Versprachlichte Körper - verkörperte Sprache: Konstruktionen von ...

in Literatur und Psychologie um 1900 ..... 4.1 DEFINITION DER PSYCHOLOGIE UM 1900 . ...... In: Gumbrecht, H.U. und Pfeiffer, K.L. (Hg.): Materialität der.
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Igel Verlag Literatur & Wissenschaft Hamburg 2010 44,00 € ISBN 978-3-86815-522-8

Konstruktionen von Identiät und Entfremdung um 1900

Sarah Yvonne Brandl ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Dipl.-Psychologin. Nach Tätigkeiten in der Methodenforschung an der Universität Frankfurt und in der Präventionsforschung am Sigmund-Freud-Institut arbeit sie derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Frankfurt.

Sarah Yvonne Brandl

Wien um 1900 gilt als vielschichtiges Phänomen, in dessen Folge sich neue Ansichten über das Ich etablierten. Diese Untersuchung nähert sich dem Thema unter anderem durch einen Überblick über Forschungsarbeiten zum Aspekt Körper, und zur Wiener Moderne, durch die Analyse literarischer Texte (Hofmannsthal, Schnitzler, Wedekind) sowie durch die eingehende Diskussion der Metapsychologie Sigmund Freuds. Mithilfe eines interdisziplinären Zugangs wird der zeitgenössische Umgang mit den Verunsicherungen der Moderne herausgearbeitet. Hierfür wird die Struktur der Bildlichkeit in Erfahrungs(Poesie), Wahrnehmungs- und Konzeptionalisierungsprozessen untersucht, die auf eine zunehmende Instrumentalisierung von Metaphern der Körperlichkeit für die sprachliche Vermittlung psychischer Vorgänge verweist, deren Ausläufer sich bis in die theoretische Diskussion der Postmoderne finden lassen.

Sarah Yvonne Brandl

Versprachlichte Körper verkörperte Sprache Konstruktionen von Identität und Entfremdung in Literatur und Psychologie um 1900

Ich danke der Studienstiftung des Deutschen Volkes sehr für ihre intensive ideelle sowie für die finanzielle Unterstützung durch das Promotionsstipendium

Sarah Yvonne Brandl: Versprachlichte Körper – Verkörperte Sprache. Konstruktionen von Identität und Entfremdung in Literatur und Psychologie um 1900 1. Auflage 2012 ISBN: 978-3-3-86815-611-9 © IGEL Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg, 2012 www.igelverlag.com Alle Rechte vorbehalten. Igel Verlag Literatur & Wissenschaft ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH Hermannstal 119 k, 22119 Hamburg Printed in Germany Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diesen Titel in der Deutschen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten sind unter http://dnb.d-nb.de verfügbar.

Inhalt Einleitung ........................................................................................................................................ 7

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Blicke auf den Körper. Forschungsansätze ............................................................ 13

1.1 VORBEMERKUNG ...................................................................................................... 13 1.2 KULTURHISTORISCHER UND SOZIALGESCHICHTLICHER BLICK ................................. 15 1.3 PHÄNOMENOLOGISCHE SICHTWEISE ......................................................................... 18 1.4 ZEICHENTHEORETISCHE ANSÄTZE ............................................................................ 25 1.5 MEDIZINISCH-PSYCHOANALYTISCHE SICHTWEISE ................................................... 30 1.5.1 Medizinisch-psychiatrischer Blick ...................................................................... 30 1.5.2 Vorwürfe an die Psychoanalyse: Vernachlässigung des Körpers ...................... 31 1.5.3 Psychosomatischer Blick .................................................................................... 33 1.5.4 Vorwürfe an die Medizin: Vernachlässigung des Körpererlebens ..................... 35 1.5.5 Körperschema und Körper-(Selbst)bild ............................................................. 36 1.5.6 Psychoanalytischer Blick .................................................................................... 39 2

Werte, Wirklichkeit, Krisen. Erklärungsversuche zum Phänomen „Wien 1900“ ................................................................................... 44

2.1 EINLEITUNG .............................................................................................................. 44 2.2 SUKZESSIVER WERTVERLUST. DER ANSATZ VON MAGRIS. ...................................... 48 2.2.1 Mythisierung von Geschichte ............................................................................. 48 2.2.2 Traditionsbruch und Ordnung ............................................................................ 51 2.2.3 Verlust des Zentralwertes ................................................................................... 52 2.2.4 Genauigkeit ......................................................................................................... 53 2.3 SIMULTANE DOPPELBÖDIGKEIT. DER ANSATZ VON JANIK UND TOULMIN ................ 53 2.4 KRISE DES LIBERALISMUS. EIN MONOKAUSALER ANSATZ VON SCHORSKE .............. 56 2.4.1 Einleitung............................................................................................................ 56 2.4.2 Liberalismus ....................................................................................................... 57 2.5 FORSCHUNGSINTERESSEN ......................................................................................... 61 3

Wahrnehmung – Subjektkonstruktion – Ich-Begriff ............................................ 66

3.1 MODERNISIERUNGSPROZESSE ................................................................................... 66 3.2 ICH - KONZEPTE ........................................................................................................ 69 3.2.1 William James..................................................................................................... 70 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.1.4 3.2.1.5

Einleitung ................................................................................................................. 70 Die Principles of psychology.................................................................................... 71 Wie stellt das Bewusstsein Individualität her? ......................................................... 74 Ich und Nicht-Ich...................................................................................................... 77 Ich–Körper–Leib–Entfremdung ............................................................................... 77

3.2.2 Exkurs: Paul Bourget ......................................................................................... 81 3.2.3 Ernst Mach ......................................................................................................... 84 3.2.3.1 Die „Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen“ ............................................................................................................ 86 3.2.3.2 Das Ich und das Nicht-Ich, die Körper ..................................................................... 88

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Der Körper des „Ich“ in Freuds Metapsychologie ................................................ 91

4.1 DEFINITION DER PSYCHOLOGIE UM 1900 .................................................................. 91 4.2 FREUDS ARBEITEN.................................................................................................... 93 4.2.1 Übersicht: Die libidoökonomische Phase .......................................................... 94 4.2.2 Die frühen Arbeiten: Übergang von Neurologie zu Psychologie, von topisch zu funktional .................................................................................... 96 4.2.2.1 Psycho-physischer Parallelismus.............................................................................. 96

4.2.2.2 Der Wort-/Sachvorstellungskomplex ....................................................................... 99

4.2.3 – wenn das Wort fehlt und das Bein spricht – Die Studien über Hysterie ....... 103 4.2.3.1 „Kunstgriffe“ .......................................................................................................... 104 4.2.3.2 Symptome – Symbole – Konversionen .................................................................. 105 4.2.3.3 Therapiewirkung ..................................................................................................... 108

4.2.4 Psychische Apparate ........................................................................................ 109 4.2.4.1 Deutungsprobleme .................................................................................................. 110 4.2.4.2 Erster Entwurf zum Psychischen Apparat .............................................................. 112 4.2.4.3 Grenzenlosigkeit und Narzissmuskonzept – Ein energiestabiles System nach Helmholtz und Brücke ............................................................................................ 119 4.2.4.4 Der zweite Entwurf zum psychischen Apparat von 1923....................................... 123

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Ich-Entfremdung und Körper in literarischen Texten ....................................... 129

5.1 SELBSTVERGEWISSERUNG IN DER UNSICHERHEIT – ARTHUR SCHNITZLER ............ 129 5.1.1 Vorbemerkung .................................................................................................. 129 5.1.2 Warten, Täuschung, Masken ............................................................................ 129 5.1.3 Selbstentfremdung ............................................................................................ 132 5.1.4 Körpersymptomatik .......................................................................................... 136 5.2 ‚ALS FLÖSSE VON MIR IN WELLEN DIE KRAFT‘. PHANTASIEN ZUR KÖRPERGRENZE IN HOFMANNSTHALS FRÜHEN ARBEITEN ..................................... 140 5.2.1 Vorbemerkung .................................................................................................. 140 5.2.2 Der Blick als Auslöser für den Blick auf den Körper ....................................... 141 5.2.2.1 Vorbemerkung ........................................................................................................ 141 5.2.2.2 Der eigene Blick ..................................................................................................... 143

5.2.3 Grenzen: Grenzverstärkung vs. Grenzauflösung ............................................. 144 5.2.4 Das Medium Wasser: ....................................................................................... 149 5.2.5 Lösungsversuche – Kompensation ................................................................... 150 5.2.5.1 5.2.5.2 5.2.5.3 5.2.5.4 5.2.5.5

Schweigen............................................................................................................... 150 Sachlichkeit ............................................................................................................ 152 Andere Sprachen..................................................................................................... 153 Sprechende Körper ................................................................................................. 155 Dichtung ................................................................................................................. 157

EXKURS: GEWALT GEGEN DEN GESCHAUTEN UND GESCHULTEN KÖRPER. MANIPULATIONEN KÖRPERLICHER LUST IN FRANK WEDEKINDS MINE-HAHA ...... 160 5.3.1 Vorbemerkung .................................................................................................. 160 5.3.2 Exhibitionismus – Voyeurismus ....................................................................... 161 5.3.3 Sadismus – Masochismus – Sadomasochismus ................................................ 165 5.3.4 Nicht nur die Körper ........................................................................................ 168

5.3

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Zusammenfassung – Diskussion – Ausblick ........................................................ 172

6.1 DISKUSSION DES HISTORISCHEN MODELLS............................................................. 172 6.2 METAPHERNTHEORIE, MODELLE ZUR BILDLICHKEIT ............................................. 173 6.3 METAPHER UND PSYCHOLOGISIERUNG .................................................................. 176 6.4 THEORIEENTWICKLUNGEN. SKIZZE EINES AUSBLICKS ........................................... 180 6.4.1 Neue Sicherheiten? ........................................................................................... 182 6.4.2 Doppelschichten ............................................................................................... 182 6.4.2.1 6.4.2.2 6.4.2.3 6.4.2.4

Struktur und System als neue Sicherheiten ............................................................ 183 Das Sprechen des Unbewussten ............................................................................. 185 Diskurs über die Innerlichkeit ................................................................................ 186 Abstraktion und Sinnlichkeit des Körpers .............................................................. 187

6.4.3 Modernismus versus Postmoderne ? ................................................................ 189 7

Literaturverzeichnis ............................................................................................... 194

Einleitung In einem Text von 18951 berichtet Freud von seiner Vorliebe für eine Analogie des psychotherapeutischen Prozesses, er vergleicht ihn mit chirurgischen Eingriffen, gleichsam psychotherapeutischen Operationen, er spricht von der Eröffnung einer eitergefüllten Höhle, der Auskratzung einer kariös erkrankten Stelle. Wenn es auch als naheliegend gesehen werden mag, dass ein Arzt solche Analogien wählt, so rufen sie doch beim Leser eine über die Gemeinsamkeiten des Verglichenen hinausreichende Wirkung hervor: die Assoziation des Lesers könnte sein, dass es sich um einen schmerzhaften Prozess handle und es um krankhafte Dinge gehe, die mit dem Geschmack des Ekels verbunden sind, auch bliebe der Patient bei Operationen eigentlich ein gänzlich passiver. Aus der Zeit sieben Jahre später stammt ein bekannter Text von Hugo von Hofmannsthal, in dem es um die Krise der Sprache geht, die nicht in der Lage sei, das Eigentliche auszudrücken. Die Worte zerfallen dort wie „modrige Pilze“ im Mund, sie „schwammen um mich; sie gerannen zu Augen“. Das Gefühl des Getrenntseins vom Anderen aufgrund mangelnder Sprache wird als fiebriges Denken beschrieben, als „Splitter im Hirn, um den herum alles schwärt, pulst und kocht[ …]. Es ist dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte“2. Das Sprechen über das Nicht-Sprechen-Können gelingt hier in einer meisterhaften sprachlichen Umsetzung extremer emotionaler Spannungen. Bei der Erschließung oder Entwicklung neuer Wissenschaftsgebiete, wie z.B. in der Psychologie oder der Hirnforschung, ergeben sich häufig Lücken im semantischen Repertoire der Sprache, die eine Darstellung des neuen Gedankengebäudes nicht ohne weiteres zu leisten vermag sondern diese erst entwickeln muss. So verwendet zum Beispiel die heutige Hirnforschung gern zur Beschreibung kognitiver Prozesse Analogien aus dem Bereich der Computertechnik aus den 30er bis 50er Jahren des letzten Jahrhunderts: es ist die Rede von Prozessoren, Arbeitsspeichern, Netzwerken und Verschaltungen.3 Gleichzeitig ist der Versuch einer wissenschaftlichen Beschreibung psychischer Zustände wie jede wissenschaftliche Theorie durch die Reduktion der 1

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Freud, Sigmund (1895): Zur Psychotherapie der Hysterie. In: Josef Breuer und Sigmund Freud (erstm. 1895, hier 1997): Studien über Hysterie. Frankfurt: Fischer, S. 271-321, 321. Hofmannsthal (1902): Ein Brief. In: Hirsch, R. (Hg.) (1957): Hugo von Hofmannsthal. Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 2 Erzählungen und Aufsätze. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 337-348, 347f. Vgl. Brandl, S.Y. (2007): Einmal bitte Öl wechseln und die Schaltung reparieren. Sprache und metaphorische Wahrnehmungen zur kindlichen Verhaltensbeschreibung. In: Ahrbeck, B. (Hg.): Hyperaktivität. Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie. Stuttgart: Kohlhammer.

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Einleitung

vielfältigen Aspekte des Gegenstandes gekennzeichnet. Betrachtet man die Beschreibungsversuche als aus zwei Ebenen bestehend, so lässt sich eine primär sachorientierte, reflektierte oder auch transzendentale Ebene von einer primär erlebnisorientierten und unreflektierten emotionalen Ebene unterscheiden. Letztere, auch durch ihren phänomenalen Erlebnisgehalt gekennzeichnet4, unterliegt der weit größeren Gefahr, bei der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Theoriegebäude stark eingeschränkt und reduziert zu werden. An dieser Stelle ist es nun von besonderem Interesse, das Augenmerk auf die verwendeten Analogien, Metaphern oder Allegorien, zu richten, welche den Erklärungsbedarf neuer Theorien unterstützen sollen. Der Grund dafür ist, dass die zur Vermittlung des theoretischen Gehalts verwendeten Illustrationen dem Dargestellten durch die geweckten Assoziationen eine zusätzliche expressive Tiefendimension verleihen und damit den Bedeutungsraum erweitern, da mit der übertragenen Benennung, außer der Information, emotionale Wirkungen und bildhafte Vorstellungen geweckt werden. In der Zeit um 1900, wo geistige Phänomene wie Identitätskrisen, Sprachzweifel, das Zusammenbrechen metaphysischer Gewissheiten und, damit verbunden, ein allgemeines Gefühl der Verunsicherung situiert werden, lässt sich sowohl in literarischen wie auch in theoretischen Texten eine zunehmende Instrumentalisierung von Körperlichkeit für die sprachliche Darstellung psychischer Zustände beobachten. Psychische Prozesse wie Entfremdung oder Identitätsbildung werden zunehmend über Körpermetaphern und Körperanalogien dargestellt. Die Sinnlichkeit des Körpers steht dabei meist im Vordergrund. So wird in literarischen Texten zum Beispiel Entfremdungserfahrungen durch eine Konzentration auf Kontrollindikatoren des physischen Zustandes, wie Puls, Körpertemperatur oder Zittern der Hände usw. begegnet (Schnitzler). Verschmelzungswünsche werden durch Bilder des Zerfließens der Leiber ausgedrückt (Hofmannsthal), Wahrnehmungsstörungen infolge psychischer Gewalt werden anhand körperlicher Dressur beschrieben (Wedekind). Soweit zur Gestaltung literarischer Texte dieser Zeit, aber auch in theoretischen Arbeiten, wie den metapsychologischen Arbeiten Freuds, ist eine interessante Wandlung zu beobachten. So ist z.B. in Freuds erster Idee zum psychischen Apparat recht nüchtern von einer Art Photoapparat die Rede, in den folgenden Jahren nimmt jedoch bei steigendem theoretischem Abstraktionsgrad seiner Modelle, die Sinnlichkeit seiner illustrierenden Vergleiche deutlich zu. Biologische Beispiele von Amöben, Protoplasmatierchen, die ihre Pseudopodien ausstrecken, wecken zunehmend Assoziationen einer leiblich gedachten Psyche. 4

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Vgl. Bischof, Norbert (1996): Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. München, Zürich: Piper.

Einleitung

Die Zeit um 1900 war durch eine lange Phase der Verunsicherungen geprägt. Das Ich als ein Ganzes zu denken, als eine Einheit und gleichzeitig als Herr im eigenen Hause – von dieser Vorstellung hieß es nun abschied zu nehmen. Die sich etablierende moderne Psychologie zerstörte durch ihre neuen Denkweisen einige der alten Sicherheiten. Wenn William James vom kontinuierlichen Bewusstseinsstrom spricht, oder Ernst Mach das Ich als Notbehelf, das nur durch die Summe bzw. Kombination der einzelnen Wahrnehmungsmuster entstanden sei, bezeichnet und Sigmund Freud die Modelle zum psychischen Apparat des Menschen entwirft, so entsteht eine neue, zeitbezogene Art, psychische Vorgänge zu modellieren und damit zu deuten. Diesen psychischen Vorgängen Sprache zu verleihen gehört auch in das Gebiet der literarischen Werke. In den zeitgenössischen Texten finden sich Widerspiegelungen der allgemeinen Unsicherheit über feste Wahrheiten und Werte, das Ich und seine Empfindungen erscheinen im Kontext zeittypischer literarischer Themen, die Ängste werden in poetische Bilder gefasst. Betrachtet man nun sowohl literarische als auch theoretische Texte, die zeitgleich um 1900 entstanden, so könnte es sein, dass sich in den literarischen Arbeiten Phantasien aufdecken lassen, welche strukturelle Gemeinsamkeiten zu impliziten Vorannahmen der sich verändernden psychologischen Theorien zur Ich-Konstitution oder zum Bewusstsein aufweisen. Folgt man dieser Idee weiter, so könnten diese, teils unausgesprochenen, phantasierten Grundannahmen auch als implizite Information in die Entwicklung späterer theoretischer Ansätze, sowohl in erkenntnistheoretische wie den Konstruktivismus als auch textanalytische Theorien, weitertransportiert werden. In diesem Sinne erlauben die impliziten Phantasien und Strukturen, die sich zur Jahrhundertwende herausbildeten, einen Beitrag für die Erklärung des Denkens und der Modellbildungen nachfolgender Zeit zu leisten. Die Gemeinsamkeiten der in den einzelnen Abschnitten dieser Arbeit besprochenen Texte und Ideen lassen sich dabei als korrelatives Sprechen verstehen. Dieser korrelative Zusammenhang impliziert keine kausale Wirkrichtung, wenn er auch die Voraussetzung für solch eine wäre. Schriftsteller und Wissenschaftler können hier verstanden werden als Gruppen, die sich auf den Empfang und die Interpretation von kulturellen Botschaften „spezialisiert“ haben bzw. für diese sensibilisiert sind.5 Spätere Theoretiker wären damit auf Botschaften aus der Vergangenheit sensibilisiert. Diese Botschaften sind zu verstehen als implizit in sprachlichen Bildern und Vorstellungen bzw. im Handeln von Personen enthalten, beides wird zu Kanälen dieser Botschaften.

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Vgl. Ruesch, J., Bateson, G. (1995): Individuum, Gruppe und Kultur. Ein Überblick über die Theorie der menschlichen Kommunikation. In: Dies. (Hrsg): Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie. Heidelberg: Carl Auer, S. 299-314, 302.

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit kann als ein Beispiel dafür gesehen werden, wie der Blick des Betrachters das Betrachtete konstruiert und verändert. Die getroffene Auswahl, die Art der Zusammenstellung, die Art der Strukturierung ist eine individuelle Möglichkeit, sich mit dem gewählten Thema zu beschäftigen und soll keineswegs andere Herangehensweisen ausschließen. Zu Beginn der Arbeit werden Forschungsarbeiten zum Körper vorgestellt (Abschnitt 1), die unterschiedliche Ansichten vertreten, um den eigenen Blick zu sensibilisieren für die Möglichkeiten der Interpretation des in Texten auftauchenden Körpers. Das Vorgehen erfolgt nicht durch Anschluss an eine der etablierten literatur- oder textwissenschaftlichen Methoden, sondern integriert Aspekte verschiedener Ansätze zu einem eigenen Weg, dessen Charakter für dieses Thema hilfreich erschien. Die Wahl der Zeitphase um 1900 erscheint deshalb lohnenswert, weil sich hier eine Veränderung im Sprechen über menschliche Psyche andeutet. Nicht mehr nur poetische Texte, in zunehmendem Maße eine sich etablierende Psychologie, die durch die Philosophie und die moderne Physik beeinflusst ist, erhält die Kompetenz, unter Benutzung bestimmter Analogien ihre Modelle über die Psyche zu entwickeln. Die Zeit um 1900 wurde gern als ein Zusammentreffen verschiedener Krisen beschrieben – wenn dies so war, dann macht sie das besonders interessant für eine Deutung scheinbarer sprachlicher Nebensächlichkeiten, nämlich die beiläufigen Illustrationen, die Metaphern und Allegorien, wenn nicht, so ist doch der spätere ReKonstruktionsversuch einer Epoche als durch Krisen geprägt in einem Zusammenhang mit den Arbeiten dieser Epoche zu sehen. In Abschnitt 2 werden die bekanntesten Ansätze zur Erklärung der kulturellen Veränderungen um 1900 besprochen, strukturelle Gemeinsamkeiten herausgearbeitet (Magris, Schorske, Janik & Toulmin) und durch neuere Ansätze ergänzt (LeRider, Berner, Brix, Mantl, Lorenz). Die Abschnitte 3 bis 5 beschäftigen sich mit den Arbeiten einzelner Personen. Die Auswahl orientiert sich an der Vielfalt der Texte, die in unterschiedlicher Weise die Themen von Ich-Konstitution und Entfremdung repräsentieren und daran, dass gleichzeitig ein Bezug zum körperlichen Gehalt der verwendeten Bilder, Illustrationen oder der Sprache hergestellt werden kann. Die theoretischen Texte zeigen, wie die Konstruktion der Theorie oder der Modelle durch zeittypische Denkweisen, z.B. die allgemein konstatierte Verunsicherung über feste Wahrheiten, beeinflusst wird. In Abschnitt 3 sind dies: William James, auf den sich ein großer Teil späterer Emotionstheorien bezieht, und seine Idee vom Bewusstseinsstrom, außerdem Ernst Mach und die Idee der Wahrnehmungsabhängigkeit der Wirklichkeitskonstruktion und in einem Exkurs Paul Bourget, der einen erheblichen Einfluss auf die Praxis der Psychopathologie ausübte, und seine Befürchtungen über die Zersetzung des Denkens durch bewusstseinsfremde Mächte.

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Einleitung

Sigmund Freud kommt eine Art Zwischenstellung zu, ihm ist daher ein eigener Abschnitt (Abschnitt 4) gewidmet. Seine metapsychologischen Schriften zur Theorie über psychische Innenwelten gehören sowohl zu den wichtigen theoretischen psychologischen Konzepten des frühen 20. Jahrhunderts, können aber gleichzeitig wie literarische Texte betrachtet werden, um ihren Bildgehalt als eine zweite Ausdrucksebene zu analysieren. Seine Texte erhalten daher auch den Charakter eines Bindegliedes, das zum Ausgangspunkt für einen Blick auf die Theorieentwicklungen im Umgang mit Texten im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wird. In Abschnitt 5 erfolgt die Betrachtung literarischer Texte. Der Thematik der Identitätskrisen (LeRider) werden die Schriftsteller sowohl durch die Inhalte ihrer Texte, in denen die Identitätskrisen thematisiert werden als auch durch neue Gestaltungstechniken, innerpsychischen Vorgängen literarischen Ausdruck zu verleihen, gerecht. Erlebte Rede, innere Monologe, traumtextartige Gestaltungen und der Verzicht auf eine kontinuierliche Entwicklung von Handlungskomplexen durchziehen die literarischen Produktionen der Zeit. Es werden Texte von Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal besprochen, da sie in unterschiedlicher Weise die zeittypische Thematik der IchKonstitution umsetzen und dem Körper in ihrer Sprache eine besondere Rolle zukommt. In Hofmannsthals Texten lässt sich eine Auseinandersetzung mit Sprache und Körper finden, die am Thema der Abgrenzung von Ich und Anderem orientiert ist und symptomatisch sowohl für die Konstitution moderner Subjektivität im Zuge der Wiener Moderne als auch für den ontogenetischen Individualisierungsprozess betrachtet werden kann. In Texten von Schnitzler lässt sich die Veränderung der Wahrnehmung, vor allem die des eigenen Körpers, in Situationen der Ungewissheit beobachten sowie eine nur noch episodisch herstellbare zeitweise Identität eines Ich. Ein Text von Frank Wedekind wird in einem Exkurs besprochen, wenn Wedekind auch nicht zur Wiener Moderne gezählt wird, so stammt der Text doch aus der gleichen Zeit und scheint besonders exemplarisch für die Darstellung psychischer und körperlicher Wandlungen zu sein. Hier lässt sich beobachten, wie über Erziehung und Züchtigung des Körpers unterschwellig eine Botschaft transportiert wird, nämlich die eigene Wahrnehmung zu verzerren, und welche Auswirkungen dies auf die Ich-Konstituierung und die Ich-Grenzen hat. In einer abschließenden strukturalen Betrachtung werden wesentliche Aspekte der vorherigen Kapitel zusammengefasst sowie Querverbindungen skizziert. Um dem Gegenstand gerecht zu werden, wird hierbei darauf verzichtet, eine hierarchische Struktur der Zusammenhänge zu entwickeln. Es sind weniger die Wechselwirkungen, die beschrieben werden sollen, als vielmehr ein Wiederauftauchen signifikanter Themen bzw. tieferer Strukturen auf verschiedenen Gebieten im Sinne des korrelativen Sprechens.

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Einleitung

Da die Beschäftigung mit der Wiener Moderne häufig exemplarisch zu einer Auseinandersetzung mit der Moderne bzw. dem Modernismus gerät, wird in einem Ausblick die Diskussion eines Überganges vom Modernismus zur Postmoderne, dessen Themen um 1900 bereits angelegt sind, skizziert sowie Anregungen für methodische Anknüpfungen gegeben.

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1.1 Vorbemerkung

1 Blicke auf den Körper. Forschungsansätze 1.1 Vorbemerkung Die verschiedenen Zugangsweisen zu den Begriffsbereichen Körper, Leib oder Identität stellen jeweils bestimmte Aspekte dieser Bereiche in den Vordergrund. Lässt sich bereits seit dem Hochmittelalter, korrespondierend mit einem zunehmenden Interesse an der Innerlichkeit des religiösen Empfindens in der Bußpraxis, eine allgemein verstärkte Aufmerksamkeit für den Körper feststellen6, so differenziert sich das Interesse in nachfolgender Zeit zunehmend. Zum Beispiel findet sich eine Beschäftigung mit der repräsentierten Form des Körpers, wie es die philosophische Phänomenologie kennzeichnet, oder der Schwerpunkt liegt auf den Inhalten der Körpersprache in der Psychoanalyse oder aber auf dem Verhältnis von Ich bzw. Mitwelt und Körper in der historischen Anthropologie (Elias, Foucault). In heutiger Zeit ist zudem eine starke Inanspruchnahme „anthropologischer Gesichtspunkte in verschiedenen Bereichen der Philosophie, ihrer Nachbardisziplinen und der Literaturtheorie“ beobachtbar7. Als Zeugnis von Vergangenem liegen der Literaturwissenschaft sowie häufig auch anderen Wissenschaften wie z.B. der Psychologie fast ausschließlich sprachlich verfasste, auf den ersten Blick körperferne Zeugnisse vor. Nach ihrer kognitiven Wende wurden nun auch in der Psychologie die Stimmen gegen rationalistische Engstirnigkeiten zunehmend lauter, so dass inzwischen die Erforschung unbewusster Prozesse oder der Zusammenhänge von Denken und Fühlen nicht mehr belächelt wird.8

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Vgl. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hg.) (1999): Körper Macht Geschichte – Geschichte Macht Körper: Körpergeschichte als Sozialgeschichte. Bielefeld, Gütersloh: Verl. für Regionalgeschichte, S. 13. So z.B. bei R. zur Lippe, W. Iser oder in der philosophischen Anthropologie bei G. Böhme, R. Rentsch oder K. Lorenz. Auch die philosophischen Ansätze setzen sich ständig mit ihrem Verhältnis zu dieser Position auseinander, so daß ein Schwanken der deutschen und der angelsächsischen Philosophie zwischen Anthropologisierung und Entanthropologisierung z.B. von Roughley beobachtet wird. Vgl. Roughley, Neil et al. (1996): Einleitung. In: Barkhaus, Mayer, Roughley und Thürnau (Hrsg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vgl. z.B. Lakoff, George (1987): Women, Fire and Dangerous Things. What our Categories Reveal about the Mind. Chicago: University of Chicago Press; Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination and Reason. Chicago: University of Chicago Press.; Damasio, Antonio (1994): Descarte’s Error. Emotion, Reason and the Human Brain. New York: G.P.Putnam’s Son. (dt. 1995); Ramachandran, V.S. (1998): Phantoms in the Brain. Probing the Mysteries of the Human Mind. New York: William Morrow.

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1 Blicke auf den Körper. Forschungsansätze

Sprache und Denken sind auch von neurowissenschaftlicher Seite sehr viel mehr mit dem Körper assoziiert, als kognitive Standpunkte bisher annahmen, z.B. über sensomotorische Eindrücke oder die emotive Fundierung sprachlicher Äußerungen, so dass wiederum der Schritt zur psychoanalytischen Auffassung nicht mehr allzu weit zu sein scheint. Hierdurch erhält die Auffassung, dass die ontogenetische Entstehung subjektiver Körperbilder aus frühen Interaktionen eine Wirkung auf die psychische Entwicklung und Sprachprägung haben, eine ganz neue Relevanz. Auch von linguistischer Seite zeigt sich eine Tendenz zur Anthropologisierung des Verhältnisses von Sprache und Körper. Zunehmend wird versucht, den rationalistischen bzw. idealistischen Reduktionismus um eine „körperliche oder leibliche Dimension“ des Menschen zu erweitern.9 Auch hier wird menschliches Denken in Körperfunktionen oder leiblichen Erfahrungen fundiert. Ebenso in der Metaphorologie, wo Leib- und Körpermetaphern, besonders Haltungsmetaphern betrachtet werden. Ihr metapherngeschichtlicher Hintergrund wird dabei mit der Hypothese verfolgt, dass, wenn sich Ereignisse in Bildern und diese wiederum in Metaphern niederschlagen, ihre Aneignung stets Spuren dieser Vergangenheit mit enthält.10 In der anthropologischen Betrachtungsweise wird immer wieder ein antidualistischer Gegenpol zu der so verhängnisvollen Verzerrung der dualistischen Trennung von Geist und Körper seit Descartes gesucht.11 Es finden sich aber auch phänomenologische Versuche der antidualistischen Haltung12. Die „neue“ Konjunktur des Körpers, sei es im Körperkult der Fitnessstudios, Gesundheitsprogramme oder Körpertherapien, ist ebenfalls nicht frei von Einseitigkeiten. Der Körper erweist sich als willkommenes Vermarktungsobjekt. Petzold, Wegbereiter der Körpertherapien, Begründer der Integrativen Bewegungstherapie in Deutschland, sieht in diesem Objektstatus des Körpers einen Mangel anthropologischer Sichtweise und stellt fest: „Der Leib als Selbst, als Ausdruck personaler Identität, als Möglichkeit des Erlebens und Begegnens, Ort der individuellen und kollektiven Geschichte (in ihm ruhen die Geheimnisse der Phylogenese), wird nicht in den Blick genommen. Und

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Vgl. Roughley (1996), a.a.O., So z.B. Weinrich, Harald (1988): Über Sprache, Leib und Gedächtnis. In: Gumbrecht, H.U. und Pfeiffer, K.L. (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 80-93. Vgl. Graf, Dietrich (1988): Eingefleischte Metapher. Die Vergesellschaftung des Individuums an der Nahtstelle von Sprache und Realität. München. Vgl. Roughley (1996), a.a.O., S. 16. Barkhaus et al. (1996) geben einen Überblick über den Kompetenzbereich neuer Formen anthropologischen Denkens auch im Verhältnis zu anderen Wissenschaften. a.a.O. Vgl. Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt: Suhrkamp.

1.2 Kulturhistorischer und sozialgeschichtlicher Blick

es will nicht gesehen werden, dass er sterblich ist, der Leib, dass er Anfang und Ende hat.“13 Die Begeisterung für den Körper bleibt nicht nur oberflächlich, sie trägt zu seiner weiteren Verdinglichung bei, verlangt wird deshalb häufig eine neue Bewusstheit für Leiblichkeit bzw. für den Leib als Subjekt. 1.2 Kulturhistorischer und sozialgeschichtlicher Blick Die sozialgeschichtlichen und kulturhistorischen Ansätze unterteilen sich ihrerseits weiter nach ihrer Betrachtung des Körpers a) als Manifestation von Identität und Subjekt, b) als Instrument der Inszenierung von Lebensstilen oder c) als Projektionsfläche staatlich-politischer und kirchlicher Herrschaftsansprüche.14 Historisch-anthropologisch wird für den Körper häufig eine Metapher benutzt, in welcher der Körper als ein „Text“ gefasst wird, in den die Spuren der Geschichte eingeschrieben seien.15 Um so erstaunlicher erscheint den Sozialhistorikern die bis Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts währende Vernachlässigung der Relevanz des Körpers durch die historischen Sozialwissenschaften. So war die Soziologie Simmels dadurch geprägt, dass Menschen eben körperlich aufeinander wirken, dass sie essen und trinken, so dass man am „primitiv Physiologischen“ nicht vorbeikam.16 Ähnlich hat Norbert Elias den langfristigen Prozess der Zivilisation im Abendland untersucht und dabei vornehmlich die zunehmende Domestizierung aller physiologischen, körperlichen Prozesse gezeigt: z.B. wurde das leibliche Ausdrucksvermögen zunehmend beschnitten, indem Peinlichkeit und Scham als regulierende intrapsychische Instanzen immer mehr Macht erlangten.17 13

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Petzold, Hilarion (Hg.) (1985): Einleitung. In: Ders., Leiblichkeit: philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven. Paderborn: Jungfermann, S. 9. Vgl. hierzu das Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte, wo historische und theoretische Konzepte einer Körpergeschichtsschreibung bearbeitet werden. Betrachtet werden Körpermetaphern im politischen Raum, im revolutionären Frankreich, in der Spanischen Monarchie, es werden aber auch bürgerliche und adlige Körperkonzepte verglichen oder auch die Selbstthematisierung in Beichtpraxis, kranke Körper, Arbeiterkörper usw. Siehe: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hg.) (1999), a.a.O. Vgl. Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.) (1989): Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Berlin: Dietrich Reimer Vlg. Vgl. Simmel, Georg (1907): Soziologie der Sinne. In: Die neue Rundschau, Jg. 18, Heft 9, S. 1026f., vgl. auch Körper Macht Geschichte (1999), a.a.O. Vgl. Elias, Norbert (1992; erstm. 1936): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., Frankfurt: Suhrkamp. Auf diese Weise werden die natürlichen Verrichtungen des Körpers und die leiblichen Affekte aus der Kommunikation mit anderen isoliert und ihre Regulation dem psychischen Haushalt des bürgerlichen Individuums auferlegt; Küchenhoff, Joachim (1992): Körper und Sprache. Theoretische und klinische Beiträge zur Psychopathologie und Psychosomatik von Körpersymptomen. Heidelberg, S. 16, sieht hierin eine Bewegung der

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1 Blicke auf den Körper. Forschungsansätze

Die historische Sozialwissenschaft interessiert sich für den Körper als eine Kategorie, die je nach Kontext bestimmte Bedeutungen annehmen kann, und damit bei Prozessen der Identitäts- und Gruppenbildung bzw. beim politischen und sozialen Handeln mitwirkt.18 Die historische Untersuchung der Inszenierung und Repräsentation des Körpers spiegelt dabei das Verhältnis von Körper und Macht im Sinne von Foucaults Diskurstheorie19 wider. Die Prägungen von Körpererfahrung und Körperbeherrschung sind die Indikatoren dieses Verhältnisses und tragen so zur Entstehung historisch spezifischer Körperkonzeptionen und Körperbilder bei, welche in der Folge wiederum die Körpererfahrungen beeinflussen. Untersucht wird z.B., wie Kloster, Fabrik, Kranken- und Altersanstalten oder die Öffentlichkeit kirchlicher Prozessionen die Einstellungen, Verhaltensweisen und die körperliche Selbstwahrnehmung der Menschen, die in ihnen lebten oder sich von ihnen abgrenzten, beeinflussten.20 Durch diesen Zugang will man unter der bekannten europäischen Geschichte eine unterirdische Geschichte des Körpers freilegen.21 Gleichzeitig fragen sich historische Sozialwissenschaftler, ob der Blick auf den Körper als Voraussetzung und Objekt historischen sozialen Handelns überhaupt einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn in sich birgt.22 Hierbei tritt zunehmend eine historisch-anthropologische Interpretation an die Stelle der ideen- und institutionsgeschichtlichen Sichtweise.23 Der Gedanke des in der Tradition von Descartes‘ Dualismus stehenden neuzeitlichen Programms der Naturbeherrschung am Menschen24 findet sich im Blickwinkel zahlreicher Studien der historischen Anthropologie auf einzelne gesellschaftliche Kontexte bzw. einzelne Sinnesgebiete. Lag in dieser ersten Arbeit von Lippes der

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„gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit“ im Sinne Erdheims (1988) und die Vorbedingungen für das Konzept des modernen psychischen Apparates im Sinne Freuds. Vgl. Erdheim, Mario (1988): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt: Suhrkamp. Vgl. Einleitung. In: Körper Macht Geschichte (1999), a.a.O., S. 9. Vgl.: Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin, und: ders. (1974, orig. 1972): Die Ordnung des Diskurses. München: Hanser. Vgl. Einleitung. Körper Macht Geschichte (1999), a.a.O. Das archäologische Gleichnis beziehet sich auf Horkheimer, Max, Adorno, T.W. (1988): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 246. Vgl. Körper Macht Geschichte (1999), a.a.O., S.9. Vgl. van Dülmen, Richard (Hg.) (1996): Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt a.M.: Fischer. van Dülmen fokussiert in dem von ihm herausgegebenen Band Themenfelder, die bisher eher am Rande der Betrachtung standen, d.h. weniger die spektakulären als vielmehr die alltäglichen Probleme des Lebens, um diese mit „nüchternem, eher empirischen Blick, der sich mehr auf einzelne Problemfelder als auf große Zusammenhänge konzentriert“ zu beschreiben., ebd., S. 9. Vgl. zur Lippe, Rudolf (1979): Naturbeherrschung am Menschen. 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

1.2 Kulturhistorischer und sozialgeschichtlicher Blick

Schwerpunkt auf der Reglementierung der Körperbewegung im höfischen Tanz, so folgten Untersuchungen zur Restriktion des Geruchssinns durch polizeiliche Kontrolle der Gerüche25, zur Beherrschung des Schautriebs26 bzw. Domestizierung des Blicks sowie zur pädagogischen Zurichtung des Körpers27 bzw. zur Kontrolle körperlicher Aggressivität und Medizinalisierung des Körpers bei Foucault.28 Den Körper selbst als einen „Text“ zu „lesen“, wurde besonders von Studien angeregt, die sich mit kultureller Geschlechterforschung beschäftigen29 und auf diesem Weg eine Inszenierung der Geschlechter untersuchen. So wird z.B. der kulturhistorische Wandel von einem bis ins 17. Jahrhundert gültigen hierarchisch angelegten Ein-Geschlecht-Modell zu dem seit der Aufklärung entstandenen Zwei-Geschlechter-Modell untersucht. Dieses neuere Modell kam den veränderten wissenschaftlichen und sozialen Bedürfnissen nach und unterstützte durch Betonung eines nun grundsätzlichen biologischen Unterschieds die Rollenerwartungen an Mann und Frau in der bürgerlichen Gesellschaft.30 Die neue Sichtweise entspringt daher weniger der Konsequenz wissenschaftlicher Erkenntnisse als vielmehr historischen politischen und epistemologischen Entwicklungen. Bezogen auf den Zeitraum 1750-1850 lässt sich die Entstehung der neuen Ordnung der Geschlechter unter anderem anhand des Aufschwunges der Anthropologie zur Universal-Wissenschaft, 25

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Vgl. Corbin, Alain (1984): Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Frankfurt: Wagenbach. Vgl. Manthey, J. (1983): Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie. München, Wien: Hanser; Kleinspehn, T. (1989): Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek: Rowohlt. König, E. (1989): Körper – Wissen – Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers. Berlin: Reimer; siehe auch die Kulturgeschichte der Kosmetik bei Vigarello, Georgis (1988): Wasser und Seife, Puder und Parfüm, Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter. Frankfurt a.M.: Campus, oder zur wissenschaftlichen Erfassung des Körpers in der Neuzeit bei Kutschmann, W. (1986): Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vgl. Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin; ders. (1976): Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.; ders. (1973): Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. Siehe Judith Butler, für die Individuen ihr eigenes Fleisch als kulturelles Zeichen tragen. Vgl. Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. Vgl. Laqueur, Thomas (1996): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. München: dtv. Laqueur behandelt nicht die Entstehung der Geschlechter (gender), sondern die Entstehung des Geschlechts (sex), so dass Aussagen über das Geschlecht des Leibes (sex) immer schon Aussagen über das Geschlecht im sozio-kulturellen Raum (gender) enthalten, was erst über den Kontext der Auseinandersetzungen über Geschlechtsrollen (gender) und Macht erklärbar wird. Ebd., S.24f.

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