Unverkäufliche Leseprobe aus: Tilman, Spreckelsen Das ...

eine schöne Nacht, ich dachte mir, da besuchst du mal deinen. Freund Söt ... ihnen nicht – Hamburg und Bremen waren fern, »und Holland ... tag melden.
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Unverkäufliche Leseprobe aus: Tilman, Spreckelsen Das Nordseegrab Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

EINS »Söt! Peter Söt!« Der Mond schien ins Zimmer, draußen roch es nach Ginster und nach dem Misthaufen im Garten. Ein Insekt sirrte um mein Bett, und ich konnte nicht richtig schlafen. Wenn der Mond, so dachte ich gerade, das Meerwasser so sehr an sich zieht, dass es Ebbe gibt, warum dann nicht das Wasser in meinem Waschtisch? Warum nicht Bank und Stuhl in dieser Stube, warum nicht mein Bett? »Heda! Söt!« Jetzt war ich hellwach. Ich hatte diese Stimme so satt: dieses Wispern, das sich anhörte, als stehe da jemand dicht an meinem Bett, obwohl mein Besucher die Stube nicht betreten hatte. Dieser dringliche Ton, der keinen Widerspruch duldete und doch nie lauter wurde als unbedingt nötig. Diese Drohung, die in jedem Wort mitschwang. »Was ist?«, fragte ich so fest wie möglich. Nach dem letzten Mal hatten sie mich zwei Monate lang in Ruhe gelassen. Aber neun Wochen sind wenig, wenn man etwas vergessen will und nicht kann. Schließlich war ich es, der den alten Mann auf dem Speicher gefunden hatte. Das Dachfenster stand offen, und jeder Windstoß warf ihn hin und her. Die Zunge hing dick und blau heraus. Unter ihm eine Pfütze. Natürlich war ich nicht schuld an seinem Bankrott, sagte ich mir an guten Tagen, ich hatte die Sache mit meinen Abschriften höchstens beschleunigt. Trotzdem war es scheußlich, in sein verzerrtes Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen zu schauen. An schlechten Tagen war die Erinnerung daran nicht auszuhalten. »Was ist?«, äffte er mich nach. »Das ist aber kein sehr freundlicher Empfang nach so langer Zeit.« 1

Er stand direkt vor meinem Fenster. Er konnte mich durch die Ritzen sehen, ich ihn nicht. Also stieg ich aus dem Bett und öffnete die grünen Holzläden. Er war kaum älter als ich, aber vor ihm fühlte ich mich wieder wie ein kleiner Junge, der hofft, dass es bald vorbei ist. Und weiß, dass es nie vorbei sein wird. »Was willst du?«, fragte ich. Je schneller er wieder verschwand, desto besser. »Was ich will? Vielleicht ein bisschen reden? Ja, wirklich, es ist so eine schöne Nacht, ich dachte mir, da besuchst du mal deinen Freund Söt, schaust nach dem Rechten. Ob denn der gute Peter nicht endlich daran denkt, sich ein Nest zu bauen? Vielleicht ist er ja auf Freiersfüßen und will sein Glück mit einem Freund teilen, der es gut mit ihm meint? Aber nein, ich weiß ja, dass zu Hause die blonde Wiebke auf dich wartet. So treu, das gute Kind …« Er geht zu weit, dachte ich, er geht jedes Mal zu weit, aber diesmal will er es offenbar wissen. Wenn ich nicht ruhig bleibe, bin ich verloren. »Also, was willst du?« »Was ich will? Ich will dir einen Gefallen tun und bringe dir eine Nachricht von unserem Meister. Es gibt Arbeit für dich, leichte Arbeit, und gut bezahlt obendrein. Das wäre eigentlich ein paar freundlichere Worte wert.« »Ich will eure Arbeit nicht.« »Oh, der törichte junge Mann! Er hat keine Ahnung, um was es geht, aber er will diese Arbeit nicht! Es ist so traurig, dass man dich jedes Mal zu deinem Glück zwingen muss. Also« – jetzt war die Freundlichkeit aus seiner Stimme gewichen, und ich war erleichtert – »hör zu: Vor deiner Tür liegt die neueste Ausgabe des Husumer Wochenblatts. Darin eine Annonce, dass ein Schreiber gesucht wird. Du wirst nach Husum gehen, dich vorstellen und die Stelle bekommen. Du wirst dir Mühe geben. 2

Wenn du sie nämlich nicht bekommst …« Schon gut. Ich wusste ja, was sonst geschehen würde, und er wusste, dass ich es wusste. »Und dann?« »Dann? Dann werde ich dich hin und wieder besuchen – Husum ist nett, wenn auch nicht besonders aufregend. Und du erzählst mir dann von deinem neuen Arbeitgeber. Unser Meister möchte schließlich wissen, wie du dich dort so machst. Vielleicht hält es diesmal etwas länger. Du musst ja nicht jeden ins Unglück stürzen, der dich beschäftigt. Obwohl, wenn ich so an die letzten Jahre denke …« »Gut«, sagte ich, wartete, ob noch etwas käme, dann schloss ich die Läden wieder. Ich legte mich ins Bett und merkte, wie ich müde wurde. Es geht wieder los, dachte ich noch. Dann schlief ich ein. Den kleinen Beutel mit Reisegeld, den er mir dagelassen hatte, bemerkte ich erst am Morgen. Als das Schiff explodierte, war er mit seinem Ruderboot weit genug entfernt. Er duckte sich hinter der Reling, um nicht von Trümmern getroffen zu werden, aber bis hierhin flogen sie nicht. Nach dem Knall und dem dumpfen Platschen der Schiffsteile, die auf die Wasseroberfläche gestürzt waren, hörte er in der Stille nur noch ein schmatzendes Saugen. Erst allmählich begriff er, dass es vom Wrack kam, das unter Wasser gezogen wurde. Dann war auch das vorbei. Er saß immer noch in sicherem Abstand zur Bootswand. Die Nacht war klar, der Himmel hell. Aus dem Ledersäckchen, das er um den Hals trug, nahm er sein Messingfernrohr, zog es auseinander und schaute in die Richtung, aus der er eben mit kräftigen Schlägen gerudert war. Das Meer war dort immer noch bewegt und voller Trümmer. Er schob das Fernrohr zusammen. Der Griff, mit Leder überzogen, war feucht. Er machte sich nicht die Mühe, ihn abzureiben. Sein Boot war viel zu klein für dieses Meer, aber er würde nicht 3

lange darin aushalten müssen. In ein paar Stunden würden sie kommen und ihn einsammeln. Dann würde er seinen Lohn fordern. Für den Tod von siebzehn Männern, zwei Frauen und sechs Kindern.

ZWEI »Also Söt. Aus Minden gebürtig, dreiundzwanzig Jahre alt, zuletzt in Schleswig?« Der alte Mann, der mich musterte, war klein und hatte ein Raubvogelgesicht: die kantige blaue Nase scharf gebogen, die Augenbrauen buschig, der Mund schmal. Er führte das Gespräch, er entschied über die Stelle, so viel war klar, auch wenn es sein Sohn war, für den ich arbeiten sollte. Der saß gelangweilt auf dem Sofa der Stube, in der der Alte seine Klienten empfing, und dachte anscheinend an alles andere als an den Schreiber, der ihm demnächst zur Hand gehen würde. Für die alten Leute aus der Umgebung war Husum nur »die Stadt«, zu mehr reichte es bei ihnen nicht – Hamburg und Bremen waren fern, »und Holland gift dat ok noch!« Auf einem Ochsenkarren war ich nun auf der Landstraße gefahren, aufs Meer zu und auf Husum. Kennen würde mich hier niemand. Husum also, im Mai 1843: Das waren ein paar Straßenzüge, die sich nördlich des trägen Hafens aneinander drängten, ein Schloss immerhin, dem ein bisschen Farbe gut angestanden hätte, und niedrige Backsteinbauten mit Glasfenstern zur Straße. Eine hieß Neustadt. Sie führte von Norden direkt ins Zentrum. Weiter in Richtung Hafen hieß ihre Verlängerung Hohle Gasse. 4

An ihrem Ende ein hellgraues Patrizierhaus: zweistöckig, fünf Fenster in jeder Etage, das Erdgeschoss als Hochparterre, zu dem eine zierliche Treppe mit Eisengeländer hinaufführte. Der Mann, der hier wohnte, galt etwas in Husum. Rechts davon war ein Nebengebäude mit breitem Tor. Dort sollte ich mich am Nachmittag melden. So stand ich nun dem Rechtsanwalt Johann Casimir Storm gegenüber. Dem Koogschreiber, der über die Deiche wachte, dem Grundstücksmakler, dem Müllerskind, das sich hochgearbeitet hatte, dem Landtagsabgeordneten. Dem Mann, der mich einstellen sollte. Und der sich nun lange über meine Papiere beugte, hinter ihm ein gerahmtes Aquarell mit einer Wassermühle am Teich. »Die Zeugnisse sind ordentlich« – natürlich, ich hatte mir Mühe gegeben – , »aber sie reichen nur bis ins letzte Frühjahr. Wo waren Sie seit dem Sommer?« »Mein letzter Dienstherr verstarb leider, ohne mir noch ein Zeugnis ausstellen zu können, Herr Advocat. Der Kaufmann Möllers aus Plön.« »Richtig, ich habe davon gehört, schlimme Sache. Er ruhe in Frieden, trotz allem. Dann wollen wir Sie mal erproben, Söt. Hier sind Feder, Tinte und Papier für ein kurzes Diktat.« Er deutete auf ein Pult links neben dem Sofa und dem kleinen Tischchen, an dem sonst wohl die Klienten saßen. Die Unterlage aus Filz war voller Flecke und winziger Löcher. Ich nahm den Kiel in die Hand und spürte mit Daumen und Zeigefinger, wie stumpf er war. Kein Federhalter, kein Messer. Das Papier rau, die dünne Tinte kaum zwei Groschen wert. Entweder war der Advocat geizig, oder mein Test hatte schon begonnen. »Die bürgerliche Ehre ist die Bedingung der vollständigen Rechtsfähigkeit der freien Staatsbürger«, diktierte er. »Der Natur der Sache nach muss dieselbe bei jedem Staatsbürger so lange vorausgesetzt werden, als er sich nicht durch 5

bestimmte Handlungen derselben verlustig gemacht hat. Haben Sie das?« Den Gefallen, den letzten Satz mitzuschreiben, tat ich ihm nicht. Ich gab auch kein Zeichen von Schuldbewusstsein, sondern nickte nur. »Die bürgerliche Ehrlosigkeit bezeichnet den Zustand einer Person, welcher die Ehre im engeren Sinne, Klammer auf, das Recht auf guten Namen, Klammer zu, und gewisse ehrenvolle Rechte und Pflichten, als Strafe wegen bestimmter entehrender Handlungen, entzogen sind.« Er sprach langsam und deutlich, ich konnte gut folgen, auch wenn ich die stumpfe Feder vor den schlimmsten Unebenheiten im Papier vorsichtig anheben und manchmal, wenn der Strich zu breit zu werden drohte, schräg stellen musste. »Die Fälle der Ehrlosigkeit sind folgende: Sie trifft erstens denjenigen, der eine falsche Versicherung bei Verlust von Ehre und gutem Leumund gegeben hat; zweitens den Vormund, der seine Pflegbefohlene vor abgelegter Rechnung heiratet; drittens die, welche sich als Beamte haben bestechen lassen. Dann lassen Sie mal sehen.« Er nahm das Blatt und legte das Buch, aus dem er diktiert hatte, auf den kleinen Tisch. »Paulsens Privat-Recht« stand auf dem Rückenschild, und aus irgendeinem Grund reizte mich das zum Lachen. Die Standuhr tickte, vor dem Fenster balgten sich Spatzen um einen Pferdeapfel. Der junge Storm auf seinem Sofa starrte ins Leere. Der schmale Kopf, die vollen Lippen unter dem breiten Schnauzbart, die großen blassblauen Augen – die Nase, dachte ich, hat er immerhin von seinem Vater, nur dass seine eher blau ist. Die dunkelblonden Haare wurden schon etwas licht, dabei konnte er kaum älter als fünfundzwanzig sein. Dann hob der Alte den Kopf. »Also gut. Mein Sohn nimmt Sie jetzt mit. Morgen fangen 6

Sie an. Sie bekommen fünfzig Taler und einen Zuschuss für Ihre Unterkunft. Probezeit bis Michaelis, dann sehen wir weiter. Die Kanzlei ist im Haus des Agenten Schmidt in der Großstraße. Das sind nur ein paar Schritte von hier.« Der junge Storm erhob sich und ging zur Tür. »Übrigens, Theodor«, sagte der Alte, »dein neuer Schreiber ist ein bemerkenswerter Mann. Wer bei vornehmen Herrschaften gedient hat und trotzdem so sicher mit armseligem Schreibzeug umzugehen weiß, wird noch andere Talente besitzen.« »Ja, Vater«, sagte Storm. Öffnete die Stubentür, lief durch den Flur zum großen Tor und stand auf der Straße. Als ich neben ihm in die Frühlingssonne blinzelte, hörte ich ihn seufzen. Dann drehte er sich zu mir um und fragte: »Können Sie auch Noten schreiben? Ja? Und singen? Dann wird es schon gehen. Sonst gibt es hier für Sie nämlich nicht viel zu tun.«

DREI Auf dem Weg erzählte mir Storm, dass er schon vor einem halben Jahr nach dem Juraexamen in seine Heimatstadt zurückgekehrt sei, aber erst jetzt eine eigene Kanzlei aufgemacht hätte. Er blieb stehen, sein rechter Arm beschrieb einen Bogen in Hüfthöhe. Ich sah eine Straße, die von der Hohlen Gasse abging und sich in einiger Entfernung zum Marktplatz verbreiterte: Graue, große Kaufmannshäuser, einige von ihnen trugen treppenförmige Giebel, und vor manchen Fassaden waren über dem Erdgeschoss Markisen aufgespannt. Nach echtem Reichtum sah das nicht aus, da hatte ich in Hamburg anderes gesehen, selbst in 7

Schleswig stellte mancher seinen Besitz bereitwilliger zur Schau. Aber wohlhabend waren die Leute, deren Häuser sich hier aneinanderdrängten, ohne Zweifel. Über allem lag eine so satte Ruhe, dass ich mich allmählich fragte, warum man mich eigentlich hierhergeschickt hatte. Und plötzlich spürte ich Mitleid mit diesem nervösen Mann, der mir so viel jünger vorkam als ich, obwohl wir etwa gleich alt sein mussten. »Sehen Sie, Söt, dies ist Husum! Glauben Sie, dass es in dieser Stadt neben meinem Vater und den Kollegen Beccau und Rehder noch Platz für einen vierten Anwalt gibt?« »Keine Ahnung – haben Sie denn schon viele Mandanten?« »Tja.« Storm seufzte. Wir waren auf dem Platz angekommen. Uns gegenüber die Kirche, rechts bildete das Kopfsteinpflaster eine Ebene, die plötzlich in einer Stufe endete und den unteren Teil der folgenden Häuserzeile verdeckte. Bürger und Dienstboten schlenderten in der Nachmittagssonne über den Platz und die Großstraße entlang. Storm grüßte eine Matrone mit drei kichernden Töchtern, beantwortete die Fragen eines älteren Herrn in Gehrock und Zylinder zu seiner Kanzlei und stellte mich als seinen neuen Schreiber vor. Niemand hatte Eile. Eine engere Straße stieß hier auf den Markt, an ihrem Anfang ein Haus mit fünf Stockwerken und einer grauen Front, die sich in der Mitte wie ein Ballon verbreiterte. Der Giebel warf seinen langen Schatten auf den Platz. Storm war meinem Blick gefolgt. »Die Krämerstraße«, sagte er. »Die führt zum Hafen. Das tun hier die meisten. Oder sie führen zum Schloss.« Er zog mich in die andere Richtung, auf die obere Seite des Platzes. Zwischen zwei Häusern klaffte ein Spalt, ein schmaler Weg. Storm zeigte auf das linke Haus: zwei hohe Stockwerke unter einem spitzen Giebel, breite Fenster, ein Kellergeschäft. 8

»Dort wohnt Schmidt, mein Vermieter. Er ist außerdem Makler für alles Mögliche, und falls Sie Interesse an einer Versicherung haben, fragen Sie ihn. Sie werden ihn sicher bald kennenlernen.« Er führte mich in die Durchfahrt, vorbei an einem Gitterzaun, dessen Tor offen stand, zu einem zweiten Eingang. Je weiter man kam, desto baufälliger schien das Haus. Wo der Putz abgeblättert war, zeigten sich schrundige Backsteine und schwarze Balken. Storm blieb plötzlich stehen und streckte einen Finger in die Luft. »Nordwest, hören Sie?« Ich nahm nur die Geräusche vom Marktplatz wahr, das Summen der Stimmen, dazu Hufe, Wagenräder. Das ebbte gerade ab, dafür hörte man das Geschrei, das von oben kam, umso deutlicher. Als ob ein Luftschiffer über uns flog und uns grüßte, allerdings nicht besonders freundlich. »Bürgermeister! Hosenscheißer!« »Da, sehen Sie doch.« Storm hatte mich an der Schulter gepackt und drehte mich zum Rathaus, dessen Dachreiter die anderen Häuser überragte. Aus der obersten Giebelluke brüllte ein alter Herr zu uns herunter. »Diakonissen! Müssen immer pissen! Ich bin der Kronprinz von Preußen, ja ja!« Sein Gesicht leuchtete rubinrot unter der weißen Perücke. Storm schaute interessiert zu ihm hinauf. Der Mann hob beide Arme und grüßte huldvoll zum Marktplatz hinunter. »Mörder! Ihr Mörder!«, hörten wir noch, dann verschwand sein Kopf, und die Luke fiel zu. »Wer war das?«, fragte ich. »Er nennt sich Amtschirurg oder Prinz, vielleicht ist er auch ein entlaufener Mönch oder Soldat – keine Ahnung. Er wohnt schon lange auf den Böden unterm Rathausdach, zusammen mit den Ratten und den Tauben.« 9

»Und das Gebrüll?« »Er ist harmlos. Früher soll er mal mit einem Barbiermesser auf einen Beamten losgegangen sein, aber seit er da oben haust, hat er sich nie wieder auf der Straße blicken lassen. Wenn er seinen Anfall kriegt, wissen wir, dass das Wetter umschlägt. Meist dreht dann der Wind und bringt Sturm vom Meer.« Wir gingen wieder zu der kleinen Tür in Schmidts Hinterhaus. »Also, hier arbeite ich«, sagte Storm und griff zur Klinke. Im selben Augenblick hörten wir Schritte hinter uns. »Herr Advocat! Herr Advocat! Sie sollen sofort zu ihrem Herrn Vater kommen.« Den dünnen Mann mit dem strähnigen weißblonden Haar erkannte ich wieder. Er hatte mich vorhin zum alten Storm geführt. »Was ist denn los, Clausen?«, fragte Storm, ärgerlich über die neue Störung. Clausen beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es konnten kaum mehr als zwei Sätze gewesen sein, bis Storm sich aufrichtete und die Hand des Schreibers von seiner Schulter abschüttelte. »Kommen Sie, Söt, wir müssen sofort in die Hohle Gasse. Rasch, bevor halb Husum Wind von der Sache bekommt.« »Von welcher Sache?« Im Laufen beugte er sich zu mir wie vorher Clausen zu ihm, und murmelte: »Eine Leiche im Lagerhaus meines Vaters.« »Und warum …« »Der Mann steckt in der alten Tonne. Clausen sagt, man hätte ihn entdeckt, weil sein Blut durch die Ritzen sickert. Und dass die Hafenvögel schon auf dem Giebel sitzen und warten.«

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VIER Dass sein Sohn mich mitgebracht hatte, ohne groß darüber nachzudenken, war dem alten Storm offensichtlich nicht recht. Er sagte kein Wort zu mir, als er uns in der Toreinfahrt empfing. Wir gingen ins Nebenhaus. Der Flur, dem ich eben noch nach rechts bis ins Kontor gefolgt war, führte links bis zu einer Schreiberstube und weiter durch eine zweite Tür zu einem Schuppen ohne Tageslicht, der fast vollständig von einem schwarzen Holzfass ausgefüllt war. »Vorsicht«, sagte der alte Storm und winkte Clausen mit einer Laterne herbei. Am oberen Rand ragte etwas Schmutzigweißes heraus, das ich erst nach einer Weile als nackten Fuß erkannte. Rund um das Fass war eine Blutlache, daneben lehnte der Deckel aus schweren, kreuzweise übereinandergenagelten Brettern. »Lina hat ihn gefunden.« Der Alte zeigte durch die geöffnete Tür zur Schreibstube auf eine Magd, die nach vorne gebeugt auf einem Schemel saß. Und dann zu mir. »Es scheint, dass Sie kein Glück bringen, Söt.« Erzähl mir was Neues. Theodor Storm ging auf Zehenspitzen zum Fass, vorsichtig, um nicht in die Lache zu treten. Dann beugte er sich tief hinein und hielt dabei den Atem an. Als es wieder auftauchte, war sein Gesicht regungslos. »Hast du jemanden aus dem Schloss gerufen, Vater?« »Noch nicht. Ich wollte mich erst noch mit dir besprechen. Aber nachdem du nun deinen Schreiber mitgebracht hast, wird sich die Sache sowieso nicht mehr lange entre nous halten lassen. Und, Clausen, legen Sie wenigstens den Deckel auf das Fass. Es muss ihn ja nicht jeder so sehen.« Vater und Sohn verschwanden im Kontor. Clausen mühte sich 11

eine Weile ab, bis er den widerständigen Fuß mit dem Deckel in die Tonne hineingedrückt hatte. »Du bist Lina, oder?«, fragte ich. Das Mädchen nickte. Sie konnte nicht älter als fünfzehn sein. Vielleicht war sie sonst ganz hübsch, aber jetzt, mit den verquollenen Augen und ihrem Schniefen, wirkte sie wie ein Trollweib. »Wie lange ist das her?« »Gerade eben erst.« »Was hattest du überhaupt hier zu suchen?« »Der Herr Koogschreiber hatte mich zu Clausen geschickt mit einer Nachricht«, sagte Lina, und Clausen nickte. »Was ist denn normalerweise in dem Fass?« »Meist ist es leer«, antwortete Clausen. »Oder Rüben, Kartoffeln«, sagte Lina. Sie putzte sich die Nase und richtete sich die strähnigen Haare, machte aber keine Anstalten, aufzustehen oder dem Fass näher zu kommen als unbedingt nötig. »War der Deckel ab?« »Sagen Sie mal«, mischte sich Clausen wieder ein, »was geht Sie das eigentlich an? Kommt her und spielt Polizist! Sag ihm nichts, Lina, der Herr Koogschreiber ist gleich wieder hier.« Ich sah mich im Hof um, misstrauisch beäugt von Clausen, während Lina weiter vor sich hinstarrte. In der Mitte stand ein Ahorn, ungefähr so hoch wie der Giebel, und überschattete das Gelände. An der Mauer, die das überraschend große Grundstück von den Nachbarn trennten, lehnten rechts baufällige Schuppen. Links führte ein Treppchen zu ein paar Obstbäumen auf einer winzigen Wiese und wieder ein paar Stufen weiter zu einer Gartenlaube. Die Möwen waren inzwischen vor uns geflüchtet, aber aus einem Taubenschlag im Dach des größten Lagers hörte ich es gurren und scharren. Um Clausen zu ärgern, drückte ich 12

mich an ein Loch in der Bretterwand. In der Dämmerung war außer einem Leiterwagen und ein paar alten Leinensäcken auf dem Boden nichts zu erkennen. Das Blut war längst eingetrocknet, als Vater und Sohn wieder aus dem Kontor erschienen. Ich war froh, als wir auf der Straße standen. Inzwischen dämmerte es. »Mein Vater möchte, dass ich es selbst auf dem Schloss melde«, sagte Storm, während wir die Neustadt hinaufgingen. »Scheußliche Sache. Wer immer dem Mann die Kehle durchgeschnitten hat, muss ihn vorher nackt ausgezogen haben.« »Oder er hat ihn gezwungen, das selbst zu machen«, sagte ich. Storm schaute mich überrascht an: »Sich selbst die Kehle durchzuschneiden?« »Sich auszuziehen.« »Ach so. Aber warum?« »Weil es ihm um die Kleider ging?« »Hm.« Es waren nur ein paar Schritte bis zur Stadtgrenze. Weiter vor uns, am Ende der Straße, lagen die trockenen Wiesen, durch die ich heute Morgen gefahren war. Meine Kiste war noch auf Hartwig Lohmanns Ochsenkarren in der Süderstraße. Rechts tauchte jetzt das Schlossgelände auf, eine Wiese, dahinter ein Wassergraben mit einer niedrigen Mauer. Auf der Wiese welkten unzählige blassblaue Krokusse vor sich hin. Viel mehr konnte man in der Dämmerung nicht erkennen. Storm zeigte auf das Torhaus am Rand der Anlage. Der geschwungene Giebel passte nicht zu den wuchtigen Mauern und den kleinen Fenstern. Hoch über uns war ein Relief mit drei halbnackten Frauen. »Athene und Aphrodite«, sagte Storm, »in der Mitte Hera – Sie kennen die Geschichte von Paris und seinem goldenen Apfel? 13

Wem würden Sie den Preis geben?« Mein Schweigen schien ihn nicht zu stören. »Sie können ja darüber nachdenken, Söt, die Damen bewachen die Amtspförtnerei. Wir gehen jetzt erst mal zum Kavalierhaus, wo der Bürgermeister wohnt.« »Nicht im Schloss?« »Wissen Sie, wer sich da alles breitmacht. Der Amtmann Krogh mit all seinen Dienstboten, sein Amtsverwalter Setzer mit elf Kindern und Personal… Es gibt dort Amtsräume und Lager, und dann gibt es noch einen besonders prächtigen Trakt, der immer freigehalten wird. Es könnte ja unserem König einfallen, auf einen Besuch vorbeizukommen.« »Ach so.« »Bürgermeister Kaup teilt sich jedenfalls das Kavalierhaus mit seiner kleinen Familie und der Witwe seines Vorgängers. Ich glaube nicht, dass er den Entschluss je bereut hat«, sagte Storm. Er zog die Glocke. Der Pförtner ließ auf sich warten und erschien schlechtgelaunt. Beim Versuch, im Gehen seine Uniformjacke anzuziehen, hatte er sich mit der rechten Hand im Ärmel verfangen. Sein faltiges Gesicht hellte sich bei unserem Anblick nicht auf. »Lassen Sie uns hinein, Tostensen«, sagte Storm, »auch wenn es schon spät ist. Ich bringe schlimme Nachrichten. Ist der Herr Bürgermeister zu sprechen?« Endlich erschien die Hand. »Dringend?« »Dringend«, sagte Storm freundlich, »so dringend, dass Herr von Kaup sicher gern sofort von der Angelegenheit erfahren möchte.« »Meinen Sie?«, murmelte Tostensen. Dann winkte er uns, und wir folgten ihm zur großen Treppe des Kavalierhauses. Im Schein seines Leuchters warfen wir riesige verzerrte Schatten. 14

FÜNF »Und wer ist der Mann?«, fragte Kaup. Er saß an einem penibel aufgeräumten Schreibsekretär und lauschte Storm, wie es schien, vollkommen konzentriert. Das Dienstmädchen hatte uns in Kaups Arbeitszimmer geführt, über einen Gang, der von entferntem Gebrüll widerhallte. Irgendwo wurde wohl gerade ein Säugling ins Bett gebracht. Wenig später war der Bürgermeister erschienen. Ein kräftiger Mann um die vierzig, die kurzen blonden Haare fielen ihm in die breite Stirn. Jetzt steckte er sich eine Pfeife an. »Wir wissen es nicht«, sagte Storm. »Wir haben ihn so gelassen, wie er war, kopfüber in dem alten Fass.« »Wie lange, glauben Sie, liegt er da schon?« »Das Blut war noch flüssig, als mein Vater mich rufen ließ«, sagte Storm, sichtlich stolz auf seine Beobachtung. Als Kaup und Storm schwiegen, räusperte ich mich. »Ja?«, fragte der Bürgermeister. »Ich glaube, er ist schon etwas länger tot«, sagte ich. »Sein Körper war ganz starr.« »Haben Sie ihn etwa angefasst?«, fragte Storm mich entsetzt. Kaup winkte ab. »Und das Blut?« Ich zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls müssen wir erst mal herausfinden, wer der Tote ist«, sagte der Bürgermeister. Er stand auf und zog an einer Klingelschnur neben der Tür. Das Dienstmädchen nahm seine Befehle entgegen, dann verließen wir das Zimmer und gingen den Gang entlang bis zur Tür. Dort wartete ein Diener mit einer Handlaterne. »Eine Winde müsste Ihr Vater doch haben, oder?«, fragte Kaup. »Sicher«, antwortete Storm, »früher gehörte ein Teil des Lagers zur Zuckerfabrik meines Großvaters. Jetzt sind die Schuppen 15

verpachtet, aber das alte Werkzeug dürfte noch da sein.« Es war dämmerig geworden, und im Schein der wenigen beleuchteten Fenster wirkte dieser Teil der Stadt noch älter und schäbiger. Der Boden unter unseren Stiefeln war uneben und sandig, und während Storm und Kaup sich darauf einigermaßen sicher bewegten, trat ich in Grasbüschel, gegen Holzreste und Abfall, weil ich mir als Letzter den Weg bahnte, weit hinter dem schwankenden Licht der Laterne. Es roch nach Torffeuern, durch die Finsternis drangen die Schreie der Seevögel, und ich wusste in diesem Moment, dass ich nicht hierhergehörte. Wir gingen mit Kaup bis zur Hohlen Gasse, wo der Alte auf uns wartete. »Ich brauche dich nicht mehr«, sagte er zu seinem Sohn, »gute Nacht. Und zu niemandem ein Wort.« Mir drückte er eine Laterne in die Hand. »Bringen Sie ihn sicher nach Hause. Ich hoffe, Sie schaffen das.« Und zu Kaup: »Dann wollen wir mal.« Gemeinsam mit dem Diener verschwanden sie im Durchgang. Als wir an der Ecke zur Großstraße waren, fragte Storm: »Trinken wir noch ein Glas zusammen? Jansens Gasthaus in der Neustadt hat wieder geöffnet, nachdem es wochenlang zum Verkauf stand, und ich bin heute mit Freunden dort verabredet. Wir möchten gern sehen, wie der neue Besitzer sich eingerichtet hat.« Er nahm mir die Laterne aus der Hand und ging rasch weiter geradeaus. Als er merkte, dass ich zögerte, nahm er meinen Arm: »Kommen Sie, Söt, nur ein Glas. Die Witwe Jansen hatte den ganzen Keller voll mit Rheinwein und Klarett, besser trinken Sie den auch im Ratskeller nicht. Und vielleicht braucht der Wirt jemanden, der ihm sagt, was er da liegen hat.«

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SECHS Wie groß Fenners Gasthof war, sah ich am nächsten Morgen. Es hatte geregnet, der Himmel war noch grau und leicht. Aus dem Fenster meiner kleinen Kammer sah ich in den gepflasterten Hof. Waschhaus, Kutscherstube und Stall schlossen ihn gegen die anderen Grundstücke ab. Das große Hauptgebäude lag mit seiner Fassade etwas zurückgesetzt von der Straße, die der Gasthof nur mit seinem Querhaus berührte. Die Dächer waren mit Ziegeln gedeckt, der Stall mit Stroh. Fenner hatte stolz erzählt, dass hier vor allem Künstler abstiegen, die in Husum Konzerte oder Tanzvorführungen gaben. »Erstklassige Virtuosen«, hatte er sie genannt, »aus allen deutschen Staaten, aus ganz Europa!« Für mich war das nichts. Draußen hingen die Tropfen von den Zweigen und Blättern. Allmählich zeigte sich die Sonne, der Himmel wurde wieder durchscheinend blau. Ich sollte um acht Uhr bei Storm sein. Der Weg zur Großstraße war nicht besonders weit, aber die schweren Fuhrwerke, die von Norden her in die Stadt rollten, hielten mich auf. Als ich in die Großstraße einbog, wurden bis zum Marktplatz hin Stände aufgerichtet, bunte Tücher auf Lattengestelle genagelt und Kisten mit Gemüse, Wurst oder Obstgläsern ausgepackt. Ein Imker hievte ein Honigfass auf einen Dreifuß, sein Nachbar breitete Käseräder auf einer abgewetzten Decke aus, noch einen Stand weiter gackerten Hühner in einem viel zu kleinen Käfig, und eine alte Frau mit Strohhut und weißer Schürze trug einen Korb voll Maililien und Waldmeisterkränze am Arm. Die ersten Hausfrauen und Dienstmädchen standen um sie her, manche gähnten, manche beschwerten sich, manche zeigten stumm auf die Ware und hielten ihren Beutel hin. Vor dem Haus fing mich Schmidt ab, Storms Vermieter, und fragte mich aus: Wo ich zu Hause sei, ob ich Familie hätte und wie mir Husum gefalle. 17

»In Westfalen«, sagte ich, »nein« und »gut«. Er führte mich durch den Flur nach hinten und zeigte mir dabei eine alte Holztreppe, über die schon der Bürgermeister Caspar Danckwerth ins Obergeschoß gelaufen sei – ob ich von dem Mann gehört hätte? Dem großen Chronisten des Landes und der Küste? Als ich mich endlich von Schmidt losgemacht hatte und an die Stubentür klopfte, war ich eine Viertelstunde zu spät. Storm schien das nicht zu stören. Er saß mir bleich bis auf die Nase im vorderen der beiden Zimmer gegenüber, eine Tasse in den Händen. Der Teewasserspiegel war gekräuselt. Auf dem Schreibtisch lagen gefalzte Kanzleibögen durcheinander, er hatte wohl einen bestimmten gesucht. Hinter ihm stand eine Tür einen Spaltbreit offen. Storm hatte zwei Zimmer. Das eine war die Kanzlei, das andere bewohnte er. Durch das Fenster kamen Hammerschläge, als direkt vor dem Haus noch eine Bude gezimmert wurde. »Donnerstags ist Markt«, sagte Storm mühsam. »Sie werden sich bald daran gewöhnen. Aber schließen Sie jetzt bitte das Fenster.« »Ist immer so viel los?«, fragte ich. »Es kommen eine Menge Auswärtige in die Stadt«, sagte Storm. »Vor ein paar Jahren durften die Händler bis zehn oder elf Uhr morgens nur an die Husumer verkaufen, die sich so in Ruhe die besten Stücke heraussuchen konnten. Es gab sogar einen eigenen Wächter, der für jeden Verstoß gegen diese Regelung eine Geldstrafe eintrieb. Damals wurde es an normalen Markttagen erst mittags so richtig laut. Aber warten Sie nur bis zum Pfingstmarkt. Haben Sie übrigens gut geschlafen?« Der Wind hatte wirklich auf Nordwest gedreht, jetzt fühlte man die Nähe der Nordsee. In die Rufe der Möwen mischten sich die Stimmen der Passanten, und manchmal drang jetzt die volle Stim18

me des Verrückten durch, der aus dem Rathausfenster die Ratsherren beschimpfte. Mein Zimmer in Jansens Wirtshaus war winzig und ging auf den Hof. Nachts hatten meine Scheiben Stoß auf Stoß im Frühlingssturm geklirrt. Und in den Pausen knarrten die Totenuhren im alten Holz. Im Traum war ich wieder in Plön gewesen, auf dem Dachboden, hatte die Luke nach unten gesucht und nicht gefunden. »Danke, ja.« »Ich habe gestern noch eine Nachricht vom Bürgermeister vorgefunden. Wir sollen am Mittag zu ihm gehen. Bis dahin können Sie noch aus dieser Partitur die Stimmen je viermal einzeln abschreiben, den Sopran sechsmal. Wir brauchen sie heute Abend bei der Probe.« Er reichte mir die Noten. »Sie sind Bass, oder?« »Ich glaube, schon«, sagte ich. »Vor sechs Wochen haben wir einen Singverein gegründet«, sagte Storm. »Ich leite ihn. Wir sind noch am Anfang, große Sänger gibt es hier nicht, aber es geht voran. Wenn Sie fertig sind, müssen Sie mir etwas vorsingen, irgendein Lied, das sie kennen. Oder gleich den Mendelssohn, den Sie da abschreiben.« Das Stehpult am Fenster war ordentlich ausgestattet. An den Stahlfedern hatte Storm nicht gespart, und auch die Tinte war fest und dunkel. Sie trocknete schnell auf dem Papier, ich würde den Streusand nicht brauchen. Eine Zeitlang war nur das feine Kratzen der Feder und das Rascheln der Bögen auf dem Schreibtisch zu hören. Storm suchte immer noch. Es gibt Halt, wenn man kopiert: Note für Note, Buchstabe für Buchstabe, Zahl für Zahl. Man darf sich nur nicht fragen, was daraus wird. »Wir werden heute noch einen Klienten besuchen«, sagte Storm. »Ich habe ihn von meinem Vater übernommen, der ihn im vorletzten Jahr aus einer ziemlich üblen Lage rausgeholt hat. 19

Er heißt Steffens, kommt aus Schwabstedt, das ist eine Gemeinde im Süden, nicht weit von hier.« »Was hatte er denn angestellt?« »Er war wegen Einbruchs in ein Warenlager angeklagt, und der Nachtwächter sagte aus, dass er ihn gesehen hätte, wie er dort aus dem Fenster stieg, eine schwere Tasche auf den Rücken geschnallt.« »Und?« »Steffens brachte Zeugen, die am Abend angeblich mit ihm zusammen ein paar entlaufene Schafe gesucht haben. Er wurde freigelassen. Am nächsten Tag war der Nachtwächter tot, erschlagen, und Steffens kam wieder in die Zelle.« »Und Ihr Vater wurde gerufen, um ihn zu verteidigen.« »Ja. Niemand zweifelte daran, dass Steffens der Mörder war. Aber keiner hatte etwas gesehen, und eine Waffe oder Spuren fand man auch nicht. Darauf baute mein Vater seine Verteidigung auf. Als man ihm vorhielt, dass Steffens den Nachtwächter im Gerichtssaal laut bedroht hätte, sagte er nur, dass noch niemand mit der Zunge einen Menschen getötet hätte, und ob ein paar Schimpfworte alles wären, was gegen seinen Mandanten vorzubringen sei. Er hat viel riskiert, mein Vater, und ich weiß nicht einmal, ob er wirklich an Steffens’ Unschuld geglaubt hat.« »Steffens wurde wieder freigesprochen?« »Genau.« »Warum braucht er dann jetzt einen Anwalt?« In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ich beugte mich wieder über meine Noten und hörte eine ruhige Altstimme sagen, dass ein Besucher warte. »Danke, Bottilla«, sagte Storm. Als ich aufblickte, sah ich einen Rücken verschwinden. Kurz darauf erschien ein stämmiger Mann in der Tür, der graue Mantel zerknittert wie von einer langen Reise im Eilwagen. 20

Storm sprang auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Bandmann aus Hamburg«, sagte der Besucher. Er sah sich um, als hätte er sich die Kanzlei größer und besser aufgeräumt vorgestellt. »Sie sind der Advocat Storm? Sie sind ja viel jünger, als ich dachte.« »Legen Sie ab«, sagte Storm, »und setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht Tee? Wir Husumer glauben, dass man ihn nirgends so gut trinkt wie bei uns.« »Dann einen Tee, danke«, sagte Bandmann. Er nahm sich den zierlichen Stuhl, auf den Storm gezeigt hatte, und setzte sich vorsichtig. Storm schien das nicht zu bemerken. »Bottilla! Tee!«, rief er. »Mein Geschäftsfreund, der Großhändler Scherff aus Altona, hat Sie empfohlen, eigentlich seine Frau. Sie meinte, dass Sie sich bestens in der Friedrichstädter Kaufmannsschaft auskennen und mit den dortigen Advocaten vertraut sind. Seit vielen Jahren, sagt sie.« Storm nickte. Nicht besonders energisch. »Sagt Ihnen die Witwe Heyne etwas?« »Ich glaube, schon«, sagte Storm. »Ihr Mann war Kaufmann in Friedrichstadt und ist im vergangenen Herbst im Meer ertrunken, oder?« »Richtig. Und zwar ohne den Kredit zurückzuzahlen, den ich ihm eingeräumt habe und den er auch in Anspruch genommen hat.« »Wie hoch?« »Sechzigtausend Mark.« »Hat er dafür irgendwelche Sicherheiten gegeben?« »Ja«, sagte Bandmann, »und deshalb komme ich zu Ihnen.« Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, und überlegte, ob Bandmann mich an dem Abend gesehen haben könnte, als ich Heyne die Botschaft unseres Meisters überbracht hatte. Unwahrscheinlich, dachte ich. Und rückte trotzdem etwas mehr in den Hintergrund der Stube. 21

Es klopfte. Schmidts Dienstmädchen brachte den Tee. Sie war groß, das lange braune Haar trug sie zurückgesteckt, ihr Kinn war kräftig, ihr Gang leicht. Meinen Blick erwiderte sie mit unauffälligem Spott, dann stellte sie das Tablett auf den Tisch. »Es ist gut, Bottilla, ich mache das selbst«, sagte Storm. Er stellte eine Tasse vor Bandmann hin und zeigte auf die Schale mit den Kluntjes. Sein Besucher schüttelte leicht den Kopf. Storm goss Tee ein und hob fragend das Sahnekännchen. Bandmann lehnte wieder ab. »Die Sicherheit …« »Er hat mir ein Warenlager verschrieben, siebzigtausend Mark wert, hauptsächlich Kaffee, Kakao, Öl und Tran, aber auch Gewürze und Stoffe. Als er dann plötzlich verschwand habe ich beantragt, das Lager zu versiegeln, bis die Sache geklärt ist. Der Friedrichstädter Magistrat hat das abgelehnt, weil die Witwe Heyne überall als äußerst anständige Person bekannt sei. Die Herren haben mir sogar noch Vorwürfe gemacht, wie ich die arme Frau in ihrem Schmerz mit einem solchen Misstrauen quälen könne! Ich habe mich dann ans Obergericht gewandt, das endlich angeordnet hat, das Lager zu verschließen. Dabei wurde dann auch notdürftig Inventur gemacht.« »Und?«, fragte Storm. »Jetzt ist das ganze nur noch fünftausend wert, maximal.« Bandmann nahm einen Schluck. Es sah nicht so aus, als ob ihm der Tee schmeckte. »Fünfundsechzigtausend!«, sagte Storm. »Einfach so veschwunden! Für das Geld bekommen Sie hier acht schöne Wohnhäuser mit Garten und Speicher.« Ja, hier, dachte ich. Wahrscheinlich dachte der Hamburger dasselbe. »Haben Sie eine Vermutung, was mit den Waren passiert sein kann?« »Der Friedrichstädter Magistrat hat versprochen, das zu untersuchen. Aber bislang haben die Herren keinen blassen Schimmer.« 22

»Und die sechzigtausend, die Sie ihm geliehen haben?« fragte Storm. »Wofür hat Heyne das Geld gebraucht?« »Er wollte sich an einer Schiffsladung mit Waren nach Übersee beteiligen, hat er damals erzählt. Seine Bücher werden noch geprüft. Bisher ist nichts gefunden worden, das dazu passt. Er scheint noch nicht einmal den Empfang meines Geldes verbucht zu haben.« »Und was erwarten Sie von mir?« »Dass Sie meine Interessen in Friedrichstadt wahrnehmen. Fühlen Sie bei Ihren Bekannten vor, was ich tun kann, um zu meinem Recht zu kommen. Und zu dem, was von meinem Geld noch übrig ist.« »Kann ich das Lager besichtigen? Ich würde mir gern einen Eindruck verschaffen, was wirklich noch darin ist.« »Niemand darf hinein«, sagte Bandmann mürrisch, »nicht einmal ich. Das hat der Magistrat beschlossen. Es gibt aber eine Liste des Inventars, die Heyne damals für mich angefertigt hat, sehen Sie?« Storm nahm das Blatt. »Was bedeuten die Striche?« »Alle Posten, die durchgestrichen sind, wurden bei der Durchsicht vor dem Versiegeln nicht mehr gefunden.« »Dann muss das Lager ja so gut wie leer sein.« »Muss wohl«, sagte Bandmann. »Also übernehmen Sie das Mandat?« »Ja«, sagte Storm. »Werden Sie länger in Husum bleiben?« »Nein«, sagte Bandmann, »wenn die Pferde so weit sind, fahre ich wieder. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Storm folgte seinem Klienten vor die Tür. »Haben Sie alles?«, fragte er, als er zurückkam. Ich hielt ihm meine Notizen hin. Er überflog den Bogen. »Schreiben Sie das Protokoll nachher. Wir sollten allmählich zu Kaup. Aber vorher, Söt …« »Ja?« Storm grinste. »Vorher singen Sie mir noch den Mendelssohn. Vom Blatt.« 23

SIEBEN »Wer ist eigentlich dieser Bürgermeister Dankwerth?«, fragte ich, als wir wieder zum Schloss gingen. »Sie haben Schmidt getroffen, ja? Er ist sehr stolz darauf, dass gerade in seinem Haus vor zweihundert Jahren der berühmte Bürgermeister und Chronist der Herzogtümer gelebt hat. Schmidt hat sogar ein Gutachten eingeholt, welcher Teil des Gebäudes seither verändert worden ist und welcher nicht und wo Dankwerth sein Schlafzimmer gehabt haben könnte. Dankwerth könnte ihm keinen größeren Gefallen tun, als bei uns zu spuken.« »Geht er denn um?« »Ich habe noch nichts bemerkt. Und ich lege mich selten vor Mitternacht ins Bett.« Kaup erwartete uns in seinem Arbeitszimmer. Vor dem Fenster stand jetzt ein Tisch, auf dem ein verhüllter Körper lag. Unter dem dünnen Tuch zeichneten sich die Konturen eines älteren Mannes ab, mager, knochig, mit dürren Beinen. »Ist das …«, fragte Storm. »Ja«, sagte Kaup, »Ihr Vater und ich haben gestern die Dienstboten fortgeschickt und den Mann aus der Tonne geholt. Übrigens« – er schaute mich an – »mein Kompliment an Sie, Herr …« »Söt.« »Söt, richtig. Sie haben gute Augen. Das viele Blut passte wirklich nicht dazu. Wer immer diesen Körper in die Tonne gehievt hat, muss es ihm später hinterhergegossen haben. Wahrscheinlich, um uns auf den Mann aufmerksam zu machen. Er hätte sonst vielleicht Tage unentdeckt gelegen.« 24

»Und«, fragte Storm, »wer ist es?« »Sehen Sie selbst«, sagte Kaup und winkte uns heran. Dann schlug er die Leinendecke vom Kopf des Mannes zurück. Seine Kehle war eine klaffende rote Wunde. Wir sahen dem alten Storm ins Gesicht.Die Nase seines Sohns färbte sich schlagartig tiefblau. »Das ist kein besonders guter Witz, Herr Bürgermeister«, sagte Storm, als er sich wieder gefasst hatte. »Wenn ich nicht wüsste, dass sich mein Vater gestern noch über diesen Körper gebeugt hat …« »Verzeihen Sie, lieber Storm«, sagte Kaup, »aber exakt so ist es Ihrem Vater und mir auch gegangen, als wir den Mann endlich aus dem Fass hatten. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie groß die Ähnlichkeit ist.« »Darf ich?«, fragte ich, dann strich ich dem Liegenden über die Wange. Sie war kalt, starr, hart und etwas klebrig. »Eine Wachsfigur.« »Wo ist mein Vater? Wie geht es ihm?«, fragte Storm. »Als ich gestern Abend ging, bat er mich, die Figur mitzunehmen. Ich habe sie dann hierherschaffen lassen. Als ich heute früh nach ihm schickte, hieß es, er fühle sich matt und wolle das Bett nicht verlassen.« »Kein Wunder«, sagte Storm, »wenn man der eigenen Leiche ins Auge blickt. Was halten Sie von der Sache, Söt?« »Ich denke, Sie sollten Ihren Vater fragen, ob er sich in letzter Zeit einen Feind gemacht hat«, sagte ich. »Ihr Schreiber hat recht«, sagte Kaup. »Wer immer diese Wachspuppe hat anfertigen lassen, hat sich die Sache etwas kosten lassen. Außerdem muss er Mitwisser haben. Wenigstens den Künstler, der sie hergestellt hat. Und der musste sich vermutlich einige Zeit in der Nähe der Kanzlei herumtreiben, um diese große Ähnlichkeit zu erreichen. Fragen Sie Ihren Vater, ob ihm irgendetwas aufgefallen ist. Oder irgendjemand.« »Werden Sie selbst etwas unternehmen, Herr Bürgermeister?«, fragte Storm. 25

»Vorerst nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es verboten ist, Wachspuppen in fremden Hinterhöfen zu deponieren, selbst so sonderbare wie diese.« »Und wenn sie eine Warnung sein soll? Vielleicht wird mein Vater schon seit längerer Zeit bedroht und hat nichts davon erzählt?« »Mein Rat ist: Passen Sie gut auf ihn auf«, sagte Kaup. Er erhob sich von seinem Schreibsekretär und stand jetzt vor uns, zum Abschied bereit. »Und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ach, da ist noch etwas: In der Nacht zum Montag hat jemand versucht, ins Gefängnis einzubrechen.« »Sie meinen: auszubrechen?«, fragte Storm. »Nein, einzubrechen. Tostensen hörte etwas, schlug Alarm, und dann sah er eine Gestalt hinter dem Wassergraben weglaufen. Der Gefangene ist noch da. Fragen Sie ihn doch mal, er ist ja ihr Mandant.« Wir gingen die Treppe hinunter nach draußen. Storm wirkte unentschlossen. Schließlich schlug er den Weg zum Schloss ein. »Es sind nur ein paar Schritte«, sagte er. »Und wenn wir schon mal hier sind, können wir auch Steffens besuchen. Aber bitte notieren Sie, was er sagt. Vielleicht kommen wir ja heute mit ihm weiter.« Das Schloss von Husum hatte ich gestern nur im Abendlicht gesehen. Jetzt bemerkte ich auf der linken Seite ein flaches Wirtschaftsgebäude, das fast über die gesamte Breite der Anlage ging. Ein Teil davon war das Gefängnis. Tostensen führte uns zu einer der sieben Zellen. Er schloss den Raum auf, der sein Licht durch ein großes Gitterfenster erhielt. In der Mitte ein Tisch mit einem Stuhl, an der Wand eine Pritsche. Darauf lag ein älterer Mann mit dichtem dunklen Haar und sorgfältig gestutztem Bart, in dem sich graue Strähnen zeigten. Er schaute zur Tür. Als er sah, 26

dass wir es waren, schwand seine Aufmerksamkeit sofort wieder. »Guten Tag, Steffens«, sagte Storm. »Ich habe Ihnen Peter Söt mitgebracht, meinen neuen Schreiber. Er möchte sicher auch gern Ihre Geschichte hören – die wahre, meine ich, nicht die, die Sie mir seit dem Winter auftischen.« »Ich kann Ihnen da nicht helfen, Herr Advocat«, sagte der Mann. Immerhin hatte er sich jetzt auf seiner Pritsche aufgesetzt. »Es ist so, wie ich es Ihnen schon oft gesagt habe.« »Wissen Sie, dass Ihnen niemand glaubt? Wollen Sie mal hören, was die Zeitung über Sie schreibt?« Storm zog eine zusammengefaltete Seite aus der Brusttasche seine Mantels, dann las er vor: »Der gefährliche Verbrecher, Johann Steffens aus Schwabstedt, ist bereits neunmal in Verhör gewesen, hat jedoch nichts gestanden, und seine ganze Aussage ist nur ein Lügengewebe. Bei der Schlauheit, die derselbe besitzt, ist kaum anzunehmen, dass er zum völligen Geständnis gebracht werde, doch wird er, da die Indizien gar zu sehr gegen ihn zeugen, hoffentlich lebenslänglich ins Zuchthaus kommen und dadurch für die menschliche Gesellschaft unschädlich gemacht werden.« Das mit der Schlauheit schien Steffens zu gefallen. »Erzählen Sie das Ganze doch noch mal Herrn Söt. Vielleicht glaubt der Ihnen ja.« Steffens seufzte. »Dann übernehme ich das für Sie«, sagte Storm. »Unterbrechen Sie mich, wenn etwas nicht stimmt. Unser Freund hier lebte seit seinem spektakulären Freispruch von der Armenhilfe, weil niemand ihm mehr etwas zu verdienen gab und weil seine Familie …« »Lassen Sie das bitte …« »Also gut. Am 21. Januar bekam er frühmorgens Besuch. Es erschienen die Herren Bohns, Brauer und Petersen, alle drei im Gemeindevorstand Schwabstedts tätig, um ihm dabei zu helfen, sein 27

Brot künftig selbst zu verdienen, statt ihnen weiter zur Last zu fallen.« »Ach was!« »Die Gemeinde hatte also fürsorglich ein Fuhrwerk bereitgestellt, das Steffens nach Schleswig bringen sollte, damit er sich dort im Arbeitshaus nützlich machen könne.« »Waren Sie mal dort, Herr Advocat?«, fragte Steffens. »Haben Sie die schimmelige Bude mal von innen gesehen?« »Mein Mandant empfing die Herren ungefähr so, wie sie es erwartet hatten. Deshalb waren sie auch zu dritt gekommen. Er beschimpfte sie wüst …« »Ich habe sie nur gefragt, ob sie die Hosen voll hätten«, sagte Steffens zufrieden. »… und weigerte sich, den Wagen zu besteigen. Plötzlich griff er nach einem Beil und …« »Plötzlich nahmen mich zwei der sauberen Gemeindevorsteher von hinten in den Schwitzkasten«, sagte Steffens böse. »Der dritte hatte ein scharfes Messer in der Hand und lief direkt auf mich zu. Ich konnte mich gerade noch losmachen und griff nach der kleinen Axt auf dem Hackklotz. Zwei hielt ich mir damit vom Leib, aber Knud Petersen riss mir die Axt aus der Hand. Da bin ich weggerannt.« »Vierzehn Tage später haben sie ihn in Kappeln an der Ostsee aufgegriffen und hierhergebracht«, sagte Storm. »Knud Petersen erzählt die Geschichte übrigens ein bisschen anders. Er sagt, unser Freund hätte ohne Vorwarnung ein Gemetzel angerichtet. Bohn und Brauer haben auch wirklich grässliche Verletzungen davongetragen, ein Wunder, dass sie noch leben. Ich hatte Sie gar nicht für so gewalttätig gehalten, Steffens. Was meinen Sie dazu, Söt?« Um Steffens’ Augen war ein Netz aus vielen kleinen Fältchen. Er war weder besonders groß, noch wirkte er besonders kräftig. Warum waren sie zu dritt gekommen? »Was wollten diese Männer wirklich von Ihnen?« Steffens sah 28

mich überrascht an. Storm auch. »Sie glauben ihm diese Räuberpistole?« »Ich weiß nicht, was sie wollten«, antwortete Steffens. »Aber sicher nicht mich gesund in Schleswig abliefern.« »Glauben Sie, dass jemand Sie umbringen will?« Steffens grinste plötzlich. »Jetzt nicht mehr«, sagte er. Und war nicht dazu zu bringen, das zu erklären. Tostensen schloss die Zellentür hinter uns. Er hielt Storm zurück und wollte ihn offensichtlich allein sprechen. Ich lief bis zum Ausgang und wartete draußen. Die Sonne schien mir ins Gesicht, zum ersten Mal in diesem Jahr fühlte ich, wie sie brannte. Auf dem Rückweg zur Kanzlei schwieg Storm. Plötzlich sagte er: »Eigentlich mag ich Steffens ja. Ich weiß nur nicht, wie ich ihn verteidigen soll, wenn er mir nicht die Wahrheit sagt. Oder wenigstens eine Geschichte anbietet, die etwas überzeugender klingt. Wenn wir nicht gerade über den Tathergang streiten, kommen wir gut miteinander aus. Er hat mir auch eine alte Sage aus Schwabstedt diktiert, für meine Sammlung von Volkserzählungen, und ganz stolz seinen Namen daruntergesetzt.« Wieder schwieg er. Er wirkte angespannt, als wolle er etwas sagen und könne sich nicht dazu überwinden. »Wie wird es mit ihm vor Gericht weitergehen?«, fragte ich. »Es sieht nicht gut aus, aber er könnte mit drei bis vier Jahren Zuchthaus davonkommen. Natürlich nur, falls die beiden Gemeindevorsteher am Leben bleiben. Ich warte übrigens immer noch auf die Akten von seiner ersten Vernehmung und die medizinischen Gutachten zu den Verletzungen, die er den Männern zugefügt hat. Offenbar wollen sich die Ärzte nicht festlegen, weil niemand sagen 29

kann, ob sie wieder gesund werden. Immerhin hat es Steffens mit seiner Zelle hier ganz gut getroffen. Früher wurden die Gefangenen, die zum Tod verurteilt worden waren, im Amtssitz des Scharfrichters festgehalten, der Alten Fronerei. Als Kind habe ich den Keller noch gesehen. Feuchte, dunkle Mauern und vor dem Fenster ein doppeltes Eisengitter. Vor allem musste ich mir immer den schrecklichen Metzger Hinrich Petersen vorstellen, der dort etwa zwanzig Jahre vor meiner Geburt seine letzten Tage verbrachte. Er hatte eine alte Pastorenwitwe inihrem Haus überfallen und mit dem Messer zerstückelt. Angeblich führte er eine Liste, auf der noch andere reiche Witwen Husums standen, die er töten wollte. Meine Urgroßmutter war auch darunter. Sie hat mir die Geschichte oft in ihrem altmodischen Salon erzählt und machte dann gern die Schreie der Pastorenwitwe nach: ›Hinrich, Hinrich, lat he mi doch leven, wat hev ick em doch dan!‹« »Und wie hat man ihn erwischt?« »Der Mord sprach sich sofort herum, in allen Details. Als dann Petersens Nachbar frühmorgens ins Schlachthaus kam und von der Sache erzählte, war Petersen gerade dabei, mit bloßen Händen eine Kuh zu zerlegen. Er nahm sein blutiges Messer aus den Zähnen und sagte nur: ›En ole Wif oder ’n ol’ Ko!‹, das sei doch gar kein großer Unterschied, und was denn die ganze Aufregung solle.« »Verdächtig.« »Ja. Man untersuchte die Sache, fand genug Beweise, und Petersen wurde schließlich verurteilt. Am Morgen, als er hingerichtet werden sollte, lag er tot in der Zelle. Trotzdem wurde die Leiche noch auf dem Schinderkarren vors Rathaus gefahren, das Urteil wurde verlesen, dann wurde sie auf den Richtplatz gebracht und aufs Rad geflochten.« Inzwischen waren wir auf dem Marktplatz angekommen. »Husum ist klein«, sagte Storm, »jeder kennt jeden. Und die Stadt verzeiht einem nichts.« 30

Dann gab er sich endlich einen Ruck: »Stimmt es, Herr Söt, dass sich Ihr letzter Dienstherr in Plön erhängt hat, weil er bankrott war? Die Geschichte macht überall die Runde, sagt Tostensen.« »Und was erzählt man noch?« »Dass Sie deswegen Hals über Kopf aus Plön geflohen sind.« Dass etwas nicht stimmte, merkte er kurz nach der Explosion. Seine Anspannung hatte nachgelassen, die meisten Trümmer des Wracks waren versunken. Er beugte sich zum kleinen Verschlag im Heck des Ruderboots und tastete im Dunkeln nach dem Wasserfässchen. Die Außenseite war trocken, es war also dicht. Das war wichtig, falls sie ihn nicht sofort finden würden. Ohne Wasser bliebe ihm nicht viel Zeit. Mit beiden Händen zog er das Fass zu sich heran. Er fand die Öffnung, zog den Spund heraus und trank. Er würgte, spuckte aus, was er im Mund hatte, aber ein Teil war schon in seinem Magen. Er hatte das Fässchen gestern selbst gefüllt, mit Wasser aus den Schiffsvorräten. Süßwasser. Das hier schmeckte salzig.

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