics and International Affairs, 25 (Sommer 2011) 2, S. 143–154. 122 Siehe Thomas Hurka, »The Consequences of War«, in: N. Ann Davis/Richard Keshen/Jeff McMahan (Hg.), Ethics and Humanity. Themes from the Philosophy of Jonathan Glover, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 23–43. 123 »The requirement that there should be a reasonable prospect of military success is usually treated within the tradition as a further separate condition. It is, however, logically best treated as part of this first application of the principle of proportion. For, in assessing whether more good than harm will result from war, one must inevitably take into account the probability of each occurring, so that one can assess the overall expected benefit or disbenefit that will accrue from war.«

Bedingungen eines rechtfertigungsfähigen Gewalteinsatzes

sogar das Argument, dass das richtig verstandene Proportionalitätsprinzip nicht nur das Kriterium der Erfolgsaussicht, sondern auch das der ultima ratio einschließt. So wäre zwar ein Krieg nicht unverhältnismäßig im engen Sinne, wenn er gerechtfertigte Ziele zu nicht allzu hohen Kosten erreichte, jedoch in einem weiteren Sinne, wenn die Ziele auch durch nichtkriegerische Mittel erreicht werden könnten. 124

Vernünftige Erfolgsaussicht Was aber bedeutet eine vernünftige Aussicht auf Erfolg? Was meint Erfolg? Begründete Aussicht heißt nicht Erfolgssicherheit, aber auch nicht bloße Wahrscheinlichkeit. Es müssen gute Gründe dafür angeführt werden, dass in einem konkreten Fall der Einsatz militärischer Gewalt die damit verbundenden Ziele erreichen kann – im Bewusstsein dessen, dass die Erfahrung eine beträchtliche Skepsis gegenüber dem politischen Nutzen militärischer Gewalt nahelegt. Denn als politisches Instrument ist militärische Gewalt zumeist nicht sehr effektiv, wie empirische Untersuchungen zu militärischen Interventionen nach 1945 gezeigt haben. Territorien lassen sich verteidigen oder erobern, Regime stürzen, aber politische Ziele nur schwer mit militärischer Gewalt erzwingen, besonders dann, wenn der Einsatz sich gegen nichtstaatliche Akteure richtet. 125 Schließt aber die Bedingung »vernünftige Erfolgsaussicht« nicht von vornherein die heroische, aber zum Scheitern verurteilte Verteidigung gegen einen übermächtigen Gegner aus? Laut Michael Walzer geht dieses Kriterium zu Lasten des Schwächeren. Doch das gilt nur, wenn man den Erfolg in einem Verteidigungskrieg, dessen Grund gerechtfertigt ist, als militärischen Erfolg begreift. Erfolg könnte aber auch in einem weiteren Sinne verstanden werden – etwa als Zeitgewinn, um bedrohten Teilen der Bevölkerung oder der Regierung die Flucht zu ermöglichen, als

David Fisher, Morality and War. Can War Be Just in the Twenty-First Century?, Oxford u.a.: Oxford University Press, 2011, S. 74. 124 So Hurka, »Proportionality in the Morality of War« [wie Fn. 118], S. 37. 125 Siehe Patricia L. Sullivan/Michael T. Koch, »Military Intervention by Powerful States, 1945–2003«, in: Journal of Peace Research, 46 (September 2009) 5, S. 707–718; Patricia L. Sullivan, »War Aims and War Outcomes: Why Powerful States Lose Limited Wars«, in: Journal of Conflict Resolution, 51 (Juni 2007) 3, S. 496–524.

Verbesserung der Verhandlungsposition oder indem die Weltöffentlichkeit aufmerksam wird. 126 Mit Blick auf die Erfolgsaussichten muss differenziert werden: Geht es darum, dass es eine vernünftige Aussicht gibt, den berechtigten politischen Zweck zu erreichen? Oder muss die Erfolgsaussicht auf das militärisch-strategische Ziel beschränkt werden, das der Erreichung des politischen Zwecks dient? Beide sind nicht identisch, ja können weit auseinanderklaffen. 127 Das gilt insbesondere für Interventionen, die der politischen Stabilisierung eines Landes dienen. Der politische Zweck ist oft der langfristige Wandel, die Transformation einer Gesellschaft, nicht die Wiederherstellung eines durch zwischenstaatliche Aggression gestörten Status quo ante. Eine militärische Intervention dieser Art ist eben kein klassischer Krieg, in dem sich der Erfolg an der militärischen Unterwerfung des Gegners festmachen lässt. Der militärische Erfolg ist nur eine Voraussetzung dafür, die politischen Zwecke zu erreichen. 128 Militärinterventionen sind kein Instrument, von dem dauerhafte politische Lösungen zu erwarten sind. Aber sie sollen unter Umständen überhaupt erst den Raum dafür schaffen, dass politische Lösungen möglich werden. 129 Militärische Gewalt wird in den letzten Jahrzehnten vor allem innerhalb komplexer Operationen eingesetzt, in denen das militärische Element nur eines unter anderen ist. Sieg oder Niederlage sind in diesen Fällen keine Kriterien wie in einem klassischen

126 So die Position von Frances V. Harbour, »Reasonable Probability of Success as a Moral Criterion in the Western Just War Tradition«, in: Journal of Military Ethics, 10 (September 2011) 3, S. 230–241. 127 Wie im Anschluss an Clausewitz formuliert wurde: »Militärischer Sieg (das heißt die Erreichung der strategischen Ziele) und politischer Erfolg (das heißt die Erreichung der politischen Zwecke) sind nämlich zwei unabhängige Aspekte des Krieges.« Christopher Daase/Sebastian Schindler, »Clausewitz, Guerillakrieg und Terrorismus. Zur Aktualität einer missverstandenen Kriegstheorie«, in: Politische Vierteljahresschrift, 50 (Dezember 2009) 4, S. 701–731 (726). 128 Siehe Gabriella Blum, »The Fog of Victory«, in: The European Journal of International Law, 24 (2013) 1, S. 391–421 (392ff). 129 In einer Auseinandersetzung mit der radikalen Kritik an Militärinterventionen wurde dies einmal so ausgedrückt: »Dauerhafte politische Lösungen sind mit Militär-Interventionen nicht zu erzielen. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht um Situationen, in denen überhaupt die Möglichkeit einer Perspektive für politische Lösungen wiederhergestellt werden muß.« Gert Krell, »Wie der Gewalt widerstehen? Die Frage legitimer Gegengewalt als ethisches und politisches Problem«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (14.1.1994) B 2/94, S. 29–36 (32).

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zwischenstaatlichen Krieg, Erfolge können nicht an der Eroberung von Territorium oder an der Zahl getöteter Gegner gemessen werden. Erfolg ist in solchen Operationen nur schwer zu beurteilen. 130 Die Bewertung des militärischen Instrumentariums kann damit nicht losgelöst werden von der umfassenden Einschätzung derartiger Einsätze, seien es Friedensoperationen oder Counterinsurgency-Einsätze. Besonders schwierig ist es, die Erfolgsaussichten in asymmetrischen Konflikten wie etwa in Afghanistan einzuschätzen, da einigermaßen verlässliche Erfolgsindikatoren fehlen. Sicher kann man argumentieren, Erfolg oder Scheitern in einem Krieg gegen eine Aufstandsbewegung ließen sich nur schwer beurteilen und mit Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen lasse sich allen Widrigkeiten zum Trotz der Erfolg vielleicht doch noch erringen. Doch ist es moralisch überaus fragwürdig, einen Krieg nur aufgrund eines kleinen Hoffnungsschimmers fortzusetzen. 131 Was aber, wenn sich in einem Konflikt keine politische Lösung eröffnet und kein militärischer Sieg zu erwarten ist, oder wenn das, was man abwenden will, aller Voraussicht auch bei einem längeren militärischen Engagement nicht zu verhindern ist? Wenn die Erfolgsaussichten nicht mehr plausibel gemacht werden können, kann dies nur heißen, den Rückzug anzutreten und das dann zu erwartende Übel möglichst gering zu halten. 132

130 Allgemein dazu siehe Christopher Dandeker, »From Victory to Success: The Changing Mission of Western Armed Forces«, in: Jan Angstrom/Isabelle Duyvesteyn (Hg.), Modern War and the Utility of Force. Challenges, Methods and Strategy, London/New York: Routledge, 2010, S. 16–38; Ethan B. Kapstein, »Measuring Progress in Modern Warfare«, in: Survival, 54 (Februar–März 2012) 1, S. 137–158; als einen der wenigen Beiträge zur Frage der Bewertung von Auslandseinsätzen in der deutschen Debatte siehe Michael Brzoska, »Nutzen, Ziele, Wirkung, Kosten. Zur Bewertung von militärischen Auslandseinsätzen«, in: Hans J. Gießmann/Armin Wagner (Hg.), Armee im Einsatz. Grundlagen, Strategien und Ergebnisse einer Beteiligung der Bundeswehr, Baden-Baden: Nomos 2009, S. 60–73. 131 Aus Sicht katholischer Friedensethik siehe hierzu die Bemerkungen von Robert W. McElroy, Weihbischof von San Francisco: »Catholic doctrine does not permit continuation of war based on a mere wisp of hope. If the principle of proportionality in Catholic doctrine is to have any meaning, it must require that, in the absence of any clear probability of success after 10 years of major fighting, war must end.« Robert W. McElroy, »War without End«, in: America. The National Catholic Weekly, 21.2.2011. 132 Siehe dazu Moellendorf, »Jus ex Bello« [wie Fn. 58].

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Gewalt als ultima ratio Die Bedingung, militärische Gewalt nur als das äußerste Mittel, als ultima ratio einzusetzen, ergibt sich aus der grundlegenden Norm, dass ein solcher Einsatz mit seinen Konsequenzen, die eine Eigendynamik auslösen, immer eine rechtfertigungspflichtige Ausnahme bleiben soll. 133 Die Formulierung »letztes Mittel« ist nicht in chronologischem Sinne zu verstehen. 134 Stattdessen muss Gewalt insofern die letzte Zuflucht sein, als andere, gewaltfreie (Diplomatie, Vermittlungsversuche) oder gewaltärmere Mittel (Wirtschaftssanktionen) entweder erfolglos waren und/oder im Lichte empirischer Erfahrungen und theoretischer Überlegungen keine vernünftige Erfolgsaussicht verheißen. 135 Mit Blick auf Optionen, die andere Schäden nach sich ziehen, lässt sich sagen: Wenn vernünftigerweise nicht zu erwarten ist, dass diese weniger Schaden zufügen, dann müssen sie nicht zuerst eingesetzt werden. Es muss also plausibel dargelegt werden können, dass es keine erfolgversprechende schadensärmere Alternative zum Einsatz militärischer Gewalt gibt. Das gilt auch für die Drohung mit dem Einsatz militärischer Gewalt. Diese ist immer von der Möglichkeit her zu bedenken, dass sie am Ende auch wahrgemacht wird. Deswegen darf auch eine Drohung immer nur das »vorletzte« Mittel sein; gedroht werden darf daher nur, wenn man überzeugend begründen kann, dass keine erfolgversprechenden schadensärmeren Optionen existieren. 136 Sowohl was den Einsatz militä133 So Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede [wie Fn. 24], S. 84. 134 Hier gilt für humanitäre Interventionen das, was Walzer im Hinblick auf den Golfkrieg 1990/91 geschrieben hat: »There is always something else to do: another diplomatic note, another United Nations resolution, another meeting. Once something like a blockade is in place, it is always possible to wait a little longer and hope for the success of (what looks like but isn’t quite) nonviolence.« Michael Walzer, »Justice and Injustice in the Gulf War«, in: David E. DeCosse (Hg.), But Was It Just? Reflections on the Morality of the Persian Gulf War, New York u.a.: Doubleday, 1992, S. 1–17 (6). 135 Zur Diskussion siehe Mona Fixdal/Dan Smith, »Humanitarian Intervention and Just War«, in: Mershon International Studies Review, 42 (November 1998) 2, S. 283–312 (302f). 136 Deshalb ist meines Erachtens die folgende Argumentation problematisch: »Auch wenn der Ultima-Ratio-Position vom Prinzip her der Vorzug gegeben werden sollte, ist unter Opportunitätsgesichtspunkten nicht auszuschließen, dass frühzeitig angedrohte bewaffnete Zwangsmaßnahmen und entsprechende Aktivitäten im Kontext instrumenteller Drohpolitik durchaus eskalationshemmend und -stoppend wirken können. Sich in dieser Hinsicht ein grundsätzliches Denk-

Bedingungen eines rechtfertigungsfähigen Gewalteinsatzes

rischer Gewalt als auch die Drohung damit anbelangt, liegt die Beweislast bei denjenigen, die einen militärischen Einsatz befürworten. Sie müssen begründen, warum vernünftigerweise nicht zu erwarten sei, dass andere gewaltärmere Möglichkeiten erfolgreich sein können. 137 Ein solches nichtzeitliches Verständnis entkräftet die beiden Varianten der Kritik, die immer wieder zu hören sind: zum einen die Behauptung, andere Instrumente, etwa Sanktionen, könnten wenig erreichen und sicher keinen Völkermord wie in Ruanda verhindern, zum anderen die These, Wirtschaftssanktionen seien ebenfalls ein Einsatz von Gewalt mit teils gravierenden Opfern unter der Bevölkerung, wie dies im Irak der Fall war. Daher folgern manche Kritiker, dass unter Umständen moralische Gründe dafür sprächen, eher militärische Gewalt einzusetzen als Sanktionen mit möglicherweise verheerender Wirkung auf die Bevölkerung. 138 Zweifellos ist es leichter festzustellen, wann die ultima ratio-Bedingung nicht erfüllt ist, als wenn sie erfüllt ist. Letzteres ist gewiss nicht der Fall, wenn auf ein Ultimatum verzichtet wird. So war es bedenklich, dass die Obama-Administration, als sie auf eine Intervention zusteuerte, dem syrischen Regime offenbar kein Ultimatum stellte, die Chemiewaffen auszuliefern. Das untergrub ihr Argument, sie habe alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft (»We have exhausted the alternatives.«). 139 Doch selbst wenn ein Ultimatum gesetzt wird, bedeutet es nicht notwendigerweise, dass alle nichtmilitärischen Mittel ausgeschöpft worden sind. Ein Ultimatum kann auch so konzipiert sein, dass es nur der Legitimation eines fest geplanten militärischen Vorgehens dient. Dies scheint bei der amerikanischen Intervention zum Sturz der Taliban in Afghanistan und Handlungsverbot aufzuerlegen, kann heißen, einer eskalierenden Aggression freien Lauf zu lassen.« Dieter Senghaas, »Ultima Ratio Intervention?«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2011) 8, S. 30–34 (32). Gleichzeitig stellt Senghaas apodiktisch fest: »Was die Interventionsmodalitäten angeht, so sind nationale Alleingänge prinzipiell verwerflich und nur multilateral-kollektive Handlungen als legitim vorstellbar.« Ebd., S. 32. 137 In diesem Abschnitt folge ich der Argumentation von John W. Lango, »The Just War Principle of Last Resort: The Question of Reasonableness Standards«, in: asteriskos. Journal of International and Peace Studies, (2006) 1/2, S. 7–23. 138 So Steinhoff, Zur Ethik des Krieges [wie Fn. 71], S. 34. 139 Rede von VN-Botschafterin Samantha Power vor dem Center for American Progress, abgedruckt in: Fisher, »Samantha Power’s Case for Striking Syria« [wie Fn. 108].

2001 der Fall gewesen zu sein. Weithin gilt sie als gerechtfertigter Krieg, auch wenn der Rechtfertigungsgrund der Selbstverteidigung sehr weit interpretiert wurde. Denn zur Verhinderung künftiger Angriffe sollte das Taliban-Regime beseitigt werden. Nach all dem, was über die Entscheidungsprozesse bekannt ist, war der Einsatz militärischer Gewalt eher das erste als das letzte Mittel. Alternativen wurden nicht ernsthaft erwogen, der Diplomatie wurde keine wirkliche Chance gegeben. 140 Sicher, es war äußerst fraglich, ob die Taliban am Ende eines Verhandlungsprozesses bereit gewesen wären, die Urheber des Anschlags vom 11. September 2001 auszuliefern, die Ausbildungslager für Terroristen zu schließen und weitere Forderungen zu erfüllen, die die Bush-Administration in ultimativer Form ohne jede Bereitschaft zur Diskussion erhob. Forderungen zu stellen und dabei jede Verhandlungsbereitschaft auszuschließen weist nicht darauf hin, dass Gewalt tatsächlich als äußerstes Mittel verstanden wird. 141

Rechte Absicht Das Kriterium der rechten Absicht (intentio recta) verlangt, dass der Gewalteinsatz dem Ziel dient, das Unrecht zu beheben, das einen legitimen Kriegsgrund darstellt. Dabei darf das Maß an Gewalt nicht über das hinausgehen, was dazu notwendig ist. 142 Die rechte Absicht lässt sich an den Handlungen und letztlich daran ablesen, ob ein gerechter Frieden als Ziel des Handelns zu erkennen ist. 143 Es geht also nicht um Beweggründe, sondern um im Handeln sichtbar werdende Absichten. So war im Kosovo-Krieg nicht allein das menschenrechtliche Motiv maßgebend, sondern auch die Sorge 140 Siehe David Cortright, Ending Obama’s War. Responsible Military Withdrawal from Afghanistan, Boulder/London: Paradigm Publishers, 2011, S. 13f. 141 Faktisch hieß das: Alle Forderungen werden erfüllt oder die USA greifen an. Zu den Forderungen gehörte übrigens auch die Freilassung von Amerikanern, die unter dem Vorwurf der Missionierung inhaftiert waren. Außerdem verlangten die USA, jeden Terroristen und jede Person im Unterstützerkreis an die »angemessenen Autoritäten« zu überstellen. Wer alles ausgeliefert werden sollte und an wen, wurde dabei nicht gesagt. Diese Forderung war also praktisch nicht ohne weitere Diskussionen zu erfüllen. Siehe Stephen R. Shalom, »Far From Infinite Justice: Just War Theory and Operation Enduring Freedom«, in: Arizona Journal of International and Comparative Law, 26 (2009) 3, S. 623–697 (627–637). 142 Siehe Lee, Ethics and War [wie Fn. 47], S. 83ff. 143 Siehe Darrell Cole, »War and Intention«, in: Journal of Military Ethics, 10 (September 2011) 3, S. 174–191.

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

um die Stabilität auf dem Balkan und die Befürchtung, die NATO könnte ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie am Ende entgegen ihrer Drohung doch nicht militärisch handelte. Gemischte Motive sind jedoch nur dann problematisch, wenn sie dazu führen, dass die Intervention über das moralisch begründete Interventionsziel hinaus ausgedehnt oder nicht klar auf dieses Ziel hin orientiert wird. 144 In Libyen wurde über das rechtfertigungsfähige Interventionsziel hinausgegangen, nämlich den Schutz der gefährdeten Zivilbevölkerung. Rechtlich mag strittig bleiben, ob die Interventionspolitik der NATO von Resolution 1973 der Vereinten Nationen abgedeckt war. 145 Die Argumentationsfigur, die zugunsten der Legalität des Gaddafi-Sturzes vorgebracht werden kann, lautet wie folgt: Regimewechsel sei zwar nach Resolution 1973 vielleicht kein legitimes Ziel, wohl aber ein legitimes Mittel gewesen, um das Ziel des Schutzes der Bevölkerung zu erreichen. Dass sich die Absichten der intervenierenden Staaten auf den Sturz Gaddafis richteten, sei völkerrechtlich nicht bedeutsam, da Intentionen bei der Beurteilung der Legalität einer Handlung keine Rolle spielten. 146 Anders verhält sich dies jedoch bei einer ethischen Bewertung, die das Kriterium der rechten Absicht zugrunde legt.

Die Bedingung, eine legitime Autorität müsse den Gewalteinsatz anordnen, spielte in der klassischen mittelalterlichen Tradition neben dem gerechten Grund und der rechten Absicht eine hervorgehobene Rolle unter den Kriterien des ius ad bellum, galt es doch, »private« Gewalt in einer Zeit einzudämmen, als es Staaten im neuzeitlichen Sinne noch nicht gab. Gewiss lassen sich funktionale Gründe dafür anführen, dass

nur Staaten und nicht auch andere Akteure das Recht zum Einsatz organisierter Gewalt haben sollten: die Kontrollierbarkeit des Einsatzes, die Rechenschaftspflicht der die Gewalt ausübenden Akteure, die Beendbarkeit eines Gewalteinsatzes. Doch in der heutigen Ausprägung der Tradition hat das Kriterium der legitimen Autorität seine herausragende Bedeutung verloren, und manche Autoren stellen in Frage, ob es überhaupt weiterhin angelegt werden sollte. 147 Wenn heute die Frage der legitimen Autorität diskutiert wird, geschieht dies vor allem unter dem folgenden Aspekt: Müssen militärische Zwangsmaßnahmen, die nicht der Verteidigung dienen, vom VN-Sicherheitsrat als »legitime Autorität« genehmigt werden? 148 Sollten sie, wenn dies nicht möglich ist, zumindest in subsidiärer Form von der Generalversammlung oder von regionalen Organisationen mandatiert sein? Überlegungen zu einer multilateralen Autorisierung rekurrieren auf die Logik verfahrensmäßiger Beschränkungen in Verfassungsstaaten. Dem liegt die Erwartung zugrunde, durch Verfahren lasse sich der Missbrauch von Macht begrenzen und eine Entscheidung zur Intervention lasse sich durch den Zwang zur Legitimation im Hinblick auf ihre Ziele »testen«. 149 Gute Gründe sprechen für die Auffassung, es sei moralisch geboten, für Gewalteinsätze über die Selbstverteidigung hinaus ein Mandat des Sicherheitsrates zu suchen. Denn einen geplanten Militäreinsatz einer multilateralen Prüfung im Hinblick auf Rechtfertigungsgründe und Erfolgsaussichten auszusetzen erhöht seine Legitimität, wirkt mangelhaft begründbaren Interventionen entgegen und drückt Respekt vor dem Völkerrecht aus. Das heißt aber nicht, dass es keine moralisch legitimen Einsätze ohne Mandat des Sicherheitsrates geben kann, etwa wenn ein Völkermord verhindert werden soll, die Zeit drängt und der Sicherheitsrat blockiert ist. 150

144 »Gemischte Motive« sind, wie Michael Walzer in seiner Bewertung des Golfkrieges 1990/91 schreibt, der Normalfall im innen- und außenpolitischen Handeln und »morally troubling in wartime only if they make for the expansion or prolongation of the fighting beyond its justifiable limits or if they distort the conduct of war.« Walzer, »Justice and Injustice in the Gulf War« [wie Fn. 134], S. 11. 145 Kritisch dazu Reinhard Merkel, »Die Intervention der NATO in Libyen. Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Überlegungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel«, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 10 (2011), S. 771– 783. 146 So Mehrdad Payandeh, »The United Nations, Military Intervention, and Regime Change in Libya«, in: Virginia Journal of International Law, 52 (2012) 2, S. 355–403.

147 Zu dieser Position und zur Problematik insgesamt siehe Magnus Reitberger, »License to Kill: Is Legitimate Authority a Requirement for Just War?«, in: International Theory, 5 (März 2013) 1, S. 64–93. 148 Eine ablehnende Position ist zu finden bei Ilan Cooper/ Eric Patterson, »UN Authority and the Morality of Force«, in: Survival, 53 (Dezember 2011–Januar 2012) 6, S. 141–158. 149 Siehe J. Bryan Hehir, »Intervention: From Theories to Cases«, in: Ethics and International Affairs, 9 (1995) 1, S. 1–13 (9f). 150 Siehe zu dieser Problematik Ned Dobos, Is Unilateral Intervention Always Unethical?, Paper Presented to the Doshisha 2nd International Conference on Humanitarian Intervention »Asian Perspectives on Humanitarian Intervention in the 21st Century«, Kyoto, 25./26.6.2012.

Rechtmäßige Autorität

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Kriterien für die Art des Gewalteinsatzes

Kriterien für die Art des Gewalteinsatzes Vieles, was innerhalb der Tradition in Bezug auf das ius in bello diskutiert wird, findet sich kodifiziert im humanitären Völkerrecht. Dieses eröffnet jedoch erhebliche Handlungsspielräume, nicht nur, aber gerade auch im Hinblick auf asymmetrische nichtinternationale Konflikte. 151 Was also ist die Aufgabe der ethischen Betrachtung, wenn es um das Wie eines Gewalteinsatzes geht? Zum einen ist es die Frage nach dem moralisch Gebotenen, das über das völkerrechtlich kodifizierte Minimum hinausgeht, zum anderen die Reflexion auf die ethische Begründung des positiven Rechts. Dieses ist offen für unterschiedliche Interpretationen der vertraglichen Grundlage, deren Kern die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle sind, und besonders des Völkergewohnheitsrechts, das überhaupt nur in den oftmals strittigen Auslegungen von Völkerrechtlern existiert. Schon in den beiden Begriffen – Recht des bewaffneten Konflikts versus humanitäres Völkerrecht – zeigen sich die unterschiedlichen Prismen, durch die die rechtlichen Normen des ius in bello wahrgenommen werden können. Aus der kriegsvölkerrechtlichen Perspektive, vertreten insbesondere von Militärjuristen in den USA, ist der entscheidende Punkt die militärische Notwendigkeit, aus der humanitär-rechtlichen dagegen die Würde des Menschen und ihr Schutz in Zeiten des Krieges. 152 Das humanitäre Völkerrecht setzt zwar Schranken für die Gewaltanwendung, nämlich durch das Unterscheidungsgebot und das Verhältnismäßigkeitsgebot. Die militärische Notwendigkeit genießt jedoch eine privilegierte Stellung. Sie erlaubt rechtlich ein hohes Maß an Gewalt und die Inkaufnahme beträchtlicher Opfer unter Nichtkombattanten, was gerade in menschenrechtlich begründeten Einsätzen den humanitären Zweck konterkarieren kann. 153 Zivilisten dürfen zwar nicht unmittelbar angegriffen werden, aber eine unbeabsichtigte Schädigung ist nach dem Ersten Zusatzprotokoll der Genfer Konvention dann erlaubt, wenn sie nicht »exzessiv« im Vergleich zum direkten 151 Zu einigen dieser Fragen siehe Jens David Ohlin, Is Jus In Bello In Crisis?, Ithaca, NY: Cornell University, 26.11.2012 (Cornell Legal School Research Paper, Nr. 13-07). 152 Siehe David Luban, »Military Necessity and the Cultures of Military Law«, in: Leiden Journal of International Law, 26 (Juni 2013) 2, S. 315–349. 153 Zu dieser Problematik und mit Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Völkerrechts im Sinne des Humanitätsgebots siehe Gerd Hankel, Das Tötungsverbot im Krieg. Ein Interventionsversuch, Hamburg: Hamburger Edition, 2011.

und konkreten militärischen Vorteil ist. Militärs müssen »alle praktisch möglichen Vorsichtsmaßnahmen« treffen, um Schaden unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. Was »praktisch möglich« heißt, wurde allerdings nie näher definiert. Rechtlich sind Soldaten nicht verpflichtet, auf das militärisch vorteilhafteste Ziel zugunsten eines weniger vorteilhaften zu verzichten, wenn dadurch Schaden an der Zivilbevölkerung verringert werden könnte (vorausgesetzt, Zivilisten werden nicht unmittelbar angegriffen und der Angriff widerspricht nicht klar dem Verhältnismäßigkeitsgebot, dessen rechtliche Bestimmung jedoch diffus bleibt). 154 Die rechtlichen Regelungen gewähren großen Interpretations- und Handlungsspielraum. Moralisch stellt sich daher die Frage: Was ist ein akzeptabler Kompromiss zwischen dem Schutz der eigenen Soldaten und der Verringerung der Risiken für Zivilisten? 155 Das humanitäre Völkerrecht gibt keine Antwort auf die Frage, wie groß das Risiko ist, das Soldaten tragen müssen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung möglichst zu vermeiden. Solche unbeabsichtigten, aber in Kauf genommenen zivilen Opfer werden ethisch innerhalb der bellum iustum-Tradition in der Regel mit dem Prinzip der »Doppelwirkung« gerechtfertigt, das der scholastischen Moralphilosophie entstammt. Nach diesem Grundsatz ist der Tod Unschuldiger hinnehmbar, wenn er nicht das Mittel zur Erreichung eines guten Zwecks, sondern die nicht beabsichtigte Folge einer gerechtfertigten Handlung ist, die insgesamt mehr gute als schlechte Folgen zeitigt. Problematisch ist dabei, dass die Verantwortung für die unbeabsichtigten, aber voraussehbaren Folgen des Handelns ignoriert wird. 156 Das Prinzip der Doppelwirkung eröffnet einen weiten Spielraum für die Inkaufnahme nicht intendierter, gleichwohl absehbarer Opfer unter Nichtkombattanten. Michael Walzer hat daher eine Neuinterpretation dieses Prinzips vorgeschlagen. 157 Demnach reicht es nicht aus, dass die üble Wirkung nicht beabsichtigt und auch nicht Mittel zur Erreichung des moralisch 154 Siehe hierzu Seth Lazar, »Necessity in Self-Defense and War«, in: Philosophy and Public Affairs, 40 (2012) 1, S. 3–45 (40f). 155 Zur Problematik siehe David Luban, »Risk Taking and Force Protection«, in: Yitzhak Benbaji/Naomi Sussmann (Hg.), Reading Walzer, London/New York: Routledge, 2014, S. 277–301. 156 Zur kritischen Auseinandersetzung siehe Norman, Ethics, Killing and War [wie Fn. 64], S. 83–93. 157 Siehe Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 152ff. Siehe auch Luban, »Risk Taking and Force Protection« [wie Fn. 155].

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

akzeptablen Ziels ist. Vielmehr müssen die voraussehbaren üblen Wirkungen (im Sinne einer »Doppelintention«) unter Inkaufnahme eigener Risiken und Kosten so weit wie möglich minimiert werden. 158 Aus dieser Sicht haben Soldaten die moralische Pflicht, die Risiken für Zivilisten trotz eines womöglich höheren Eigenrisikos zu verringern, unabhängig davon, ob es sich um Bürger des eigenen Staates oder Zivilisten des »Feindes« handelt. Soldaten müssen mit der »aktiven Absicht« handeln, Zivilisten nicht zu töten. Und diese Absicht zeigt sich in den Risiken, die sie hinzunehmen bereit sind. 159 Dem steht eine andere Auffassung entgegen, nach welcher der Eigenschutz des Soldaten klaren Vorrang vor der Minderung von Risiken für »feindliche« Zivilisten hat und die Pflicht, Risiken für Zivilisten unter Inkaufnahme höherer Eigenrisiken einzugehen, nur für Bürger des eigenen Staates gilt. 160 Das Dilemma der Risikoverteilung entsteht auf operativer Ebene gerade in der Aufstandsbekämpfung immer wieder, wenn Kombattanten und Nichtkombattanten lokal eng verwoben sind und Zivilisten vielleicht bewusst als »Schutzschilde« benutzt werden. Dann müssen Soldaten sich entscheiden, entweder die Kombattanten im Nahkampf unter höherem Eigenrisiko gezielt auszuschalten oder etwa Luftunterstützung anzufordern und höhere Verluste unter Zivilisten zu akzeptieren. 158 Doch auch dann bleibt das Problem, dass hier bei Unschuldigen das Grundrecht auf Leben verletzt wird. Dies bleibt ethisch begründungspflichtig, sei es in einer konsequentialistischen Beweisführung, sei es in einer als »wertrational« bezeichneten Argumentation, nach der die Verhinderung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen so hohe moralische Werte darstellten, dass auch die unbeabsichtigte Tötung Unschuldiger hinnehmbar sei. Siehe Barbara Merker, »Was leistet die Theorie des gerechten Krieges heute?«, in: Strub/Grotefeld, Der gerechte Friede [wie Fn. 25], S. 117–131 (127f). 159 So Avishai Margalit/Michael Walzer, »Israel: Civilians and Combatants«, in: The New York Review of Books, 14.5.2009. 160 So in der Tendenz Asa Kasher/Amos Yadlin, »Israel and the Rules of War: An Exchange«, in: The New York Review of Books, 11.6.2009; zur Unterscheidung der beiden Positionen (als »role school« und »allegiance school« bezeichnet) siehe Gabriella Blum, »The Individualization of War: From War to Policing in the Regulation of Armed Conflicts«, in: Austin Sarat/Lawrence R. Douglas/Martha Merrill Umphrey (Hg.), Law and War, Stanford: Stanford University Press, 2014, S. 48–83 (64f); zur ausführlichen Diskussion aus völkerrechtlicher Perspektive siehe Ziv Bohrer/Mark Osiel, »Proportionality in Military Force at War’s Multiple Levels: Averting Civilian Casualties vs. Safeguarding Soldiers«, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law, 46 (2013), S. 747–822.

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Eine Aufgabe der ethischen Reflexion ist es, über die Begründung und den Inhalt der für das ius in bello konstitutiven Prinzipien nachzudenken. So beruht das Unterscheidungsgebot auf der Identifizierung scheinbar fester sozialer Gruppen: Soldaten und Zivilisten, Kombattanten und Nichtkombattanten. Die Frage jedoch ist, wie klar die Trennlinie zwischen jenen verläuft, die kämpfen, und jenen, die nicht kämpfen, zwischen jenen, die angegriffen werden dürfen, und jenen, denen kein direkter Schaden zugefügt werden darf. Nach dem humanitären Völkerrecht gelten jene als Kombattanten, die sich erkennbar von der Zivilbevölkerung unterscheiden, offen Waffen tragen und in eine Kommandostruktur eingebunden sind. Nach der traditionellen ethischen Argumentation, wie sie etwa Michael Walzer vertritt, sind Kombattanten aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit immer ein legitimes Ziel (solange sie nicht kampfunfähig sind oder sich ergeben), ungeachtet der Frage, ob sie im jeweiligen Augenblick eine Bedrohung darstellen. Aus demselben Grund sind Soldaten nicht »unschuldig« (im klassischen Sinne des Verständnisses von innocens, nämlich »nicht schadend«) und haben ihr Recht auf Unversehrtheit verloren. In dieser Sicht ist es kein moralisches Problem, einen (um das klassische Beispiel zu nehmen) nackten Soldaten beim Baden zu töten. Doch reicht eine bloß auf Gruppenzugehörigkeit basierende Unterscheidung aus? Ist moralisch im Sinne der Minimierung von Gewalt nicht eine feinere Differenzierung gefordert? Sollten Soldaten, sofern dies möglich ist, aus moralischen Gründen nicht ein strengeres Kriterium anlegen, ob ein Kombattant tatsächlich eine Bedrohung ist? 161 Nicht jeder Soldat stellt eine Bedrohung dar, aber nach dem geltenden humanitären Völkerrecht darf zum Beispiel der Koch in Uniform getötet werden. Das gilt jedoch nicht für den Koch, der ohne Uniform im Auftrag eines privaten Dienstleistungsunternehmens die Truppe versorgt. Nicht nur diese Entwicklung, nämlich die Übernahme früher von Soldaten wahrgenommener Rollen durch Zivilisten, sondern auch die Verwischung der Grenzen von Kombattanten und Zivilisten bei nichtstaatlichen Gewaltakteuren sind eine Herausforderung für die statusbasierte Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten – und damit für das traditionelle Verständnis 161 So die Position von Larry May, »Killing Naked Soldiers: Distinguishing between Combatants and Noncombatants«, in: Ethics and International Affairs, 19 (Dezember 2005) 3, S. 39– 53; zur Position von Walzer siehe Just and Unjust Wars [wie Fn. 12], S. 138–143.

Kriterien für die Art des Gewalteinsatzes

des völkerrechtlichen Unterscheidungsgebots. Die Frage, ob das humanitäre Völkerrecht im Interesse der Humanität und der Gewaltminderung weiterentwickelt werden sollte, stellt sich auch mit Blick auf die Interpretation militärischer Notwendigkeit. Nach geltendem Recht ist es nicht geboten, gegnerische Soldaten, wann immer möglich, gefangen zu nehmen statt zu töten. 162 Die völkerrechtliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten ist in gewissem Sinne aus ethischer Perspektive willkürlich, denn in einem bewaffneten Konflikt darf jeder Uniform tragende Wehrpflichtige angegriffen werden, die zivilen Mitarbeiter eines Verteidigungsministeriums nicht. Doch eine moralisch nicht befriedigende Grenzziehung lässt sich normativ mit dem Argument verteidigen, dass die geltenden Konventionen in all ihrer Unzulänglichkeit besser seien als das Fehlen rechtlicher Regeln, die Gewalt einschränken. 163 Die völkerrechtlichen Konventionen, aber auch das herkömmliche Verständnis der bellum iustum-Tradition gründen auf dem »dualistischen Axiom«, das heißt der Trennung von ius ad bellum und ius in bello, und der Annahme einer moralischen Symmetrie der Kombattanten. Herausgebildet hat sich diese Trennung von ius and bellum und ius in bello mit der Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden. Schon vor Hugo Grotius (1583–1645), einem der Begründer des Völkerrechts, lässt sich das Axiom bei Francisco de Vitoria (um 1483–1546) finden, der einräumte, beide Seiten in einem Krieg könnten von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt sein, zwar nicht objektiv, aber nach subjektivem Glauben. 164 Die

sich daraus ergebende Annahme der »moralischen Gleichheit der Kombattanten« sieht sich in der gegenwärtigen kriegsethischen Diskussion einer grundsätzlichen Herausforderung gegenüber. Die »revisionistische« Just War Theory stellt die klassische, die Unabhängigkeit von ius ad bellum und ius in bello postulierende Theorie in Frage – und damit die moralische Symmetrie der Kombattanten. 165 Aus revisionistischer Sicht sind die traditionelle Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten und die Annahme einer moralischen Symmetrie insofern problematisch, als sie von der moralischen Schuld und Verantwortlichkeit abstrahieren. Im Krieg gilt aus dieser Perspektive aber keine andere, keine besondere Moral. Wer in einem »ungerechten« Krieg kämpfe und töte, handle objektiv moralisch falsch. Die revisionistische Perspektive ist, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, eine elementare Herausforderung für das Prinzip der Immunität von Nichtkombattanten: Jeder, der für eine ungerechtfertigte Bedrohung moralisch mitverantwortlich ist (nicht nur Politiker, sondern alle, die den Waffeneinsatz in irgendeiner Form ermöglichen), verwirkt im Grunde sein Recht, nicht einem Angriff ausgesetzt zu sein. Es ist dann eine Frage militärischer Notwendigkeit, ob all jene, die haftbar sind, auch angegriffen werden dürfen. 166 Nun wollen die Revisionisten nicht das humanitäre Völkerrecht aus den Angeln heben. Ihrer Auffassung nach sollte es als Recht im Krieg Bestand haben. Die politische Stoßrichtung dieser ethischen Debatte liegt vielmehr darin, Soldaten zur Reflexion darüber anzuhalten, ob sie an einem gerechtfertigten Gewalteinsatz teilnehmen – und wenn dies nicht der Fall ist, eine Beteiligung zu verweigern.

162 Die in diesem Abschnitten genannten Probleme werden ausführlich diskutiert von Gabriella Blum, »The Dispensable Lives of Soldiers«, in: Journal of Legal Analysis, 2 (Frühjahr 2010) 1, S. 69–124. Als Versuch, die völkerrechtlichen Regelungen in dem Sinne zu interpretieren, dass gegnerische Kämpfer nicht getötet werden dürften, wenn eine Gefangennahme ebenso effektiv ist und eigene Soldaten dadurch keiner größeren Gefahr ausgesetzt werden, siehe Ryan Goodman, »The Power to Kill or Capture Enemy Combatants«, in: The European Journal of International Law, 24 (2013) 3, S. 819–853. 163 So die Position etwa von Jonathan Glover, Causing Death and Saving Lives, London: Penguin Books, 1977, S. 273–279; zur ausführlichen Begründung als konventionsabhängiger Moralität siehe George I. Mavrodes, »Conventions and the Morality of War«, in: Philosophy and Public Affairs, 4 (Winter 1975) 2, S. 117–131. 164 Siehe Robert D. Sloane, »The Cost of Conflation: Preserving the Dualism of Jus ad Bellum and Jus in Bello in the Contemporary Law of War«, in: The Yale Journal of International Law, 34 (2009), S. 47–112 (59ff), dort der Ausdruck »dualistic axiom«.

165 Grundlegend für den Ansatz: Jeff McMahan, Killing in War, Oxford: Clarendon Press, 2009. Als knappen Überblick durch einen Vertreter des revisionistischen Ansatzes siehe Jeff McMahan, »Rethinking the ›Just War‹«, Part 1/Part 2, in: The New York Times (Blog), 11./12.11.2012. Siehe ferner Bradley Jay Strawser, »Revisionist Just War Theory and the Real World: A Cautiously Optimistic Proposal«, in: Allhoff/Evans/Henschke (Hg.), Routledge Handbook of Ethics and War [wie Fn. 55], S. 76–89; Lionel K. McPherson, »Innocence and Responsibility in War«, in: Canadian Journal of Philosophy, 34 (Dezember 2004) 4, S. 485– 506; siehe auch die Beiträge in David Rodin/Henry Shue (Hg.), Just and Unjust Warriors. The Moral and Legal Status of Soldiers, Oxford u.a.: Oxford University Press, 2008. 166 Zu dieser Kritik siehe Seth Lazar, »Necessity and Noncombatant Immunity«, in: Review of International Studies, 40 (2014) 1, S. 53–76.

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Prinzipien und Kriterien einer Theorie legitimer militärischer Gewalt

Sonderfall begrenzte Gewalt – Vom ius ad bellum zum ius ad vim? Seit einiger Zeit wird die Frage diskutiert, ob die Theorie des »gerechten Krieges« der angemessene Bewertungsrahmen für die Anwendung militärischer Gewalt »short of war« ist, also unterhalb der Schwelle eines massiven zwischenstaatlichen Gewalteinsatzes. Denn solche Einsätze, wie etwa die Durchsetzung der Flugverbotszone im Irak, würden nicht die unvorhersehbaren und oftmals katastrophalen Folgen eines Krieges nach sich ziehen. Anhand dieses Befundes hat Michael Walzer vor einigen Jahren die Notwendigkeit einer »theory of just and unjust uses of force«, eines ius ad vim, postuliert: einer Theorie, die seiner Meinung nach permissiver als die bellum iustum-Theorie sein sollte, aber dennoch nicht übermäßig permissiv. 167 In der Tat sind viele Einsätze militärischer Gewalt, insbesondere durch die Vereinigten Staaten, eng begrenzt. 168 Der Vorstellung eines Krieges im Sinne einer massiven zwischenstaatlichen Gewaltanwendung entsprechen sie nicht. Die zerstörerischen Wirkungen sind kleiner und kalkulierbarer, die Zahlen ziviler Opfer niedrig, die Risiken für die eigenen Soldaten oft verschwindend gering oder schlicht nicht gegeben, wenn etwa Drohnen zum Einsatz kommen. Der Griff zu solchen Formen des Einsatzes militärischer Gewalt ist politisch ohnehin schon verlockend. Sollte man ihn auch noch aus moralischer Perspektive erleichtern, indem ein anderer Maßstab an sie angelegt wird? Diejenigen unter den Experten, die sich offen für ein ius ad vim zeigen, betrachten die traditionellen Kriterien der bellum iustum-Tradition offensichtlich als ungeeignet für die Bewertung begrenzter Gewalteinsätze. Diese wären im Sinne eines ius ad vim als »Verteidigung« gegen Akte begrenzter Aggressionen (etwa terroristische Anschläge oder Entführungen von Staatsbürgern) gerechtfertigt, das heißt als Antwort auf erlittenes Unrecht (nicht ohne Grund wird der klassische Aus167 Michael Walzer, »Regime Change and Just War«, in: Dissent, (Sommer 2006), S. 103–108 (106). 168 Solche punktuellen begrenzten militärischen Operationen, bei denen es nicht um die Niederkämpfung einer gegnerischen Armee oder die Eroberung von Territorien geht, haben die USA seit Ende des Ost-West-Konflikts häufig unternommen – übrigens mit bescheidenem Erfolg. Von den 36 Interventionen dieser Art in den Jahren 1991–2009 waren gut die Hälfte militärisch erfolgreich, doch in nur 6% der Fälle wurden alle damit verbundenen politischen Ziele erreicht. So Micah Zenko, Between Threats and War. U.S. Discrete Military Operations in the Post-Cold War World, Stanford: Stanford University Press, 2010.

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druck iniuria benutzt). Gelockert ist auch das Kriterium, dass der Gewalteinsatz das äußerste Mittel sein soll: Die Anwendung militärischer Gewalt sei dann gerechtfertigt, wenn eine Bedrohung abgewehrt werden müsse und dies durch polizeiliche Mittel nicht möglich sei. Die durchlässigeren Kriterien des ius ad vim sollten nur gelten, wenn der begrenzte Gewalteinsatz nicht das Risiko einer Eskalation zu einem Krieg in sich berge; sei dies der Fall, sollten die restriktiveren Kriterien des ius ad bellum angewandt werden. 169 Der Kritik, die gegen ein solches eigenständiges ius ad vim vorgebracht wird, liegt die Befürchtung zugrunde, dadurch werde das Kriterium der ultima ratio aufgegeben und der Griff zu militärischer Gewalt erleichtert, der immer die Tendenz zur Entgrenzung innewohne. Auch wenn nur wenige Menschen getötet würden, müsse ein Gewalteinsatz das äußerste Mittel bleiben – aus Respekt vor dem Leben derer, die dabei zu Schaden kommen oder getötet werden. 170 In der Tat scheinen die Verfechter eines ius ad vim nicht ausreichend die grundsätzliche Frage zu reflektieren, zu welchen Zwecken und unter welchen Bedingungen Töten legitim ist, wenn es nicht allein der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben Angegriffener dient. Militärische Gewalt ist etwas anderes als polizeiliche Gewalt. Soldaten werden zwar im Rahmen des Peacekeeping dazu eingesetzt, die Aufrechterhaltung des Friedens zu sichern. Sie erfüllen dabei gleichsam polizeiliche Aufgaben, und die Regeln für den Einsatz tödlicher Gewalt ähneln denen von Polizeikräften: Der Gewalteinsatz muss sich auf das notwendige Minimum beschränken und der Abwehr einer unmittelbaren Gefährdung dienen. Das Just-WarParadigma und das Polizei-Paradigma gelten für unterschiedliche Konstellationen. 171 Ein ius ad vim verwischt die Grenzen zwischen beiden. Befürworter eines solchen »hybriden« ethischen Bewertungsrahmens erhoffen sich davon eine Begrenzung der Gewaltanwen169 Die skizzierte Position wird vertreten von Daniel Brunstetter/Megan Braun, »From Jus ad Bellum to Jus ad Vim: Recalibrating Our Understanding of the Moral Use of Force«, in: Ethics and International Affairs, 27 (Frühjahr 2013) 1, S. 87–106. 170 So C. A. J. Coady, »Preventive Violence: War, Terrorism, and Humanitarian Intervention«, in: Deen K. Chatterjee (Hg.), The Ethics of Preventive War, Cambridge: Cambridge University Press, 2013, S. 189–213 (212f, Zitat S. 213). 171 Zu dieser Thematik siehe Tony Pfaff, Peacekeeping and the Just War Tradition, Carlisle, PA: Strategic Studies Institute, U.S. Army War College, September 2000; zu den mit dem Peacekeeping verbundenen moralischen Fragen siehe Daniel H. Levine, The Morality of Peacekeeping, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2014.

Sonderfall begrenzte Gewalt – Vom ius ad bellum zum ius ad vim?

dung, weil dabei ein geringeres Maß an tödlicher Gewalt, insbesondere in Form der Inkaufnahme der Tötung von Nichtkombattanten, zu rechtfertigen sei als im Begründungsrahmen des ius ad bellum. 172 Doch dies geschieht um den Preis, die Voraussetzungen für den Einsatz militärischer Gewalt zu lockern. Die Einsatzformen militärischer Gewalt sind unterschiedlich, doch sofern es sich nicht um friedenserhaltende Einsätze handelt, spricht wenig dafür, ein neues ethisches Paradigma zu entwickeln. Zwar gibt es immer wieder Stimmen, die vorschlagen, analoge Prinzipien für unterschiedliche Formen des Einsatzes militärischer Gewalt auszuarbeiten. Allerdings wäre das Ergebnis faktisch nur eine spezifizierte Version der in der Tradition diskutierten Prinzipien. 173 Die allgemeinen Prinzipien und Kriterien, wie sie in der bellum iustum-Tradition erörtert werden, lassen sich auf alle Formen des Einsatzes und der Androhung militärischer Gewalt anwenden. 174

172 So S. Brandt Ford, »Jus ad vim and the Just Use of Lethal Force-Short-of-War«, in: Allhoff/Evans/Henschke (Hg.), Routledge Handbook of Ethics and War [wie Fn. 55], S. 63–75 (64). 173 So bei George R. Lucas, Jr., »›New Rules for New Wars‹: International Law and Just War Doctrine for Irregular War«, in: Case Western Reserve Journal of International Law, 43 (2011), S. 677–705. 174 »Just war thinking provides guidance on when and how force should be used, in whatever mutation the protean monster [war] may assume.« Fisher, Morality and War [wie Fn. 123], S. 162. Vorgeschlagen wurde, von einer »just armedconflict theory« und »just armed-conflict principles« zu sprechen, so John W. Lango, »Generalizing and Temporalizing Just War Principles: Illustrated by the Principle of Just Cause«, in: Michael W. Brough/John W. Lango/Harry van der Linden (Hg.), Rethinking the Just War Tradition, Albany: State University of New York Press, 2007, S. 75–95 (76). Als Anwendung der aus der bellum iustum-Tradition übernommenen Prinzipien und Kriterien auf die Frage, wann die Tötung politisch Verantwortlicher als Alternative zu einem Krieg legitim sein könnte, siehe Eamon Aloyo, »Just Assassinations«, in: International Theory, 5 (November 2013) 3, S. 347–381; als Anwendung auf die Frage, wann ein Aufstand gerechtfertigt ist, siehe Valerie Morkevicius, »Why We Need a Just Rebellion Theory«, in: Ethics and International Affairs, 27 (Winter 2013) 4, S. 401–411.

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Folgerung: Wie die ethische Debatte belebt werden könnte

Folgerung: Wie die ethische Debatte belebt werden könnte

Auch wenn man sich an der Begrifflichkeit stoßen mag, bilden die Bedingungen und Kriterien der Tradition des bellum iustum in Gesamtheit und Komplexität dennoch ein Bezugssystem für den öffentlichen Diskurs über den Einsatz militärischer Gewalt, das den Verengungen einer oft moralistisch und legalistisch geführten Debatte entgegenwirken kann. 175 Über die genaue Bedeutung der einzelnen Prinzipien und Kriterien mag man streiten, sind diese doch unvermeidlich interpretationsbedürftig. Oft wird sich keine Einigkeit über die einer Bewertung zugrundeliegenden Fakten und Einschätzungen erzielen lassen und entsprechend unterschiedlich werden Folgerungen ausfallen. 176 Doch eine an die Tradition des bellum iustum anknüpfende »Theorie legitimer Gewaltanwendung« hilft nicht nur bei der individuellen Urteilsbildung und der Überprüfung der eigenen moralischen Intuitionen. Sie ermöglicht vor allem auch eine strukturierte und rationale normative öffentliche Debatte über folgende Fragen: 177 Werden mit einem militärischen Einsatz legitime Zwecke verfolgt, das heißt solche, die eine Ausnahme vom Tötungsverbot rechtfertigen, verallgemeinerungsfähig sind und hierauf möglichst durch den Zwang zur Legitimation in multilateralen Verfahren »getestet« wurden? Waren andere, gewaltärmere Mittel erfolglos oder bieten keine vernünftige Erfolgsaussicht? Besteht eine vernünftig begründbare Aussicht darauf, dass diese Zwecke dauerhaft und mit einem Minimum an Gewalt erreicht werden können?

Die Qualität der öffentlichen Debatte über den Einsatz oder Nichteinsatz militärischer Gewalt ließe sich steigern, indem man auf einen ethischen Bezugsrahmen zurückgreift. Aufmerksamkeit verdient daher ein Vorschlag, den David Fisher, ein ehemaliger hochrangiger britischer Ministerialbeamter, mit Blick auf die Diskussion in Großbritannien unterbreitet hat: Vor jedem Krieg oder jeder anderen militärischen Aktion sollte die Regierung in einem kurzen »white paper« die Gründe für den Gewalteinsatz darlegen und erläutern, inwieweit er den Kriterien des »gerechten Krieges« entspricht. 178 Hinzuzufügen wäre: Eine solche Bewertung müsste im Laufe eines Gewalteinsatzes periodisch erneuert werden, um ihn einer beständigen ethischen Reflexion zu unterwerfen. Das Ziel dabei kann nicht sein, eine dichotomische Antwort im Sinne von »gerechtfertigt oder nicht« zu erhalten. 179 Es wird immer nur darum gehen können, eine Einschätzung darüber zu erlangen, ob der Einsatz weiterhin eher noch zu rechtfertigen ist oder eher nicht. Zweifellos würde es die ethische Debatte befördern, wenn die Bundesregierung vor jedem größerem Einsatz militärischer Gewalt, der über rein friedenserhaltende und damit eher »polizeiliche« Einsätze hinausgeht, begründen würde, in welchem Maße er den Prinzipien und Kriterien moralisch legitimer militärischer Gewaltanwendung Rechnung trägt. Doch dem dürfte nicht nur die Scheu davor entgegenstehen, an eine der deutschen sicherheitspolitischen Kultur eher fremde Denktradition anzuknüpfen. Zu

175 Zu dieser Sicht siehe John Kelsay, »Just War Thinking as a Social Practice«, in: Ethics and International Affairs, 27 (Frühjahr 2013) 1, S. 67–86. 176 Beispiele sind die Bewertungsunterschiede mit Blick auf Afghanistan, wie sie zu finden sind in: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), »Selig sind die Friedfertigen«. Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Hannover, Dezember 2013, S. 49f. 177 Für die Auffassung, dass von der Just War Theory nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig erwartet werden solle und sie im Sinne eines organisierenden Rahmens zu verstehen sei, siehe Nick Fotion/Bruno Coppieters, »Concluding Comments«, in: Bruno Coppieters/Nick Fotion (Hg.), Moral Constraints on War. Principles and Cases, Lanham/Plymouth: Lexington Books, 2. Aufl., 2008, S. 303–316.

178 Die Argumentation sollte nach Fishers Vorschlag von einem zu gründenden unabhängigen »Office of Moral Assessment« überprüft werden, einer Art Rat weiser Frauen und Männer. Nur wenn dieses Gremium den Gewalteinsatz für eher gerechtfertigt halte, könne er als rechtmäßig angesehen werden. Sinn dieser Bewertung sei es, dem britischen Parlament eine ethische Grundlage für die Entscheidung über den Militäreinsatz zur Verfügung zu stellen. Fisher, Morality and War [wie Fn. 123], S. 249ff. 179 Ob dafür ein »Just War Index« ein geeignetes Instrument wäre, sei dahingestellt. Die Idee ist, das Maß an Erfüllung der Kriterien legitimer Gewaltanwendung auf einer Skala zu bewerten. Siehe dazu A. Walter Dorn, »The Just War Index: Comparing Warfighting and Counterinsurgency in Afghanistan«, in: Journal of Military Ethics, 10 (September 2011) 3, S. 242–262.

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Folgerung: Wie die ethische Debatte belebt werden könnte

stark scheint auch die grundsätzliche Abneigung gegen jedwede »Prüfkriterien« für Entscheidungen über die Entsendung deutscher Soldaten, zu groß die Befürchtung, ein Kriterienkatalog könne den politischen Handlungsspielraum und die Flexibilität einengen. 180 So verständlich diese Besorgnis aus der Sicht politischer Akteure auch sein mag: Bei einer ethischen Bewertung handelt es sich nicht um das Abhaken einer Liste von Prüfkriterien, sondern um einen strukturierten Austausch normativer Argumente als Grundlage verantwortungsvoller politischer Entscheidungen.

Lektüreempfehlung Peter Rudolf Schutzverantwortung und humanitäre Intervention. Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes SWP-Studie 3/2013, Februar 2013

180 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Debatte über den von Bündnis 90/Die Grünen am 16. März 2011 eingebrachten Antrag zur Entwicklung von »Prüfkriterien« für Auslandseinsätze [siehe Fn. 6], der mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, FDP und Die Linke bei Stimmenthaltung der SPDFraktion abgelehnt wurde. Dabei wurde eine Reihe von Argumenten gegen Prüfkriterien vorgebracht: Erstens habe man mit völkerrechtlichem Rahmen, multilateraler Ausrichtung und dem Kriterium der ultima ratio bereits ausreichende Leitlinien. Zweitens brauche eine Regierung Flexibilität. Drittens seien die konfliktspezifischen Faktoren zu komplex, um Entscheidungen anhand eines Kriterienkatalogs zu fällen. Viertens sei das Abhaken einer Kriterienliste ein zu pauschales Verfahren, das der »moralischen Verantwortung« der Abgeordneten nicht gerecht werde. Siehe Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 17. Wahlperiode, 217. Sitzung, Berlin, 17.1.2013, S. 26960–26966.

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