Spätes Gewissen

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 ... Seine Vorgesetzten billigen sein abscheuliches Verhalten, glauben ... Telefon gesagt (während er wollüstig und böse lächelte) und.
4MB Größe 2 Downloads 53 Ansichten
Wolfgang Westphal

Spätes Gewissen

Tödliche Vergangenheit

Die Mauer ist offen. Nach 30 Jahren kehrt Paul in seine Heimatstadt nahe der Ostsee zurück. Dort der Schock: Sein Jugendfreund Karl, zu dem er seit der Flucht aus der DDR fast keinen Kontakt mehr hatte, ist tot. Angeblich hat er sich umgebracht, doch daran glaubt Paul nicht. Noch weniger, als er erfährt, dass Karl Zeuge eines Mordes wurde. Er will unbedingt herausfinden, was damals geschah. Je tiefer er gräbt, desto gefährlicher wird es. Weitere Verbrechen kommen zum Vorschein. Paul wird davor gewarnt weiter zu recherchieren, da die alten Stasiseilschaften immer noch äußerst aktiv sind. Aber er lässt nicht locker und bringt sich dadurch in Lebensgefahr. Viel zu spät begreift er, dass er vom Jäger zum Gejagten geworden ist.

Dr. Wolfgang Westphal wurde 1944 in Schwerin/Mecklenburg geboren. Nach einer dramatischen Flucht aus der DDR machte er sein Abitur und studierte anschließend Medizin in Frankfurt, Kiel, Bonn und Münster. Auf verschiedene Stationen als Assistenz- beziehungsweise Stationsarzt folgte 1976 die Niederlassung als Allgemeinmediziner. Der Autor hat bislang zwei Thriller und einige Kurzgeschichten veröffentlicht und ist Mitglied im Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V«.

Wolfgang Westphal

Spätes Gewissen

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2017 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt / Katja Ernst Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Chybiak Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 

»Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn, jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.« Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke

Kapitel 1 Schönow, in der Nähe von Berlin, Mitte der 70er-Jahre Für einen zufälligen Betrachter ein anmutiges Bild. Eine hübsche junge Frau, Julia Kundrow, fährt mit einem blauen Damenfahrrad des VEB MIFA, aus Schönow kommend, auf der Zepernicker Straße in östlicher Richtung. Bekleidet ist sie mit einem bunten Sommerrock und einem weißen Nicki. Sie biegt auf der Schönwalder Chaussee Richtung Norden ab, und unser fiktiver Beobachter nimmt vielleicht an, dass sie zum Schwimmen fährt, denn in ihrer Fahrtrichtung liegt der dafür sehr gut geeignete Gorinsee. Aber mit der Erwartung eines erfrischenden Sprungs in das Gewässer hat ihr Ausflug nichts zu tun, und bei genauerer Beobachtung hätte man das auch erkennen können, denn zu Beginn der Fahrt dreht sie sich mehrmals nervös um, als hätte sie Sorge, dass ihr jemand folgt. In Wahrheit fährt sie zu einem Rendezvous. Nein, das Wort passt nicht, denn es könnte eine falsche Assoziation auslösen. ›Erzwungene Verabredung zum Zweck intimer und perfider Handlungen‹ ist mit dem, was bald folgen wird, korrekter beschrieben. Auch das Wetter ist für ein romantisches Stelldichein nicht geeignet. Der Himmel präsentiert sich grau in grau, und für den Sommermonat Juli ist es viel zu kalt. Diese Gegebenheiten sind für den Initiator des Treffens allerdings bedeutungslos, setzt er doch völlig andere Prioritäten. Er liebt, wahrscheinlich berufsbedingt, das Konspirative, und wegen seines Charakters erregt es ihn, nicht nur 7

Macht zu haben, sondern diese auch auszunutzen. Menschen nach Belieben zu manipulieren, ja zu indoktrinieren, verschafft ihm eine tiefe Befriedigung. Sein Schema ist simpel: Eine weibliche Person wird von der Staatssicherheit beschuldigt, ein Gesetz der DDR verletzt zu haben, und kommt in Haft. Durch den Vorwurf, eine verachtenswerte antisozialistische Gesinnung zu besitzen (die Gesinnung ist ihm sch…egal), hat der Mann in seiner Funktion als Untersuchungsführer die uneingeschränkte Macht zu drohen, zu erpressen, zu demütigen, zu beleidigen, zu schlagen und zu erniedrigen. Ganz zum Schluss, wenn die Ausweglosigkeit dem Opfer unumkehrbar bewusst, es der Verzweiflung nahe ist, zaubert er einen Strohhalm aus dem Hut, hält ihn hin, zieht ihn zurück, um ihn wieder hinzuhalten. Dabei zeigt er Mitgefühl, deutet Milde an, täuscht Gewissensbisse dem Gesetz gegenüber vor (welches ihm ebenfalls gleichgültig ist) und präsentiert am Ende einen Ausweg zu anscheinend harmlosen, tatsächlich aber unsäglichen Bedingungen. Dass dieser nur ein Trugschluss ist, weiß nur er, und sein obsessives Lustempfinden steigert sich schier ins Unermessliche, wenn er am Ende im Gesicht seines Opfers entdeckt, dass es begriffen hat, dass alles nur eine Schimäre war. Aber es ist zu spät, und nun folgt das von ihm in jeder Einzelheit geplante schreckliche Finale. Dieser Mann geht bei seinem Tun so gut wie kein Risiko ein, stehen ihm doch alle Machtmittel zur Verfügung, die geeignet sind, Wahrheiten zu verdrehen, zu verfälschen, zu manipulieren, ja sie einfach zu ignorieren. Seine Vorgesetzten billigen sein abscheuliches Verhalten, glauben sie doch, dass dieses nur einem einzigen Zweck dient: der Idee des Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Niemand aus seinem Umfeld wäre je auf den Gedanken gekommen, an seiner unerschütterlichen Systemtreue zu zweifeln. Seine eigene Gewissheit ist allerdings eine andere: Nicht ich bin für diesen 8

Staat geboren und lebe für die Idee, sondern es ist eher umgekehrt. Aber diese Tatsache behalte ich besser für mich. * Bald ist Julia ganz von Wald umgeben. Das satte Grün der Buchen, der gelegentlich in prächtigem Rot leuchtende Fingerhut an den Böschungen und baumfreien Arealen wird genauso wenig von ihr registriert wie das heftige auf- und abschwellende Geräusch des Windes. Ein Auto mit knatterndem Zweitaktmotor nähert sich aus der Ferne, überholt, was bei ihr Erschrecken, ja beinahe Panik auslöst, hat sie doch die Befürchtung, dass der Fahrer vielleicht ein Bekannter aus Schönow ist, der, einer Eingebung nachkommend, anhalten und sie nach dem Ziel ihrer Tour fragen könnte. Aber das beigefarbene Modell sozialistischer Autobaukunst (eine zwölf Jahre alte Rennpappe) bringt sie nicht in Verlegenheit, sondern fährt mit hoher Drehzahl vorüber, eine blaugraue stinkende Wolke verbrannten Öls hinter sich herziehend. * »Du fährst die Straße entlang, immer geradeaus«, hatte ihr ehemaliger Untersuchungsführer einen Tag zuvor zu Julia am Telefon gesagt (während er wollüstig und böse lächelte) und mit eindringlicher Stimme angefügt: »Ich finde dich, nicht du mich, kapiert?« Und weiter, warnend: »Denk immer daran: Ein unbedachtes Wort zu irgendjemandem, und du befindest dich wieder dort, wo du gerade hergekommen bist. Und du kannst mir glauben: Dieses Mal würdest du von mir nicht noch einmal mit Nachsicht behandelt werden. Die U-Boot-Zellen im Keller kennst du bis jetzt nur vom Hörensagen. Für dein renitentes Verhalten hättest du sie mehr als einmal verdient 9

gehabt. Eine Woche in der Isolation, ohne Licht, ohne Fenster, ohne Stuhl, Liege und Zudecke, ohne ein gesprochenes Wort in den vier Quadratmetern mit dem harten, unebenen und glitschigen Steinfußboden und der kalten modrigen Feuchtigkeit hat schon viele überzeugt. Nach einigen Tagen hättest du die Möglichkeit, unterschreiben zu dürfen, in einem völlig anderen Licht gesehen. Freilich mit dem Pferdefuß, dass deine Unterschrift dann mit einigen zusätzlichen Jährchen belohnt worden wäre. Ob du diese unbeschadet überstehen würdest – wer weiß das schon. Und was in der Zwischenzeit mit deiner Familie, vor allen Dingen mit Robert und Edith, passiert, darüber will ich gar nicht erst spekulieren.« Julia hatte seine Drohungen ernst genommen, sich an die Vorgaben gehalten. Na ja, vielleicht nicht ganz, aber so gut wie. Kein Wort sprach sie innerhalb ihrer Familie. Keinen Satz zu den Arbeitskollegen im VEB Kombinat Plaste Bernau, die Stelle, die sie nach ihrer vorzeitigen Entlassung hatte antreten müssen und in der ihre Aufgabe darin bestand, unterschiedlich große Haushaltsschüsseln in unterschiedlich große Pappkartons zu packen. Selbstverständlich sprach sie auch nicht mit Nachbarn und Freunden, denn überall in dem Arbeiter- und Bauernstaat gab es lauschende Ohren. Speziell nach dem Mauerbau trugen diese so gut wie alles weiter, war es auch noch so harmlos. Also kein Wort, keine Geste, nichts. Eine Ausnahme gab es dennoch, und die war eher ungewollt. In dem kleinen Städtchen Schönow lebte eine alleinstehende Dame, die man durchaus, ohne etwas Ehrenrühriges zu sagen, mit der Vokabel »seltsam« charakterisieren konnte. Sie war im Jahre 1950 plötzlich aufgetaucht und einfach geblieben. Niemand wusste, woher sie kam, ja niemand konnte überhaupt etwas Definitives über sie berichten. Thorn (Westpreußen, heute Torun) war ihr Geburtsort, zumindest stand das in 10

ihrem Personalausweis. Diese Tatsache war den Kleinstadtbewohnern nur deshalb bekannt geworden, weil die Schreibkraft im Stadtamt geschwätzig war. Ida Sagasser hieß diese absonderliche Frau, die immer in Schwarz gekleidet ging. Keiner wusste, ob sie eine Familie besaß, welchem Beruf sie früher einmal nachgegangen war, ja ob sie überhaupt einen gehabt hatte. Auch Freunde schien sie nicht ihr Eigen zu nennen, jedenfalls war darüber nichts bekannt. Als bald nach ihrem Auftauchen zufällig für die Leihbibliothek eine Leiterin gesucht wurde, meldete sie sich, und da niemand anderer diese Stelle reklamierte, bekam sie sie zugewiesen. Frau Sagasser erledigte ihre Tätigkeit nicht nur gut, sondern sehr gut. Akribisch führte sie die Verleihlisten, sorgte dafür, dass immer alles zurück in die Regale kam, auch wenn sie von manchen Kunden die ausgeliehenen Bücher persönlich abholen musste, was sie aber nicht zu stören schien. Ihre von den Leuten belächelte Schrulligkeit hatte noch einen weiteren Effekt: Sie führte dazu, dass die Bücherei weitgehend frei von staatlicher Einflussnahme blieb, was sich in der Vielfalt des Bücherrepertoires niederschlug, die nicht nur, wie sonst so häufig im sozialistischen Deutschland, hauptsächlich aus sowjetischer Heldenliteratur bestand. Julia war ein regelmäßiger Kunde in diesem Bücherladen, und es wäre ihr nie eingefallen, ein ausgeliehenes Buch verspätet zurückzubringen. Sogar nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen ging sie umgehend dorthin, um sich wegen der schon lange abgelaufenen Ausleihzeit für die letzten zwei Bücher zu entschuldigen. Frau Sagasser reagierte auf die Entschuldigung mit einem wissenden Blick, und es entwickelte sich ein kurzer Dialog, über dessen Inhalt Julia erst einmal furchtbar erschrocken war, weil 11

auf solche Äußerungen, wie die Bibliothekarin sie von sich gab, zumindest dann, wenn diese öffentlich geworden wären, zehn Jahre Stasi-Knast gestanden hätten. »An dem Ort, wo man Sie eingekerkert hatte, Frau Kundrow, haben die Russen meinen Vater nach dem Krieg verrecken lassen, obwohl er während der Zeit des böhmischen Gefreiten Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer gewesen war.« »Das tut mir sehr leid«, hatte Julia flüsternd geantwortet, während sie ängstlich durch das Fenster nach draußen schaute, als hätte sie Sorge, dass von der Straße her ein Fremder der Unterhaltung folgt. Frau Sagasser bedankte sich für Julias Mitgefühl, schien aber mit ihren Gedanken nicht in der Gegenwart zu sein, denn ihr Blick war nach innen gerichtet, als sie fortfuhr: »Nach seinem Tode habe ich nie mehr die Kraft gefunden, einen Menschen für mich zu suchen, denn noch einmal zu verlieren, was man liebt, hätte ich nicht durchgestanden.« »Das kann ich gut verstehen«, antwortete Julia einfühlsam, aber auch zögerlich, denn sie wollte das gefährliche Gespräch beenden. »Heute gibt es an diesem grauenhaften Ort zwar neue Uniformen, aber ihre Träger sind in Wahrheit dieselben«, dozierte Frau Sagasser weiter. »Solche Männer sind auf der ganzen Welt Brüder im Geiste. Sie waren es gestern, sie sind es heute und sie werden es morgen sein, allen Beteuerungen zum Trotz. Auch wenn ihre Motive unterschiedlich scheinen, sie sind es nicht. Ich werde Sie, Frau Kundrow, in mein Gebet einschließen, denn mehr als beten kann ich für Sie nicht tun, auch wenn ich es gerne möchte.« Bitte, Frau Sagasser, hören Sie auf! Sie würden einen Aufenthalt in Hohenschönhausen nicht überstehen, schoss es Julia durch den Kopf. 12