Urs Widmer Interview über Arbe

27.09.2009 - ohne Grund als «Mitte» sah. Der Verlag ...... sen Konten in der Schweiz bedauert er ..... Krise: Geld soll keinen Zins mehr erwirt- schaften ...
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Nr. 8 | 27. September 2009

Michelle Obama Biografie | Buchmesse Frankfurt Neue Literatur aus China | Herta Müller Atemschaukel | Urs Widmer Interview über Arbeitsglück | Nominierte des Schweizer Buchpreises | Anne Cuneo Anne-Marie Blanc | Weitere Rezensionen zu Sibylle Berg, Avraham Burg, Brigitte Kronauer, Ted Kennedy, Jean Ziegler und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese

Die schönsten

Reisen sind Reisen im Kopf

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Inhalt

Über den Tod und andere heitere Dinge

Er will kein Luftikus, kein Clown sein. Dennoch: Wenn Urs Widmer über das Sterben schreibt, über seinen Deal mit dem Tod, geht’s nicht tonnenschwer, sondern leicht und luftig zu. Nur nachts, da träume er wie der Teufel, «und ich träume selten schön», sagt der Autor mit der ihm eigenen Doppelbödigkeit im Interview auf Seite 12. Urs Widmer ist zusammen mit Eleonore Frey, Jürg Laederach, Angelika Overath und Ilma Rakusa für den Schweizer Buchpreis nominiert. Die fünf Werke stellt Manfred Papst in der vorliegenden Nummer kurz vor (S. 11). Der Kulturchef der «NZZ am Sonntag» ist auch Mitglied der fünfköpfigen Jury, die in Basel den Preisträger kürt. Die mit 50 000 Franken dotierte Auszeichnung wird am 15. November an der «Buch Basel» verliehen. Weitere Schwerpunkte sind diesmal die Literatur Chinas (Gastland an der Frankfurter Buchmesse) sowie die Biografien von Anne-Marie Blanc, der legendären Darstellerin der «Gilberte de Courgenay», und von Michelle Obama (S. 4, 16 und 19). Aber vielleicht lacht Sie aus dem herbstlichen Strauss der funkelnden Romane, spannenden Analysen und historischen Dokumentationen ja auch eine andere Blume an. Wir freuen uns, wenn wir Sie zu heiterem Leservergnügen – es muss ja nicht über den Tod sein – verführen können. Urs Rauber

Nr. 8 | 27. September 2009

Michelle Obama Biografie | Buchmesse Frankfurt Neue Literatur aus China | Herta Müller Atemschaukel | Urs Widmer Interview über Arbeitsglück | Nominierte des Schweizer Buchpreises | Anne Cuneo Anne-Marie Blanc | Weitere Rezensionen zu Sibylle Berg, Avraham Burg, Brigitte Kronauer, Ted Kennedy, Jean Ziegler und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese

Michelle Obama (Seite 19). Illustration von André Carrilho

Belletristik

Interview

4

Yu Hua: Brüder Eva Schestag, Olga Barrio Jiménez (Hrsg.): Eine Sammlung chinesischer Klassiker

12 Urs Widmer, Schriftsteller

Herta Müller: Atemschaukel

Kolumne

Qiu Xiaolong: Blut und rote Seide

15 Charles Lewinsky

7 8

9

Von Manfred Papst Von Stefana Sabin Von Sacha Verna

Das Zitat von Johann Wolfgang von Goethe

Brigitte Kronauer: Zwei schwarze Jäger

Von Angelika Overath

Taiyo Onorato, Nico Krebs: The Great Unreal

Kurzkritiken Sachbuch

Sibylle Berg: Der Mann schläft

15 Christoph Antweiler: Heimat Mensch

Von Gerhard Mack

Von Bettina Spoerri

olivier maire/keystone

6

«Mit Phantasie geschlagen» Von Manfred Papst

Von Geneviève Lüscher

10 Alaa al-Aswani: Ich wollt’, ich würd’ Ägypter

Von Susanne Schanda

Adalbert Hofmann: Die Männer vor der Küchentür

Von Sieglinde Geisel

Ueli Oswald: Ausgang

Von Urs Rauber

11 Michael Stavaricˇ: Böse Spiele

Von Urs Rauber

Sandra Willmeroth, Fredy Hämmerli: Exgüsi

Kurzkritiken Buchpreis

Von Charlotte Jacquemart

11 Eleonore Frey: Muster aus Hans

Von Manfred Papst

Provokateur aus Leidenschaft: Jean Ziegler.

Siegmar von Schnurbein (Hrsg.): Atlas der Vorgeschichte

Von Geneviève Lüscher

24 Rainer Grunert: Vision einer fairen Wirtschaftsordnung

Von Charlotte Jacquemart

Jürg Laederach: Depeschen nach Mailland

Sachbuch

Angelika Overath: Flughafenfische

16 Anne Cuneo: Anne-Marie Blanc

25 Rahel Levin Varnhagen: Familienbriefe

Ilma Rakusa: Mehr Meer

18 Avraham Burg: Hitler besiegen

26 Marco Hüttenmoser, Sabine Kleiner: Marie Meierhofer 1909−1998

Von Manfred Papst Von Manfred Papst

Von Martin Walder

Von Manfred Papst

Von Reinhard Meier

19 Christoph von Marschall: Michelle Obama

Von Tobias Kaestli

20 Judith Barben: Spin doctors im Bundeshaus

Von Urs Rauber

albrecht fuchs

Von Manfred Koch

Von Kathrin Meier-Rust

Das amerikanische Buch: Edward Kennedy

Von Andreas Mink

21 Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen

Agenda

22 Maxim Leo: Haltet euer Herz bereit

27 Boris Martin, Waldemar Abegg: Reise in eine vergangene Zeit

Von Heidi Gmür

Brigitte Kronauer legt einen brillanten Roman vor.

Wolfgang Ullrich: Raffinierte Kunst

Von Jan von Brevern

Von Christoph Plate

Kai Diekmann (Hrsg.): Die Mauer

Von Kathrin Meier-Rust

23 Helmuth James von Moltke: Im Land der Gottlosen

Von Klara Obermüller

Von Geneviève Lüscher

Bestseller September 2009

Belletristik und Sachbuch Agenda Oktober 2009

Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Monika Werth (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]

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Belletristik Chinesische Literatur Gastland der Frankfurter Buchmesse 2009 ist China. Die Flut von Büchern, die aus diesem Anlass auf Deutsch erscheinen, bringt auch Neuübersetzungen klassischer Texte

Mit dem Teelöffel den Gelben Fluss ausschöpfen Yu Hua: Brüder. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 765 Seiten, Fr. 42.90. Eva Schestag, Olga Barrio Jiménez (Hrsg.): Eine Sammlung chinesischer Klassiker. Band 1: Das alte China. Band 2: Von Kaiser zu Kaiser. Band 3: Die Goldene Truhe. Band 4: Der Aufstand der Zauberer. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. Zusammen 1880 Seiten, Fr. 147.−. Von Manfred Papst Es ist ein schöner Brauch, dass die Frankfurter Buchmesse als grösste Literaturbörse der Welt jedes Jahr einem Gastland die Möglichkeit gibt, seine Kultur mit Ausstellungen, Lesungen und vielem anderem mehr in «Mainhattan» prominent zu präsentieren. Manchmal wird damit das mediale und öffentliche Interesse auf bisher kaum bekannte Regionen der literarischen Weltkarte gelenkt. Bisweilen aber erhalten auch riesige Kulturräume wie der indische Subkontinent oder die Volksrepublik China ihren Auftritt. Diesen nehmen zahlreiche Verlage des Gastgeberlands zum Anlass, die jeweilige Literatur in neuen oder neu aufgelegten Übersetzungen feilzuhalten. Doch während das Angebot bei kleineren Gastländern überblickbar bleibt, ist es in diesem Jahr schier uferlos. Der deutschsprachige Leser, der sich darauf einlässt, soll gleichsam mit dem Teelöffel den Gelben Fluss ausschöpfen. Zum einen tritt ihm in beeindruckender Stimmenvielfalt die zeitgenössische chinesische Literatur entgegen. Es ist eine Literatur in doppeltem Umbruch: Formal sucht sie mit ihren avancierten Vertretern den Anschluss an die abendländische Moderne, inhaltlich erzählt sie von einem Milliardenvolk, das von einer ungeheuren Beschleunigung sämtlicher Lebensverhältnisse erfasst worden ist. Die chinesische Wirtschaft boomt, Städ4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

te schiessen aus dem Boden, das soziale Gefüge wandelt sich, doch die geistige Emanzipation hält mit der ökonomischen nicht Schritt: Noch immer tun sich die Erben Mao Zedongs schwer mit Demokratie und Menschenrechten, mit Dissidenten und ethnischen Minderheiten. Gerade im Vorfeld der Buchmesse, die am 14. Oktober ihre Tore öffnet, hat sich das wieder deutlich gezeigt. Vom Einzelnen im Spannungsfeld zum Kollektiv handeln deshalb zahlreiche Neuerscheinungen der chinesischen Literatur, vom Anspruch auf privates Glück in einem diesem entgegenwirkenden sozialen und ideologischen Kontext. Yu Huas weltweit erfolgreicher Roman «Brüder», der die Schrecken von Maos Kulturrevolution, aber auch Dengs Wirtschaftspolitik mit Drastik, Verve und umwerfender Komik schildert, ist der beste Beweis für die Lebendigkeit und das Niveau der chinesischen Gegenwartsliteratur; wie er in China die Zensur passieren konnte, bleibt ein Rätsel.

Philosophie und Lyrik

Im Vorfeld des chinesischen Messeauftritts widmen sich indes etliche deutsche Verlage auch dem China der Vergangenheit – einem Reich mithin, das eine dreitausendjährige säkulare Zivilisation in sich trägt und sich lange nicht ohne Grund als «Mitte» sah. Der Verlag S. Fischer zum Beispiel tut dies mit einer höchst heterogenen (und insofern natürlich anfechtbaren), aber gleichwohl lesenswerten vierbändigen Anthologie. Ihr erster Band gibt einen Überblick über die Anfänge der chinesischen Literatur und Philosophie. Er führt von den kanonischen Schriften (Buch der Urkunden, Buch der Wandlungen, Buch der Lieder, Buch der Riten) über die Gespräche des Konfuzius zu den Daoisten Laozi und Zhuangzi und von dort zu den «hundert Schulen». Dieser Band tut als «Reader’s Digest» zum alten China gute Dienste. Die zitierten Texte sind für die

Weltliteratur so zentral wie die Zeugnisse der jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Kultur.Viele von ihnen liegen integral übersetzt vor. Kein Gebildeter sollte auf das Vergnügen verzichten, sie ganz zu lesen. Der zweite Band der Anthologie widmet sich der klassischen chinesischen Lyrik, die ihren Höhepunkt in der TangDynastie (618−907) hatte, aber auch davor und danach ungezählte Schöpfungen von höchstem Rang hervorbrachte. Wir kennen sie freilich recht gut: Von jeher ist sie ein Tummelfeld (nicht nur) deutscher Übersetzer und Nachdichter gewesen. Das Verdienst des vorliegenden Bandes liegt in der Breite der Gedichtauswahl wie der Übertragungen: Er bringt sowohl Texte namhafter Sinologen von Erwin Ritter von Zach bis Günther Debon als auch solche von deutschen Dichtern wie Albert Ehren-

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stein, Bertolt Brecht und Günter Eich, die mit Hilfe von englischen Übersetzungen und Interlinearversionen arbeiteten. Als Glücksfall darf in diesem Zusammenhang Günter Eich gelten, der im Paris der 1930er Jahre sechs Semester Sinologie studiert hatte und so seine poetische Erfindungskraft zumindest teilweise philologisch abstützen konnte. Neben bekannten Texten bringt Eva Schestag indes auch etliche neuere – darunter zahlreiche eigene – Übersetzungen als Erstdrucke. Ihre Sammlung zeigt, dass das chinesische Gedicht, das sich als Einheit von Bedeutung, Schrift und Klang freilich nur im Urtext ganz erschliesst, zu den sublimsten Schöpfungen der Weltliteratur zählt. Band 3 und 4 der Fischer-Anthologie, die den Abnehmer des ganzes Werks mit einem schönen Druck des «Drei-Zeichen-Klassikers», einer über Jahrtau-

sende verwendeten Schulfibel, belohnt, bieten solide Qualität, aber keine Überraschungen. Band 3 enthält die Novellensammlung «Die Goldene Truhe», die vor just 50 Jahren von Wolfgang Bauer und Herbert Franke im Hanser-Verlag herausgegeben wurde. Sie hat sich gut gehalten, und wer sie noch nicht kennt, kann sie hier entdecken.

Gesellschaftsromane

Weniger bekannt, aber ebenfalls nicht ganz neu ist Manfred Porkerts Übersetzung des Ming-Zeit-Romans «Der Aufstand der Zauberer». Sie erschien erstmals 1986 im Insel-Verlag und präsentiert uns einen reizvollen und reichhaltigen, pointierten Gesellschaftsroman, wenn auch wohl nicht, wenn man den strengsten Massstab anlegen will, das Spitzenwerk der Epoche. Da müsste man wohl dem «Traum der roten Kammer»

– bislang nur unzulänglich und stark gekürzt ins Deutsche übersetzt, auf Englisch in der fünfbändigen Übersetzung von David Hawkes unter dem Titel «The Story of the Stone» erschienen – den Vorzug geben. Eva Schestags Kompilation ist also in gewissem Sinn eine Buchbinder-Synthese. Dennoch kann man sie zum Einstieg ins Gebirge der chinesischen Literatur empfehlen. Viele andere Zugänge sind möglich. China ist ein Imperium im Aufbruch und ein Milliardenstaat von so eindrücklicher wie bedrohlicher Dynamik. Doch von den Städten, sagte Brecht einmal, werde bleiben, der durch sie hindurchging: der Wind. Ihm entsprechen die philosophischen Miniaturen der Daoisten und die Verse von Dichtern wie Li Bai und Du Fu ebenso wie der gewaltige, groteske Gesellschaftsroman Yu Huas. ●

Wandern im Frühling auf dem Bergpfad. Tinte auf Papier; Ma Yuan (1155−1235).

27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5

Belletristik

Roman Herta Müllers neues Buch beschreibt Abgründe der menschlichen Existenz

Über das Trauma eines Deportierten Herta Müller: Atemschaukel. Hanser,

München 2009. 300 Seiten, Fr. 34.50.

«Ich weiss, du kommst wieder», sagte die Grossmutter, als er verhaftet wurde. «Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte.» So beginnt der Überlebensbericht des Leopold Auberg: zuerst im Sammellager in der Heimatstadt gefangen gehalten, dann in einem Viehwagon in die Sowjetunion deportiert, schliesslich in einem ukrainischen Arbeitslager interniert.Auberg, der Ich-Erzähler im neuen Roman von Herta Müller, ist kein Verbrecher, sondern Mitglied der deutschsprachigen Minderheit im rumänischen Hermannstadt – seine Ethnie machte ihn zum Feind: «Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen.» Fünf Jahre überlebt Auberg schwerste körperliche Arbeit unter extremen klimatischen Bedingungen, erniedrigende hygienische Verhältnisse, psychische Belastungen und «chronischen» Hunger. Mehr als die Angst vor den Kapos oder die permanente physische Erschöpfung ist es «der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt», der die Gefangenen quält und zu Virtuosen der Nahrungsbeschaffung macht. «Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiss, als dass man Hunger hat.»

Schweigen über das Lager

Wie alle Fragen, die sich Auberg im Lager stellt, hat auch diese kein Fragezeichen. Denn die Lagerexistenz lässt keine Fragen zu, auf die es Antworten gäbe. Fragen erinnern an das tatsächliche Leben draussen, wo es auch Antworten gibt, aber das fehlende Fragezeichen verweist auf die Lagerrealität, wo es nur die unhinterfragbare Schreckensgegenwart gibt. Deshalb zeigt die Kuckucksuhr in der Baracke nicht die Zeit an, sondern steht für die ständige existenzielle Frage, die keine Antwort kennt: «Kuckuck, wie lange leb ich noch.» Auberg lebt und überlebt – und erfüllt die Vorhersage seiner Grossmutter, die ihn die ganze Lagerzeit begleitet hat: «Anfang Januar 1950 kam ich aus dem Lager nach Hause.» Aber das Zuhause ist anders, als es war – er selber ist ein anderer. «Jetzt war ich ein Ausgewechselter», weiss Auberg. Denn der erlebte Schrecken lässt sich nicht vergessen oder retouchieren, und Auberg kann weder erzählen, was ihm widerfahren war, noch was er selbst getan hat. «Ich

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steffen roth/aGentur focus

Von Stefana Sabin

Herta Müller, geboren im rumänischen Temeswár, lebt seit 1987 in Berlin. Sie hat zahlreiche Literaturpreise erhalten.

war froh, dass keiner etwas fragte, und insgeheim kränkte es mich.» Er heiratet, zieht weg, wandert aus. Aber das Lager bleibt als grosses Schweigen immer gegenwärtig. So ist es nicht nur die traumatische Erfahrung selber, sondern auch das konsequente Schweigen darüber, was ihn verwandelt. «Es gibt Dinge, über die man nicht spricht. Aber ich weiss, wovon ich rede, wenn ich sage, das Schweigen im Nacken ist etwas anderes als das Schweigen im Mund.» In dieser Unterscheidung zwischen dem existenziellen «Schweigen im Nacken» und dem alltäglichen «Schweigen im Mund» liegt die Sprachmacht von Herta Müller, die mit fiktionaler Kraft und psychologischem Instinkt das Trauma und das posttraumatische Syndrom eines Deportierten beschreibt.

Psychologisch subtil

In Nitzkydorf bei Temeswár 1953 geboren, zog Herta Müller 1987 nach Berlin. Schon 1984 erhielt sie für ihren ersten Prosaband den Aspekte-Literaturpreis, dem zahlreiche weitere Preise folgten, darunter 1995 der Europäische Literaturpreis, 2005 der Berliner Literaturpreis. Zuletzt wurden die kollagierten Gedichte, die 2005 unter dem Titel «Die blassen Herren mit den Mokkatassen» erschienen, für ihre «surreale Anmut» (Andrea Köhler) besonders gelobt. Gerühmt wurden auch ihre Essays «Der König verneigt sich und tötet», die 2003 erschienen sind und in denen «eine

Poetik über Dichtung in Diktaturen» (Michael Naumann) erkannt wurde. Tatsächlich hat Herta Müller schon immer die Fiktion realistisch gebrochen und ihr eine – wenn auch implizierte – politische Dimension verliehen. Auch ihr Ansinnen, über die Deportationen der Rumäniendeutschen in sowjetische Arbeitslager zu schreiben, hat eine aufklärerische politische Dimension, denn sie wollte damit ein historisches Tabu brechen. So fing sie an, mit ehemaligen Deportierten aus ihrem Dorf zu sprechen. Auch Oskar Pastior, dem aus Hermannstadt stammenden, dann in Berlin lebenden Lyriker, der als 19-Jähriger verschleppt wurde und fünf Jahre Zwangsarbeit in ukrainischen Bergwerken leisten musste, erzählte sie von ihrem Vorhaben. Vielleicht war dieses literarische Projekt ein spätes Durchbrechen jenes «Schweigens im Nacken», das auch Pastior begleitet hatte. Jedenfalls erzählte er der jüngeren Dichterin vom Lageralltag und von einer Verzweiflung, die er als Nullpunkt der Existenz bezeichnete. «Er wollte mir helfen mit seinen Erinnerungen», schreibt Herta Müller im Nachwort ihres Romans. Was als gemeinsames Buch Gestalt annahm, musste Herta Müller nach Pastiors Tod 2006 alleine zu Ende führen. Mit «Atemschaukel» ist ihr ein politischer Roman von bemerkenswerter psychologischer Subtilität gelungen, der den Nullpunkt der Existenz nachvollziehbar macht. ●

Krimi Oberinspektor Chen löst Fälle im China von heute. Die Leserschaft erhält dabei auch Nachhilfe in Geschichte und Kultur des Landes

Ein Häppchen Schwalbennest

Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck. Zsolnay, Wien 2009. 378 Seiten, Fr. 38.90. Von Sacha Verna Der Zufall mag die Welt regieren, aber in Krimis hat er nichts verloren. Zufällig stösst Oberinspektor Chen während seines fünften Falls auf ein Foto von einer jungen Frau, deren rotes Kleid dem des Mordopfers aufs Haar gleicht. Zufällig ist Oberinspektor Chen eigentlich gar nicht im Dienst, sondern schreibt eine Seminararbeit über chinesische Liebesgeschichten, in denen sich die idealisierte Geliebte in ein Monster verwandelt. Und zufällig wird Herr Cheng von seinen Vorgesetzten gleichzeitig dazu gedrängt, sich mit einem Immobilienskandal zu befassen, in dem es rote Monster zuhauf gibt. Und zwar auch solche, denen durchaus zuzutrauen ist, was sich in Shanghai zu einer Mordserie an jungen Frauen auszuweiten droht. Das sind zu viele Zufälle für einen einzigen Krimi, gewiss. Soll man Qiu Xiaolongs neuen Roman deshalb nicht

lesen? Doch. Nicht unbedingt, aber bedingt. Bedingung: Man muss detaillierte Beschreibungen von Bu-Banketten mögen. Davon, wie SchwalbennesterReisbrei mit scharlachroten Bocksdornbeeren schmeckt, nachdem man bereits gedämpfte Süsswasserschildkröte mit weissem Kandiszucker, Wein, Ingwer, Frühlingszwiebeln und Jinhua-Schinken verspeist und Maos Leibgericht – fettes, in Sojasauce geschmortes Schweinefleisch – noch vor sich hat. Man darf es dem seit 1994 in Amerika lebenden Autor auch nicht übel nehmen, dass sich seine Figuren im Small Talk über die jüngste Vergangenheit ihres Landes aufklären, als seien sie selber nicht dabei gewesen. Denn aufzuklären gilt es natürlich uns, die Leser im Westen, denen ein bisschen Nachhilfe in chinesischer Geschichte durchaus gut tut. Besonders wenn sie wie hier mit viel chinesischer Gegenwart und einem Showdown präsentiert wird. «Blut und rote Seide» ist ein Krimi aus dem China von heute, konstruiert gemäss den gemütlichen Gattungskonventionen von gestern und gespickt mit so vielen Konfuzius-Zitaten, dass die Weisheit bis übermorgen reicht. ●

Weise Bemerkungen von Konfuzius (551−479 v. Chr.) reichern den Krimi an.

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Qiu Xiaolong: Blut und rote Seide.

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27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Belletristik

Roman Brigitte Kronauer erzählt von seelischen Triebtäterinnen und der Suche nach Liebe und Erlösung − überwältigend, brutal und brillant geschliffen

In den Jagdgründen der Liebe

Brigitte Kronauer: Zwei schwarze Jäger.

Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 268 Seiten, Fr. 37.90. Von Angelika Overath

Brigitte Kronauer lesen heisst die Poesie von Strukturen erfahren. Wie sich eine Bachsche Fuge dem Glück des Hörens erst erschliesst, wenn die versetzten Stimmen in ihren Modulationen erkannt und verfolgt werden, so steigert sich das Vergnügen des Lesers, der in Kronauers Texten nicht einfach die Melodie einer Handlung sucht, sondern bereit ist für Polyphonien mit ihren Engführungen, Umkehrungen, Verkürzungen. «Zwei schwarze Jäger» besteht aus drei Kapiteln, die ein imaginatives Klang-Sinn-Gebäude errichten: eine unabsehbare Villa, ein Schloss mit Trompel’Œil-Malerei, ein Freilichttheater, das sich als Realität inszeniert. Wie Eschers gezeichnete Hände sich selbst zeichnen und seine Treppen in kippende Räume führen, die jede Zentralperspektive narren, so spielt dieser Text auch mit seiner Genese und der Frage, wo sich der Glanz der Intensität provozieren lässt, in der Wirklichkeit (was immer das ist) oder in der Kunst (was immer sie sein könnte). Die Grundidee des Buches geht auf eine Skulptur in der Villa Borghese in Rom zurück: Zwei Afrikaner ziehen mit zwei angeketteten Löwen zur Jagd. Um diese Marmorfiguren kreist die Erzählung «Zwei schwarze Jäger», die die Schriftstellerin Rita Palka im Schloss des Städtchens W. vorträgt. Im Schlafgemach dieses Schlosses wiederum steht eine Porzellankopie der römischen Gruppe. Rita Palka entzündet den EpiphanieSchock, als sie in ihrer Erzählung eine Frau erkennen lässt, dass nicht nur die Löwen an die Jäger, sondern auch die Jäger an die Löwen gekettet sind, beide einander verbunden wie Liebende, die sich nicht trennen, nur zerfleischen können in ihrer utopischen Jagd. Als Herr Schüssel, der Initiator der Lesung, nachts zur Schriftstellerin kommt, wird er von seiner Frau überrascht, die in ehelichem Furor die kostbare Porzellankopie ergreift und auf den Boden wirft. Unter dem Blick ihres gepeinigten Mannes bückt sich die Gattin nach den Scherben, und Rita, «die weiss und nie vergessen kann, dass alles, was als Geschichteerzähltwird,eineBeschwichtigung darstellt», hockt sich «in Gottes Namen zum Sammeln mit auf den Boden nieder». Damit kann das Spiel beginnen: ein Motiv zersplittert als teure Fälschung, und die Autorin nimmt sich seiner an. Das zweite Kapitel variiert nun die Jagd (nach Liebe, Erhebung, Erlösung, nach den «Leuchttürmen» der Begeisterung) in fragmentierten Geschichten, die im 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

dritten Kapitel dann enggeführt werden, als seien sie die Wörter in den Schüttelreimen des Malers Fritz Grosse, der aus «Nordlicht» den «Lord Nicht» macht und aus «Baugrube» Herrn «Graubube» erfindet. Die poetische Orthographie steckt vertrackt und erlösend im Ort der Sprache, und die Romanfiguren leuchten augenblickshaft auf wie Farben einer Palette, die verschiedene Konstellationen tönen und sich mischen. Kronauer geht durch alle Milieus. Von der Geldschickeria der Zahnärztinnen und Steuerberaterinnen bis in die Plüschwohnung der Supermarktkassiererin, die beschliesst, an der Bundesstrasse als Prostituierte zu arbeiten; vom Lektor, der sich in einen Kellner verliebt und vor dem Montblanc von der Idee

des Absoluten geschlagen wird (eine der schönsten Passagen des Buchs), bis zur Rachefurie Frau Piz im Rollstuhl, die ihren Ex-Geliebten einsetzt, damit er casanovahaft in das glückliche Elend bürgerlicher Jungmütter fährt. Und die scheue Wally, vom weltreisenden Holländer Oom Henk mit der Sehnsucht «drogisiert», irrlichtert als seelische Triebtäterin und mythisches Wald-undWiesen-Wesen durch die Jagdgründe von Liebe, Natur, Kunst. Wer das Unbedingte nicht lassen kann, bleibt an sein tödliches Tier gekettet. Ob die zerfleischende Enttäuschung «höheren Orts» beabsichtigt ist, bleibt in diesem so gütigen wie brutalen, schwebendleichten und brillant geschliffenen Roman offen, «in Gottes Namen». ●

USA Pommes frites im Grand Canyon

Was macht Amerika aus? Der Grand Canyon und Pommes mit Ketchup gehören sicher zu den Dingen, die unsere kollektive Phantasie von den USA mitbestimmen. Taiyo Onorato und Nico Krebs, die beide in Zürich ausgebildet wurden und leben, spielen mit diesen Klischees. Sie bereisten über drei Jahre hinweg immer wieder das Land und entdeckten das Unerwartete des Bekannten. Sie vertrauen dabei dem Rhythmus des Reisens; nicht der Ort, die Bewegung zählt und die Stimmung. Keine Texte, nicht einmal Angaben zu den Aufnahmen sollen das Gleiten zwischen dem, was sie zeigen, und dem, was wir assoziieren, stören. Entsprechend frei fliessen die Bilder

über die Buchseiten. Farbige und schwarzweisse Aufnahmen, arrangierte und gefundene Sujets, kleine und randlos die Seiten füllende Formate folgen aufeinander. Da spritzt der Dreck auf die Ansicht einer trostlosen Dorfstrasse, dort verschwindet ein Highway im Schwarz der Nacht und der kruden Unterbelichtung. Es gibt Skurrilitäten wie eine Assemblage aus Stuhlsitz und spinnenartigen Astbeinen im Wald. Und eine Häuserreihe, die ein Hangrutsch übrig gelassen hat. Ein Reisebuch, so ironisch und melancholisch, wie es sie nicht oft gibt. Gerhard Mack Taiyo Onorato, Nico Krebs: The Great Unreal. Edition Patrick Frey, Zürich 2009. 152 S., 109 Abb., Fr. 68.−.

Roman Wieder einmal umkreist Sibylle Berg das Altern nach 40 sowie das Glück zu zweit

Panik einer reifen Dame

Sibylle Berg: Der Mann schläft.

Carl Hanser, München 2009. 309 Seiten, Fr. 34.5o. Von Bettina Spoerri Seit einigen Jahren haben die Protagonistinnen in Sibylle Bergs Schreiben ihr vierzigstes Lebensjahr überschritten. Und um dieses Thema kreisen ihre Gedanken unaufhörlich. Immer wieder empören sie sich von neuem über das Skandalon der «conditio humana»: Das unaufhaltsame Altern als Vorbote des Todes. Mit der Beschwörung der «vanitas» und dem Aufbegehren gegen den unabwendbaren Verlust schreibt die Autorin eine alte Rhetorik-Tradition der Literaturgeschichte fort. Aber sie konterkariert und trivialisiert sie gleichzeitig, indem sich die Klage in ihren Texten in Koketterie und Tragikomik verwandelt. Angesichts des welkenden Fleisches – des eigenen zuerst einmal, dann immer wieder auch der erschlaffenden Haut anderer – wird die Ich-Erzählerin im Roman «Der Mann schläft» ihrer Endlichkeit gewahr. Und da sie mit ihrer Körperhülle immer weniger Eindruck beim männlichen Geschlecht hinterlässt, hat sie sich zunehmend auf die Entdeckung innerer Werte verlegt. Dabei entwickelt sie nun den einen oder anderen Moment heiterer Gelassenheit und weiser Einsichten. Allerdings muss sich die Frau dafür immer erst durch den Wust moralischer und pseudoaufklärerischer Tiraden kämpfen, denn sie ist auch einer zweiten Obsession Bergscher Kreationen verfallen: Ihrer Meinung nach führen die Menschen ein falsches Leben. Da sind die braven Bürger mit ihrer Jagd nach Geld und ihrer Autoritätsgläubigkeit, doch ebenso verachtenswürdig sind etwa junge Männer «aus der unteren Mittelschicht», die ihr «kreatives Potenzial» ausleben wollen, oder Eltern, die ihre Tochter «Freia» nennen. Nicht selten schwingt in diesen Schmähreden eine theatralische Lust an immer absurderen Schuldzuweisungen und überspanntem Getue mit – bis zur Entlarvung der eigenen Lächerlichkeit. Es ist diese immer wieder aufblitzende Selbstironie im Wissen um seine neurotische Struktur, die einem das neueste weibliche Ich in Bergs Prosa für wiederkehrende Augenblicke dreidimensional und liebenswert werden lässt, rührend in seiner Hilflosigkeit und seinem ungenierten Bekenntnis zu kindlichen Bedürfnissen. Nachdem die Frau nämlich fast schon desillusioniert Abschied von Liebesglückträumen genommen hat, begegnet sie unverhofft einem Mann, der sich als Begleiter in ein abgeklärtes Alter eignet. Jenseits der vierzig sind die Ansprüche bescheiden geworden: «Ich war alt genug zu wissen, dass

Jean michel voGe/laif

Unaufgeregte Seligkeit

Ein Gran von Unzufriedenheit jagt das Protagonistenpaar aus dem Paradies.

es Glück ist, einen zu treffen, den man so gern hat, dass er einen nie stört.» Und es scheint mehr als Torschlusspanik oder Resignation zu sein, wenn diese «mittelalte Dame» bei einem Riesen von Mann unaufgeregte Seligkeit findet. Er ist weder schön noch reich, aber er scheint «frei von Projektionen». Und er besitzt ein Auto und ein Haus im Tessin, wohin sich die Verfasserin von Gebrauchsanweisungen für die nächsten vier Jahre mit ihm zurückzieht, um einfach so oft wie möglich ihren Kopf auf seinen runden Bauch zu betten.

Hoffnungsvolles Ende

So hätten sie glücklich bis an ihr Ende leben können, wäre ihnen nicht eines Tages die «unselige Idee» gekommen, zu verreisen. Durch ein Gran von Unzufriedenheit, so der Bergsche Zeigefinger, haben sich diese Eva und ihr Adam selbst aus ihrem Paradies vertrieben. Und in der exotischen Ferne, auf irgendeiner Insel im Südchinesischen Meer, sind sie einander abhandengekommen. Allein gelassen in einem nun viel zu grossen Bett, rekapituliert die Frau ihr Leben, «ehe alles begann», die Begegnung, die wachsende Vertrautheit und die Alltagsrituale bis hin zum Aufbruch in den Fernen Osten, dem plötzlichen Verschwinden des Mannes und der vergeblichen Suche. Alternierend zu diesen

kurzen Kapiteln einer langen Vorgeschichte, erzählt die Frau von ihrem Überleben danach, von ihren Abstürzen – und dem vorübergehenden Aufgehobensein in einer Art Ersatzfamilie. In der Komposition dieser beiden Erzählebenen, die in einem offenen, aber hoffnungsvollen Ende kulminieren, verliert Sibylle Berg allerdings öfter die Erzählfäden aus ihren Händen, und so wird das kurzatmige Springen zwischen Episoden, auf mehr als 300 Seiten ausgedehnt, zu einer verwirrenden und teilweise etwas ungelenken Formübung. Zu dieser Unruhe trägt auch das extravagante Personal bei: Ein Panoptikum bevölkert die Landschaften des Romans, darunter ein Zwerg mit Bauplänen für eine Arche Noah oder eine Frau, die sich selbst die Hand abhackt und Anhängerin einer Sekte wird. Auch mit dabei sind eine Prostituierte im Rollstuhl, ein unerträglich altkluges Mädchen, ein stoischer Masseur und, immer wieder, westliche Heilsuchende. Die phantastischen Nebenfiguren bleiben aber ein Sturm im Wasserglas, ein grotesker Aufmarsch, der den stillen, wirklich berührenden Kern der Geschichte immer wieder auf die Seite schiebt. Dabei wäre das Glück doch im Einfachen zu finden. Sibylle Berg scheint das zu ahnen, aber noch vertraut sie diesem Wissen nicht. ● 27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

Belletristik

Roman Erst nach seinem Bestseller «Der Jakubijan-Bau» hat der ägyptische Autor Alaa al-Aswani sein Erstlingswerk, einen umstrittenen Kurzroman, veröffentlicht

Wenn ein ägyptischer Antiheld am Alltag leidet Alaa al-Aswani: Ich wollt’, ich würd’ Ägypter. Aus dem Arabischen von

Hartmut Fähndrich. Lenos, Basel 2009. 246 Seiten, Fr. 34.80.

Der 52-jährige Alaa al-Aswani ist einer der erfolgreichsten arabischen Autoren. Seine Romane «Der Jakubijan-Bau» und «Chicago» verkauften sich je eine Million Mal. Neben seiner literarischen Arbeit schreibt er politische Artikel für eine unabhängige Tageszeitung. Nach wie vor behandelt der gelernte Zahnarzt an zwei Tagen in der Woche in seiner Praxis Patienten, obwohl er inzwischen vom Schreiben leben kann. Und längst kann Aswani alles publizieren, was er will. Das war nicht immer so. Als er 1990 seinen ersten Roman veröffentlichen wollte, kannte ihn niemand. Ausserdem wollten die wenigen privaten Verlage, die es damals gab, kein Risiko eingehen. Er legte sein Manuskript der staatlichen Buchorganisation zur Publikation vor, und diese lehnte ab mit der Begründung, er beleidige die Ägypter. Erst vor wenigen Jahren ist der Roman erschienen, in einem privaten Verlag. Ergänzt um 13 Erzählungen, wurde er jetzt von Hartmut Fähndrich ins Deutsche übersetzt: «Ich wollt’, ich würd’ Ägypter».

Student im Liebeswahn

Der etwas sperrige Titel bezieht sich auf einen Ausspruch des ägyptischen Nationalisten Mustafa Kamil: «Ich wollt’, ich würd’ Ägypter, wenn ich’s nicht schon wär’.» Als spöttisches Motto ist der Spruch dem Kurzroman mit dem Titel «Aufzeichnungen des Issam Abdalati» vorangestellt und wird sogleich als «eine hirnlose Art fanatischen Tribalismus’» denunziert. Es folgt eine wüste Verhöhnung der ägyptischen Mentalität: «Feigheit und Scheinheiligkeit, Bosheit und Gemeinheit, Trägheit und Gehässigkeit, das sind unsere ägyptischen Eigenschaften.» Der in Ich-Form gehaltene Text erzählt die Lebensgeschichte eines lesehungrigen jungen Mannes mit scharfem Verstand, der an der Mediokrität des Alltags leidet und sich durch Heuchelei und Vetternwirtschaft beleidigt fühlt. Mit kaltem mitleidlosem Blick beschreibt er seinen Vater als erfolglosen Maler, seine Mutter, wie sie sich hilflos gegen ihre Krebserkrankung auflehnt. Seine Kollegen am Arbeitsplatz befindet er für wertlos und verwirft sie. «Ich kam näher und sah», ist eine wiederkehrende Wendung, die jeweils in eine angewiderte Beschreibung des Gesehenen 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

Dominic nahr/laif

Von Susanne Schanda

Der Autor Alaa al-Aswani geisselt in seinem neuen Buch die ägyptische Mentalität. Strassenszene in Kairo.

mündet. Einsam bereits als Student, isoliert sich Issam in seiner Überheblichkeit und Weltverachtung immer weiter, bis er in Paranoia verfällt und halluziniert. Im Wahn sieht er sich schliesslich in einer Liebesbeziehung mit einer weisshäutigen, blauäugigen Deutschen mit langen blonden Haaren, die er als Verkörperung des Edlen und Schönen sieht.

Faszination und Abscheu

Alaa al-Aswani ist bekannt für seine scharfe Kritik an Korruption, Doppelmoral und den Demokratie-Defiziten in seinem Land. Vorsichtshalber erklärt er im Vorwort, dass ein Autor nicht mit den Aussagen seiner Figuren identifiziert werden darf. Dies wäre kaum nötig gewesen. Indem er seinen Protagonisten als kranken, zynischen Antihelden zeichnet, verwehrt er nicht nur die Identifikation mit der Figur, sondern auch eine Gleichsetzung dieser mit dem Autor. Die radikal pessimistische Perspektive des Ich-Erzählers macht die Lektüre zu einem ambivalenten Erlebnis zwischen Faszination und Abscheu. Das Buch enthält neben dem Roman 13 Kurzgeschichten, in denen menschliche Tragödien aufscheinen. Sie erzäh-

len von kindlichem Unglück, wenn ein Junge mit Beinprothese Rad fahren möchte wie die anderen, aufs Rad steigt, es tatsächlich schafft und fährt, doch unmittelbar nach seinem Triumphschrei schrecklich stürzt, oder wenn ein anderer in der Turnstunde ausgegrenzt wird, weil er unsäglich dick ist. Ein Glanzstück über Doppelmoral und das Verschwimmen der Bilder von Heiliger und Hure in einer Männerphantasie ist «Ein abgetragenes Kleid und ein Kopftuch». Schliesslich «Madame Sitta Mendès – ein letztes Bild»: Ein 40-jähriger Mann erinnert sich an die sonntäglichen Ausflüge, die er als Knabe zusammen mit seinem Vater zu einer Frau machte, die er Tante Sitta nannte. Ausflüge, von denen die Mutter nichts wissen durfte. Die Erinnerungen geraten zu einer zarten Hommage an die Geliebte des Vaters, die Lieder von Edith Piaf sang und als Tänzerin in einem Club arbeitete. Als Erwachsener trifft er sie unverhofft wieder. Eine Frau mit einer dicken Schicht Puder im Gesicht, fast blind, hebt den Kopf, als er sie beim Namen ruft: Tante Sitta. Ein melancholischer Nachruf auf vergangene Zeiten, in dem Moralvorstellungen durch einen Kinderblick unterwandert werden. ●

Roman Michael Stavaricˇ erzählt von Geschlechterkampf und Krieg

Masche statt Stil

Kurzkritiken Schweizer Buchpreis Eleonore Frey: Muster aus Hans. Ein Bericht. Droschl, Graz 2009. 114 Seiten, Fr. 32.90.

Jürg Laederach: Depeschen nach Mailland. Hrsg. Michel Mettler. Suhrkamp, Frankfurt 2009. 188 Seiten, Fr. 32.50.

Hans ist ein Mann von 33 Jahren und ein Aussenseiter. Ein massiger Mensch mit wallendem Bart. Einer, der sich nicht anpasst. Er denkt anders, hat ein anderes Verhältnis zur Sprache, nimmt die Welt anders wahr. Diesem Phänomen folgt die 1939 in Frauenfeld geborene Autorin Eleonore Frey Satz für Satz. Sie macht für uns das Anderssein erlebbar, ohne zu psychologisieren. Sie führt die Welt, in der Hans lebt, vor, indem sie etwas in Sprache bannt, das wir so noch nicht kannten. Erst allmählich dämmert uns, dass wir es mit einem Zustand zu tun haben, für den die Psychologie das Wort Autismus bereithält. Es ist ein grosser und grober Begriff, und die Autorin vermeidet ihn tunlichst. Ihr Text kommt ohne jede Etikette aus. Er zeugt von höchster Aufmerksamkeit und subtilster Einfühlung. Nie ist er voyeuristisch oder sentimental. In seiner kristallinen Sprache eröffnet er uns eine Welt, für die das Wort «Behinderung» zu kurz greift. Manfred Papst

Der 1945 geborene Basler Autor, Übersetzer und Musiker Jürg Laederach, ein so gelehrter wie furioser Sprach-Experimentator, überrascht mit einem federleichten neuen Buch. Michel Mettler, sein 21 Jahre jüngerer Aargauer Kollege, hat es ihm abgeluchst. Seit 2002 stehen die beiden in regem E-Mail-Wechsel. Mettler hat das Material aufbewahrt, redigiert und mit einem gescheiten Nachwort versehen. Seine eigenen E-Mails blendet er aus. Dennoch merken wir auf jeder Seite, wie der Enthusiasmus des Jüngeren den Älteren beflügelt. Ihre Liebe zum Jazz, ihr Sammeleifer, ihre Musikalität und Kennerschaft verbindet die beiden. Aber es kommt auch anderes zur Sprache: Tagespolitik. Die Hauskatze. Beizen im Welschland. Lektüren. Computer-Abenteuer. Nie hat man Laederach agiler und heiterer erlebt. Die E-Mail erweist sich als ideales Medium für sein Feuerwerk an Gedanken und Sprachbildern. Manfred Papst

Angelika Overath: Flughafenfische. Roman. Luchterhand, München 2009. 174 Seiten, Fr. 31.90.

Ilma Rakusa: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Droschl, Graz 2009. 325 Seiten, Fr. 41.90.

Die Erzählerin, Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin Angelika Overath, die 1957 in Karlsruhe geboren wurde und im bündnerischen Sent lebt, legt ihren zweiten Roman vor. Er handelt von drei verlorenen Seelen im Niemandsland eines Transitflughafens. Tobias ist dort für ein Salzwasseraquarium zuständig, das als Raumteiler dient. Er ist ein etwas verschrobener Mann, der gedanklich in seiner Unterwasserwelt lebt. Kaum jemand könnte sich stärker von ihm unterscheiden als Elis, eine Reportagefotografin, die auf ihren Anschlussflug wartet. Sie ist nervös, übermüdet, schlecht gelaunt. Dennoch ergibt sich eine denkwürdige Begegnung. Sie wird konterkariert durch den inneren Monolog eines Biochemikers, der sich in der Raucher-Lounge des Flughafens ins Vergessen trinkt. Angelika Overath erzählt präzis, zärtlich und bewegend von Sehnsucht und Liebe, Einsamkeit und Tod. Manfred Papst

Die 1946 in der Slowakei geborene Autorin Ilma Rakusa, die seit vielen Jahren als Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin in Zürich lebt, legt mit «Mehr Meer» ein poetisches Buch der Erinnerung vor. Es führt ins Mitteleuropa der Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg. Ilma Rakusa schildert ihre Kindheit als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter. Ihre Lebensreise führt sie von einer slowakischen Kleinstadt über Budapest, Ljubljana und Triest bis nach Zürich und weiter in die Welt hinaus. Musik, Literatur, aber auch fremde Menschen und Länder erfüllen das Leben der Heranwachsenden mit Szenen, die sich für immer einprägen. Sie finden ihren Nachhall in einem klugen und ungemein reichhaltigen Werk, das wie ein Mosaik aus unzähligen winzigen Steinchen zusammengesetzt ist und doch das Bild einer ganzen Epoche erstehen lässt. Manfred Papst

Michael Stavaricˇ: Böse Spiele. C. H. Beck, München 2009. 155 Seiten, Fr. 30.10.

markus kirchGessner/laif

Von Sieglinde Geisel Wann hat die Welt wohl genug von dieser Jungmännerprosa gesehen? In seinem vierten Roman schreibt Michael Stavaricˇ über die Männer und die Frauen, mit allen Mitteln der Kunst. Denn sein literarisches Material sind nicht Figuren oder Handlungen, sondern Sätze, und zwar die abgestandensten Sätze, die wir bis zum Überdruss aus Geschlechterdebatten kennen und aus schlechten Liebesromanen: «dass die Frauen Opfer bleiben und die Männer Täter», «dass wir einander viel zu viel bedeuten und genau das nicht für den Alltag taugt», «dass sie noch nie einen Mann wie mich kannte». Der Ich-Erzähler generiert solche Sätze mehr, als dass er sie spricht; manchmal verschiebt er sie und ordnet sie in kurzen Abschnitten neu. Die eine Frau, die er liebt, ist verheiratet mit Robert samt Kind, die andere, die er liebt, ist eine Freundin der ersten. Die eine will von ihm erobert werden, die andere will ihn erobern und so weiter. «Böse Spiele» werden uns im Titel versprochen, denn von der Liebe ist es nicht weit bis zur Gewalt. Die eine Frau wünscht allen Männern den Tod, und sie erklärt dem Ich-Erzähler variantenreich, wie er Robert töten soll, nicht nur weil dieser sie geschlagen hat. Diffus ist von «früher» die Rede, von einer quasimittelalterlichen Welt, wo man das Vieh sortierte, Beeren sammelte und Dörrfleisch schichtete, wo man noch wusste, was Sache war. Das Wort «Krieg» gehört von Anfang an zum Spiel-Inventar, doch in der grotesken Geschlechterschlacht, in die alles mündet, kämpfen Pappkameraden. Die Männer, die Frauen, die Liebe, das Töten, der Krieg – die grossen Worte bleiben leer. In den leiernden «dass»-Sätzen begegnen wir einer mehrfach rezyklierten Rede: Der vermeintliche Monolog besteht aus nacherzählten Dialogen, gespickt mit kursiven Zitaten: «Die Liebe macht dir zu schaffen, sagt sie. Deine Liebe ist meine Strassenbahn.» Wenn solche Sätze fallen, wird alles belanglos. Vom sprachlichen Konzept, das man anfangs noch zu erwarten geneigt war, bleibt nur billige Masche, die verschleiern soll, dass dem Autor der eigene Stil abgeht. ●

27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11

Interview

Urs Widmer erzählt in seinem neuen Roman eine so heitere wie abgründige Geschichte. Sie handelt von einem abenteuerlustigen Knaben, der als Einziger einen etwas schrulligen alten Mann sehen kann. Es ist Herr Adamson, sein Todesbote. Interview: Manfred Papst

«Mit Phantasie geschlagen»

Bücher am Sonntag: Herr Widmer, Ihr neues Buch führt einen gewissen Herrn Adamson im Titel. Haben Sie dabei an die Comicfigur gleichen Namens gedacht, die der Schwede Oscar Jacobsson in den 1920er Jahren entworfen hat? Urs Widmer: Ich habe tatsächlich Jacobssons gezeichneten Herrn Adamson vor Augen gehabt. Die drei Haare, die bizarre Oberlippe. Aber mein Herr Adamson hat einen durchaus anderen Charakter.

Kannten Sie die Figur schon aus Kindertagen? Im Französischlehrbuch «Pas à pas», das mein Vater verfasst hat, gab es Adamson-Bildergeschichten. Und mein Vater hat mir die Bücher geschenkt. Ich fand auch, dass Herr Adamson meinem Vater glich. Allerdings ist mein Buch keine Vatergeschichte geworden. Eher eine Grossvater-Enkelin-Geschichte. Sie bringen in dem Buch das Kunststück fertig, in einem federleichten Ton vom Tod zu sprechen. Ich beschäftige mich, höchst unfreiwillig, seit eh und je mit dem Tod, und ich habe mir seit langem meine kleinen Todesmythen zurechtgelegt. Hier habe ich sie nun sehr genau ausgearbeitet. Ich spiele auch nicht zum ersten Mal damit, dass der Ich-Erzähler des Buchs dem Autor Urs Widmer verteufelt gleicht. Dass ich die Hauptfigur nicht

Urs Widmer Der 1938 in Basel geborene Schriftsteller Urs Widmer, der seit vielen Jahren in Zürich lebt, gehört zu den originellsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Zu den bekanntesten Werken des Erzählers, Dramatikers und Essayisten zählen «Liebesnacht» (1982), «Indianersommer» (1985), «Der blaue Siphon» (1992), «Top Dogs» (1996), «Der Geliebte der Mutter» (2000) und «Das Buch des Vaters». «Herr Adamson» (200 Seiten, Fr. 33.90) ist im Zürcher Diogenes-Verlag erschienen und für den Schweizer Buchpreis nominiert. 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

bin, sieht man allein schon daran, dass das Buch am 22. Mai 2032 einsetzt, einen Tag nach meinem 94. Geburtstag – und am Tag meines Todes. Wie war es für Sie, Ihren eigenen Tod literarisch zu gestalten? Schon ziemlich unheimlich! Aber ich benütze da einen wunderbaren Trick. Ich lasse mich zwar sterben – beschreibe auf der letzten Seite meinen Tod –, aber ich hebe das Schreckliche dieses Gedankens dadurch auf, dass ich mir noch weitere 23 Jahre schenke. Im Moment des Schreibens waren es sogar 24 Jahre. Ich mache also einen Deal mit dem Tod. Ich lebe noch 24 gesunde Jahre, und dann gehe ich heiter, nicht munter, aber gefasst ins Totenreich hinüber. Ist dieser heitere Märchenton dem Thema angemessen? Heiter ja, Märchenton nein. Ich nehme den Tod ernst, und wie! Es wäre falsch, die letzten Seiten des Buches als Farce zu lesen. Der Ton des Buches ist leicht, was es erzählt, ist tragisch. Ich werde oft auf die Rolle des phantasievollen Luftikus festgelegt, immer noch. Aber ich selber empfinde mich nicht so. Für mich sind die letzten Seiten des Buches pathetisch. Ist «Herr Adamson» ein Zukunftsroman? Wir sind im Jahr 2032, aber ich spiele die Karte des In-die-Zukunft-Sehens nur ein einziges Mal aus: Wenn ich sage, dass die israelischpalästinensische Versöhnung am 4. September 2011 stattfindet. Das ist nur ein Tupfer, der zeigt, dass ich mit der Zukunft spielen könnte, wenn ich wollte. Ich will aber nicht. Andere Autoren werden mit den Jahren milder. Sie werden immer noch mutwilliger, frecher, fabulierwütiger. Ich glaube, dass ich im Lauf der Jahre mutiger und angstfreier geworden bin. Deshalb wage ich mehr beim Schreiben. Ich habe mehr Mittel und setze sie auch ein. Mit

der Phantasie ist es wohl eher so, dass ich sie nun mal habe. Ich habe beim Schreiben immer das Gefühl, dass ich sie bremse. Für dieses Buch habe ich konsequent nur Phantasien verwendet, die mit dem Thema zu tun haben. Alle anderen Einfälle, die sich ja von selbst einstellen (und manchmal auf Anhieb durchaus reizvoll wirken), habe ich mir verboten. Aber die Einfälle purzeln in diesem Text doch nur so übereinander! Ich habe eigentlich das Gefühl, ein fadengerade auf sein Ziel loslaufendes Buch geschrieben zu haben. Trotzdem höre ich oft, dass es von ausufernder Phantasie sei. Ich erlebe es nicht so, weiss aber natürlich, was gemeint ist. Meine Phantasie wuchert in Tat und Wahrheit viel wilder, als es in meinen Büchern am Ende zu sehen ist. Ich bin offenbar mit Phantasie geschlagen.

«Ich beschreibe also zum Beispiel meinen eigenen Tod, einen ziemlichen Hammer, und dann gehe ich nach Hause und plaudere vergnügt mit meiner Frau.» Sie kokettieren! Nicht nur. Phantasie kann eine Plage sein. Aber ich bin trotzdem nicht verrückt geworden im Lauf meines Lebens, und jetzt werde ich’s gewiss nicht mehr. Das ist doch wunderbar. Übrigens bin ich öfter ernst, als man denkt. Ich schätze Clowns. Aber ich bin nun mal keiner. Wollen Sie jetzt im Ernst abstreiten, dass der Humor in Ihrem Werk eine wichtige Rolle spielt? Ich versuche, das Tragische im Komischen aufzuheben. Aber ich mache keinen Kalauer um seiner selbst willen. Hinter meinen Witzen sind schwarze Löcher, und ich vertraue darauf, dass meine Leser und Leserinnen das merken. Verfolgen Ihre Phantasien Sie auch im Schlaf ? Ich träume wie der Teufel, und ich träume selten schön. Das gibt mir zu denken. Offenbar gibt es viele unaufgeräumte Seiten in mir.

marion nitsch

«Ich habe keine Arbeitsdisziplin wie Thomas Mann. Ich schreibe am Nachmittag.» Der Schriftsteller Urs Widmer im Schilfwäldchen vor seiner Klause in Zürich.

Andererseits bin ich, mindestens wenn ich wach bin, ganz gut strukturiert. Das heisst, ich kann ganz gut spalten. Ich beschreibe also zum Beispiel meinen Tod, einen ziemlichen Hammer, und dann gehe ich nach Hause und plaudere vergnügt mit meiner Frau. Ich kann sozusagen den Handwerksladen hinter mir zumachen. Und wie fühlen Sie sich bei der Arbeit? Ich fühle auf zwei Ebenen. Zum Beispiel schreibe ich meinen Tod. Das ist auch für mich bewegend. Gleichzeitig empfinde ich so etwas wie

ein Arbeitsglück, weil ich merke, dass mir dieser Tod literarisch gut gelingt. Das konterkariert das Basisgefühl des Tragischen und erfüllt mich mit einem Glück der zweiten Art. Wie entstehen Ihre Texte? Ich gehe lange mit einem Buch im Kopf herum. In mir wabert es. Es bilden sich Sätze, aber sie werden nirgendwo notiert. Was in diesem Prozess verlorengeht, kann nicht wichtig gewesen sein. Die Ideen stapeln sich im Kopf, bis eine Art von Überdruck entsteht und ich merke: Jetzt muss ich anfangen.

Wie geht dann der konkrete Arbeitsprozess vonstatten? Ich schreibe auf einer elektrischen Schreibmaschine, nicht am Computer. Just, weil ich da nicht so leicht löschen und etwas einfügen kann. Ich bin stets gezwungen, das Ganze im Auge zu behalten. Ich fange vorne an und höre hinten auf. Ich verlasse eine Seite erst, wenn sie fertig ist. Natürlich gibt es dann eine nächste Fassung und eine übernächste. Ich merke ja oft erst unterwegs, was ich eigentlich schreiben will. Sowieso schreibe ich jede Seite so mehr oder weniger zehnmal. 27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13

marion nitsch

Interview

Urs Widmer behält ältere Fassungen seiner Texte auf, um sie später dem Literaturarchiv zu übergeben.

Bewahren Sie die verschiedenen Fassungen auf ? Früher habe ich sie einfach weggeworfen. Jetzt behalte ich sie und gebe sie dem Literaturarchiv in Bern. Vielleicht geben sie irgendeinem Germanisten einmal Brot und Arbeit. Wie merken Sie, wann ein Text fertig ist und Sie ihn loslassen müssen? Am Schluss gerate ich in einen herrlichen Zustand. Ich weiss nun alles genau und kann gar keinen Fehler mehr machen. Ich weiss genau, wann der Text fertig ist. Es ist ein Gefühl der Evidenz. Umgekehrt habe ich ein latent mulmiges Gefühl, wenn der Text noch unfertig ist. Dann bossle ich eben so lange herum, bis sich die Evidenz einstellt. Schreiben Sie zu bestimmten Tageszeiten? Nicht am frühen Morgen, weil ich ein Langschläfer bin. Ich habe keine Arbeitsdisziplin wie Thomas Mann. Ich schreibe am Nachmittag. Aber eigentlich ist mir nicht besonders klar, wann ich nun arbeite und wann nicht. Wenn ich abends im Ohrensessel sitze und einen Rotwein trinke, lese ich ja immer noch, nur zum Beispiel ein Lehrbuch zur Sprache der Navajos, weil diese in meinem Buch eine Rolle spielt. So

etwas kann ich mir nicht einfach aus den Fingern saugen. Sie gelten als Fabulierkünstler. Trotzdem recherchieren Sie? Natürlich kommt durch die Phantastik ein Element hinein, das im normalen Alltag nicht möglich wäre. Dieses Element aber behandle ich, kaum hat es Einlass in meine Erfindung gefunden, mit dem grössten Realismus. Schreiben heisst zwar gewiss, der diffusen Wirklichkeit eine Form zu geben. Aber die Realien, von denen ich ausgehe, müssen ihren exakten Ort in der Wirklichkeit haben. Ich habe keine freischwebende, beliebige Phantasie. Immer führt ein Faden zur Wirklichkeit. Warum legen Sie solchen Wert auf diesen Punkt? Nur so kann der Leser meine Geschichten nachvollziehen. Freie Phantasien verlieren sich im Beliebigen. Natürlich kann ich mir ein Buch vorstellen, in dem ich alle Schleusen öffne und mit jedem Satz dort weitergehe, wo die Assoziation hin will. Vielleicht wäre das auch interessant. Ich habe aber meine Zweifel. Sprechen Sie mit Kollegen oder Freunden über Ihre entstehenden Arbeiten?

Während ich schreibe, sind meine Texte in mir verschlossen. Einzig mit meiner Frau spreche ich über meine Arbeit. Und oft merke ich erst dann, worauf ich eigentlich hinaus will. Meine Frau ist auch die erste und meine beste Leserin. Gerade bei meinem neuen Buch hat sie mir äusserst wertvolle Hinweise gegeben. Spielt ihr Beruf als Psychologin dabei eine Rolle? Sie ist Psychoanalytikerin, aber sie liest meine Bücher nicht mit diesem Blick, sondern als jemand, der die Literatur liebt und mich liebt. Ich bin ja dieser psychoanalytischen Welt auch nicht fern. Literarisches Schreiben und psychoanalytisches Denken sind verwandte Disziplinen, auch wenn das Schreiben weder eine Wissenschaft ist noch therapeutische Ziele hat. Überarbeiten Sie bereits erschienene Texte, beispielsweise wenn Sie auf Lesereisen Fehler oder Schwächen entdecken? Kein Buch ist ohne Fehler. Sie gehören zu ihm und machen es auf gewisse Weise noch schöner. Was gedruckt ist, ist gedruckt. Ich habe nie einen schon veröffentlichten Text für eine spätere Auflage nochmals überarbeitet. Ich denke nicht daran. Sollen die Unvollkommenheiten halt stehen bleiben. ●

»Ein Verlierer der närrischen Sorte«

Musik, Kamerun und Paradiesvorstellungen

Franz Rueb: Rübezahl spielte links aussen. Erinnerungen eines Politischen, 312 Seiten, gebunden, Fr. 35.–, k 21.80, ISBN 978-3-85990-150-6 »Jetzt hat er aus seiner Kindheit und seiner Politikerzeit eine literarisch erstaunliche Autobiografie destilliert, ein reiches, kluges und sprachmächtiges Buch über die Schweiz. (…) Mit einem mächtigen, funkelnden Vokabular – ein Prachtpferd von Autor.« Stan Nadolny in der NZZ

Ruedi Debrunner: Süssland. Roman, 256 Seiten, gebunden, Fr. 33.–, k 21.–, ISBN 978-3-85990-148-3 »Greet Sweetland for me!« – Diesen merkwürdigen Abschiedsgruss in den Ohren, besteigt Mark Zeller in Duala das Frachtschiff Richtung Europa. Afrika bleibt jedoch nicht zurück: Nach einem ereignisreichen Jahr als Musiklehrer in Kamerun reisen seine lebhaften Erinnerungen mit – und nicht nur sie.

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

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edition 8, www.edition8.ch

Kolumne

Charles Lewinskys Zitatenlese

GaËtan bally / keystone

Der Witz setzt immer ein Publikum voraus. Darum kann man den Witz auch nicht bei sich behalten.

Charles Lewinsky, 63, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein letztes Buch «Zehnundeine Nacht» ist 2008 bei Nagel & Kimche erschienen.

Kurzkritiken Sachbuch Christoph Antweiler: Heimat Mensch. Was uns alle verbindet. Murmann, Hamburg 2009. 267 Seiten, Fr. 31.50.

Adalbert Hofmann: Die Männer vor der Küchentür. Satirische Gedankensplitter. Bod, Norderstedt 2009. 131 Seiten, Fr. 24.90.

Es ist das zweite Buch des Universalienforschers und Ethnologen Christoph Antweiler, und wieder geht es nicht um das, was uns trennt, sondern um das, was «uns alle verbindet». Ein Kulturvergleich also, der nicht die Kontraste hervorhebt, sondern die Gemeinsamkeiten. Auf amüsante Weise werden angeblich kulturelle Extravaganzen zerpflückt. So gibt es bei den Eskimo keine 80 Wörter für Schnee, sondern nur ungefähr so viele wie im Deutschen. Oder: Initiationsriten beschränken sich nicht auf exotische Gesellschaften, sondern kommen auch bei uns vor; das akademische Leben ist voll davon: Matura, Promotion, Habilitation, Antrittsvorlesung. Es gibt, so Antweiler, «eine weltweite Basis prinzipieller Gleichheiten». Letztlich könne die Globalisierung überhaupt nur funktionieren, weil die Menschen sich so ähnlich sind. Anregend, kurzweilig, lesenswert. Geneviève Lüscher

Vierzig Jahre war er Redaktor beim «Zürcher Oberländer», zuständig für das Regionalgeschehen. Nun, nach seiner Pensionierung, veröffentlicht der 66-jährige Adalbert Hofmann Kurzgeschichten. Er nennt sie auch «Gedankenstriche». Es sind 48 kräftig gezeichnete Skizzen, die von Senioren handeln, die durchs Leben hasten, wo sie doch nun Zeit hätten. Oder von begnadeten Köchinnen, die eigenartigerweise oft den Pizzakurier bestellen. Er sinniert über die B-Post und die Hundeleinenpflicht. Die Fasnachtschüechli, die beim Grossverteiler schon im Dezember in der Auslage liegen. Und natürlich die kleinen Steuersünder – jene, die so gerne über die grossen Abzocker in der Wirtschaft herziehen. Hofmanns feine Alltagsbeobachtungen bringen uns zum Schmunzeln, halten uns aber auch einen Spiegel vor, in dem wir uns oft verwundert selbst betrachten können. Urs Rauber

Ueli Oswald: Ausgang. Das letzte Jahr mit meinem Vater. Edition Epoca, Zürich 2009. 112 Seiten, Fr. 24.90.

Sandra Willmeroth, Fredy Hämmerli: Exgüsi. Knigge für Deutsche und Schweizer. Orell Füssli, Zürich 2009. 187 Seiten, Fr. 34.90.

Heinrich Oswald (1917–2008) war Unternehmer von altem Schrot und Korn: langjähriger Knorr-Generaldirektor, Ringier-Direktionspräsident, Oberst und Vorsitzender der nach ihm benannten Armeereformkommission Ende der sechziger Jahre. Ein Mann, der zeitlebens gewohnt war, zu entscheiden und zu führen. Mit Widerspruch, vor allem im Privaten, tat er sich schwer; eine Opferrolle zu spielen, lehnte er ab. Im Alter von neunzig, als er körperlich zerfällt und sich Altersdepressionen einstellen, entscheidet er sich für den Freitod. Sein Sohn Ueli beschreibt das letzte Lebensjahr des Vaters bis zum Griff nach dem Glas mit der Natrium-Pentobarbital-Lösung. Ein spannender, gut geschriebener, doch erschreckender Report, der auch die Leere und Sprachlosigkeit einer unerfüllten Vater-Sohn-Beziehung zum Thema macht. Urs Rauber

«Exgüsi» ist weit mehr als eine oberflächliche Betrachtung der Hassliebe zwischen Deutschen und Schweizern. Es ist ein Faktenbuch, das erstens erklärt, wieso nicht die Deutschen an der «Neusten Deutschen Welle» in der Schweiz schuldig sind, sondern wir Schweizer selbst. Zweitens erklärt es, woher die vielen gegenseitigen Vorurteile stammen, und drittens, wer die Bayern, Berliner, Sachsen, Aargauer, Walliser, Zürcher denn nun wirklich sind. Nach der Lektüre des äusserst kurzweiligen Werkes wissen die Leser, dass das Maximum eidgenössischer Flucherei das «Dammi Siech» ist, wieso man auf den Frontseiten unserer Tageszeitungen 15 Mal eine Wortkombination mit «Schweiz» findet, weshalb die Rätoromanen untereinander so zerstritten sind – und was Deutsche und Zürcher gemeinsam haben. Noch irgendwelche Fragen? Charlotte Jacquemart

Joh. Wolfgang v. Goethe

Jeder Berufsstand hat seine eigenen Witze. Bei Medizinern beginnen sie mit «Treffen sich zwei rote Blutkörperchen», bei Musikern mit «Sagt ein Bratschist zum Dirigenten» und bei Diplomaten mit «Fährt ein Bundespräsident nach Libyen». Nur Schriftstellerwitze kannte ich lange Zeit keine und konnte mir diesen Mangel nicht erklären. Schliesslich besteht die Schreiberzunft nicht nur aus lauter humorlosen Langweilern. Vielleicht, dachte ich, neigen wir einfach dazu, wirklich gute Pointen nicht in fröhlicher Runde zu verschwenden, sondern sie lieber für unser nächstes Buch aufzubewahren. Oder nehmen wir unseren Beruf so ernst, dass es uns gar nicht in den Sinn kommt, darüber Scherze zu machen? Ich brauche nicht länger über das Problem nachzudenken, denn seit neustem kenne ich endlich einen Schriftstellerwitz, erzählt vom argentinischen Kollegen José Pablo Feinmann. Ein idealer Titel dafür wäre «Der Club der toten Dichter», aber da war das Kino leider wieder mal schneller. Mit oder ohne Titel: Goethe hatte völlig recht. Ich kann die Geschichte nicht bei mir behalten. Auch in «Bücher am Sonntag» darf mal gelacht werden. Also: Ein Schriftsteller ist gestorben und kommt ans Himmelstor. Dort wartet schon Petrus auf ihn und sagt: «Gratuliere, Sie sind fürs Schriftstellerparadies vorgesehen. Wenn Sie es vielleicht mal besichtigen möchten?» «Gern», sagt der frisch Verstorbene, und Petrus führt ihn zu einem Guckloch, durch das man ins Paradies schauen kann. Dort sieht es so aus: Die Dichter sitzen auf feurigen Stühlen vor rot glühenden Tastaturen, bei jedem Buchstaben, den sie tippen, verbrennen sie sich die Finger, und sie jammern und klagen und raufen sich die Haare. «Wenn das das Paradies ist», meint der tote Schriftsteller, «dann möchte ich doch gern mal die Hölle sehen.» «Ganz wie Sie wünschen», sagt Petrus. Die beiden fahren mit dem Aufzug eine Million Stockwerke nach unten, und landen in der Schriftstellerhölle. Und die ist so: Die Dichter sitzen auf feurigen Stühlen vor rot glühenden Tastaturen, bei jedem Buchstaben, den sie tippen, verbrennen sie sich die Finger, und sie jammern und klagen und raufen sich die Haare. Alles exakt gleich wie im Himmel. «Wo ist denn da bitte der Unterschied?», erkundigt sich der tote Schriftsteller. «Ganz einfach», antwortet Petrus. «Die hier unten finden keinen Verleger.»

27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Sachbuch Die Autorin Anne Cuneo führte einen persönlichen Dialog mit der Schauspielerin Anne-Marie Blanc. Nun liegt ein Erinnerungsbuch vor, keine klassische Biografie

Hommage an die Grande Dame des Schweizer Films Gespräche im Hause Blanc. Mit DVD «Savannah Bay». Römerhof, Zürich 2009. 284 Seiten, Fr. 44.−. Von Martin Walder Am 2. September wäre sie neunzig geworden, am 5. Februar ist Anne-Marie Blanc gestorben. Die legendäre Gilberte de Courgenay, die jurassische Wirtstochter mit dem reinen Herzen in Franz Schnyders Klassiker von 1941. Sie war ein blendend aussehender Star des alten Schweizerfilms und später eine begehrte Respektsperson des neuen. Auch auf der Bühne, der erklärtermassen ihr Herz gehörte, war sie eine elegante, noble Erscheinung − über Jahre am Zürcher Schauspielhaus. Als sie älter wurde, hat sie ihr Image lustvoll bis ins Derbe und Dunkle konterkariert und überhaupt Herausforderungen geradezu gesucht. Wie gerne hätten wir Memoiren aus ihrer Hand gelesen! Im Gespräch mit Anne-Marie Blanc auf einem Drehplatz, im Radiostudio oder bei ihr zu Hause hatte man stets eine engagierte, uneitle, kluge, sachlich genaue und farbige Erzählerin mit der nötigen Prise ironischer Distanz vor sich. Doch derlei in Buchform wies sie als «Voyeurismus im Abendkleid» weit von sich: «Niemals»! Und bis fast zuletzt wehrte sie sich auch gegen eine Biografie. Die Schriftstellerin und Journalistin Anne Cuneo hat es

Anne-Marie Blanc 1919 in Vevey geboren, verbrachte AnneMarie Blanc ihre Kindheit in Bern. Sie wirkt in einer Laientheater-Gruppe und kommt 1938 ans Schauspielhaus Zürich. Erste Filmrolle in «Wachtmeister Studer» (1939). 1940 heiratet sie Heinrich Fueter, der bei «Gilberte de Courgenay» (1941) die Produktion leitet. Nach dem Krieg Austritt aus dem SchauspielhausEnsemble und Familientätigkeit. 2004 Abschied von der Bühne mit Marguerite Duras’ «Savannah Bay» an der Seite ihrer Enkelin Mona Petri-Fueter. Am 5. Februar 2009 stirbt Anne-Marie Blanc in Zürich. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

lange versucht: «Ich bitte Sie, Anne … Was gibt es denn über mich zu erzählen? Anne-Marie Blanc, Schauspielerin, früher 1,68 gross, heute um einen Zentimeter geschrumpft, drei erwachsene Söhne, liebt französischen Rotwein, manchmal Whisky, immer aber bunte Blumen.» Am Ende willigte sie dann doch ein, «etwas» über sie schreiben zu lassen.

Langer persönlicher Dialog

So berichtet es Cuneo in ihrem nun nach Blancs Tod erschienenen Erinnerungsbuch über die Ahnfrau der künstlerisch inzwischen weit verzweigten FueterBlanc-Dynastie. Halten wir gleich fest: Eine eigentliche Biografie ist es nicht geworden, trotz offiziösem Anstrich mit Rollenverzeichnis und beigefügtem Text der Abdankungsrede von Peter-Christian Fueter. Cuneos Buch kommt eher als ein langer Dialog mit einer lebensklugen älteren Freundin, als sozusagen gemeinsames Blättern in der Lebensgeschichte aus der Rückschau daher. «Gespräche im Hause Blanc» lautet der Untertitel in Anlehnung an eine von Blancs Parforcerollen, Peter Hacks’ Monolog «Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe». Anne Cuneo hat Anne-Marie Blanc über ein Vierteljahrhundert verehrt und gekannt, sie hatte ihr gar leichtsinnig ein Stück mit einer französischen Rolle für sie − der ersten − versprochen und das Versprechen eines Tages endlich eingelöst. Der Text von «Madame Paradis» (Uraufführung 1989), der von der heilenden Beziehung einer jüngeren Schauspielerin in der Krise mit einer berühmten älteren Kollegin handelt, ist mit seinen immerhin 30 Seiten gar ins Buch integriert. Die Bezugsfäden zur realen Freundschaft zwischen der Schauspielerin und ihrer Biografin, aus deren Hand es schon vor Jahren ein Fernsehporträt von Anne-Marie Blanc gibt, spinnen sich hin und her. Da ist also etwas sehr Persönliches entstanden, fast Privates, eine Hommage, und man fragt sich erst einmal: Geht denn das? Es geht so lange, als die Porträtierte nicht hinter der Porträtierenden über Gebühr zurücktritt. Die Gefahr ist im zweiten Teil des Buchs nicht gebannt. Anne Cuneo hat sich in der Form eines (auch in Sachen Chrono-

PhotoPress-archiv/keystone

Anne Cuneo: Anne-Marie Blanc.

Anne-Marie Blanc bedient bei Aufnahmen zum Film «Gilberte de Courgenay» die Szenenklappe, 10. Juni 1941.

logie) offenen Dialogs sehr weit vorgewagt und sich selber eingebracht. Anderseits offenbart gerade der Beistand, den die ältere Frau ihrer jüngeren Freundin in schwieriger Zeit geleistet hat, schöne Facetten von Anne-Marie Blancs Persönlichkeit in ihrem Mix von praktischer Nüchternheit und Empathie. Man hört Blanc in Cuneos Dialogen geradezu reden, in ihrer etwas lasziven verschliffenen Sprechweise, in der die welsche Muttersprache noch irgendwo charmant mitzuschwingen scheint.

Stationen eines Lebens

Den Grundton im Buch geben die Fakten und Erinnerungen aus erster Hand an. Und immer wieder wird der von der Autorin zügig und leicht erzählte Dialog auch aufgefächert, sind andere Stimmen (Theater- und Filmleute, Familie) und Quellen ergänzend, erläuternd und kommentierend eingewoben – leider ohne genaue Nachweise. Mit dem Effekt nicht von interpretatorischer Tiefenschärfe, aber da und dort reizvoller Beleuchtungswechsel und sanfter Retouchen. Heftig wird Anne-Marie Blanc dort, wo es um den Neid geht, sie habe ihre Karriere, die sie auf der Bühne 1938 und im Film 1939 gleich unter den Fittichen des grossen Leopold Lindtberg starten konnte, ihrem Mann, dem Produzenten und späteren Condor-Film-Gründer Heinrich Fueter, zu verdanken. Tatsächlich profitierte sie vom Glück, dass damals die gleichen Leute beiderorts tätig waren. So passieren die Gespräche die Stationen eines reichen, langen Lebens Revue: Anne-Marie Blancs Herkunft von der Genfersee-Riviera, die Jugend als Scheidungskind in Bern, die Begeisterung fürs Theater, der Sprung von der Elevin an Wälterlins Zürcher Schauspielhaus zur nationalen Berühmtheit als Gilberte im Zeichen der geistigen Landesverteidigung, die Begegnung mit Heinrich Fueter, die Karriere im Ausland (gar an der Seite Erich von Stroheims) bis zum ausgeschlagenen Ruf nach Hollywood, die Gründung einer Familie mit drei Söhnen neben dem Spielen. Hohe Disziplin war gefragt, die hatte sie. Glück und Können ebenfalls. Es folgten Jahre der Routine mit Filmtiteln wie «Hoheit lassen bitten» und dann auch der Gefährdung als Schauspielerin mit zunehmendem Alter. Krisen blieben nicht aus: «Dann wurde ich sechzig. Und mein Mann starb. Jetzt wurde es wirklich schwierig.» Vor allem auch diese Seiten liest man mit Gewinn. Sie zeigen auf, wie sich Anne-Marie Blanc dank dem Zuspruch von Sigfrit Steiner mutig bis ins hohe Alter neuen Herausforderungen stellte. Eine jüngere Generation von Filmern und Theaterleuten entdeckte sie in den siebziger Jahren neu: Wilfried Bolliger, Beat Kuert, Daniel Schmid, Bernhard Giger, Walo Deuber – und sie sich damit wohl auch selber. Vor etwas hat sich Anne-Marie Blanc nämlich gegraut: eine «Darstellungsbeamtin» zu werden, wie sie es zu nennen pflegte. Das ist ihr eindrücklich gelungen. ● 27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

Sachbuch

Israel Der frühere Chef der Jewish Agency und spätere Knesset-Vorsitzende Avraham Burg wurde zu einem radikalen Kritiker seines Heimatlandes

Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum

Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Campus, Frankfurt a. M. 2009. 280 Seiten, Fr. 39.50. Von Reinhard Meier Vor gut zehn Jahren war Avraham Burg in der Schweiz ein ziemlich bekannter und kontroverser Name. Er amtierte damals als Vorsitzender der Jewish Agency und engagierte sich in dieser Funktion an vorderster Front im wenig zimperlich geführten Streit um die Aufdeckung und Rückerstattung nachrichtenloser Gelder, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg auf Schweizer Banken lagerten. Burg zählte damals zum israelischen Establishment und kümmerte sich nicht um jene jüdischen Stimmen, die ihm rieten, die Auseinandersetzung weniger hemdärmlig zu führen. Bald darauf wurde Burg zum KnessetVorsitzenden (Sprecher) gewählt. Er verhehlte nicht seinen Ehrgeiz, zum israelischen Regierungschef aufzusteigen. Das misslang, und Burg verwandelte sich vom Establishment-Vertreter verblüffend zu einem Enfant terrible der israelischen Politik und einem radikalen Kritiker des Status quo in seinem Heimatland. Auch seine Rolle in der Auseinandersetzung um die nachrichtenlosen Konten in der Schweiz bedauert er inzwischen. Burg, 1955 in Israel geboren, wirft in seinem Buch der israelischen Führungsschicht vor, in einer Art «Ghetto-Menta-

lität» zu verharren, keine grossherzigen Versöhnungsvisionen mit den Arabern mehr zu entwickeln und die eigene nationalistische Politik mit der Behauptung zu rechtfertigen: «Die ganze Welt ist gegen uns.» Diese einseitig auf eine traumatische Vergangenheit und eine angeblich akute Bedrohung von Israels Existenz fixierte Haltung hält der Autor für grundfalsch. Noch nie sei Israel militärisch und wirtschaftlich so stark gewesen. Das mächtigste Land der Welt, die USA, ist Israels engster Verbündeter und ganz Europa solidarisiert sich mit Israels fundamentalen Lebensinteressen. Manchmal, schreibt Burg, beschleiche ihn der Verdacht, viele Israeli hätten im Grunde Angst vor einem Frieden. Ebenso übertrieben wie die Beschwörung von Israels äusserer Bedrohung hält Burg die in den letzten Jahren periodisch anschwellenden Alarmkampagnen über einen neu und in katastrophalem Ausmass sich ausbreitenden Antisemitismus. Er schildert, wie er seine Sicht zu diesem Thema einmal in einer KnessetDebatte zum Ausdruck brachte. Der frühere Sowjet-Dissident Natan Sharansky, inzwischen ein orthodoxer Nationalist, behauptete demgegenüber, die Juden in Israel und in der Welt seien heute ähnlich bedroht wie während der NaziHerrschaft in Europa. Burgs Buch, vor zwei Jahren auf Hebräisch erschienen, ist keine leichte Lektüre. Zwar vermittelt sie streckenweise erhellende Einblicke in israelische Bewusstseinsmuster. Doch in andern Passagen mutet Burgs Argumentation

Alfonso Pecorelli

Das Mädchen und die magische Blume

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baltel/ullstein bilD

Vielleicht haben viele Israeli Angst vor dem Frieden

Vom jüdischen Lobbyisten zum Kritiker: Avraham Burg.

allzu polemisch an. Anrührend sind die Episoden, in denen der Autor über sein Elternhaus erzählt. Der Vater, Josef Burg, war noch vor der Gründung Israels aus Nazi-Deutschland nach Palästina geflüchtet. Er war viele Jahre lang einflussreicher Minister in verschiedenen israelischen Regierungen. Der Sohn Avraham, in seiner Jugend ein aufbrausender Idealist, hielt ihn lange Zeit für einen politischen Opportunisten – bis er entdeckte, dass der Vater im Grunde ein behutsamer Brückenbauer war. Zu dieser Rolle hat der Sohn noch nicht gefunden, weder als Interessenvertreter des israelischen Establishments noch als dessen unerschrockener Kritiker. ●

«Pecorelli hat im Stil eines modernen Märchens geschrieben, es ist aber ein Buch für jung und alt. Dem Autor ist es gelungen, ein emotional packendes und aufwühlendes Werk zu schaffen.» Christian Zillner, Chefredaktor Falter Verlag, Wien

Novelle, 176 S. gebunden farbig illustriert, CHF 28.90

www.woaverlag.ch 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

Buchvernissage: Freitag, 9. Oktober 2009, Orell Füssli Buchhandlung im Westside, Bern Brünnen, 19.00 Uhr

USA Der deutsche Journalist Christoph von Marschall hat bereits ein Buch über Barack Obama publiziert. Nun zeichnet er den Aufstieg und die Persönlichkeit von Ehefrau Michelle nach – in einer Mischung aus Biografie und Homestory

Michelle Obamas Wurzeln

Christoph von Marschall: Michelle Obama.

Ein amerikanischer Traum. Orell Füssli, Zürich 2009. 192 Seiten, Fr. 34.90.

Nach seinem Buch über Barack Obama legt der deutsche Journalist und Historiker Christoph von Marschall nun ein Porträt von Ehefrau Michelle vor. Topaktuell schildert er einleitend, wie sie als First Lady Schulen und Kindergärten besucht, welche Kleider sie trägt und was sie sagt. Auch von Hund Bo ist die Rede, den sie ihren Töchtern kaufte, und von einem Gemüsegarten, den sie mit Hilfe von Schulkindern vor dem Weissen Haus angelegt hat, um auf die Notwendigkeit gesunder Ernährung aufmerksam zu machen. Der Autor liefert eine Art Homestory, wie sie wohl in vielen Klatschheftchen zu lesen ist. Dabei ärgert er sich spürbar darüber, dass die Presseverantwortlichen des Weissen Hauses ihn nicht näher an Michelle herankommen liessen. Er ist der Meinung, die First Lady wäre eigentlich verpflichtet, ihm auf alle seine Fragen Rede und Antwort zu stehen, zumal sie mehrfach gesagt habe, dass sie für Transparenz sei. Er rächt sich, indem er sie auf Widersprüchen zu ertappen versucht: Sie stelle sich als eine Art Durchschnittsfrau dar, obwohl sie doch als hoch qualifizierte Berufsfrau schon seit Jahren überdurchschnittlich viel Geld verdient habe. Sie wolle eine eigenständige Frau sein, und doch habe sie sich für den Wahlkampf ihres Mannes instrumentalisieren lassen und spiele jetzt brav die glamouröse Präsidentengattin. Könnte man nicht auch sagen, sie stehe aus Überzeugung loyal zu ihrem Mann?

Familiengeschichte

Das Buch wird dort interessant, wo der Autor auf die Vorfahren Michelle Obamas und ihre Familiengeschichte zu sprechen kommt. Von mütterlicher Seite weiss man fast nichts, die väterliche Linie kann bis in die Zeit der Sklaverei zurückverfolgt werden. Michelles Grossvater zog von South Carolina, wo noch absolute Rassentrennung herrschte, nach Chicago und fand eine Anstellung bei der Post. Ihr Vater, Fraser Robinson, wurde 1935 in Chicago geboren. Er arbeitete bei den städtischen Wasserwerken und heiratete 1960 die Sekretärin Marian. Im Jahr 1962 kam Sohn Craig zur Welt, 1964 Tochter Michelle. Die Familie lebte in beengten Verhältnissen, war aber nicht eigentlich arm. Dank seiner Tüchtigkeit stieg der Vater in der Arbeitshierarchie auf, konnte das anfänglich sehr schmale Einkommen verbessern,

Pete souZa/corbis

Von Tobias Kaestli

obwohl er früh schon an multipler Sklerose litt. Er investierte in seine beiden Kinder, das heisst, er wollte ihnen die bestmögliche Schulbildung angedeihen lassen. Im Sommer 1964, ein halbes Jahr nach Michelles Geburt, hatte Präsident Lyndon B. Johnson den Civil Rights Act unterzeichnet, der überall in den USA die Rassentrennung beendete. Um den tatsächlichen Prozess der Gleichberechtigung zu beschleunigen, beschlossen viele Institutionen des Bildungswesens besondere Förderprogramme für Schwarze. Craig und Michelle profitierten davon. Beide waren intelligent und beide schafften es an die Eliteuniversität Princeton. 1981 nahm Michelle dort ihr Studium auf, 1985 verfasste sie ihre Bachelor-Arbeit, die sie mit der Widmung versah : «Für Mom, Dad und Craig und alle meine speziellen Freunde: Danke, dass ihr mich liebt und es mir stets leicht macht, mich selber zu mögen.» Sie wusste, dass viele Schwarze unter einem Minderwertigkeitsgefühl litten, entsprechend hatte sie das Thema für ihre Arbeit gewählt: «Princeton-Educated Blacks and the Black Community». Sie wollte herausfinden, wie es mit dem Selbstbewusstsein und dem Verantwortungsgefühl der Schwarzen stand, die Princeton absolviert hatten. 400 ausführliche Fragebögen hatte sie verschickt, und das Ergebnis ihrer Untersuchung war, dass das Identitätsgefühl der Schwarzen während ihres Studiums intensiver wurde, sich aber in der Zeit

Präsidentengattin Michelle Obama und ihr Mann in einem Warenlift an einem Inaugurationsball in Washington, 20. Januar 2009.

der gehobenen beruflichen Tätigkeit in einer von Weissen dominierten Gesellschaft wieder abschwächte. Von Marschall stellt die Arbeit auf das «Niveau einer Semesterarbeit im deutschen Grundstudium». Man könnte wohl auch zu einer ganz andern Wertung kommen: War es nicht beachtlich, dass eine 21-jährige Studentin eine Bachelor-Arbeit auf empirischer Grundlage zu einem solchen Thema schrieb?

Interessant und ärgerlich

Auf Princeton folgte Harvard, wo Michelle ihre juristischen Studien mit einem Doktorat abschloss. Sie arbeitete danach in einer Anwaltskanzlei, in der sie eines Tages den Harvard-Studenten Barack Obama als Praktikanten zugeteilt bekam. Die beiden heirateten 1992. Die Töchter Malia und Sasha kamen 1998 und 2001 zur Welt. Die Biografie schildert recht differenziert, wie die junge Familie funktionierte, wie Michelle Mutterschaft und Beruf unter einen Hut zu bringen versuchte. Sie verliess die Anwaltskanzlei und arbeitete in Berufsfeldern, in denen sie sich für das einsetzen konnte, was ihr ein Anliegen war: Förderung der sozialen Verantwortung von Schwarzen. Sie übernahm Managementaufgaben in Non-Profit-Organisationen und an der Universität. Von Marschall handelt das alles unter dem Aspekt einer cleveren Karriereplanung ab. So ist sein Buch interessant und ärgerlich zugleich. Sein kalt-analysierender Blick kann der Persönlichkeit Michelle Obamas letztlich nicht ganz gerecht werden. ● 27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Sachbuch

Politik Immer mehr verkommt die Behördeninformation zur frisierten Kommunikation von Werbeberatern, schreibt die Psychotherapeutin Judith Barben

Das Bundeshaus als grösste PR-Agentur der Schweiz gegangen ist: Von der Totalrevision der Bundesverfassung (1999), bei der Bundesrat Koller beharrlich und verharmlosend von einer «Nachführung» der Verfassung sprach, während wichtige Neuerungen wie etwa die Einschränkung der Kantonssouveränität im Bundesbüchlein schlicht verschwiegen wurden. Über Adolf Ogis ungebremsten Einsatz für die Nato-Partnerschaft für den Frieden mithilfe des zum Spin doctor mutierten ehemaligen «Sonntagsblick»Nachrichtenchefs Thomas Suremann. Bis zu dem von Couchepin verantworteten Engagement einer PR-Agentur zur Bekämpfung der Inititative «Ja zur Komplementärmedizin», für die der Bund 300 000 Franken bereitgestellt hatte.

Judith Barben: Spin doctors im Bundeshaus. Gefährdungen der direkten

Demokratie durch Manipulation und Propaganda. Eikos, Baden 2009. 214 Seiten, Fr. 28.80. Von Urs Rauber

«Spin doctors» sind nach Wikipedia politische Berater, die der Darstellung von Ereignissen in der Öffentlichkeit den richtigen Dreh (engl. «spin») verpassen. Solche PR-Experten sind für Judith Barben «Wahrheitsverdreher, die in einer Demokratie nichts zu suchen haben». Mit Akribie und Verve deckt die 56-jährige Psychologin, eine frühere VPM-Anhängerin, die grassierende Unsitte auf, Behördeninformation durch ein Heer von Informationsbeauftragten, Pressesprecherinnen, Kommunikationsberatern und PR-Assistentinnen frisieren zu lassen. 2007 waren gemäss Bundesratssprecher Oswald Sigg fast 700 «Fachmitarbeiter für Kommunikation» beim Bund angestellt – doppelt so viele als noch im Jahr 2000. Wer als Journalist recherchiert, kennt die in den letzten Jahren erfolgte kommunikative Aufrüstung der Bundesverwaltung, die den Kontakt zwischen Medien bzw. Öffentlichkeit und Behörden massiv erschwert hat. Im Gegensatz zur Selbstdarstellung der PR-Branche hat die Vorschaltung von Kommunikatoren den Zugang zu Bundesrat und Ämtern nämlich nicht erleichtert, sondern erschwert und kompliziert.

Wörtchentausch mit Folgen

Politiker und Einflüsterer: Bundespräsident Samuel Schmid und Bundesratssprecher Achille Casanova (rechts) am 5. Juni 2005 in Bern.

Judith Barben macht unmissverständlich und zu Recht klar, was im Berner Alltag immer wieder vergessen zu gehen droht: dass der Bundesrat sich gegenüber Volksinitiativen und in Fragen von verfassungsmässig verankerten Grundwerten – etwa der Neutralität – strikt unparteiisch zu verhalten hat. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist ein von Barben aufgezeigtes Detail bei der Totalrevision der Bundesverfassung. Stand in der alten Charta der Satz: «Die

oberste vollziehende und leitende Behörde der Eidgenossenschaft ist ein Bundesrat» (Art. 95 BV alt), so hiess es in der neuen Verfassung: «Der Bundesrat ist die oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes» (Art. 174 BV neu). Was war passiert? Indem die Wörtchen «vollziehend» und «leitend» vertauscht wurden, erhielt die Regierung, die zuvor eine primär vollziehende (also dem Volke dienende) und erst in zweiter Linie eine leitende Behörde war, stillschweigend einen Machtzuwachs. Wenn die streitbare Autorin das Bundeshaus als «grösste PR-Agentur der Schweiz» bezeichnet, befindet sie sich in guter Gesellschaft. Auch die NZZ sprach schon 2004 von der «ungebremsten PR-Lawine des Bundes». Und kürzlich hat eine Bachelor-Arbeit an der Universität Lugano von Mélanie Chopard diesen Befund erhärtet. Barbens Aufklärungsfibel über Propaganda, Desinformation und Manipulation ist zugleich ein Plädoyer für eine ethisch fundierte Politik, in der Transparenz und direkte Demokratie grossgeschrieben werden. Dass die Autorin gelegentlich etwas ausufert und inhaltlich nicht immer ganz konsistent argumentiert, tut der staatspolitischen Bedeutung ihres Büchleins keinen Abbruch. ●

Gravierender allerdings ist die von Judith Barben aufgezeigte Tendenz von Behörden, ihre Informationen statt fair und objektiv immer häufiger gefiltert, gefärbt und politisch «gedreht» abzugeben. Selbst der ehemalige Vizekanzler Achille Casanova räumte in einer privaten Mail ein, dass «einige Kommunikationsbeauftragte der Departemente, ‹Spin doctoring›-Techniken anwenden, obwohl sie offiziell nicht zulässig sind». Dabei vergass er beizufügen – so die Autorin –, dass er selbst als Bundesratssprecher Abstimmungen unzulässig beeinflusst hat. Casanova war es nämlich gewesen, der der im Juni 2008 zur Abstimmung gelangenden Initiative «Volkssouveränität statt Behördenpropaganda» das politische Totschlagwort «Maulkorbinitiative» angeklebt hatte. In ihrem gut dokumentierten und spannenden Report zeigt die Verfasserin im Detail, wie solches «Massieren» von Nachrichten und Informationen in über einem Dutzend Fällen vor sich 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

monika flueckiGer/keystone

Unzulässige Beeinflussung

Weltwirtschaft Auch mit seinem neusten Buch umkreist Jean Ziegler sein altes Thema Armut in der Welt. Provozierend, unbeirrbar – und unbelehrbar

Begnadeter Erzähler aus Genf

Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen.

Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. Bertelsmann, München 2009. 320 Seiten, Fr. 34.90.

Afghanischer Zorn auf den Westen: Muslime verbrennen dänische Flagge als Reaktion auf MohammedKarikaturen, März 2008.

Sara Galle / Thomas Meier

Von Menschen und Akten

Die Aktion «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute

ein Düsteres Kapitel Der sChweizer gesChiChte KinDswegnahme DurCh Die pro Juventute Sara Galle, Thomas Meier Von Menschen und Akten Die Aktion «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute 2009. 248 S. 130 Abb. s/w. Geb. Mit DVD-ROM (Computer-DVD) CHF 38

Ziegler zwei Erklärungen angibt: die «unvermittelte Wiederkehr des verwundeten Gedächtnisses des Südens» einerseits und die «kannibalische Weltordnung des globalisierten Finanzkapitals» andererseits. Ihnen geht er in den ersten Kapiteln auf den Grund, die zwei letzten schildern exemplarisch die Situation von Nigeria und Bolivien. Ziegler rekapituliert die Geschichte der Sklaverei und der Kolonialisierung; er analysiert jüngere Ereignisse wie die Konferenz gegen Rassismus in Durban, zerlegt maliziös eine Rede des französischen Präsidenten Sarkozy in Schwarzafrika. Oder er prangert die Liberalisierung der Landwirtschaft in Indien an, schildert die Suizide indischer Bauern: «Der Bauer verlässt seine Hütte nicht mehr. Spricht nicht mehr. Isst nicht mehr. (…) Eines Morgens verlässt er bei Sonnenaufgang seine Hütte und trinkt einen Kanister voll Pestizid aus. Als wollte er an dem Stoff sterben, der ihn

ruiniert hat.» Ziegler versieht nicht jede seiner Informationen mit einer Quellenangabe. Sie fehlt auch bei der erwähnten Schilderung. Die meisten Angaben sind aber nachvollziehbar, stützen sich auf Berichte internationaler Organisationen, Unternehmen oder Zeitungen, auf Bücher oder auf Gespräche. Ziegler verknüpft sie zu einer Erzählung, in der Reportagen, Porträts, Fakten und Kommentare mühelos ineinanderfliessen. Man kann kritisieren,dassauchdiesesBuchwissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt. Man kann auch anderer Meinung als Ziegler sein – und es trotzdem lesen. Es ist spannend und in vieler Hinsicht bedenkenswert. Das Buch entlarve das wachsende Unverständnis zwischen Nord und Süd, hiess es in der Würdigung, als Zieglers Buch letzten Dezember in Paris mit dem internationalen Literaturpreis für Menschenrechte ausgezeichnet wurde. ●

Der unbequeme KritiKer «ein biografisChes meisterwerK» «genussreiChe unterhaltung»

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Chronos Bücher zur Zeit

(Der Kleine bunD)

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Erwin Marti

Er spitzt zu, idealisiert, klagt an, leidenschaftlich – und provoziert damit regelmässig Abwehrreflexe. Vor allem in der Schweiz. Doch Kritik und Spott vermögen Jean Ziegler, nun 75-jährig, nicht zu stoppen. Der emeritierte Soziologieprofessor und frühere Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung macht weiter, unbeirrbar; und unbelehrbar, würden seine Kritiker sagen. Zieglers wirksamste Waffe in seinem Kampf gegen den «Raubtier-Kapitalismus», gegen Unterdrückung und Armut ist das Wort. Soeben ist sein neues Buch auf Deutsch erschienen. Auf Französisch wurde es seit Erscheinen vor einem Jahr bereits rund 50 000 Mal verkauft. Das Buch beginnt da, wo der gebürtige Thuner lebt: in Genf. Es ist der 20. März 2007. Ziegler geht mit der Botschafterin von Sri Lanka durch die Nacht. Sie kommen von einem Bankett, man hat über den Völkermord im Sudan gesprochen. Westliche Vertreter hätten, so Ziegler, vorgeschlagen, das sudanesische Regime in einer Resolution scharf zu verurteilen. Die Botschafterin ist zornig. Sie erinnert Ziegler an die einstigen Verbrechen des Westens. «In der eisigen Nacht», schreibt Ziegler, «erkannte ich überrascht, dass diese Intellektuelle buddhistischer Herkunft, die zweifellos gebildet und eingehend über die Greueltaten von Darfur informiert war, jede Kritik westlicher Vertreter (…) als unerträglichen Angriff auf die Völker der südlichen Hemisphäre empfand.» Die Botschafterin steht exemplarisch für den «Hass auf den Westen», für den

musaDeQ saDeQ/aP

Von Heidi Gmür

Carl Albert Loosli 1877–1959 Im eignen Land verbannt 1914–1959

Erster Teil

Erwin Marti Carl Albert Loosli 1877–1959 Im eignen Land verbannt (1914–1959). Band 3, Erster Teil 2009. 528 S. Geb. CHF 68

Chronos Verlag Eisengasse 9 8008 Zürich www.chronos-verlag.ch [email protected]

27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Sachbuch

DDR Ein junger Journalist erforscht die Geschichte seiner jüdisch-kommunistischen Familie

Von Lenin bis Leo Maxim Leo: Haltet euer Herz bereit.

Eine ostdeutsche Familiengeschichte. Blessing, München 2009. 272 S., Fr. 34.90. Von Christoph Plate Maxim Leo ist Reporter bei der «Berliner Zeitung», gerade mal 39-jährig. Erzählt er seinen zwei Kindern von früher, winken die ab. Das seien die immer gleichen Geschichten. Dann kommt sich Leo vor wie ein alter Mann, der bereits ein Leben hinter sich hat. Mit 39! Dieses frühere Leben, das war die DDR. Leo war 19 Jahre alt, als in Berlin die Mauer fiel. Ausser ihm gäbe es natürlich viele ehemalige DDR-Bürger,

die zum 20. Jahrestag des Mauerfalls Geschichten zu erzählen hätten. Aber was Leos Buch mit dem nicht eben eingängigen Titel «Haltet euer Herz bereit» besonders macht, sind der Witz und seine Lakonik, die Wehleidigkeit nicht gestatten. Er erzählt ohne zu rechtfertigen die Geschichte seiner grossbürgerlich jüdischen Familie, die kommunistisch wurde und in der DDR zur Nomenklatur zählte. Dank Grossvater Gerhard Leo, Jude und einst Kämpfer in der Résistance, später Mitarbeiter im Zentralkomitee der SED, Paris-Korrespondent des Zentralorgans «Neues Deutschland», hat der junge Maxim sich nie die Zähne mit OstZahnpasta putzen müssen. Die Gross-

bilD archiv

Westblick Was die Mauer den Berlinern angetan hat

Das Ausflugsziel für den Ausgang: Amerikanische Marinesoldaten halten den Blick in den Osten Berlins fürs Fotoalbum fest. Es ist der 27. August 1963, die Mauer ist gerade zwei Jahre alt. Nach dem Stacheldraht, der seit dem 13. August 1961 den Osten Berlins vom Westteil abriegelte, sind erste krude Betonblöcke hingestellt worden. Mit über 100 historischen Fotografien wollen die Herausgeber dieses Bandes zwanzig Jahre nach dem Mauerfall daran erinnern, was diese Mauer 28 Jahre und drei Monate lang den Menschen Berlins angetan hat. Da zeigt man sich anfangs Neugeborene über die Mauer, Bräute winken 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

weinenden Eltern zu. Mauerflüchtlinge, von weitem nur undeutlich sichtbar, werden abgeführt oder liegen erschossen am Boden. Nach den amerikanischen Soldaten schauen die Touristen hinüber, die Betonplatten sind bunt geworden. Spätestens hier wird klar: Alle diese Bilder, ob von Presseagenturen oder Privaten, zeigen die Mauer von ihrer westlichen Seite. Im Todesstreifen auf der Ostseite war nicht gut knipsen. Kathrin Meier-Rust Kai Diekmann (Hrsg.): Die Mauer. Fotografien 1961−1992. Vorwort Helmut Kohl. Fackelträger, Köln 2009. 247 Seiten, Fr. 49.50.

eltern brachten aus Paris ausserdem begehrte Klamotten aus dem Westen in einen Osten, der sich lange gegen Jeans und lange Haare als Ausdruck bürgerlicher Verlotterung wehrte. 20 Jahre nach dem Mauerfall sucht Maxim Leo die Spuren seiner Familie. Eine Familie, in der historische Katastrophen und Neuanfänge, ebenso wie der Kalte Krieg und der DDR-Widerstand zu finden sind. Er befragt den FamilienPatriarchen Gerhard, der früher jeden Zweifel an der gerechten, anti-faschistischen Sache der DDR mit Loyalität erstickte. Er geht ins Stasi-Archiv und entdeckt, dass der Opa in den fünfziger Jahren im Auftrag des Geheimdienstes der KPD, eines Vorläufers des Staatssicherheitsdienstes, ehemalige hohe SSLeute erpresste. Er spricht mit seiner Mutter, einer Historikerin, der die DDR alles war und für die die Partei immer recht hatte. Und Maxim Leo befragt seinen Vater Wolf, einen Grafiker, Maler und Bühnenbildner, Sohn eines obrigkeitshörigen Nazi-Vaters, der später die Kommunisten verehrte. Maxim Leos Familie ist vielleicht etwas interessanter als andere, immerhin freundete sich der Urgrossvater in Genf mit Lenin an, der Grossvater liess sich im Pariser Exil von Anna Seghers und Egon Erwin Kisch Geschichten erzählen. Und Maxim selbst durfte, undenkbar für die meisten DDR-Jugendlichen, als 17-Jähriger mit seinem Grossvater trotz Mauer und Stacheldraht Frankreich bereisen. Der junge Autor erhielt 2006 den renommierten Theodor-Wolf-Preis des Bundes deutscher Zeitungsverleger. Auch wenn er die Familientradition des Journalismus fortschreibt, sieht er sich nicht in der Tradition des parteilichen DDR-Journalismus und fühlt sich auch nicht zu Dank gegenüber dem untergegangenen Staat bemüssigt. Ganz anders als sein Grossvater, dem trotz Mauer und Antisemitismus der ostdeutsche Staat Heimat blieb. Maxim Leo war jung und privilegiert genug, um mit der DDR zu spielen: Im Westauto seines Opas, einem Citroen Pallas, einer «Art Ferrari der DDR», spielte er stundenlang, er sei der Chauffeur von Erich Honecker. In den Westen flüchten, war als Kind sein Lieblingsspiel. Als Jugendlicher gab er mit einem westdeutschen Stadtplan von Ost-Berlin in der Hauptstadt der DDR den Westtouristen. Die Mädchen fanden das toll und die Ostberliner Kellner gerieten sich in ihrer Gier nach Westgeld darüber in die Haare, wer den jungen Mann bedienen durfte. Leos Erinnerungsarbeit versöhnt mit den Brüchen in der Familiengeschichte, nicht mit den weissen Flecken, der Geheimnistuerei, dem Partei-Soldatentum. «Ich glaube, ich habe mich der DDR nie so nahe gefühlt wie nach ihrem Untergang», schreibt Leo und weist ihr so ihren Platz in der Geschichte zu. ●

Nationalsozialismus Für seine Reformgedanken wurde Helmuth James von Moltke 1945 hingerichtet

Leben im Angesicht des Todes

Jurist, Gutsherr und Widerständler: Helmuth James von Moltke während seines Prozesses am 11. Januar 1945 in Berlin.

Helmuth James von Moltke: Im Land der Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der

Haft 1944/45. Hrsg. Günter Brakelmann. C. H. Beck, München 2009. 350 Seiten, Fr. 42.90.

Helmuth James von Moltke ist eine der herausragendsten Persönlichkeiten des deutschen Widerstands gegen Hitler. Doch im Gegensatz zu den Leuten des 20. Juli war er strikt gegen die Anwendung von Gewalt. Die klandestine Tätigkeit des von ihm gegründeten «Kreisauer Kreises» bestand darin, dass man sich Gedanken machte über eine Neuorientierung Deutschlands nach dem verlorenen Krieg. Für dieses Nachdenken ist Moltke am 19. Januar 1944 verhaftet und am 23. Januar 1945 hingerichtet worden. «Wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben», heisst es in einem der letzten Briefe aus dem Gefängnis. Moltkes Leben war schon bis jetzt gut dokumentiert. Vor zwei Jahren ist eine Biografie über ihn herausgekommen. Die vor 20 Jahren erschienenen Briefe an seine Frau Freya sind legendär und wurden postum mit dem GeschwisterScholl-Preis ausgezeichnet. Nun aber ist es seinem Biografen Günter Brakelmann gelungen, Freya von Moltke, die heute hoch betagt in den Vereinigten Staaten lebt, zur Publikation bisher unveröffentlichter Dokumente aus ihrem Besitz zu bewegen. Es sind dies das Tagebuch und die Briefe aus der Haft: Zeugnisse eines geistigen Widerstands, die denjenigen eines Dietrich Bonhoeffer durchaus ebenbürtig sind. Gewiss, Moltke war Jurist und Gutsherr, kein Theologe. Aber er war ein tiefgläubiger Mensch, der seine Kraft aus

interfoto

Von Klara Obermüller

dem Vertrauen auf Gott bezog. Schon seine politischen Aktivitäten waren von seiner religiösen Überzeugung getragen gewesen. In der Haft wurde ihm der Glaube, neben einer eisernen Disziplin, überlebensnotwendig. «Hier gilt nur, was man in sich hat», schreibt er unmittelbar nach seiner Verhaftung aus der Prinz-Albrecht-Strasse. Wie wahr dieser Satz ist, sollte er erfahren, als er ins KZ Ravensbrück verlegt wurde und sich dort an nichts anderes mehr halten konnte als an sein Tagebuch, seine Briefe und seine Lektüre. Diese umfasste neben Werken der Philosophie, Literatur, Geschichte und Landwirtschaft vor allem die Bibel, immer wieder die Bibel. In sie tauchte er ein, aus ihr bezog er Zuversicht. Hinweise auf Bibelstellen lesen sich wie Kassiber, die er seiner über alles gelieb-

ten Frau Freya in den vom Zensor mitgelesenen Briefen zukommen liess. Natürlich gab es auch im Gefängnisalltag eines Helmuth James von Moltke Anfechtungen. Vor allem im Tagebuch ist immer wieder von innerer Unruhe und körperlichem Unwohlsein die Rede. Doch im Grossen und Ganzen herrscht auf diesen Seiten eine Stimmung vor, die man nicht anders denn als Gelassenheit und Seelenfrieden bezeichnen kann. Und dies auch dann noch, als er dem Tod unmittelbar ins Auge schaute. In seinen letzten Briefen aus Tegel hat Moltke selbst diese Erfahrung eines letzten Aufgehobenseins in Gott «Gnade» genannt. Als Nachgeborene und Verschonte kann man sich vor diesem Zeugnis politischer Redlichkeit und menschlicher Integrität nur staunend und in Ehrfurcht verneigen. ●

Atlas Ein grossformatiges Kartenwerk lädt zum Reisen in die Vorgeschichte Europas ein

Orientierung in Raum und Zeit Siegmar von Schnurbein (Hrsg.): Atlas der Vorgeschichte. Theiss, Stuttgart 2009.

240 Seiten, Fr. 83.90.

Von Geneviève Lüscher Endlich hat es jemand gewagt, einen umfassenden, kommentierten Atlas der europäischen Vorgeschichte herauszugeben – seit Jahren ein Desiderat. Das unter Federführung des einstigen Direktors der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt, Siegmar von Schnurbein, erschienene Kartenwerk fasst die zahllosen in archäologischen Publikationen verstreuten Verbreitungskarten zusammen, gestaltet sie modern und liefert den neuesten Stand der Forschung. Der Atlas richtet sich nicht an Wissenschafter, obwohl diese ihn gerne benutzen werden, sondern an ein inter-

essiertes Laienpublikum, das sich in Raum und Zeit orientieren will. Auch Schulen werden im Vorwort explizit als Zielpublikum angesprochen. Von den ersten Menschen in Europa (vor 1,7 Mio. Jahren) bis zu Roms Griff nach dem Norden, also bis etwa zur Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr., lässt sich die Besiedlung und Entwicklung Europas Schicht für Schicht, Zeitepoche für Zeitepoche mitverfolgen. Wo lebten Neandertaler, und bis wohin reichte das Eisschild in der Altsteinzeit? Wo trafen die späten Wildbeuter und die frühen Bauern aufeinander? Wie schnell breitete sich die Agrarwirtschaft vom fruchtbaren Halbmond über die Türkei nach Europa aus? Wo gab es in Europa Zinnlagerstätten; Zinn war für die Herstellung von Bronze unabdingbar. In der Eisenzeit schliesslich können erstmals Völker namentlich benannt

und mehr oder weniger sicher lokalisiert werden: die Thraker, die Allobroger, die Cherusker. Für alle Epochen werden die wichtigen Funde, Fundorte oder historischen Ereignisse mit Texten vorgestellt: das Heiligtum von Göbekli Tepe, Stonehenge, die Scheibe von Nebra und vieles mehr. Es versteht sich von selbst, dass die Forschungen nicht in allen Ländern Europas auf dem gleichen Stand sind. Das, und auch die Tatsache, dass das Autorenteam aus Deutschland stammt, widerspiegelt sich in einer Vielzahl weisser Flecken, die nicht bedeuten, dass hier nichts stattgefunden hätte, sondern dass hier keine Informationen vorlagen – ein methodisch unlösbares Problem, das die Autoren aber nicht an ihrer Arbeit gehindert hat. Sie haben ein Handbuch geschaffen, das in jede Geschichtsbibliothek gehört. ● 27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Sachbuch

Wirtschaft Vergesellschaftung des Bodens und Abschaffung des Geldzinses sei der Ausweg

aus der Krise, verspricht ein Zürcher Wirtschaftsberater

Der Traum vom fairenWirtschaften Rainer Grunert: Vision einer fairen Wirtschaftsordnung. Ein Weg aus der Krise.

Windpferd, Oberstdorf 2009. 152 Seiten, Fr. 22.90.

In einem ist dem Autor des Buches mit dem vielversprechenden Titel «Vision einer fairen Wirtschaftsordnung», dem Zürcher Unternehmensberater Rainer Grunert, zuzustimmen: Kaum jemand ist heute noch in der Lage, die Komplexität des in den letzten Jahrzehnten aufgebauten, globalisierten Wirtschaftssystem zu erfassen. Aus diesem Grunde werden Wirtschaftskrisen wie die momentane auch in Zukunft nicht zu verhindern sein. Im Gegenteil: Je komplexer die Welt da draussen ist, desto krisenanfälliger wird sie. Ausser, so glaubt Autor Rainer Grunert, wir verabschieden uns vom heutigen System und bauen ein neues. Denn im System ortet Grunert den Ursprung aller Schwierigkeiten – und nicht beim Menschen. Dieser ist für ihn – und darin gleicht sein Menschenbild jenem des bengalischen Friedensnobelpreisträgers Muhammed Yunus – nicht nur egoistisch veranlagt, sondern in gleichen Massen fair und anständig. Grunert schlägt zwei Dinge vor. Erstens: Aller Grund und Boden dieser Welt sei auf alle Menschen zu verteilen. Sowohl Grundbesitzrecht und Erbrecht hält er für rechtsphilosophisch fragwürdige Konstruktionen. Die ungerechte Verteilung von Boden, dem einzigen wahren realen Wert auf der Welt, sei zwar vor Jahrhunderten schon gesche-

sven torfinn/Panos

Von Charlotte Jacquemart

Reisernte in Malawi. Schaffen es die Frauen, ihr Grundeinkommen zu sichern?

hen. Das ändere aber nichts daran, dass «nach dem Prinzip der Gerechtigkeit die Welt niemandem anderen gehören kann als ihren Bewohnern. Keinem mehr und keinem weniger». Die ungerechte Bodenverteilung will Grunert ändern: Eine Weltbehörde für Geld und Grundbesitz kauft allen Grundbesitzern ihr Bodeneigentum ab. Wer seinen Grund weiterhin nutzen will, zahlt der Weltbehörde in Zukunft einen Pachtzins. In der Ökonomie ist das von Grunert vorgeschlagene System als «Sale-and-leaseback» bereits bekannt. Allerdings ist es in jüngster Zeit in Verruf geraten. Grunert ist sich dessen bewusst; seine Weltbehörde soll dubiose private Leasingfirmen verhindern. Nach Grunerts schöner Utopie werden die Mieteinnahmen der Weltbehörde an alle Menschen gleichmässig verteilt. Ein Inder erhält gleich viel wie ein

Afrikaner oder Franzose. Damit wäre allen Bewohnern ein Grundeinkommen sicher. An dieser Stelle setzt Grunert mit seiner Radikalkur eine Idee um, die viele Ökonomen in der Vergangenheit schon angedacht haben, nämlich dass erst ein bedingungsloses Grundeinkommen den Menschen erlaubt, frei über ihr Leben zu bestimmen. Grunert schlussfolgert, dass ein Grundeinkommen die Nachfrage nach den Gütern der Welt enorm stützen und damit auch Exportwirtschaften wie jener der Schweiz helfen würde, wieder auf die Beine zu kommen. Ein Grundeinkommen für alle würde weltweit die Kaufkraft und damit den Konsum stärken. Zweiter Baustein des Weges aus der Krise: Geld soll keinen Zins mehr erwirtschaften, sondern wer Geld hortet, soll für die Aufbewahrung auf Konti und in Tresors eine Gebühr bezahlen. Damit wird zum einen das Kapital im Umlauf gehalten, wo es der Realwirtschaft dient. Zum anderen vermehre es sich nicht mehr weiter. Die Geldvermehrung führe nämlich dazu, dass der Geldmenge nicht mehr genügend reale Güter entgegenstehen, was wiederum bewirkt, dass Papiergeld immer wertloser wird. Grunert glaubt, dass die Geldmenge so stark sinken müsse, bis sie wieder in vertretbarem Verhältnis steht zur Menge aller produzierten Waren und Dienstleistungen. Egal ob man mit Grunerts querdenkenden Ideen etwas anfangen kann oder nicht: Mit Sicherheit legt er den Finger auf wunde Punkte des heutigen Wirtschaftssystems. Ebenso sicher ist, dass seine «Visionen» kaum je umgesetzt werden können. Einen Denkanstoss bilden sie trotzdem. ●

Kunst Ein streitbares Plädoyer für die Reproduktion von Kunstwerken

Besser als das Original Wolfgang Ullrich: Raffinierte Kunst.

Übung vor Reproduktionen. Wagenbach, Berlin 2009. 156 Seiten, Fr. 40.10. Von Jan von Brevern Die schönsten Beschreibungen des Petersdoms stammen von Schriftstellern, die nicht in Rom gewesen sind. Für Jean Paul, aber auch für Kant und Schiller war seine gewaltige Kuppel der Inbegriff des Erhabenen. Doch nicht obwohl, sondern gerade weil alle drei den Petersdom nur von Kupferstichen her kannten, mag ihre Prosa besonders beflügelt worden sein. So zumindest argumentiert Wolfgang Ullrich in seinem neuen Buch. Den heute in der kunsthistorischen Lehre üblichen Übungen vor Originalen setzt Ullrich seine «Übung vor Reproduktionen» entgegen. Seine These: Bis ins 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

19. Jahrhundert waren die Originale auf Reproduktionen angewiesen, ja wurden teilweise durch diese übertroffen. Die Kupferstecher waren hochgeschätzte Persönlichkeiten, die den Gemälden nicht selten kleine Veränderungen und Korrekturen angedeihen liessen. Der Wert solcher Reproduktionen lag dann auch nicht in der möglichst genauen Kopie des Originals, sondern gerade in den feinen Differenzen, die etwa die Linienführung, die Komposition besser zur Geltung brachten. Reproduktionen regten die Einbildungskraft an: Gerade weil sie viele Eigenschaften des Originals, Farbe oder Faktur, nicht wiedergeben konnten, war der Betrachter gezwungen, das, was er sah, zu ergänzen. Diese Entwicklung endete laut Ullrich mit dem Siegeszug fotografischer Reproduktionen. Weil sie nicht durch Differenz, sondern durch grösstmög-

liche Treue zum Original bestimmt seien, sei der Betrachter quasi entmündigt worden. An die Stelle der Imagination trete im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Kult um das Original. Während Walter Benjamin noch vom «Verlust der Aura» durch die modernen Reproduktionsmittel sprach, dreht Ullrich den Spiess um: Gerade die Fotografie habe zu der Überzeugung geführt, dass man Kunstwerke nur im Original adäquat erfahren könne. Eine Überzeugung übrigens, mit der man wohl ebenso den Kunsttourismus mit seinen zunehmend fantastischen Besucherzahlen erklären kann, wie auch die gelegentliche Enttäuschung des modernen Betrachters vor dem Kunstwerk – sah es doch auf der Abbildung viel makelloser aus. Ullrichs Buch ist ein streitbares Plädoyer für die Reproduktion, das die Lektüre lohnt. ●

Literatur Die Familienkorrespondenz der romantischen Briefautorin Rahel Varnhagen

«Bin auch recht gesund ausser meiner Krankheit»

Rahel Levin Varnhagen: Familienbriefe.

interfoto

Hrsg. Renata Buzzo Margari Barovero. C. H. Beck, München 2009. 1547 Seiten, Fr. 235.−. Von Manfred Koch «Leider leben wir in einer Zeit, wo die Welt grade anfängt, baufällig zu werden», schreibt die 23-jährige Rahel Levin, unterwegs auf einer Schlesienreise, im Sommer 1794 an ihren ältesten Bruder Marcus Theodor in Berlin. Wenigstens die Familienwelt der Levins war damals noch vergleichsweise stabil. Zwar war der Vater, ein erfolgreicher jüdischer Juwelier und Bankier, 1790 gestorben, und Marcus Levin musste, kaum erwachsen,dieFührungderGeschäfte übernehmen. Das vorhandene Vermögen aber reichte aus, um Rahel die Unabhängigkeit zu sichern, die sie für den Aufbau ihres berühmten Salons brauchte. In der Blütezeit ihrer «Gesellschaft» (so nannte sie selbst den Salon) zwischen 1795 und 1805 trafen sich Berlins fähigste Köpfe – Philosophen, Schriftsteller, Wissenschafter, Politiker – regelmässig zu Gesprächsrunden in Rahels Elternhaus, zwanglos vereinigt durch das Konversationsgenie der Gastgeberin, die als Frau und Jüdin keine höhere Ausbildung erhalten, sich dafür aber – mit der Hypersensibilität des Aussenseiters – eine geradezu unheimlich anmutende Menschenkenntnis erworben hatte. Die grössten Künstler, Philosophen oder Dichter stünden nicht über ihr, schrieb sie 1805, denn das ihr vom Schicksal zugewiesene Gebiet, die Domäne ihres tiefsten Wissens, sei schliesslich «das Leben».

Machtlos gegen die Brüder

Nach der preussischen Niederlage gegen Napoleon 1806 zerfiel der Salon, und die finanzielle Lage der Familie verschlechterte sich erheblich. Geld spielt in der Korrespondenz der fünf LevinKinder in diesen Jahren eine zentrale Rolle. Rahel konnte über ihren Vermögensanteil nicht selbst verfügen und lebte von Zahlungen, die die zwei Kaufmanns-Brüder Marcus und Moritz ihr jährlich aussetzten. Auch in dieses Schicksal ergab sie sich. Als ihr Moritz kalt erklärt, ihre Jahresbezüge müssten angesichts der miserablen Zinserträge von 1200 auf 800 Taler herabgesetzt werden («wonach Du Deine Einrichtung zu treffen hast»), antwortet sie nach aussen hin gefasst: «Da ich gar keine Rechte

und Parterre-applaudissement […]. Solch ein Dichter ohne innre Geschichte und Welt bringt mich zum Wahnsinn, aus Wuth und aus nicht verstehen.» Die in Amsterdam verheiratete Schwester Rose und später auch die Schwägerin Ernestine hingegen erhalten offenherzigere Schreiben, in denen Rahel wiederholt ihr existenzielles Grundgefühl erläutert: die anderen wie niemand sonst verstehen zu können und selbst dabei verkannt zu bleiben. «Du irrst alte Rose! und verwechselst mein tiefes Eindringen in die Gemüther der Menschen und mein schnelles Auffassen ihrer Eigenheiten mit dem Eindruck, welchen ich auf die Menschen mache.» In den Jahren der materiellen Einschränkung sieht sie sich zunehmend als Unglückswesen, das auch zur Aussenseiterin der Familie wird. Dennoch kommt es regelmässig zum Einlenken, zu Versöhnungen. Die Brüder erhalten launige Briefe, in denen sie ihr Leiden hinter Paradoxien verbirgt. «Seit gestern bessre ich mich todt» oder: «Bin auch recht gesund ausser meiner Krankheit».

Bemerkenswerter Witz

habe, so muss ich eigentlich die Papiere annehmen, die du mir anbiethest.» Vereinzelt schlägt dann aber doch die Wut durch. Marcus, der oberste Treuhänder des väterlichen Erbes, wird in Briefen an die Geschwister der Privatisierung des Gewinns bei gleichzeitiger Familiensozialisierung der Verluste bezichtigt: «Verliert er, so sind wir es mit. Verdient er, so ist er es allein. Und das seit 15 Jahren. Macht er nicht alles mit unsern Kapitalen.» Und sie fordert – natürlich folgenlos – zu einer regelrechten Rebellion auf: «Er hat unser Geld; er muss es uns herausgeben.» Moritz geht obskuren Geschäften nach, erdreistet sich aber, wenn er deshalb in Zahlungsnöte kommt, ihr «dumme und beleidigende Briefe» über seinen Anspruch auf ein standesgemässes Leben zu schreiben. Und auch der dritte Bruder, Lipmann, unter dem Namen Ludwig Robert seit 1804 ein rege publizierender Schriftsteller, kommt kaum besser weg: «Der hat kein Interesse als mechanisches Dichten

Rahel Varnhagen (1771−1833), Gastgeberin und Schriftstellerin.

Der Ruhm der Schriftstellerin Rahel Levin beruht auf den ausgewählten Briefen und Tagebuchblättern, die ihr Mann Karl August Varnhagen von Ense (die Heirat war 1814) nach ihrem Tod herausgegeben hat. «Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde» ist auch heute, da man Varnhagens Eingriffe und damit seine oft fragwürdige Modellierung der Rahel-Gestalt genau rekonstruieren kann, eine einzige Lesefreude. Das trifft auf die vorliegende voluminöse Edition der Familienbriefe gewiss nicht zu. Rahels Briefe machen nur etwas mehr als ein Viertel aus; auch epistolarisch dominieren die Kaufmanns-Brüder. Die Ausgabe ist Bestandteil einer textkritischen Gesamtedition der «Sammlung Varnhagen», die in den achtziger Jahren in der Bibliothek Jagiellonska in Krakau wieder aufgefunden wurde. Was wissenschaftlich unumgänglich ist – die lückenlose Wiedergabe der Briefe im originalen Lautstand, mit allen grammatikalischen und orthografischen Absonderlichkeiten – macht die Lektüre, ungeachtet der verstreuten Geistesblitze Rahels und des bemerkenswerten Witzes vor allem von Bruder Moritz, für NichtSpezialisten zu einer eher strapaziösen Angelegenheit. Ein hochinteressantes kulturhistorisches Dokument über das Leben einer jüdischen Kaufmannsfamilie um 1800 und eine Fundgrube für künftige RahelBiografen ist das Buch aber allemal. ● 27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25

Sachbuch

Biografie Marie Meierhofer war eine Pionierin der Kindererziehung in der Schweiz

Ein Leben für die Kleinsten Marco Hüttenmoser, Sabine Kleiner: Marie Meierhofer 1909−1998. Ein Leben

im Dienste der Kinder. hier + jetzt, Baden 2009. 336 Seiten, Fr. 58.−. Von Kathrin Meier-Rust

Es brauchte eine junge Medizinstudentin, um zu sehen, was da im Zürcher Kinderspital der dreissiger Jahre geschah: Säuglinge und Kleinkinder lagen in Gitterbettchen, die mit Tüchern verhängt waren. Jede unnötige Berührung durch Pflegerinnen war zu vermeiden, die Flasche legte man ins Bettchen. Herumtragen und Wiegen waren verboten, Nuggis aus hygienischen Gründen nicht erlaubt. Lautes Schreien galt als gesund. Marie Meierhofer sah, handelte und fotografierte. Diese Bilder sind das Herzstück eines zu ihrem 100. Geburtstag erschienenen biografischen Werks.

Marie Meierhofer war die älteste Tochter eines aargauischen Industriellenpaares, das Nacktwandern, schnelle Autos und Luftschiffe liebte. Sie ist sieben, als ihr kleiner Bruder im Gartenteich umkommt, 16, als ihre Mutter im Flugzeug abstürzt, 22, als ihr Vater beim Wildwasserfahren im Ticino ertrinkt und 25, als ihre psychisch kranke jüngste Schwester aus bis heute unklaren Gründen stirbt. Schon damals sprach sie von «einem Fluch auf ihrer Familie», den sie sühnen müsse, sah hier die Triebfeder für ihren Drang, Kindern in Not zu helfen. Nach dem Medizinstudium in Zürich arbeitet Meierhofer zunächst im Burghölzli, dann im Kinderspital. Während des Krieges wird sie Rotkreuzärztin für Kinderhilfsaktionen in Frankreich, woraus sich ihr Engagement als Mitbegründerin des Pestalozzi-Kinderdorfes in Trogen ergibt. Als Stadtärztin von Zürich lernt sie die Situation in Kinder-

heimen und Krippen kennen, publiziert eine Studie mit der Erkenntnis: Ohne Zuwendung verfallen Kleinkinder in Resignation, was ihrer Seele lebenslangen Schaden zufügt. Was heute trivial erscheint, wollten damals weder Medizin noch Behörden hören, es dauerte Jahre, bis Meierhofers Institut entstehen konnte, ihre Ideen die gebührende Anerkennung fanden. Eine Bildergeschichte bietet dieser Band zweifellos. Trotzdem hätte man dem Text mehr Stringenz gewünscht, allzu sehr verlieren sich die Autoren in Details und Zitaten. Die wichtigen Zäsuren und grossen Leistungen dieses Lebens, gerade die wissenschaftlichen, muss sich der Leser zusammensuchen. Trotzdem bleibt das Bild von Marie Meierhofers Pionierleistung eindrücklich. Es entlarvt das Reden von der Kinderfeindlichkeit in der heutigen Gesellschaft als gedankenloses Klischee. ●

Das amerikanische Buch Lebensbeichte und Testament von Ted Kennedy «Aufgeben liegt nicht in meiner DNA», schrieb Edward Kennedy in seinen postum publizierten Lebenserinnerungen True Compass (Twelve, 532 Seiten), die in den USA zu Recht als ein Höhepunkt dieses Bücherherbstes gefeiert werden. Dazu hat der zum Hachette-Konzern gehörende Verlag mit einer professionellen Kampagne beigetragen. Am Wochenende vor der Publikation lief ein bewegendes Gespräch mit Kennedy vom Februar 2009 im CBS-Fernsehen.

Wie hier fliessen Persönliches und die Politik in «True Compass» stets ineinander. Als jüngstes der neun Kinder von Joseph Kennedy und Rose Fitzgerald wurde er durch eine Serie tragischer Todesfälle völlig unerwartet Patriarch einer Familie, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zentrum der irisch-katholischen Patronage-Politik Bostons stand. Die 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2009

sobol richarD/ullstein bilD

Wie die Historikerin Doris Kearn Goodwin sagt, hatte «Teddy» als Einziger der drei Brüder Kennedy das Glück, sich selbst und seiner Nation Rechenschaft über sein Leben abgeben zu können. Seinen Tod vor Augen, hat der «Löwe des Senats» diese Chance zu einer rückhaltlosen und gehaltvollen Bilanz benutzt, die nicht zufällig Züge einer katholischen Beichte trägt. «True Compass» ist gleichzeitig der erste und letzte Versuch eines der Brüder, den Mythos Kennedy in die Form eines politischen Testamentes zu giessen. Gleich auf den ersten Seiten nennt Kennedy auch einen Erben: Barack Obama hat dem alten Profi die Leidenschaft und Zuversicht eingeflösst, die ihn beim Wahlkampfeinsatz für seine Brüder John und Robert durchströmt hat.

grund allmählich als Chance begreift und dass er Schicksalsschläge und selbst verschuldete Tragödien als Antrieb für eine unermüdliche politische Arbeit genommen hat, die in der Geschichte des Senats ihresgleichen sucht. Der begeisterte Segler Kennedy legte hier erstmals dar, dass ihm dabei sein Glaube und speziell die Botschaft des Matthäus-Evangeliums, den «Letzten unter Uns» beizustehen, ein «moralischer Kompass» waren. Diese Passagen dürften für Historiker ebenso von bleibendem Wert sein wie die vielen Details aus Kennedys Politikerleben. Lebhafte Debatten hat bereits seine Behauptung ausgelöst, sein Bruder John habe im Herbst 1963 nach Wegen gesucht, die USA aus dem Vietnam-Krieg zu lösen.

Edward Kennedy am Geburtstag seiner Mutter Rose Kennedy (rechts) im Jahr 1983. Unten auf einer Aufnahme von 2006.

Macht seines Clans gab dem um die Liebe seines dominanten Vaters buhlenden Nesthäkchen die Freiheit zu grossen Sünden und Fehlgriffen. Kein Durchschnittspolitiker hätte die Serie von Skandalen überstanden, die sich Ted Kennedy geleistet hat. Mit einer zumal für Politiker-Memoiren beeindruckenden Offenheit geht «True Compass» etwa der berühmt-berüchtigten Chappaquiddick-Affäre auf den Grund: 1969 liess Kennedy eine junge Beifahrerin in seinem Auto ertrinken. Ohne den Leser um Entschuldigung für seine Affären und sein Trinken zu bitten, macht Kennedy aber deutlich, wie schwer er damals an der Ermordung seiner Brüder John und Robert getragen hat. Doch «True Compass» erzählt auch, wie Kennedy seinen familiären Hinter-

Das Buch atmet die Grosszügigkeit und Wärme, die Kennedy selbst politische Gegner attestierten. Aber der Autor macht auch keinen Hehl aus seiner Abneigung etwa gegen Jimmy Carter, dem er 1980 mit seiner unausgegorenen Präsidentschaftskandidatur erheblich geschadet hat. Kennedy zeichnet Carter als Frömmler, der seinen Gästen bei langen Sitzungen die scheinbar üblichen, hochprozentigen Getränke vorenthält. Freundlichere Worte findet er für Bill und Hillary Clinton, die er vor dem Vorwurf in Schutz nimmt, 1993 ungeschickt die Chance einer Gesundheitsreform verspielt zu haben. Die Erfüllung dieses Lebenstraums konnte er nicht miterleben. Aber indem er «True Compass» mit Barack Obama beginnen und enden lässt, lässt Kennedy keine Zweifel an den Erwartungen, die er an seinen politischen Erben stellt. ● Von Andreas Mink

Agenda

Grand Tour Ein Preusse fotografiert die Welt

Agenda Oktober 2009 Basel Dienstag, 20. Oktober, 19 Uhr

Mirjam Pressler: Grüsse und Küsse an alle. Lesung, Fr. 15.−. Aula Naturhistorisches Museum, Augustinergasse 2. Tel. 061 261 29 50 (Literaturhaus). Donnerstag, 22. Oktober, 19 Uhr

John Burnside: Glister. Lesung, Fr. 15.−. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Freitag, 23. Oktober, 19 Uhr

Yu Hua: Brüder. Mo Yan: Die Sandelholzstrafe. Lesung, Fr. 15.−. Literaturhaus (s. oben).

Bern

gefunden, eine Auswahl getroffen und herausgegeben. Entstanden ist ein Bildband mit frühesten Reisefotografien, die eine Welt zeigen, die im Ersten Weltkrieg untergehen wird. Zurück in Europa klinkte sich Abegg wieder in seine Laufbahn ein, bis die Nazis ihn 1933 in den Ruhestand schickten. Er teilte ihre Gesinnung nicht – es waren Menschen, die die Welt nie gesehen hatten. Geneviève Lüscher Boris Martin (Text), Waldemar Abegg (Fotografien): Reise in eine vergangene Zeit. Frederking & Thaler, München 2009. 192 Seiten, Fr. 67.90.

Belletristik

Sachbuch

1 Diogenes. 408 Seiten, Fr. 38.90. 2 Krüger. 362 Seiten, Fr. 29.90. 3 S. Fischer. 297 Seiten, Fr. 33.90. 4 Blanvalet. 666 Seiten, Fr. 43.90. 5 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90. 6 Heyne. 447 Seiten, Fr. 38.90. 7 Hanser. 192 Seiten, Fr. 31.90. 8 Goldmann. 480 Seiten, Fr. 34.90. 9 Hanser. 1096 Seiten, Fr. 49.90. 10 Diogenes. 199 Seiten, Fr. 33.90.

1 Brockhaus. 275 Seiten, Fr. 35.50. 2 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 38.80. 3 Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80. 4 woa. 318 Seiten, Fr. 22.90. 5 Diogenes. 315 Seiten, Fr. 40.90. 6 Nagel & Kimche. 238 Seiten, Fr. 34.50. 7 Bertelsmann. 287 Seiten, Fr. 34.90. 8 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 53.50. 9 Goldmann. 237 Seiten, Fr. 30.90. 10 Kein & Aber. 175 Seiten, Fr. 27.50.

Cecelia Ahern: Zeit deines Lebens.

Peter Stamm: Sieben Jahre.

Charlotte Link: Das andere Kind.

William P. Young: Die Hütte.

John Grisham: Der Anwalt.

Elke Heidenreich, Bernd Schroeder: Alte Liebe. Joy Fielding: Im Koma.

Roberto Bolaño: 2666.

Urs Widmer: Herr Adamson.

Urs Widmer: Herr Adamson. Lesung, Fr. 12.−. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 20.

Samstag, 24. Oktober, 18 Uhr

Rufus Beck liest «Der kleine Nick» von René Goscinny. Multimediale Lesung, Fr. 28.−. Zentrum Paul Klee, Auditorium, Tel. 0900 585 887.

Zürich Donnerstag, 1. Oktober, 20 Uhr

Bestseller September 2009

Hugo Loetscher: War meine Zeit meine Zeit.

Mittwoch, 21. Oktober, 20 Uhr

Guinness-Buch der Rekorde 2010.

Der Duden. Die deutsche Rechtschreibung.

Eckart von Hirschhausen: Glück kommt selten allein. Teresa Fortis: Lockruf Saudia.

Dalai Lama XIV.: Meine spirituelle Autobiographie. Jürg Wegelin: Mister Swatch.

Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen.

Der Duden. Die deutsche Rechtschreibung + Korrektor. Rhonda Byrne: The Secret. Das Geheimnis. Mikael Krogerus: 50 Erfolgsmodelle.

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 15. 9. 2009. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

Margrit Schriber: Die hässlichste Frau der Welt. Lesung, Fr. 18.− inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Montag, 5. Oktober, 22 Uhr

Martin Kluger: Der Vogel, der spazieren ging. Lesung. Restaurant Bärengasse, Bahnhofstrasse 25. Anmeldung unter www.restaurant-baerengasse.ch/kultur. Donnerstag, 8. Oktober, 20 Uhr

Yan Jun: Poesie in der Stadt. Gedichte, Soundcollagen und Gespräch. Fr. 18.− inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Mittwoch, 21. Oktober, 20 Uhr

Margret Atwood: Das Jahr der Flut. Lesung, Fr. 25.−. Kaufleuten, Klubsaal, Pelikanplatz 4, Tel. 044 225 33 77.

Freitag, 23., bis Sonntag, 25. Oktober

Die lange Nacht der kurzen Geschichten. Lesungen in der Stadt Zürich und in Winterthur. Infos: www.lange-nacht.ch

Bücher am Sonntag Nr. 9

erscheint am 25. 10. 2009

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

27. September 2009 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

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Waldemar Abegg ist preussischer Beamter mit Jahrgang 1873 und sieht auch so aus: Nickelbrille, Reiserock und Schlips. In Japan zieht er sich für die Teezeremonie einen Kimono über (Bildmitte). Abegg hat sich eine Auszeit genommen. Er will die Welt sehen und dabei seinem Hobby frönen: der Fotografie mit seiner Klappkamera. Die Reise führt ihn 1905 in die USA, nach Japan, Korea, China, Indonesien, Birma, Indien und Ceylon. Boris Martin hat Abeggs Reisetagebuch und 1000 kolorierte Fotos, Schwarzweiss- und Panoramabilder in einem Berliner Archiv

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Montag, 12. Oktober, 20 Uhr

Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen. Lesung, Fr. 12.−. Stauffacher Buchhandlung, Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63.

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