Trojas dunkles Geheimnis

einen reichen Spinner, der sich ein neues. Spielzeug gesucht habe und nun die Welt mit seinen Ergüssen belästige. Dabei übersehen die Leute hierzulande ...
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Wolfram Christ

Dorian van Delft

Trojas dunkles Geheimnis Historischer Roman

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© 2016 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2016 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Ralf Alex Fichtner Printed in Germany

AAVAA print+design Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck:

ISBN 978-3-8459-1980-5 ISBN 978-3-8459-1981-2 ISBN 978-3-8459-1982-9 ISBN 978-3-8459-1983-6 Mini-Buch ohne ISBN

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Wahrheit oder Phantasie? Kein Widerspruch. Wie arm wäre unser Leben ohne Träume! Besonders herzlich danke ich meinem Freund, dem Zeichner und Cartoonisten Ralf Alex Fichtner, für seine Cover-Gestaltung! Dank gebührt außerdem Uta Christ, meiner Lektorin, verständnisvollen Partnerin und aufopfernden Kraftfahrerin während der umfangreichen Recherchereisen durch Südosteuropa!

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Inhalt Zum Geleit Eine unerhörte Nachricht Aufbruch nach Troja Die Gefangene des Sultans Zwischen Leben und Tod Unter Mönchen Eine heiße Spur Sophia Schliemann Das Orakel von Delphi Thassopoúla Nachwort

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Zum Geleit

Geneigte Leserin, geschätzter Leser! Heute, im Jahre des Herrn 1874, bin ich nach langem Zögern willens, öffentlich zu jenen Ereignissen Stellung zu nehmen, die vor drei Jahren in fälschlicher und teils böswilliger Weise durch die Gazetten geisterten. Üble Verleumdungen sollten die Forschungen meines Freundes Doktor Heinrich Schliemann in den Schmutz ziehen. Sie trafen auch meine und Doktor Frans Ingmarsons Bestrebungen. Gemeinsam wollten wir einem der größten ungelösten Menschheitsrätsel auf den Grund gehen. Einem Jahrtausende alten dunklen Mythos, der von der legendären Festung Troja ihren Anfang nahm. Nun, Schliemann und seine wundervolle Gattin Sophia setzten im vergangenen Frühsommer die gesamte Fachwelt in Erstaunen. Sie brachten mit dem Fund des Priamos-Schatzes, 8

des Königsschatzes von Troja, alle Spötter und üblen Nachredner zum Schweigen. Sein Erfolg ermutigt mich, mit den im Folgenden zusammengestellten Briefen und Depeschen den Beweis anzutreten: Die von Homer und anderen antiken Dichtern besungene Kassandra, die weissagende Tochter von König Priamos, ist ebenso wenig haltloser Spuk oder Hirngespinst! Mehr noch. Die Frau lebt! Bis auf den heutigen Tag lebt sie und spricht ihre düsteren Warnungen aus! Wenn wir nur bereit wären, ihrem Rat zu folgen, bliebe uns viel Unheil erspart. Weswegen ich im Jahre des Herrn 1871 beschloss, die Suche nach diesem wunderbaren Vermächtnis der alten Trojaner erneut aufzunehmen. Diejenigen Herrschaften unter Ihnen, denen es vergönnt war, bereits meine Tagebuchveröffentlichung „Kassandras langer Schatten‚ zu studieren, wissen, wie wir besagter Dame auf die Spur kamen. Allen anderen sei an die9

ser Stelle eine kurze Zusammenfassung der zurückliegenden Ereignisse zugebilligt: Wir schrieben das Jahr 1870. Während der Heimreise aus den Vereinigten Staaten in meine Heimatstadt Rotterdam, lernte ich auf Island Dr. Frans Ingmarson kennen. Der kuriose kleine Doktor mit seiner überdimensionierten Hornbrille ist ein Genie. Bei archäologischen Studien entdeckte er in einer Höhle im Skessuhorn, auf Deutsch „Hexenjoch‚, einem Berg nahe Reykjavik, uralte Tontafeln. Sie berichteten von einer Frau, die dort eine Zeitlang gehaust hatte. Angeblich eine Überlebende von Pompeji. Was nichts anderes heißt, als dass sie zu dem Zeitpunkt bereits über 1000 Jahre alt gewesen sein musste. Eine Unsterbliche? Eine Göttin? Die Wikinger nannten sie „Trollhexe‚. Allerdings schien sie wohl eher eine Art Wahrsagerin gewesen zu sein. Ihr Schicksal: Sie konnte Naturkatastrophen wie den Vulkanausbruch in Pompeji und ähnliche Unglücke vorherse10

hen, nur schenkte ihr kaum einer Glauben. Ganz so, wie es Homer von Kassandra berichtet. Ingmarson hegt daher die Vermutung, dass es sich bei der Trollhexe und der Prinzessin von Troja um ein und dieselbe Person handelt! Bekanntlich ließen die Griechen nach ihrem Sieg über die Festung keinen Stein auf dem anderen. Wenn Kassandra überlebt hatte, konnte sie nur geflohen sein. Ihr dunkles Geheimnis nahm sie mit sich. Von Island aus führte die Spur nach Südwesten, nach Spanien. Angeblich in eine Höhle in einem heiligen Berg. Bewacht von einer geheimen Bruderschaft. An einen Ort, an dem sie Zwiesprache mit Ihresgleichen halten und ihre göttliche Kraft erneuern konnte. Von einer wundertätigen Quelle war die Rede. Ich entschloss mich, dem Doktor bei der Suche nach der Frau zu helfen. Allen Widrigkeiten zum Trotz kamen wir ihr sehr nahe. Mehr jedoch nicht. Womit ich bei den Ereignissen des Sommers 1871 wäre. 11

Alles begann mit dem Wunsch einer mir wohlgesonnen Dame, meiner wunderschönen englischen Freundin Samantha Rutherford, gemeinsam mit mir eine neuartige Geschäftsidee auszuprobieren: „Sommerfrische‚! „Sommerfrische‚? werden Sie fragen. Nun, das Wort beschreibt eine Vergnügungsreise an einen mehr oder weniger fernen Ort, um sich dort unter wildfremden Menschen zu erholen. Die Engländer nennen den Spaß „Hollidays‚. Eine Schnapsidee, ohne Frage. Aber eine, mit der sich Geld verdienen lässt. Zum Beispiel, wenn ein geschickter Händler wie ich es versteht, Erholungssuchenden bei der Auswahl geeigneter Reiseziele behilflich zu sein und sie an ihrem Ziel so umfänglich betreut, dass es ihnen an nichts fehlt. Gegen saftigen Aufpreis, versteht sich. Genügend vergnügungssüchtige Müßiggänger mit dem nötigen Kleingeld scheint es auf dieser Welt zu geben. Lady Rutherford hatte zu Recht gemeint, bevor wir so etwas auf die Beine stel12

len, sollten wir es am eigenen Exempel ausprobieren. Nun, mit dieser temperamentvollen Fee auf eine ausgedehnte Reise zu gehen, erschien mir äußerst reizvoll. Sie war vor drei Jahren gerade Anfang 30, gut zehn Jahre jünger als ich, und sehr selbstbewusst. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie sich ihren Unterhalt ganz allein als Pirat und Schmugglerin auf den britischen Kanalinseln verdient. Ich führte sie im Zuge unserer Abenteuer auf den Pfad der Tugend. Sie verliebte sich in mich. Und sie versprach sich in der Folge mehr von unserer Verbindung. Womöglich gar eine Heirat. Ein Gedanke, den ich strikt von mir wies. Ich war damals der festen Überzeugung, dass schöne Frauen einem erfolgreichen Manne sicher zuweilen Vergnügen bereiten. Auf Dauer müsse eine feste Liebesbeziehung seinem geschäftlichen Ehrgeiz jedoch grundsätzlich abträglich sein. 13

Sie mögen einwenden, dass ein großes Handelshaus wie das der Van Delfts irgendwann einen Erben und Nachfolger benötigt. Das ist richtig. Allerdings handelt es sich dabei in der Regel um zweckdienliche Entscheidungen, die nichts mit Liebe und ähnlichen Gefühlsduseleien zu tun haben. Welcher einigermaßen vernünftige Mann würde aus Liebe heiraten? Andererseits kann ich lieben, ohne heiraten zu müssen. Das eine hatte mit dem anderen in meinen Augen wenig zu tun. Dummerweise war die Dame anderer Meinung. Eine typisch weibliche, einseitige Betrachtungsweise. Es gab genügend schöner Beispiele, die meine These stützten. Denken Sie an Ludwig XV. und seine Pompadour. Was für ein glamouröses Liebesleben zum Wohle Frankreichs! Den Thronfolger schenkte ihm die prüde Königin. Wer kennt ihren Namen? Wie gesagt, Lady Rutherford war mir im Laufe unserer Bekanntschaft eine begehrenswerte 14

Geliebte geworden. Als Ehefrau sah ich eine Ex-Piratin jedoch auf gar keinen Fall. Weswegen unser Zusammenleben zwangsläufig immer wieder zu Spannungen führte. Und gerade, als wieder eine dieser Spannungen ihren Höhepunkt erreichte, traf im Sommer 1871 eine Nachricht von Doktor Ingmarson ein. Eine Nachricht, die mit einem Schlage alle unsere Pläne über den Haufen warf. Dorian van Delft Rotterdam im Frühjahr 1874

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Eine unerhörte Nachricht

Karlsbad am Mittwoch, den 5. Juli 1871 Dorian van Delft an Dr. Frans Ingmarson Mein lieber hochgeschätzter Ingmarson! Retten Sie mich! Ich sage nur Weiber! Weiber!!! Sie kennen mich. Sie wissen, wie ich leide. Es ist grauenvoll! Doch halt, bevor ich mein Klagelied vollends anstimme und Ihnen meine Misere schildere: Wie steht es um Sie und Ihre Studien? Kommen Sie in Heidelberg voran? Haben Sie etwas über Kassandra gefunden? Was schreiben Ihre deutschen Kollegen? Da wir im vergangenen Jahr auf Anhieb überdeutliche Spuren der Seherin fanden, müssten diese den hochgelehrten Professoren, Historikern, Philosophen oder meinetwegen Theologen erst recht aufgefallen sein! Oder? 16

Kommen Sie Doktor, Sie sitzen seit fast drei Wochen in den Katakomben der ehrwürdigen Universität und ich habe noch kein Wort von Ihnen gehört beziehungsweise gelesen. Verheimlichen Sie mir etwas? Ihnen ist klar, dass Sie in Heidelberg mein Geld verjubeln? Ihre Forschungen sollten daher über kurz oder lang Früchte tragen. Ingmarson, wir brauchen diese Frau! Lassen Sie mich über den Fortgang der Dinge bitte nicht vor Neugier sterben! Apropos sterben. Wenn das so weitergeht, sterbe ich wirklich. Nie im Leben hätte ich mich auf die Idee unserer geschätzten Lady Rutherford einlassen dürfen. Diese dekadente Idee, diese „Sommerfrische‚! Getestet am eigenen Leibe! Am lebenden Probanden! Wie pervers! Ich will mit solchen verrückten Neuerungen Geld verdienen aber mich nicht selbst erniedrigen. Gut, zunächst ließ sich die Geschichte recht nett an. Unsere Fahrt durch Deutschland gestaltete sich hochinteressant. Seitdem die Leu17

te ihr Kaiserreich gegründet haben, sprühen sie vor Enthusiasmus und Aufbruchsstimmung. Geld ist dank der französischen Reparationen in Fülle vorhanden. Ich habe in Köln, Berlin und Dresden einige vielversprechende Geschäfte eingefädelt. Aber, Dr. Ingmarson, können Sie sich das vorstellen? Allein diese kleinen Umwege zu unserem vorgesehenen Ziel führten zu ersten Verstimmungen. Die Dame maulte ein ums andere Mal, ich solle endlich aufhören zu arbeiten und mich entspannen. Sonst würde ich nie dahinterkommen, wie „Sommerfrische‚ funktioniere und ob sich tatsächlich durch die Erholung des Körpers meine „Arbeitsproduktivität‚ erhöhe. „Arbeitsproduktivität‚ Ha! Ich frage mich, wo sie das Wort aufgeschnappt hat. Als ob eine Freibeuterin im Ruhestand etwas von „Arbeitsproduktivität‚ verstünde! Ich habe klein beigegeben und ihr noch in Sachsens Metropole hoch und heilig verspro18

chen, bis Karlsbad keine weiteren Vertragsverhandlungen zu führen. Haben Sie bemerkt, wie raffiniert ich meine Formulierung wählte? „Bis‚ Karlsbad, nicht „in‚! Zwischen Dresden und dem Kurbad liegt nur Landschaft. Wald. Mehr oder weniger. Gut, ein bisschen Bergbau, Metallverarbeitung. Von mir aus. Hochwertigen Stahl aus Pittsburgh einzuführen, ist und bleibt für mich lukrativer, als mit deutschen Zechenbesitzern über Roheisenpreise zu debattieren. Entsprechend wurde die Fahrt über den Erzgebirgskamm tatsächlich ziemlich erholsam. Auf sächsischer Seite die sanft ansteigenden Berge und Täler, dichter Wald, zuweilen Eichhörnchen und anderes Getier. Oben auf dem Kamm, vor allem jenseits der deutschen Grenze, Hochebenen. Weite Flächen, auf denen sich Sümpfe, Teiche und saftige Wiesen mit buntgescheckten Milchkühen abwechselten, bevor es wieder steil nach un19

ten ging. Teilweise hatten wir bei bester Fernsicht einen grandiosen Blick ins böhmische Tiefland. Ich bin mir nicht sicher, aber die Türme am Horizont, das könnte durchaus Prag gewesen sein. Ich bin in dieser Weltgegend leider nicht so bewandert. Unser Kutscher, den wir in Dresden für den letzten Abschnitt angeheuert hatten, war ein stumpfer Geselle. Er begeisterte sich mehr für sein böhmisches Bier am Abend als für geografische Details unserer Route. Wobei letztere ihn durchaus hätten interessieren sollen. Der Weg, den er vom Kamm hinunter nach Karlsbad wählte, entpuppte sich aller Serpentinen zum Trotz als dermaßen abschüssig, dass wir absitzen mussten. Sonst hätte unsere Kutsche die armen Gäule überrollt. Nun, wir sind heil in Karlsbad angekommen. Dieser Ort war für unser Experiment auserkoren, weil hier Europas Elite bereits seit Jahrhunderten „Trink- und Badekuren‚ zu absolvieren pflegt. Eine nette Umschreibung für 20

gediegene Zeitverschwendung gichtgeplagter Fettwänste. Immerhin, unseren Freunden hinterher von einer „Kur in Karlsbad‚ berichten zu können, gewissermaßen auf den Spuren von Kaiser Karl, Zar Peter, Goethe und so weiter, schien mir eines van Delft angemessen. Mein lieber Doktor! Ich sage Ihnen und gestehe es reumütig: Ich habe mich geirrt. Sie glauben nicht, was hier los ist! Lauter tragische Möchtegern-Helden und leidende GeldadelFrauchen. Sie wandeln jammernd, kichernd und dummschwätzend durch verkitschte Trinkhallen und überfüllte Straßen. Sie gefallen sich im Nichtstun und überbieten sich im sinnlosen Verprassen ihrer unverdienten Erbschaften. Abend für Abend saufen sie sich bewusstlos und wundern sich am nächsten Morgen, warum ihre „Migräne‚ nicht nachlässt. Es ist zum Heulen. Ich kann mit solchen Leuten nichts anfangen! Ganz zu schweigen von 21

den riesigen protzigen Hotel-Palästen. Hotel Imperial, Hotel Pupp, Hotel Boheme, Hotel … ach lassen Sie mich doch zufrieden mit diesem Unfug. Mir geht der Hut hoch, wenn ich mir überlege, wie viele sinnvolle und sinnstiftende Dinge sich mit all den gigantischen Summen anstellen ließen, die manche hier Abend für Abend allein am Spieltisch verschleudern. Vielleicht sollte ich über ein weiteres Geschäftsfeld nachdenken? Vielleicht sollte ich ein Casino gründen? Oder ein Hotel in Karlsbad bauen? Ach was rede ich, ich werde ganz meschugge. Was am schlimmsten ist: Wenn wir gemeinsam durch die Kuranlagen lustwandeln, sollten Sie mal die gierigen Augen all der dreisten Nichtsnutze sehen! Damit fressen sie Sam förmlich auf und die Lady scheint es zu genießen. Jedenfalls kleidet sie sich für mein Gefühl eindeutig zu offenherzig. Zum verrückt werden!

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Ingmarson, retten Sie mich, berichten Sie mir von Ihren Recherchen, damit ich auf andere Gedanken komme! Freundlichst usw. van Delft

Heidelberg am Dienstag, den 11. Juli 1871 Doktor Ingmarson an Dorian van Delft Hochverehrter Mynheer van Delft, geschätzter Gönner! Bitte verzeihen Sie mein langes Schweigen. Heute Morgen erreichte mich Ihr freundlicher Tadel aus Karlsbad und ich muss zugeben, dass er mich zu Recht trifft. Schlimmer, er trifft mich an einem wunden Punkt. Alles, was ich lese, bringt keinen entscheidenden Fortschritt. Ich sitze Tag für Tag in staubigen Archiven und sichte Nacht für Nacht meine Notizen, immer in der Hoffnung, irgendwo dem Geheimnis Kassandras auf die Spur zu 23

kommen. Allein, es ist wie Sie vermuten. Philosophen sämtlicher Denkschulen haben sich zwar durchaus das Hirn über Phänomene wie das sogenannte „Kassandra-Syndrom‚, also die missachtete Warnung vor bevorstehenden Ereignissen, zermartert, jedoch stets nur theoretisch und ohne direkten Bezug zu jener phantastischen Frau aus Troja. Wie Ihnen bekannt ist, lasse ich mir dank Ihrer großzügigen Unterstützung zusätzlich sämtliche einigermaßen seriösen Zeitungen und Mitteilungsblätter des Kontinents senden. Immer in der Hoffnung, irgendwo einen Hinweis auf Kassandras gegenwärtiges Wirken zu entdecken. Bislang vergeblich. Und die Historiker? Die hochgelobten deutschen Historiker? Die beschäftigen sich mehr denn je und kaum weniger intensiv als ihre blinden Kollegen in London und Paris mit der glorreichen Vergangenheit ihrer kaiserlichen und königlichen Massenmörder und deren Schlachten. Ich habe manchmal das Gefühl, 24

um Eingang in die europäische Geschichtsschreibung zu finden, bedarf es wenig mehr als ein paar Dutzend massakrierter Menschen. Alle anderen Beschäftigungen werden von den Herren gering geschätzt. Wären solche Forschungen mit kreativer eigener Leistung verbunden! Fände man in diesen Arbeiten zumindest ein paar neue Gedanken! Aber nein. Ganz gleich, welches Standardwerk zur Historie ich in die Hand bekomme, ich habe das Gefühl, da schreibt stets einer vom anderen ab. Manche sind vermutlich ihr Lebtag nie aus ihren staubigen Verliesen herausgekommen. Gut, ich will nicht ungerecht werden. Haben Sie von diesem Schliemann gelesen, der seit Kurzem in London mit seinen Theorien über die Existenz des realen Troja für Aufsehen sorgt? Die Times berichtete recht ausführlich. Der Mann geht zwar auch von alten Schriften aus, vor allem von Homers „Illias‚, will sie aber vor Ort auf ihren Wahrheitsgehalt prü25

fen. Mehr noch, er hat sich wohl bereits dort in Kleinasien herumgetrieben und erste Testgrabungen unternommen. Jetzt wartet er auf die Erlaubnis des Sultans, eine großangelegte Kampagne zu starten. Schliemann nutzt die Zeit, in England Vorträge zu halten und sich mit wissenschaftlichen Geräten auszustatten. Ein Ansatz, der mir zusagt. Er erinnert mich an unsere Forschungsreise im Vorjahr. Wie viel wäre uns entgangen, wären wir allein bei der grauen Theorie geblieben! Typischerweise wird er natürlich von seinesgleichen verlacht. Wäre ja noch schöner, wenn ein Außenseiter jenseits der Studierstuben ernst genommen würde. Uns kann es gleich sein, Mynheer. Das historische Troja, ob real existent oder Fiktion Homers, ist diejenige aller möglichen Optionen, die uns am fernsten liegt. Sollte unsere Seherin wahrhaftig mit jener trojanischen Königstochter identisch sein, wird das sagenhafte Schlachtfeld wohl der letzte Ort auf unserem Planeten sein, nachdem sie sich zurücksehnt. 26

Wenn Sie mich fragen: In der prosaischen Einöde des bröckelnden osmanischen Imperiums ist einfach kein Platz für geniale Persönlichkeiten. Ich hoffe, Mynheer, dass Sie sich inzwischen mit Karlsbad arrangieren konnten. Denken Sie auch an die Bedürfnisse Ihrer bezaubernden Begleiterin. Eine Frau wie Sam, pardon, Lady Rutherford meine ich natürlich, braucht eben ein wenig Abwechslung. Früher hatte sie ihre Kaperfahrten zwischen Guernsey und dem französischen Festland. Ich habe im Übrigen das Gefühl, dass sich die Lady von Ihrer gemeinsamen Unternehmung so nebenbei den langersehnten Heiratsantrag erhoffte. Gedeihen die Dinge in diesem Sinne? Haben wir bald Grund zum Feiern? Jedoch, es steht mir nicht zu und liegt mir fern, Ihnen Vorschriften zu machen. Sie haben bisher noch immer die richtigen Entscheidungen gefällt, Mynheer. Sie werden Ihre Situati27

on zum Guten wenden, da bin ich zuversichtlich. Ich für meinen Teil ziehe mich wieder in die Archive der alten Universität zurück. Sollte sich Erfolg einstellen, werde ich Sie natürlich umgehend in Kenntnis setzen. Hochachtungsvoll in tiefer Ergebenheit Ihr Dr. Frans Ingmarson

Karlsbad am Montag, den 17. Juli 1871 Dorian van Delft an Dr. Frans Ingmarson Ingmarson, alter Besserwisser! Jetzt halten Sie aber die Luft an! Ich wüsste nicht, was Sie Samanthas Bedürfnisse respektive Heiratspläne angehen. Und: Ja, ich habe noch immer die richtigen Entscheidungen getroffen; und ich werde auch weiterhin die richtigen Entscheidungen treffen und meine Angelegenheiten, wie von Ihnen prophezeit, „zum Guten wenden‚! Jedenfalls solange ich 28

mich nicht von weibischem Geschwätz einlullen lasse. Weswegen eine Heirat ein für allemal nicht in Frage kommt! Merken Sie sich das! Ich habe nie behauptet, dass ich Samantha nicht gern hätte. Mit ihr zu schlafen, bereitet mir unbeschreiblichen Genuss. Wobei Sie das, mein liebes Doktorchen, genau genommen erst recht nichts angeht. Aber ich werde einen Teufel tun, mich zu irgendjemandes Sklaven machen zu lassen. Egal ob es sich dabei um einen Potentaten oder eine Frau handelt. Ich brauche keine Fesseln. Ich werde es zu verhindern wissen, mir von irgendwem irgendwelche anlegen zu lassen. Ich bin ein freier Händler, Angehöriger der freien, niederländischen Nation. Darauf bin ich stolz. Das lasse ich mir von niemandem nehmen! Himmel, Arsch und Zwirn! Pardon! Verzeihen Sie den Ausbruch. Sie sehen mich echauffiert. Es ist nicht Ihre Schuld, 29

Doktor Ingmarson. Ihre Frage hat das Fass nur zum Überlaufen gebracht. Hintergrund ist die Tatsache, dass bei uns der Haussegen seit zwei Tagen endgültig schief hängt. Ich werde dieses vermaledeite Karlsbad noch heute Vormittag verlassen. Ohne Lady Rutherford. Und es geht mir gut dabei! Blendend. Ich wurde von einem Freund eingeladen. Er lebt unweit von hier, jedoch abgelegen genug. Endlich wieder den Duft der Freiheit atmen! Es liegt mir fern, mich über das „wieso, weshalb, warum‚ auszulassen. Deshalb die Gegenfrage an Sie, mein Freund. Sie haben einen Herrn Schliemann erwähnt. Heinrich Schliemann? Was genau hat es mit dem und seiner Kampagne auf sich? Wenn es derselbe Mann ist, den zu kennen ich mir zur Ehre anrechne, sind die Dinge, die er in die Hand nimmt, auf alle Fälle als seriös zu betrachten. Um es kurz zu machen: Ich bin mehrfach in meinem Leben einem Händler gleichen Na30

mens begegnet. Der Kerl ist ein Tausendsassa. Ein Self-Made-Millionär, wie die Amerikaner sagen. Es muss 1846 gewesen sein, wenn ich mich recht entsinne, da gründete dieser Schliemann als blutjunger Mann in Sankt Petersburg eine Niederlassung. Ich war damals noch Lehrbub. Die Sache wurde in unseren Kreisen heftig diskutiert. Wir Jungen sahen eher neidisch zu dem Deutschen auf. Des Abenteuers wegen. Die Alten, unsere Lehrherrn, waren sauer. Russlands Hauptstadt galt seit Peter dem Großen als holländische Einflusssphäre. Und plötzlich kam da so mir nichts dir nichts ein namenloser Taugenichts aus Hamburg und wirbelte unsere gewohnten, althergebrachten Gepflogenheiten durcheinander. Zunächst tat er das im Auftrag und mit dem Geld des hanseatischen Handelshauses „B. H. Schröder & Co.‚ Er war dort nur ein kleiner Angestellter, schien sich aber ziemlich gescheit anzustellen. Weswegen er nicht lang Angestellter blieb. Er nutzte seine Chancen, 31

wurde russischer Staatsbürger und gründete an der Newa seine erste eigene Unternehmung. Persönlich lief mir Heinrich Schliemann ungefähr fünf Jahre später in Amerika über den Weg. Das war meine allererste Reise über den großen Teich. Mein Vater nahm mich mit. Ich hatte die Lehre glücklich hinter mich gebracht und einige Erfahrungen im heimischen Kontor in Rotterdam gesammelt. Mein Vater hielt es deshalb für an der Zeit, mich seinen weltweiten Partnern und Kunden zu präsentieren. Das war während des großen Goldrausches. Schliemann hatte mit seinem russischen Vermögen in Sacramento eine Bank gegründet, mit der er den Goldgräbern ihre Nuggets in harte Dollars tauschte. Der Kerl muss bei dem Geschäft Unsummen verdient haben. Aber das war nur der Anfang. Alles, was er in die Hand nahm, gelang ihm. Ein Naturtalent. Er sprühte vor Enthusiasmus und Fröhlichkeit. Obgleich Heinrich Schliemann ein paar Jahre 32

älter ist als ich, verstanden wir uns auf Anhieb prächtig. Kein Wunder. Unsere Geschäfte wuchsen auf dem gleichen Fundament. Mein Vater sorgte nämlich gemeinsam mit seinen amerikanischen und französischen Partnern dafür, dass Schliemanns Dollars anschließend in die richtigen Hände gerieten. Sie investierten die Goldgewinne in den amerikanischen Eisenbahnbau und in französische Immobilien. Das sicherte langfristig solide Einnahmen. Für den schnellen Erfolg durfte ich mit Schliemanns Geld eine Ladenkette in den Bergen aufbauen. Dort verkauften wir den harten Jungs das nötige Werkzeug für ihre Arbeit. Dazu allerlei Dinge, die ein Mann eben braucht, wenn er allein in unwirtlichen Gegenden lange Winter überstehen will. Ich möchte hier nicht in Details gehen, Sie verstehen sicher, was ich meine. Ingmarson, ich sage Ihnen: goldene Zeiten! Fürwahr. Ich krieg heut noch feuchte Augen, wenn ich nur dran denke. 33

Das nächste Mal traf ich meinen Freund Heinrich, als die Russen in den fünfziger Jahren beschlossen, dem Sultan das Fell zu gerben. Es ging damals wie so oft um die Krim. Sie erinnern sich sicher. Die Hohe Pforte wollte ihre tatarischen Freunde heim ins Reich der Muselmanen holen. Der Zar hatte naturgemäß etwas dagegen. Schliemann versorgte ihn mit allem Nötigen. Vor allem mit Rohstoffen zur Herstellung von Pulver und Sprengbomben. Was sich nicht ganz einfach und vor allem nicht ungefährlich anließ. Engländer und Franzosen waren nicht begeistert von der Aussicht, dass sich Russland am Schwarzen Meer festsetzte. Sie hatten damals den Sultan schon so weit, dass er nach ihrer Pfeife tanzen musste. Gut fürs Geschäft. Die Russen hätten ihnen in die Suppe spucken können, wären sie weiter nach Südwesten vorgedrungen. Also traf man britische und französische Regimenter nicht nur auf den ukrainischen Schlachtfeldern an. Sie hatten zudem in Nord- und 34

Ostsee ein ziemlich effektives Blockaderegime errichtet. Kein Durchkommen. Mir oblag das Vergnügen, Schliemann ein wenig behilflich sein zu dürfen, die Blockade auf dem Landwege zu umgehen. In letzter Zeit sind unsere Kontakte allerdings eingeschlafen. Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört. Heinrich denkt übrigens ähnlich über Frauen wie ich. Mit einem Unterschied. Er betrachtet Heiraten als kurzfristiges taktisches Mittel zum Erreichen langfristiger strategischer Ziele. In Russland hatte er deshalb so eine adlige Tatjana oder Swetlana geheiratet und mehrfach geschwängert. Damit wurde er für den Hof in Sankt Petersburg satisfaktionsfähig. Seit der Krieg vorbei ist, ließ er sich meines Wissens nicht mehr an den Stränden von Newa, Moskwa oder Wolga blicken. Seine Holde kann nun sehen, wie sie mit den Bälgern allein zurechtkommt. Das mag moralisch bedenklich sein, zielführend war es in seinem 35

Fall gewiss. Ganz im Sinne des großen Machiavelli: Gut ist, was nützt! Nun, ich bin in dem Punkt bekanntlich anderer Meinung. Was jedoch nichts zur Sache tut. Was ich Ihnen mit meinen Ausführungen andeuten will, lieber Doktor: Wenn mein Schliemann und Ihr Schliemann die gleiche Person sein sollten, können wir davon ausgehen, dass es sich keineswegs um brotlose Kunst handelt. Wenn er es ist, dann wird er mit Sicherheit einer ganz großen Sache auf der Spur sein. Es würde mich nicht wundern, wenn es die Gleiche wäre, die wir im Visier haben. Folglich: Nehmen Sie die Troja-Geschichte ernst. Bitte schreiben Sie mir unbedingt alles, was Sie in Erfahrung bringen können! Freundlichst usw. van Delft

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P.S.: Es ist erstaunlich, wie schnell unsere Briefe den jeweiligen Adressaten erreichen. Seitdem die Deutschen den Eisenbahnbau konsequent vorantreiben und mit dieser neuartigen britischen Erfindung, diesen „Stamps‚ oder „Briefmarken‚ wie sie hier heißen, das Porto in ihren Ländern vereinheitlicht haben, erleben wir eine regelrechte Revolution der Kommunikationswege. In Karlsbad kursieren zurzeit die ersten ungarischen Briefmarken. Sie werden seit Mai gedruckt. Wir leben in phantastischen Zeiten, mein Lieber!

Karlsbad am Montag, den 17. Juli 1871 Dorian van Delft an Lady Samantha Rutherford – hinterlassen im Appartement des Hotels Imperial Geliebte Sam! Wenn Du von Deinem Spaziergang zurückkehrst und statt meiner diese Zeilen vorfin37

dest, erschrick bitte nicht. Ich brachte es nicht übers Herz, Dir meinen Entschluss Aug in Auge zu übermitteln. Schwer zu sagen, warum, denn eigentlich ist es kein Beinbruch und aus meiner Sicht nur konsequent. Aber ich weiß, wie sehr Du Dich auf diese „Sommerfrische‚ gefreut hast. Weswegen ich Dich nicht daran hindern will, die Tage hier weiter zu genießen. Ohne mich. Es hat sich gezeigt, dass Du genügend Unterhaltung finden wirst. Ich sehe die Blicke der Grafen und Barone, wenn sie Dir begegnen, und höre Dein Lachen im angeregten Gespräch mit den Damen der feinen Gesellschaft. Das ist die Welt, von der Du geträumt hast. Ich ertrage sie nicht. Folglich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich verderbe Dir den Spaß, indem ich missgestimmt bei Dir bleibe oder ich weiche aus Deinem Gesichtsfeld und stehe Deinem Vergnügen nicht länger im Wege. Nun, wie Du siehst, habe ich mich hoffent38

lich in Deinem Sinne für Letzteres entschieden. Erinnerst Du Dich an Alfred, den Herzog von Beaufort-Spontin? Den schlanken, schon leicht ergrauten, sportlich gekleideten Herrn? Du hast meinen belgischen Bekannten vor einigen Tagen während der Soiree kennengelernt. Seine Familie, uralter wallonischer Hochadel mit guten Kontakten zu den französischen Bourbonen, besitzt seit einem halben Jahrhundert eine kleine Burg im Kaiserwald. Der Ort heißt Petschau. Er liegt ein paar Meilen südlich von hier. Die Festung nebst Herrenhaus befindet sich auf einem martialisch wilden Felssporn hoch über dem Flüsschen Tepla und der alten Handelsstraße nach Pilsen. Du weißt ja, dass ich schon lange mit dem Gedanken liebäugle, böhmisches Bier nach Holland zu holen. Dieses Pilsner schmeckt ganz anders als die meisten belgischen, niederländischen oder bayerischen Sorten, weswegen ich mir von seinem Import gute Geschäfte verspreche. 39

Besagter Beaufort jedenfalls ist im Moment dabei, einen Teil seiner Sammlungen und wertvolle Möbel aus Belgien auf seine hiesige Burg zu holen. Er will sich in Zukunft häufiger hier aufhalten. Die Abgelegenheit und Stille des Kaiserwalds bekämen seiner Gesundheit, sagt er. Und die Nähe zu den Höfen in Wien und Dresden bekäme seiner Karriere. Besser gesagt, der seiner Kinder und künftigen Enkel, jetzt wo Frankreich wieder Republik ist. Er muss es wissen. Jedenfalls hat er mich eingeladen und ich bin der Einladung gefolgt. Wie ich ihn verstanden habe, hofft er auf meine Unterstützung beim Umzug einiger wertvoller Kleinodien der Familie. Er sprach unter anderem von einem mittelalterlichen Reliquienschrein. Reich geschmückt mit feinsten Goldschmiedearbeiten und edlen Steinen. Wert? Unbezahlbar! Von seinem Großvater während der Französischen Revolution gerettet und in Sicherheit gebracht. Seither gilt er offiziell als verschollen. 40

Eine delikate Angelegenheit, weil allein der Besitz eines solchen Schatzes nationale Interessen Frankreichs und Belgiens tangiert. Ihn mit ganz normalen Frachtpapieren außer Landes zu schaffen, ist völlig unmöglich. Da heißt es, sensibel vorgehen und möglichst jedes Aufsehen vermeiden, ohne die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu vernachlässigen. Bitte nimm mir daher die überstürzte Abreise nicht übel und vergnüge Dich nach Herzenslust. Ich denke, wenn ich mich von den Karlsbader Strapazen erholt, dem Herzog die gewünschten Antworten gegeben und ein paar schöne Geschäfte in Pilsen getätigt habe, kehre ich zu Dir zurück und wir können gemeinsam die Heimreise antreten. Ohne Fragen und Vorwürfe. Als gute Freunde wie eh und je. Freundlichst verbleibe ich in treuer Zuneigung Dein Dorian

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Karlsbad am Montag, den 17. Juli 1871 Lady Samantha Rutherford an Dorian van Delft Mynheer van Delft! Ab jetzt wieder per „Sie‚, Sir! Was bilden Sie sich ein? Und entblöden sich nicht, mich Ihrer Freundschaft zu empfehlen! So schnöde beleidigt und sitzen gelassen hat mich mein Lebtag noch kein Mann! Und ob ich mich vergnügen werde! Dessen seien Sie gewiss! Auf dass Ihre schwarze Seele Höllenqualen erleide. Ich weiß nur noch nicht, ob ich Sie fürderhin komplett ignoriere oder Ihnen jede meiner Affären haarklein schildere, damit Sie vor Eifersucht platzen. Es gibt ja hier vom Hotelpagen bis hin zum Erbprinzen weiß Gott genug Auswahl stattlicher Mannsbilder. Und wenn ich Ihr Geld im Casino komplett durchgebracht habe, werde ich mich in meine britische Heimat zurückziehen. 42

Es war mir kein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben! Adieu, Mynheer! Samantha Rutherford

Rotterdam im Mai 1874 Anmerkung Dorian van Delft Mit einer so heftigen Reaktion hatte ich nicht rechnen können. Wer ahnt schon, wie emotional Frauen die Dinge manchmal sehen? Den nachfolgenden Brief von ihr an unsere gemeinsame Freundin Elisabeth kannte ich damals ebenso wenig. Weswegen ich der Dame eine ziemlich entsetzte Antwort erteilte. Ich war ratlos, traurig, wütend. Was ich genau schrieb, weiß ich nicht mehr. Auf alle Fälle bat ich nicht um Verzeihung, denn ich fühlte mich im Recht. Glücklicherweise erreichte der Brief Lady Rutherford nicht mehr. Er wurde ihr auch nicht nachgesendet. Manche Worte und Taten lässt 43

man besser dem Vergessen anheimfallen. Mein Freund Heinrich Schliemann würde deklamieren: Das Schicksal war mir gnädig!

Karlsbad am Montag, den 17. Juli 1871 Lady Samantha Rutherford an Elisabeth Bergmann Liebste Elisabeth! Wie geht es Dir, beste Freundin? Ich hoffe, Deine Schwangerschaft verläuft ruhig und der Herr Gemahl kümmert sich ordentlich um Dich! Wenn ich richtig rechne, müsste es ja nun bald soweit sein. Habt Ihr Euch schon um Namen gekümmert, wie die oder der kleine Bergmann heißen soll? Ach wäre ich doch bei Dir, liebe Elisabeth. Hier sind furchtbare Dinge geschehen und ich bedürfte Deines Trostes. Dorian hat mich verlassen. 44

Klammheimlich ist er abgereist, dieser Feigling. Hat sich nicht getraut, offen mit mir über seine Probleme zu reden. Dieses Karlsbad ist aber auch wirklich ein furchtbarer Ort. Lauter Schnösel und notgeile Böcke die Herren, die Damen sind überwiegend mit einem Intellekt gesegnet, den jede Waldameise spielend übertrifft. Natürlich ist das kein Ort, um eine Geschäftsidee für den gemeinen Bürger zu testen. Das hätte ich Dorian vorher sagen können, aber er wollte ja unbedingt in eine Stadt, mit der renommieren kann. Ein van Delft fährt eben nicht in irgendein Provinznest, wenn er sich erholen will! Angeber. Ich habe gute Mine dazu gemacht und ihm die glückliche Gattin vorgespielt. In der Hoffnung, dass ihm das Freude bereitet und er sich vielleicht irgendwann endlich zum entscheidenden Schritt durchringt. Dass ihn allerdings die Eifersucht packt angesichts der degenerierten Idioten, hatte ich nicht erwartet. Und auch nicht, dass er unter der Situation offenbar ebenso leidet wie ich. Jetzt ärgere ich 45

mich. Hätte ich ihm nur von Anfang an reinen Wein eingeschenkt. Ach Elisabeth, ich bin so unglücklich. Ich glaube, ich habe alles vermasselt. Was soll ich nur tun? Ihm hinterher reisen? Auf gar keinen Fall! Das bestärkt ihn nur in seiner Eitelkeit. Hierbleiben will ich aber auch keinen Tag länger. Ich glaube, ich werde auf kürzestem Weg nach Hause kommen. Vielleicht ist Dein Baby dann schon da und es lenkt mich etwas ab, wenn ich Dir zur Seite stehen kann. Du musst mir auf diesen Brief nicht antworten. Ich werde mich vermutlich gleichzeitig mit ihm auf die Reise begeben. Vielleicht kommen wir sogar gleichzeitig an. Das ist mir aber egal. Ich musste mir meine Verzweiflung einfach vom Leibe schreiben. Ich musste mich jemandem anvertrauen, der mich kennt. Ich hoffe, Du nimmst mir meine Offenheit und mein Gejammer nicht übel. 46

Liebste Elisabeth, ich herze Dich und wünsche Dir alles Glück der Welt!! Deine Samantha P.S.: Wenn einige Zeilen verschmiert oder gänzlich unleserlich sein sollten, liegt es daran, dass ich meine Tränen beim Schreiben nicht zurückhalten konnte. Bitte verzeih mir.

Heidelberg am Sonnabend, den 22. Juli 1871 Doktor Ingmarson an Dorian van Delft Hochverehrter Herr und Gönner! Vielmals bitte ich um Entschuldigung! Ganz gewiss werde ich mich niemals wieder in Ihre privaten Angelegenheiten mischen. Ich glaubte nur, weil Madame Rutherford … Ich beginne schon wieder. Ohne Umschweife zu Ihren Fragen: Ich glaube sicher behaupten zu können, dass es sich um den gleichen Heinrich Schliemann handeln 47

muss, den Sie kennen. Sein Hintergrund als Händler ist es ja gerade, der die deutsche Geschichtswissenschaft so abschätzig über ihn reden lässt. In der Vossischen Zeitung, einem angesehenen Berliner Blatt, hieß es, da gebe es einen reichen Spinner, der sich ein neues Spielzeug gesucht habe und nun die Welt mit seinen Ergüssen belästige. Dabei übersehen die Leute hierzulande, dass er schon eine ganze Weile sehr systematisch an dieser Sache dran ist. Das dürfte der Grund sein, weshalb Sie nichts mehr von ihm gehört haben. Er ließ und lässt noch immer seine Geschäfte ruhen. Stattdessen absolvierte Schliemann trotz fortgeschrittenen Alters ein mehrjähriges Studium an der Sorbonne in Paris, welches er kürzlich mit einem Doktortitel in Rostock abschloss. Übrigens zum nämlichen Thema: Troja! Im Kern lautet seine These, man müsse sich nur strikt an Homer halten, dessen Illias nicht für schöngeistige sondern für Sachliteratur 48

halten und genau dort nach der legendären Stadt suchen, wo Homer sie beschreibt. Dann würde man zweifellos gewaltige historische Schätze bergen. Unterstützt wird er von einem britischen Archäologen. Der Mann heißt Frank Calvert. Er lebt schon seit ein paar Jahren in der Türkei. Offiziell als amerikanischer Vizekonsul. Auf einem Hügel, der Hisarlik genannt wird, hat Calvert ein Stück Land gekauft. Er ist fest davon überzeugt, dass dies die richtige Stelle zum Graben sei. Allerdings fehlte ihm bisher dazu das Geld. Für Schliemann hingegen scheint Geld keine Rolle zu spielen. Ihm gehe es nur um den Ruhm, lässt er verkünden. Die meisten Leute lachen über Schliemanns Einfall, aber er lässt nicht locker. Wenn meine Informationen stimmen, ist er vor zwei Jahren erneut nach Amerika gegangen. Dort hat er die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten angenommen und die liberale Gesetzgebung anschließend genutzt, sich von seiner Na49