Unverkäufliche Leseprobe aus: Munro, Alice Das ... - S. Fischer Verlage

der Brust gesprochen, gab sie dem Vergleich einen etwas albernen Klang, als sei ihre ... Auf der Bank vor Flos Laden sa- ßen ein paar alte Männer aus der ...
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Unverkäufliche Leseprobe aus: Munro, Alice Das Bettlermädchen Geschichten von Flo und Rose Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Inhalt

Eine fürstliche Abreibung 11 Privileg 54 Eine halbe Grapefruit 83 Wilde Schwäne 115 Das Bettlermädchen 135 Pech 199 Vorsehung 267 Simons Geschichte 306 Buchstabieren 349 Was glaubst du, wer du bist? 377

Eine fürstliche Abreibung

Eine fürstliche Abreibung. Das war Flos Versprechen. Du wirst eine richtig fürstliche Abreibung kriegen. Das Wort »fürstlich« zerfloss Flo auf der Zunge, es wurde immer festlicher. Rose hatte das Bedürfnis, sich Dinge auszumalen, ausgefallenen Gedanken nachzugehen, das viel stärker war als das Bedürfnis, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, und statt sich die Drohung zu Herzen zu nehmen, grübelte sie: Wodurch wird eine Abreibung fürstlich? Ihr fiel eine von Bäumen gesäumte Prachtstraße ein, eine Menge feierlicher Zuschauer, weiße Pferde und schwarze Sklaven. Jemand kniete, und das Blut schoss heraus wie kleine Fahnen. Ein grausames und doch großartiges Ereignis. Im wirklichen Leben erreichte man diese Würde bei weitem nicht, nur Flo versuchte, dem Ereignis eine Art erhabenen Anschein von Notwendigkeit und Bedauern zu geben. Rose und ihr Vater waren bald über alles Vorstellbare hinaus. Ihr Vater war Meister der fürstlichen Abreibun11

gen. Die von Flo waren nie der Rede wert; das waren nur leichte Klapse, die sie austeilte, während ihre Gedanken anderswo waren. Geh mir aus dem Weg, sagte sie dann. Kümmer dich um deine Angelegenheiten. Mach nicht so ein Gesicht. Sie wohnten hinter einem Laden in Hanratty, Ontario. Sie waren zu viert: Rose, ihr Vater, Flo und Roses kleiner Halbbruder Brian. Der Laden war eigentlich ein Haus, das Roses Eltern gebaut hatten, als sie heirateten und hier eine Reparaturwerkstatt für Polstermöbel aufmachten. Ihre Mutter verstand etwas von Polsterei. Rose hätte von ihren Eltern geschickte Hände, ein Gefühl für Stoffe, ein Auge für die besten Methoden des Ausbesserns erben müssen, hatte es aber nicht. Sie war ungeschickt, und wenn etwas entzweiging, konnte sie es nicht schnell genug zusammenfegen und wegwerfen. Ihre Mutter war gestorben. Eines Nachmittags hatte sie zu Roses Vater gesagt: »Ich habe ein Gefühl, das ich nicht recht erklären kann. Es ist, als hätte ich ein gekochtes Ei in der Brust, mit Schale.« Sie starb noch am gleichen Abend, sie hatte ein Blutgerinnsel in der Lunge. Rose war damals ein Säugling in einem Korb, deshalb konnte sie sich natürlich an nichts von alldem erinnern. Sie hörte es von Flo, die es von ihrem Vater gehört haben musste. Bald danach kam Flo zu ihnen, übernahm Rose in ihrem Korb, heiratete ihren Vater und richtete vorn einen Kolonial12

warenladen ein. Rose, die das Haus nur als Laden gekannt hatte, die nur Flo als Mutter gekannt hatte, stellte sich die beinahe sechzehn Monate, die ihre Eltern hier gelebt hatten, als eine geordnete, viel ruhigere und eher festliche Zeit mit einem leichten Anklang von Wohlstand vor. Sie besaß von damals nur ein paar Eierbecher, die ihre Mutter gekauft hatte, verziert mit Weinreben und Vögeln, fein gezeichnet wie mit roter Tinte; das Muster fing an zu verblassen. Es gab keine Bücher oder Kleider oder Bilder von ihrer Mutter mehr. Ihr Vater musste sie weggeschafft haben, vielleicht auch Flo. Flos einzige Geschichte über ihre Mutter, die von ihrem Tod, war seltsam widerstrebend. Flo mochte Details über das Sterben: was die Leute sagten, wie sie sich wehrten oder aufzustehen versuchten oder fluchten oder lachten (manche taten so was), aber wenn sie sagte, Roses Mutter habe von einem hartgekochten Ei in der Brust gesprochen, gab sie dem Vergleich einen etwas albernen Klang, als sei ihre Mutter jemand gewesen, der glaubte, man könne ein ganzes Ei auf einmal hinunterschlucken. Ihr Vater besaß hinter dem Laden einen Schuppen, in dem er Möbel reparierte und aufarbeitete. Er flocht Sitze und Lehnen für Stühle, besserte Korbwaren aus, füllte Risse, setzte Beine wieder an, und das alles ganz ausgezeichnet und geschickt und günstig. Darauf war er stolz: die Leute durch so sorg13

fältige Arbeit, so geringe, ja fast lächerliche Preise zu verblüffen. Während der Depression konnten die Leute sich vielleicht nicht leisten, mehr zu bezahlen, aber er behielt die Gewohnheit während des Krieges und auch während der Wohlstandsjahre nach dem Krieg bei, bis er starb. Er sprach nie mit Flo darüber, was er verlangte oder was noch ausstand. Als er gestorben war, musste sie hinausgehen, den Schuppen aufschließen und alle möglichen Papierfetzen und zerrissene Briefumschläge von den großen, gefährlich aussehenden Haken nehmen, die er als Ordner benutzte. Sie merkte, dass manches davon überhaupt keine Rechnungen oder Quittungen waren, sondern Aufzeichnungen über das Wetter oder kurze Notizen über den Garten, eben Dinge, die aufzuschreiben ihm in den Sinn gekommen waren. 25. Juni, neue Kartoffeln gegessen. Aufschreiben. Düsterer Tag, 1880, nichts Übernatürliches. Aschewolken von Waldbrand. 16. Aug. 1938. Wahnsinniges Gewitter am Abd., Blitz schl. Pres. Kirche. Turberry Tsp. Gottes Wille? Eingemachte Erdbeeren wegen Säure. Alle Dinge sind lebendig. Spinoza. Flo dachte, Spinoza müsse wohl eine neue Gemüsesorte sein, die er anpflanzen wollte, wie Broccoli oder Auberginen. Er hatte oft irgendwas Neues pro14

biert. Sie zeigte Rose den Zettel und fragte, ob sie wisse, was Spinoza sei. Rose wusste es oder hatte zumindest eine Ahnung – sie war damals schon halb erwachsen –, aber sie antwortete, sie wisse es nicht. Sie war in einem Alter, das sie glauben ließ, sie könne es nicht ertragen, noch irgendetwas über ihren Vater oder über Flo zu erfahren; sie schob jede neue Entdeckung verwirrt und verschreckt beiseite. In dem Schuppen standen ein Ofen und ein paar einfache Regale mit Dosen voller Farbe und Firnis, Schellack und Terpentin, Krüge mit eingeweichten Pinseln und auch einige dunkle klebrige Fläschchen mit Hustentropfen. Warum mochte ein Mann, der ständig hustete, dessen Lungen im Krieg eine Portion Gas abbekommen hatten (dieser Krieg wurde in Roses frühester Kindheit nicht der Erste, sondern der Letzte Krieg genannt), seine Tage damit verbringen, die Ausdünstungen von Farbe und Terpentin einzuatmen? Damals stellte man solche Fragen nicht so oft wie heute. Auf der Bank vor Flos Laden saßen ein paar alte Männer aus der Nachbarschaft, schwatzten und dösten bei dem warmen Wetter, und einige von diesen Männern husteten ebenfalls die ganze Zeit. In Wirklichkeit starben sie langsam und unauffällig an dem, was man ohne jeden klagenden Unterton die »Gießerei-Krankheit« nannte. Sie hatten ihr ganzes Leben lang in der Gießerei der Stadt gearbeitet, nun saßen sie still da mit ihren verwüste15

ten gelben Gesichtern, husteten, kicherten, ergingen sich in ziellosen Obszönitäten über vorbeigehende Frauen oder ein junges Mädchen auf einem Fahrrad. Aus dem Schuppen hörte man nicht nur Husten, sondern auch Reden, ein fortwährendes Murmeln, vorwurfsvoll oder ermutigend und gewöhnlich gerade noch unterhalb der Lautstärke, bei der man einzelne Worte vernehmen konnte. Es wurde langsamer, wenn ihr Vater ein heikles Stück Arbeit vor sich hatte, und steigerte sich zu freudigem Tempo, wenn er etwas weniger Anspruchsvolles tat, wie Abschleifen oder Anstreichen. Hin und wieder brachen einige Worte durch und hingen klar und ohne Sinn in der Luft. Wenn er merkte, dass sie heraus waren, kam zur Tarnung ein schnelles kleines Husten, ein Schlucken, ein angespanntes, ungewohntes Schweigen. »Makkaroni, Peperoni, Botticelli, Bohnen …« Was mochte das bedeuten? Rose wiederholte solche Dinge gern für sich. Sie konnte ihn nie fragen. Der Mensch, der diese Worte sprach, und der Mensch, der als ihr Vater zu ihr sprach, waren nicht derselbe, obwohl sie den gleichen Raum einzunehmen schienen. Es würde von allerschlechtestem Geschmack zeugen, eine Person wahrzunehmen, die angeblich nicht da war; das würde nicht verziehen werden. Trotzdem lungerte sie herum und horchte.

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