und Ideologiekritik im argentinischen Film während

12 Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. S. 164. (sic.) .... Das Ritual definiert die Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen [.
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Rouven Rech

Die Botschaft zwischen den Zeilen Staats- und Ideologiekritik im argentinischen Film während der Militärdiktatur (1976-83)

Diplomica Verlag

Rouven Rech Die Botschaft zwischen den Zeilen: Staats- und Ideologiekritik im argentinischen Film während der Militärdiktatur (1976-83) ISBN: 978-3-8366-4544-7 Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010

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Inhalt I. Einleitung

3

II. Ausführungen zur methodisch-thematischen Vorgehensweise

7

1. Gliederung der Arbeit

7

2. Methodik

7

2.1. Analytische Recherche und Rahmenbedingungen

7

2.2. Theoretische Ansätze

9

3. Medienzensur – ein Definitionsansatz

III. Sozio- und zensurpolitische Entwicklung Argentiniens 1. Politische Vorläufer des Militärputsches von 1976

13

17 18

1.1. Perón zum Ersten – Staatlicher Protektionismus und Institutionalisierung der Zensur

18

1.2. Die Militärs an der Macht – Politischer Kurs und nationale Filmzensur ab 1955

20

1.3. Die Diktatur Onganías und die „Ente de Calificación Cinematográfica“

22

1.3.1. Das Gesetzesdekret 18.019 zum Einsatz der Zensurbehörde

25

1.4. Politische Aufbruchsstimmung und kurzer „Boom“ des argentinischen Kinos

27

2. Der „Proceso de Reorganización Nacional“ – Die Militärdiktatur von 1976-83

30

2.1. „La guerra sucia“ – Der Krieg gegen das eigene Volk

30

2.2. Institutionelle Festigung der diktatorischen Ideale in der Filmpolitik

33

2.3. Das „äußere“ und das „innere“ Exil – Selbstzensur als letzter Ausweg

37

2.4. Die Filmwirtschaft ab 1976 in Zahlen

39

IV. Film als Ideologieträger – Die Botschaft zwischen den Zeilen

42

1. Unterhaltung zwischen Mord und Desaparición – Panorama des systemtreuen Kinos

42

2. Das Genre – stummer Mittler sozialer Realitäten

49

2.1. Das Verlachen der Realität – grotesk-satirische Komik als sozialkritischer Beitrag 2.1.1. „La nona“ (1979) – Soziopolitisches Versagen als ‚genetisches‘ Erbgut 2.2. Die langen Schatten der Wirklichkeit – Der Film Noir

51 54 59

2.2.1. „La parte del león“ (1978) – die entseelte Großstadtwelt als Assoziationsraum verlorengegangener Werte

63

2.2.2. „Tiempo de Revancha“ (1981) – das Schweigen einer ganzen Nation

71

2.2.3. „El poder de las tinieblas“ (1979) – Alptraum von der Macht der Dunkelheit

79

2.3. Die Tragödie – Abbildung und Abstraktion der Realität

86

2.3.1. „La isla“ (1979) – Die verwundeten Seelen der argentinischen Nation

90

2.3.2. „Los miedos“ (1980) – Vorgriff auf die läuternde Wirkung der Tragödie

96

2.3.3. „Crecer de golpe“ (1977) – Schmerzhafte Erfahrung des Erwachsenseins

103

V. Resümee – Eine alternative Sprache?

110

VI. Bibliographie

115

Artikel 19 aus der allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenze Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

I.

Einleitung Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das im Artikel 19 der UNO-

Menschenrechtserklärung jeder Person zugesichert wird, erfährt vor allem in diktatorischen Staatsordnungen eine empfindliche Einschränkung. Diese totalitären Systeme versuchen durch das Auferlegen repressiver Zensur sich öffentlicher Diskurse zu bemächtigen und einen freien Gedankenaustausch innerhalb ihrer Gesellschaft zu unterbinden. Die Implementierung solcher kontrollierender Maßnahmen muß aber nicht immer die alleinige Behinderung oder Unterdrückung kreativer Freiheit zur Folge haben, sondern kann auch dazu führen, daß sich neue Ausdrucksformen zur Äußerung nonkonformistischer Gedanken entwickeln. Dieses Phänomen haben u.a. verschiedene Untersuchungen zur systemkritischen Literatur- und Filmproduktion während des Franco-Regimes in Spanien nachgewiesen. Dort wird ein dialektisches Verhältnis zwischen Zensur und Kreativität erörtert.1 Die unter Aufsicht der Zensur entstandenen Werke rekurrieren demzufolge auf die unterschiedlichsten Umgehungsstrategien des uneigentlichen Erzählens und der indirekten Rede, um ihre kritischen Botschaften an den Adressaten zu vermitteln. An diesem Punkt stellt sich die Frage, inwiefern ähnliche Mechanismen auch in anderen despotisch geführten Staaten greifen. Unter diesem Aspekt ist die Filmproduktion in der Frühphase der letzten argentinischen Militärdiktatur ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Mit dem Staatsstreich vom 24. März 1976 erreichte die Geschichte der Diktaturen und nationalistischen Ideologien in Argentinien ihren traurigen Höhepunkt und im Zeichen des anschließenden, acht Jahre dauernden „Proceso de Reorganización Nacional“ („Prozeß der nationalen Reorganisation“) wurde eine strenge Zensurpolitik ausgeübt. Die brutalen paramilitärischen Praktiken und der konservative Kurs der Zensurbehörde sorgten ab 1976 scheinbar für eine vorübergehende Auslöschung jeglicher oppositioneller Bewegung oder Gegenöffentlichkeit in allen Bereichen der Massenmedien.2 1

Vgl. u.a. Hans-Jörg Neuschäfer: Macht und Ohnmacht der Zensur, Gabriele Knetsch: Die Waffen der Kreativen und Elke Rudolph: Im Auftrag Francos. 2 Vgl. Barbara Klimmeck: Argentinien 1983: Militärherrschaft, Medienzensur, Menschenrechtsverletzungen. Theater und Musik waren aufgrund ihrer schlichteren Produktionsmöglichkeit und der simpleren Distribution 3

In diesem Zusammenhang steht die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit, denn die Entwicklung der zensur- und soziopolitischen Verhältnisse wirkte sich sowohl quantitativ3 – durch den wirtschaftlichen Einbruch der einheimischen Filmindustrie – sowie qualitativ4 – durch die Desaparición5 oder das Exil vieler linksideologischer Filmemacher – auf die argentinische Filmproduktion aus. Die moralische und ideologische Kontrolle der Kinofilme oblag der „Ente de Calificación Cinematográfica“ („Behörde zur Filmbeurteilung“) und führte in den ersten Jahren des Regimes zu einer vollständigen Verbannung aller konkret systemkritischen und politisierenden Werke aus den argentinischen Lichtspielhäusern. Erst einige Jahre später erfolgte mit der ökonomischen Schwächung des Regimes wieder eine zunehmende Politisierung der Inhalte.6 Die Niederlage Argentiniens im Falklandkrieg (1982) bedeutete das politische Ende des „Proceso de Reorganización Nacional“ und infolge der Demokratisierung des Landes Ende 1983 kam es zur Auflösung bzw. Substitution der „Ente de Calificación Cinematográfica“ durch eine Behörde mit der ausschließlichen Befugnis zur Einstufung der Filme nach Altersgruppen.7 Wie funktionierte die Filmzensur während der letzten Militärdiktatur? Auf welche Art beeinflußte die Zensur die Arbeitsweise der Filmemacher? War es möglich, Strategien gegen diese Zensur zu entwickeln? Und wenn ja, um welche handelte es sich? Antworten auf diese Fragen soll die vorliegende Arbeit liefern. Ausgewählte Filme werden über der Folie eines genretheoretischen Hintergrundes erläutert und in Verbindung bzw. Exhibition eher als Systemkritik einsetzbar. Allerdings hatten sie auch eine geringere Reichweite als die Massenmedien. Im Theater entstand 1981 die oppositionelle Bewegung des „teatro abierto“ („offenes Theater“), das auf verschiedenen Bühnen beheimatet war und oftmals Vorstellungen mitten in der Nacht gab. Die systemkritischen Musiker gaben hingegen keine großen Konzerte, sondern traten in Bars auf. Ihre Songs wurden auf Kassetten unter der Hand weiter gereicht. Vgl.: Francine Masiello: La Argentina durante el Proceso. S. 17. 3 „La cifratope de 40 largometrajes realizados en 1974 descendió a 32 en 1975, cayendo abruptamente a 16 en 1976 y a 16 en 1977 [...].“ („Die Höchstzahl von 40 realisierten Filmen im Jahr 1974 verminderte sich auf 32 im Jahr 1975, um dann abrupt auf 16 im Jahr 1976 zu fallen und 1977 auf 16 zu verweilen [...]“). Aus Octavio Getino: Cine argentino: entre lo posible y lo deseable. 1998. S. 71. 4 „Entre 1976 y 1978 el cine argentino no pudo concretar ningún proyecto culturamente importante. Dominó la producción de „comedias ligeras“, filmes con cantantes de moda y otros de humor grueso que exhibían lo más deplorable del país.“ („Zwischen 1976 und 1978 konnte das argentinische Kino kein kulturell wichtiges Projekt realisieren. Es dominierte die Produktion der „seichten Komödien“, mit „In“-Sängern und albernem Humor, die das Jämmerlichste des Landes zur Schau stellten.“) Ebd. S. 71. 5 Anm.: Desaparición (spanisch für „Verschwinden“) oder Desaparecido (sp. f. „Verschwundener“) steht für die Entführung und Eliminierung ideologischer Gegner während des Militärregimes von 1976. 6 „Durante los últimos años del Proceso, el número de películas de tono político aumentó en forma progresiva desde 1981.“ („In den letzten Jahre des ‚Proceso‘ erhöhte sich ab 1981 die Anzahl der Filme mit politischem Unterton in progressiver Form.“) Maria Elena de Carreras de Kuntz: El cine político durante el Proceso. S. 32. 7 Am 21. März 1984 verfügte das Gesetz 23.052 über die Aussetzung des Gesetzesdekrets 18.019, was gleichbedeutend mit dem Verbot jeglicher staatlicher Filmzensur war. Vgl.: Boletin Oficial. Buenes Aires: Secretaria de Información pública, 21. März 1984. S. 1. 4

zum soziokulturellen Kontext der Militärdiktatur untersucht. Diese Annäherung basiert auf der Hypothese, daß die genrezitären Besonderheiten der zu analysierenden Filme eine interpretatorische Offenheit der Werke bedingen. Es wird angenommen, daß die in dieser Arbeit

durchzuführenden,

semiotisch-orientierten

Filmanalysen

eine

Technik

des

uneigentlichen Erzählens offenbaren. Im Rahmen dieser Überlegungen würde eine sozialkritische Botschaft erst durch eine zeitgenössische Kontextualisierung verständlich. Ein Vorwissen über den soziologischen Hintergrund und die Institutionsgeschichte des Landes ist somit für die Beurteilung einer ambivalenten Deutungsmöglichkeit ‚visueller Texte‘ unabdingbar. Aus diesem Grund macht es sich die Arbeit zur Aufgabe, einen Überblick über die gesellschafts- und zensurpolitische Entwicklung Argentiniens zu geben. Die Filme sind alle aus der ersten Phase des „Proceso de Reorganización Nacional“ gewählt, die als die ‚härtere‘ Periode der Militärdiktatur angesehen wird und in den filmwissenschaftlichen Untersuchungen argentinischer Experten wenig, bisweilen lediglich negative Beachtung findet.8 Der allgemeinen Behauptung, die den Produktionen jener Zeit eine Abwesenheit jeglichen kritischen Potentials nachsagt, wird in dieser Arbeit widersprochen. Da es sich bei dem gewählten Ausschnitt um einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum handelt und nicht auf eine entwicklungsreiche Zensurgeschichte wie etwa im Franquismus zurückgeblickt werden kann, ist aufgrund der relativ geringen Anzahl von Produktionen eine exemplifizierende Auswahl nicht möglich. Vielmehr soll anhand von den sieben

Filmen,

denen

in

dieser

Arbeit

eine

subtile

und

nonkonformistische

Botschaftsvermittlung zugeschrieben wird, die These einer genretheoretisch faßbaren Systematik von Tarnmechanismen aufgezeigt werden. Bei den Filmen handelt es sich ausschließlich um Produktionen von bedeutenden Regisseuren der argentinischen Filmindustrie: „Crecer de golpe“ (1977) von Sergio Renán, „La parte de león“ (1978) und „Tiempo de Revancha“ (1981) von Adolfo Aristarain, „La isla“ (1979) und „Los miedos“ (1980) von Alejandro Doria, „El poder de las tinieblas“ (1979) von Mario Sábato und „La nona“ (1979) von Héctor Olivera. Eine Anregung für die Themenwahl dieser Studie war die filmwissenschaftliche Annäherung an das südamerikanische Kino, die infolge eines Studienjahrs an der „Universidad del Cine“ (FUC) in Buenos Aires möglich wurde. Dieser Aufenthalt gestattete einen ersten Einblick in die zensur- und filmpolitische Geschichte Argentiniens und bot eine Perspektive über die soziokulturelle Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert. Diese 8

Vgl. Sergio Wolff: El cine del Proceso und Maria de las Carreras de Kuntz: El cine político durante el Proceso. 5

Eindrücke führten zu der Produktion einer Videodokumentation über die Funktionsweise der Filmzensur während des „Proceso de Reorganización Nacional“.9 Die in den Interviews mit argentinischen Filmschaffenden neu aufgeworfenen Fragen und die bis heute grundsätzlich sehr geringe wissenschaftliche Beachtung des argentinischen Kinos in Deutschland gaben den Anstoß für die theoretische Analyse dieses spezifischen Phänomens.10 Im Gegensatz zu der filmischen

Auseinandersetzung,

die

ihr

Hauptaugenmerk

auf

die

vermeintliche

Aussageintention des Filmemachers richtet, fundiert die wissenschaftliche Hypothese auf der autorenunabhängigen Interpretierbarkeit des fertigen Werks. Die Macher bestreiten, eine politische Kritik oder die offene Anklage der geschehenen Verbrechen in ihren Werken intentional verarbeitet zu haben. Sie geben zu verstehen, daß ihr Interesse lediglich darin bestand, eine Geschichte zu erzählen und die Geschehnisse ihrer privaten Umwelt in Bilder umzusetzen.11 In diesem Verhältnis berichtet Umberto Eco von einer interessanten Erfahrung hinsichtlich der Psychologie der Kreativität: „Den kreativen Prozeß verstehen heißt auch verstehen, wie bestimmte Lösungen des Textes durch serendipity oder als Resultat unterbewußter Mechanismen zustande kommen.“12 Am eigenen Beispiel berichtet er, woher die Detailbeschreibung des todbringenden Buches in „Der Name der Rose“ stammt. Es begann damit, daß er in seiner Hausbibliothek eine antike Schrift wiederfand: Ich inspizierte das Buch und fertigte meine Beschreibung an – und plötzlich wurde mir klar, daß ich von neuem den Namen der Rose schrieb, nämlich die Beschreibung des Buches, das William durchblättert. [...] Ich hatte das Buch vor mir, das ich in meinem Roman beschrieben hatte. Es hatte viele Jahre in meinem Regal gestanden.13

Den Regisseuren der kritischen Filmwerke kann man eine ähnlich „unerwartete Entdeckung“14 unterstellen, woraufhin eine ausschließliche Beschäftigung mit dem fertigen Werk legitimiert erscheint. Der Unterschied besteht darin, daß es sich bei dem beschriebenen Gegenstand in den Filmen nicht um ein vergessenes Buch im Bücherregal handelte, sondern um die verdrängte Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in Argentinien.

9

„Entrelineas – Die Botschaft zwischen den Zeilen“, Regie: Rouven Rech, Buenos Aires, 2000. Einige der wenigen interessanten filmhistorischen Auseinandersetzungen mit dem argentinischen Kino findet man u.a. bei Peter B. Schumann: Handbuch des Lateinamerikanischen Films, Thomas Kirsch: Die Entwicklung der argentischen Filmindustrie und Bettina Bremme: Movie-mientos. 11 In den Interviews mit dem Autor bestritten alle Regisseure eine direkte Referenz ihrer Werke auf die psychischen und physischen Gewalttaten der Militärdiktatur. 12 Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. S. 164. (sic.) 13 Ebd. S. 165. 14 Deutsche Übersetzung für „serendipity“. 10

6

II. 1.

Ausführungen zur methodisch-thematischen Vorgehensweise

Gliederung der Arbeit Die Arbeit ist in zwei große Abschnitte gegliedert, wobei sich der erste mit der sozial-

und zensurpolitischen Entwicklung Argentiniens befaßt. Der zweite beinhaltet die semiotischen Filmanalysen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Genremerkmale. Der erste Teil besteht sowohl aus einer kurzen historischen Erläuterung der gesellschaftspolitischen

Ereignisse

als

auch

aus

einer

Darstellung

des

formalen

Enstehungsprozesses der Zensur. Zunächst erklärt sich aus den geschichtlichen Vorläufern das Zustandekommen der staatlichen Feindbilder und der Ursprung der institutionalisierten Normen im „Proceso de Reorganización Nacional“. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels erfolgen eine genaue Situationsbeschreibung der gesellschaftlichen Vorgänge nach dem Staatsstreich von 1976, eine Skizzierung der – offiziellen und inoffiziellen – staatlichen Restriktionsmaßnahmen und eine Schilderung der Konsequenzen für die argentinische Filmbranche. Der zweite Teil ist einer formanalytischen Untersuchung der Filmbeispiele gewidmet, wobei den detaillierten Filmbesprechungen eine Einführung in das Genre, dem sie zugehörig sind, vorangestellt wird. Darin werden im Einzelnen die kanonisierten Merkmale sowie das vermeintlich kritikübende Potential der Genretypen ausgestellt. Die Zuordnung der unterschiedlichen Filme in ein Genre basiert auf ihrer Übereinstimmung mit den jeweiligen genrezitären Konventionen: „La nona“ als satirisches Komödienformat – „La parte del león“, „Tiempo de Revancha“ und „El poder de las tinieblas“ als Beispiele des Film Noir – „La isla“, „Los miedos“ und „Crecer de golpe“ als dem klassischen Drama zugehörig. In

den

einzelnen

Formanalysen

soll

schließlich

erörtert

werden,

welche

erzählästhetischen Besonderheiten sich die Filme zu eigen machen, um innerhalb der Grenzen des herkömmlichen Genrefilms eine interpretative Offenheit anzubieten. Ziel dieser Arbeitsweise ist es, spezifische Aspekte des Phänomens der Umgehungsstrategien in einen Sinnzusammenhang mit genretheoretischen Überlegungen zu bringen. 2.

Methodik

2.1.

Analytische Recherche und Rahmenbedingungen Die historischen Fakten und literarischen Quellen wurden zum einen mittels intensiver

Recherchearbeit in den argentinischen Staatsarchiven des „Instituto Nacional del Cine“ (INCCA) und der „Biblioteca Nacional“ sowie aus den Bibliotheken des „Museo de Cine“, 7

der „Universidad del Cine“ (FUC) und der „Universidad de Buenos Aires“ (UBA) zusammengetragen. Die relevanten Gesetzestexte können in den Veröffentlichungen des „Boletin Oficial de la República Argentina“ im „Sede Central“ des Staatsarchivs in Buenos Aires nachgelesen werden. Ergänzende Informationen über Repressionsmaßnahmen und Arbeitsbedingungen wurden in Videointerviews15 mit Beteiligten und Betroffenen des Zensurprozesses erarbeitet. Bei den Zeitzeugen handelt es sich um namhafte Persönlichkeiten aus der argentinischen Filmlandschaft: Aída Bortnik (Drebuchautorin), Manuel Antín (Regisseur, ehemaliger Leiter des Filminstituts von 1983-1989), Adolfo Aristarain (Regisseur und Drehbuchautor), Héctor Olivera (Produzent und Regisseur), Sergio Rénan (Regisseur und Darsteller), Alejandro Doria (Regisseur), Octavio Getino (Film- u. Fernsehwissenschaftler, Drehbuchautor, Leiter des Zensurinstituts im Jahr 1974) und Mario Sábato (Regisseur). Diese Gespräche waren notwendig, um die empirische Grundlage der Arbeit zu festigen, denn nur wenige Dokumente der Zensurbehörde entgingen nach Beendigung der Militärdiktatur im Jahre 1983 dem Reißwolf und fanden im Zuge der Auflösung der „Ente de Calificación Cinematográfica“ den Weg in die zuständigen demokratischen Behörden. Weder Staatsarchiv, Filminstitut oder Filmmuseum, noch die zahlreichen Filmbibliotheken konnten erschöpfend Auskunft über den Verbleib der offiziellen Akten geben. Alle verbliebenen Dokumente scheinen letztendlich mit der Neustrukturierung und Umbenennung des „Instituto Nacional de Cine“ (INC, heute INCAA) im Jahre 1990 abhanden gekommen zu sein.16 Dementsprechend

gibt

es

weder

Informationen

aus

Sitzungsprotokollen

der

Zensurkommission, noch liegen zensierte Drehbücher vor, die einen Vergleich mit dem Original

des

Autors

zulassen

würden.

Eine

Rekonstruktion

der

staatlichen

17

Ein weiteres

Zensurmechanismen anhand historischer Schriftstücke ist deshalb undenkbar.

Hindernis für die wissenschaftliche Bearbeitung ergab sich bei der Zusammenstellung des zugrundeliegenden Filmkorpus. Einige Produktionen liegen nicht als offizielle Videoedition

15

Anmerkung: Die Transkription der Interviews sowie alle Übersetzungen spanischsprachiger Quellen stammen vom Autor dieser Arbeit. Den Originalzitaten sind die Übersetzungen direkt nachgestellt. 16 Diese Vermutung äußerte Octavio Getino, der in den ersten zwei Jahren der peronistischen Regierung unter Menem (1989-1999) auch Direktor des Filminstituts gewesen ist und einige Dokumente in Form von Fotokopien erhalten konnte. 17 Eine Anekdote am Rande: Im INCAA wurde zwar eingeräumt, daß „irgendwo“ ein Mikrofilm mit entsprechenden Informationen existiere, zur Zeit aber kein funktionsfähiger Sichtungsapparat vorhanden sei und die Mikrofiches nicht außer Haus gegeben werden dürften. Der Apparat wurde auch nach mehrfacher Anfrage während des gesamten Studienjahrs nicht instant gesetzt. 8

vor, weshalb teilweise die Regisseure zur Sichtung des Materials die letzte VHS-Abtastung aus ihrem eigenen Privatbestand zur Verfügung stellten.18 2.2.

Theoretische Ansätze Die empirischen Erkenntnisse bilden im Verbund mit den folgenden theoretischen

Überlegungen eine Methodik zur Erörterung und Beschreibung des Phänomens filmischer Umgehungsstrategien.

In

literaturwissenschaftlichen

diesem

Zusammenhang

Untersuchungen,

in

scheinen

denen

bereits

die die

Ergebnisse

aus

Existenz

und

Funktionsweisen von verborgenem Widerstand während des „Proceso de Reorganización Nacional“ aufgezeigt und erläutert wurden, von Bedeutung zu sein.19 Die Einhaltung des homogenen Diskurses bedeutete auch in diesem Medium die Begrenzung der kulturellen Vielfalt, da die pluralistische Meinungsbildung in jedem Fall eine Gefahr für das traditionelle Weltbild darstellte. Die Untersuchungen basieren vornehmlich auf der Tatsache, daß sich die Kritik am politischen Diskurs nicht in polemischer oder agitatorischer Weise darstellen darf. Die in einer derart offenen Form geäußerte Meinung ist zumeist wirkungslos, denn sie entspricht nicht der vorgegebenen, linientreuen Erwartungshaltung. Ein Zugang zum hegemonial bestimmten Diskurs bleibt einem solchen Werk verwehrt und die Ausgrenzung erfolgt durch ein vollständiges oder partielles Verbot. Eine nonkonforme Position muß erst Einlaß in die staatlich diktierte Umgebung finden, um von innen heraus auf die Mißstände hinzuweisen, ohne diese jedoch konkret zu benennen. Nach Auffassung der Politologin und Journalistin Beatriz Sarlo bestand deshalb die Aufgabe der nonkonformen Schriftsteller in Argentinien in einer Perspektivierung des oktroyierten Diskurses, dessen vereinheitlichende Botschaft in den literarischen Erzählungen aus verschiedenen Blickrichtungen dargelegt und somit in seiner Absolutheit relativiert werden sollte.20 Ideologische Diskurse (und Diskurse im Allgemeinen) bestünden demzufolge nicht ausschließlich aus dem durch das Regelwerk erlaubten, offen Artikulierten, sondern zugleich aus den Leerstellen, die die Exklusion von Begriffen, die Tabuisierung von Handlungen und das Vorenthalten von Information mit sich bringen.21 Der diskursive Begriffskorpus sei keinesfalls geschlossen und unverletzlich, sondern innerhalb 18

Anmerkung: Von jedem offiziell produzierten Film muß eine 35mm oder 16mm Kopie in der Cinemathek des Filminstituts in Buenos Aires hinterlassen werden. 19 Vgl. u.a. in José Javier Maristany: Narraciones peligrosas, Jorgelina Corbatta: Narrativas de la guerra sucia en Argentina, und Ficcion y política. 20 Vgl. Beatriz Sarlo: Política, ideología y figuración literaria. S. 43. 21 Ebd. S. 35. 9

seiner eigenen Normierung angreifbar. Dadurch äußere sich eine Kritik nicht durch das inhaltliche Füllen der Leerstellen, sondern durch den bloßen Verweis auf ihre Existenz. In dieser Vorgehensweise sieht die Literaturwissenschaftlerin Francine Maciello die Möglichkeit zur Fragmentierung des homogenen Diskurses: A la luz de tal experiencia, la tarea de la crítica, entonces, era enseñar a los lectores a descifrar mensajes sociales e identificar los discursos opuestos que estaban en circulación en la Argentina.22 (Im Licht dieser Erfahrung war also die Aufgabe der Kritik, dem Leser aufzuzeigen, wie man gesellschaftliche Botschaften dechiffriert und oppositionelle Diskurse identifiziert, die in Argentinien im Umlauf waren.)

Die Nutzung der marginalen Freiräume innerhalb des starren Ideologiekonstrukts käme einem ‚Fingerzeig‘ gleich, der auf die sozialen Mißstände deutet. Eine kritische Botschaft vermittle sich hier weniger durch Handlung und Inhalt, sondern in erster Linie mit Hilfe der Offenlegung jener restriktiven Modalitäten, die das Zustandekommen einer begrenzten Kommunikation bedingen. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, das Phänomen der versteckten Ideolgiekritik auch für den Film beschreibbar zu machen. Die Herangehensweise lehnt sich deshalb an den Foucaultschen Diskursbegriff an. Der Mechanismus zur Auswahl von Diskursinhalten wird zunächst durch komplexe Systeme der Einschränkungen bestimmt. Diese Einschränkungen finden ihren Ausdruck in der Implementierung von Konventionen und Umgangsformen, die Foucault in seiner Rede zur „Ordnung des Diskurses“ als Rituale bezeichnet: Das Ritual definiert die Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen [...]; es definiert die Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen, welche den Diskurs begleiten müssen; es fixiert schließlich die vorausgesetzte oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf den Adressaten und die Grenzen ihrer zwingenden Kräfte.23

Innerhalb dieser Qualifikationskriterien bewegen sich die geäußerten Gedanken und verhandelten Gegenstände immer im Grenzbereich eines Diskurses. Die Aussage wird für den analytischen Ansatz der Arbeit nutzbar, wenn man in diesem Zitat den Begriff „Ritual“ durch „Genre“ ersetzt. Auf diese Weise ergeben sich Möglichkeiten für eine Anwendung des Diskursbegriffs auf die narrativen Muster, die am Verstehensprozeß von (visuellen) Texten teilhaben. Dort kommt es gleichfalls zu einem Ausschlußverfahren, in dem auf bestimmte Gestaltungsweisen und Thematiken zurückgegriffen wird. Im Rahmen eines filmtheoretischen Ansatzes nennt der Filmwissenschaftler Peter Wuss diesen Vorgang der Genrebildung 22

Francine Masiello: La Argentina durante el Proceso. S. 21f.

10