Soziale Pluralitäten

die Klasse der vom Williams-Beuren-Syndrom Betroffenen. – die Klasse der .... Pluralitäten spielen in praktisch allen Wissenschaften eine bedeutende Rol- le.
2MB Größe 3 Downloads 63 Ansichten
Hauswald_RZ.indd 2

Hauswald · Soziale Pluralitäten

Eine soziale Pluralität liegt vor, wann immer wir mehrere Menschen als irgendwie zusammengehörig betrachten und auf sie als Vielheit Bezug nehmen. Das kann beispielsweise der Fall sein, weil diese Menschen bestimmte Gemeinsamkeiten (Ähnlichkeiten, gemeinsame Eigenschaften) aufweisen oder weil sie eine Gemeinschaft (eine Gruppe, ein Kollektiv) bilden. Einzelne Formen sozialer Pluralitäten werden in vielen philosophischen und wissenschaftlichen Teildiszi­plinen untersucht, etwa der Sozialontologie, der Soziologie oder der Wissenschaftstheorie der Humanwissenschaften. Bislang ist jedoch kein umfassender Versuch unternommen worden, eine Theorie sozialer Pluralitäten schlechthin zu entwickeln, in der Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Pluralitätsformen und den diesen jeweils gewidmeten Debatten aufgezeigt werden. Dieses Buch stellt einen solchen Versuch dar. Soziale Pluralitäten werden auf drei Grundformen reduziert: Mengen, Klassen und Kollektive. Diese Formen werden untersucht hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Ontologie, der Prinzipien ihrer wissenschaftlichen Erforschung sowie der Semantik der Begriffe, mit denen wir uns in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kontexten auf sie beziehen.

Rico Hauswald

Soziale Pluralitäten Zur Ontologie, Wissenschaftstheorie und Semantik des Klassifizierens und Gruppierens von Menschen

03.08.14 17:51

Hauswald · Soziale Pluralitäten

Rico Hauswald

Soziale Pluralitäten Zur Ontologie, Wissenschaftstheorie und Semantik des Klassifizierens und Gruppierens von Menschen in Gesellschaft und Humanwissenschaft

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung Einbandabbildung: © ARTENS – Fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-417-8 (Print) ISBN 978-3-95743-998-7 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3

Zum ontologischen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Pluralitäten in der kategorialen Ontologie . . . . . . . Die drei ontologischen Grundtypen sozialer Pluralitäten . Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 19 30 30 34 42 49

3. 3.1 3.1.1 3.1.2

Universalien, Arten und Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Putnams und Kripkes neuer Essentialismus und der semantische Externalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Arten als Homeostatic Property Clusters . . . . Universalienklassen und Klassifikationen . . . . . . . . . . . . . Natürliche Arten und Klassifikationen am Beispiel der psychiatrischen Nosologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre und sekundäre Instanzen natürlicher Arten . . . . . Krankheitsarten und klassifikatorische Kategorien . . . . . . Psychiatrische Krankheiten als natürliche Arten . . . . . . . . Klassifikatorische Loopingeffekte und interaktive Arten . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 52 55

3.1.3 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2

Kollektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Kollektive als integrierte Kontinuanten und als (semi-)natürliche Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur ontologischen Typologie und Charakterisierung sozialer Kollektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unreine Universalien und Kollektive mit externer Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektive Intentionalität und Gruppen . . . . . . . . . . . . . . Das Intentionalitätsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konstitutionsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 75 106 125 127 135 139 147 173 177 178 187 195 204 204 216

6

4.5 4.6 4.6.1

Inhaltsverzeichnis

4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.7

Individuen und Individuierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vagheit als ontologisches Merkmal von Kollektiven . . . . . Vagheit im Verhältnis zu anderen Formen von Unbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumliche Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mereologische Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ontische Vagheit bei Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223 231 231 234 237 240 248

5.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2013 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität Berlin angenommen wurde. Mein herzlicher Dank gilt Geert Keil, der die Arbeit betreut hat und von dessen vielfältiger Unterstützung und konstruktiver Kritik ich maßgeblich profitiert habe. Für ihre freundliche Bereitschaft, die Mühe des Zweitgutachtens auf sich zu nehmen, danke ich zudem Mari Mikkola. Ich schätze mich glücklich, dass es eine Pluralität kluger Menschen gab, mit denen ich mich während meiner Promotionsphase austauschen konnte und denen ein signifikanter Anteil am Gelingen der Arbeit zukommt. Für hilfreiche Gespräche und das Korrigieren und Kommentieren von Teilen der Dissertation danke ich insbesondere Yves Bossart, Alexander Dinges, Daniel Gruschke, Martin Klaus Günther, Philipp Haueis, Maren Jung, Lara Keuck, Matthias Kiesselbach, Nora Kreft, Beate Krickel, David Lanius, Friederike Schmitz und Julia Zakkou. Für die großzügige finanzielle Unterstützung beim Druck gilt mein Dank auch der Volkswagenstiftung, die das Forschungsprojekt »Vernünftiger Umgang mit unscharfen Grenzen« finanziert hat, in dessen Rahmen die Dissertation fertiggestellt wurde. Das Buch ist meinen Eltern gewidmet, als Dank für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung über all die Jahre.

1. Einleitung

Diese Arbeit ist eine Untersuchung zu den ontologischen Grundlagen sozialer Pluralitäten, zu den Prinzipien ihrer wissenschaftlichen Erforschung sowie zur Semantik der Begriffe, mit denen wir uns in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kontexten auf sie beziehen. Bei philosophischen Texten ist es nicht ungewöhnlich, dass bereits der Gegenstand der Untersuchung und die Fragestellung selbst problematisch und rechtfertigungsbedürftig erscheinen: »Was ist die Zeit?«, »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?«, »Was sind Eigenschaften und wie hängen sie mit den Einzeldingen zusammen?« usw. Oft liegt das daran, dass unterschiedliche Philosophen unterschiedliche Meinungen darüber vertreten, welche Fragen sich überhaupt sinnvollerweise stellen lassen. Auch der Gegenstandsbereich dieser Arbeit ist erklärungsbedürftig – zunächst freilich einfach deshalb, weil der titelgebende Begriff kein Wort der etablierten philosophischen Standardsprache ist. Eines der Ziele der Arbeit wird daher darin bestehen, zu zeigen, dass der Begriff »soziale Pluralität« von systematischem Wert ist. Intuitiv lässt sich der Begriff als Sammelbezeichnung für alle Vielheiten von Menschen einführen. Wann immer wir auf mehrere Menschen Bezug nehmen, nehmen wir Bezug auf eine soziale Pluralität. Der Begriff soll so weit gefasst werden, dass ontologisch so unterschiedliche Entitäten wie Kollektive, Mengen und Klassen (diese verstehe ich als extensionale Korrelate von Universalien und Prädikaten) darunter fallen können. Nicht alle Kollektive, nicht alle Mengen und nicht alle Klassen sind soziale Pluralitäten; das sind sie nur dann, wenn ihre Mitglieder Menschen sind. 1 Der Begriff »Pluralität« ohne die Qualifikation »sozial« könnte als Sammelbezeichnung für alle Kollektive (plurale Kontinuanten), Mengen und Klassen schlechthin eingeführt werden und würde dann auch kollektive Entitäten mit nichtmenschlichen Mitgliedern umfassen (z. B. Tierherden), Mengen wie {1, 6, 17} oder die Klasse der Planeten. Der Zusatz »sozial« soll also anzeigen, dass 1

Ich definiere das Wort hier einfach stipulativ. Die Bezeichnung als solche trägt keine systematische Last und ist lediglich aus pragmatischen Gründen gewählt (z. B. um die Beziehung zu den Sozialwissenschaften hervorzuheben). Dass eine Herde oder ein Schwarm von Tieren vor diesem Hintergrund keine »soziale Pluralität« ist, sollte nicht als inhaltliche These, die ich über ihren Status zu machen hätte, verstanden werden, sondern ist einfach eine in Kauf genommene Nebenfolge der Definition. Es ist einfach so, dass mich in dieser Arbeit Pluralitäten mit menschlichen Mitgliedern interessieren und dieser Eingrenzung terminologisch irgendwie Rechnung getragen werden muss.

10

1. Einleitung

Pluralitäten mit menschlichen Mitgliedern gemeint sind; solche Pluralitäten bilden den Fokus meiner Überlegungen. Beispiele für soziale Pluralitäten sind: – – – – – – – – – – –

die Berliner Philharmoniker die Gruppe 47 die Deutschen die Borkumer die Pluralität der Frauen die Pluralität der Kinder die Klasse der Menschen, die an einem Dienstag geboren wurden die Klasse der Übergewichtigen die Klasse der vom Williams-Beuren-Syndrom Betroffenen die Klasse der Menschen, die in die Kategorie F20.1 der ICD-10-GM fallen die Menge {Shirley Williams, W. V. O. Quine, Brigitte Bardot}

Angesichts einer derart heterogenen – weil Entitäten ganz unterschiedlicher ontologischer Kategorien umfassenden – Extension mag der Begriff »soziale Pluralität« zusätzlich rechtfertigungsbedürftig erscheinen. In der Tat liegen den genannten Pluralitäten ganz unterschiedliche Konstitutionsprinzipien zugrunde: Einige gehen aus etwas hervor, was man »gruppenbildende soziale Selbstorganisation« nennen könnte (z. B. die Gruppe 47), oder haben institutionellen Charakter (die Deutschen), andere gehen auf eine sprachliche Klassifizierungspraxis zurück (die Kategorie F20.1 der ICD-10-GM ist eine klassifikatorische Kategorie), wieder andere umfassen die Instanzen einer Art (die Klasse der vom Williams-Beuren-Syndrom Betroffenen), wiederum andere gehen auf die Operation der Mengenbildung zurück. Es ist wichtig (und wird häufig nur unzureichend berücksichtigt), diese unterschiedlichen Konstitutionsprinzipien (Gruppierung und verschiedene andere Typen von Kollektivbildung, Klassifikation, Instanziierung, Mengenbildung) auseinanderzuhalten, und es ist ein Teilziel der Arbeit, diese unterschiedlichen Prinzipien zu differenzieren. Neben diesen Unterschieden gibt es jedoch auch relevante Wechselbeziehungen, und eine Hauptmotivation für die Einführung des Begriffs der »sozialen Pluralität« besteht nun darin, einen systematischen Rahmen bereitzustellen, innerhalb dessen beides – Differenzen und Wechselbeziehungen – untersucht werden können. Auf disziplinärer Ebene geht mit der Einführung dieses Begriffs der Versuch einer Integration verschiedener philosophischer und humanwissenschaftlicher Diskussionstraditionen einher, die einerseits bislang weitgehend unabhängig voneinander verfolgt wurden, andererseits aber aufgrund der gegebenen systematischen Wechselbeziehungen miteinander in Verbindung stehen und deshalb nicht isoliert voneinander sein sollten. Bei diesen Diskussionskontexten handelt es sich insbesondere um die Debatte über »kollektive

1. Einleitung

11

Intentionalität« und die damit einhergehenden Analysen zur Konstitution »sozialer Gruppen« in der Sozialontologie der letzten zwei Jahrzehnte; um die Differenzierung verschiedener Kollektivtypen in Soziologie und Sozialpsychologie; um die in Teilen der politischen Philosophie und der Kulturwissenschaften intensiv geführte Diskussion über den Status verschiedener Kategorien sozialer Differenzierung (z. B. Genderkategorien oder ökonomischer Klassen) und die damit verbundene Thematisierung sogenannter »kollektiver Identitäten«; schließlich nicht zuletzt um die wissenschaftstheoretischen Diskussionen über »human«, »social« oder »interactive kinds« sowie über klassifikatorische Prinzipien und das Vorkommen natürlicher Arten in verschiedenen wissenschaftstheoretischen Teildisziplinen wie z. B. der Wissenschaftstheorie der Humanmedizin. Gemeinsam ist diesen Debatten, dass in ihnen unterschiedliche Formen der Zusammengehörigkeit verschiedener Menschen untersucht werden. Dabei handelt es sich, wie gesagt, freilich um sehr verschiedene Formen des Zusammengehörens. So heterogen diese Debatten daher auch sind, sie weisen doch mehr als nur formale Parallelen auf. So fragen sowohl die Sozialontologen und Soziologen, die sich mit Konstitutionsprinzipien von Gruppen beschäftigen, als auch Philosophen, die mit »kollektiven Identitäten« und anderen Formen politischer Differenzierung und Vergemeinschaftung von Menschen befasst sind, nach der Relevanz des Übereinstimmens bestimmter Menschen hinsichtlich bestimmter Eigenschaften. Tendieren Menschen eher dazu, politische oder soziale Gemeinschaften zu bilden, wenn sie sich ähnlicher sind? Gibt es irgendwelche Zusammenhänge zwischen Ähnlichkeit und Gemeinschaft? Hat umgekehrt Gemeinschaft vielleicht sogar das Potential, bestimmte Formen von Ähnlichkeit erst hervorzubringen? Was könnte unter »Ähnlichkeit« hier überhaupt genau verstanden werden? Ähnlichkeit ist nun das zentrale Thema in den Debatten über unterschiedliche Typen von humanwissenschaftlich relevanten Arten. Dort wird diskutiert, ob im humanwissenschaftlichen Bereich so etwas wie »natural kinds«, »social kinds« oder andere Arten von Arten vorkommen, und was diese mit dem Übereinstimmen von Menschen (oder generell den Instanzen dieser Arten) hinsichtlich bestimmter Eigenschaften zu tun haben. Autoren aus diesen Debatten sind dann ihrerseits auf Fragen wie die nach der gemeinschaftsbildenden Relevanz des Exemplifizierens gemeinsamer Eigenschaften gekommen. Ian Hacking, ein in der klassifikationstheoretischen Debatte beheimateter Autor, argumentiert zum Beispiel, dass wenn Menschen sich der Tatsache bewusst werden, dass sie zusammen mit anderen in eine bestimmte klassifikatorische Kategorie fallen, dies weitreichende Konsequenzen unter anderem für das soziale Zusammenleben dieser Menschen, für Gemeinschaftsbildungsprozesse usw. haben kann. Vor diesem Hintergrund ist die Einführung des Begriffs der »sozialen Pluralität« mit dem Ziel verbunden, diese und viele weitere Wechselbezie-

12

1. Einleitung

hungen zwischen diesen Debatten zunächst erst einmal sichtbar zu machen, danach präziser zu bestimmen, worin diese Wechselbeziehungen genau bestehen, um sie in der Folge dann schließlich systematisch weiterverfolgen zu können. Eine Theorie sozialer Pluralitäten muss sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen herausarbeiten. Betrachten wir noch einmal die Beispielliste. Ein erneuter Blick darauf macht, über die Verschiedenheit der kategorialen Zugehörigkeiten und Konstitutionsprinzipien hinaus, weitere Heterogenitäten deutlich: Einige der Pluralitäten sind, im Gegensatz zu anderen, wissenschaftlich gehaltvoll, etwa in dem Sinn, dass eine Berücksichtigung dieser Pluralitäten für eine angemessene Beschreibung eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs erforderlich ist (etwa eine Berücksichtigung der Gruppe 47 bei einer Beschreibung der Entwicklung der Nachkriegsliteratur), oder in dem Sinn, dass sich ihre Mitglieder qua ihrer Mitgliedschaft in vielen relevanten Hinsichten ähnlich sind und aufgrund dieser Ähnlichkeit die Möglichkeit zu Prognosen und induktiven Schlüssen besteht. Die Mitglieder der Menge {Shirley Williams, W. V. O. Quine, Brigitte Bardot} dürften (abgesehen von ihrer Mitgliedschaft in dieser Menge) wenig gemeinsam haben, was sie von allen anderen Menschen unterscheidet; die von der Kategorie F20.1 der ICD-10-GM (»hebephrene Schizophrenie«) erfassten Menschen werden dagegen, sofern es sich um eine wohlkonzipierte (eine echte Krankheitsentität herausgreifende) medizinische Kategorie handelt, zahlreiche spezifische Ähnlichkeiten aufweisen. Im Falle einiger Pluralitäten ist es den Mitgliedern bewusst, dass sie Mitglied dieser Pluralität sind, bei anderen nicht (die Mitglieder der Berliner Philharmoniker wissen, dass sie zu dieser Gruppe gehören, den meisten Mitgliedern der Klasse derjenigen, die an einem Dienstag geboren sind, dürfte die Mitgliedschaft in dieser Klasse dagegen nicht bewusst sein). In einigen Fällen besitzt die Mitgliedschaft für die Mitglieder einen gewissen positiven oder negativen Wert; es liegt ihnen daran, es ist ihnen wichtig, dazuzugehören oder nicht. In anderen Fällen ist die Mitgliedschaft demgegenüber unbedeutend aus Sicht der Mitglieder (man vergleiche die Irrelevanz, die der Wochentag meiner Geburt für mich hat, mit der subjektiven Wichtigkeit, die meiner Staatsangehörigkeit zukommen kann). Unabhängig (oder vielleicht besser: nicht notwendigerweise abhängig) von dieser subjektiven Wichtigkeit sind einige der Pluralitäten gesellschaftlich, politisch relevant, andere sind es nicht. Politische oder gesellschaftliche Relevanz einer Pluralität kann heißen, dass eine Bezugnahme darauf Element bestimmter politischer Diskurse ist; es kann ebenfalls heißen, dass das soziale Leben, die alltäglichen sozialen Praktiken über die Mitgliedschaft in diesen Pluralitäten organisiert werden (z. B. spielt die Unterscheidung von Männern und Frauen oder die zwischen Kindern und Erwachsenen eine bedeutende Rolle in diesem Sinn).

1. Einleitung

13

Pluralitäten spielen in praktisch allen Wissenschaften eine bedeutende Rolle. Auch für die meisten derjenigen Wissenschaften, die sich nicht mit sozialen Pluralitäten befassen, hat zumindest ein Pluralitätstyp, nämlich Klassen eine zentrale Bedeutung. Eine Klasse kann entweder das extensionale Korrelat einer Eigenschaft oder Art (d. h. einer nicht-sprachlichen Universalie) sein oder das extensionale Korrelat einer Klassifikation (d. h. einer sprachlichen, epistemischen Tätigkeit). Klassifikatorische Praktiken zielen häufig – nicht immer – darauf ab, Universalien, also objektive, nicht-sprachliche Strukturen in der Welt abzubilden. Ist das erfolgreich, gibt es, wie ich sagen werde, ein Entsprechen, ein »Passen« dieser klassifikatorischen Kategorie und der fraglichen Universalie. Viele wissenschaftliche Disziplinen enthalten gleichsam in ihrem Kern ein zentrales Klassifikationssystem, um das herum ihre Erkenntnispraxis organisiert ist: die Chemie das Periodensystem der Elemente, die Biologie die Taxonomie der Spezies, die Physik den »Teilchenzoo« oder die Medizin die nosologische Systematik. Was über den unterschiedlichen wissenschaftlichen Gehalt sozialer Pluralitäten gesagt wurde, lässt sich im Grunde auf alle Pluralitäten verallgemeinern. Einige der klassifikatorischen Kategorien sind im Hinblick auf Induktionen, Prognosen usw. gehaltvoller als andere. Doch nicht nur Wissenschaftler klassifizieren, sortieren, gruppieren Dinge. Es handelt sich um ganz grundlegende menschliche Praktiken: »to classify is human« (Bowker /Star 1999, 1). Eine Besonderheit des humanwissenschaftlichen Klassifizierens besteht deshalb darin, dass es »Objekte« betrifft, die immer schon selbst klassifizierende Subjekte sind, womit humanwissenschaftliche Klassifizierer gewissermaßen als Metaklassifizierer in Erscheinung treten. Die anderen oben gemachten Bemerkungen lassen sich deshalb nicht ohne weiteres oder gar nicht auf Pluralitäten schlechthin generalisieren. Dass sich die Pluralitätsmitglieder ihrer Mitgliedschaft bewusst sein können, dass diese Mitgliedschaft für sie subjektiv von Wert und für ihre Existenz bedeutsam sein kann, ist etwas für soziale Pluralitäten Spezifisches. Es ist ein durchaus bemerkenswertes Faktum, dass die Mitglieder sozialer Pluralitäten zu einer Stellungnahme gewissermaßen »von innen heraus« fähig sind. Anders als etwa die Bewohner der einzelnen Gehege des »Teilchenzoos« können Menschen »wir« sagen, und damit auf Pluralitäten Bezug nehmen, deren Mitglieder sie sind – wobei, wie man vereinfacht sagen kann, dieses »wir« einen distributiven oder summativen Sinn hat, wenn die Bezugnahme auf klassenförmige Pluralitäten erfolgt, während es einen kollektiven Sinn hat, wenn die Bezugnahme auf bestimmte Kollektive erfolgt. 2 Bei einigen sozialen Pluralitäten ist es sogar so, dass die Mitgliedschaft eine Fähigkeit 2

Die Unterscheidung zwischen einem summativen oder distributiven und einem kollektiven »wir«-Gebrauch wird in Kapitel 4.4 vertieft.

14

1. Einleitung

zur reflexiven Bezugnahme der Mitglieder auf diese Pluralität voraussetzt, also voraussetzt, dass die Mitglieder über einen Begriff dieser Pluralität verfügen. Manche Pluralitäten gibt es überhaupt nur, weil Menschen glauben, ihre Mitglieder zu sein. Sich selbst und die Mitmenschen zu »sortieren« ist für Menschen und die Selbstorganisation ihrer Lebenswelt von elementarer Bedeutung. Die sozialpsychologische »Selbstkategorisierungstheorie« legt nahe, dass »the mere process of making salient ›us and them‹ distinctions changes the way people see each other«; und weiter: »Categorization also changes the way people see themselves, in the sense that it activates a different level of one’s self-concept.« (Hornsey 2008, 206) Eine Untersuchung humanwissenschaftlicher Klassifizierungs- und Gruppierungspraktiken muss somit letztlich generell vor dem Hintergrund der besonderen methodologischen Ausgangssituation der Humanwissenschaften verstanden werden. Der Mensch als Gegenstand der Humanwissenschaften ist nicht nur Objekt von (wissenschaftlichen) Beschreibungen, sondern ebenso Subjekt. Im Gegensatz zu den (meisten) Naturwissenschaften gibt es in den Humanwissenschaften gewissermaßen zwei sprachliche Ebenen: die Sprache der Wissenschaft und die Sprache derjenigen, über die die Wissenschaft Aussagen treffen will. Anders als die Gegenstände anderer Wissenschaften besitzt der Mensch die Fähigkeit, über sich selbst und seine Umwelt nachzudenken. Erhebliche Bereiche des Gegenstandsbereichs der Humanwissenschaften – Kulturen und Gesellschaften, Artefakte, Institutionen und Gruppen, menschliche Lebenswelten und Existenzformen – entstehen zu einem bedeutsamen Ausmaß überhaupt erst dadurch, dass Menschen intentional und sprachlich vermittelt agieren. Hinzu kommt ferner, dass humanwissenschaftliche Theorien, Beschreibungen und Klassifikationen von ihren Objekten verstanden werden können. Menschen können zu den sie betreffenden Klassifikationen, Theorien und Beschreibungen Stellung nehmen, sie können darauf reagieren. Für Ian Hacking stellt dieser Gedanke den Ausgangspunkt seiner Theorie »interaktiver Arten« dar. Diese Theorie besagt, dass humanwissenschaftliche Klassifikationen systematisch instabil, ihre Gegenstände »moving targets« sind, die permanent auf jeden Zugriffsversuch reagieren und sich ihm entziehen. Wenn diese Diagnose stimmt (eine genaue Prüfung ihres Geltungsanspruchs erfolgt in Abschnitt 3.4), könnte man sie als neuen Beitrag zu einer traditionsreichen Diskussion in der Wissenschaftstheorie der Humanwissenschaften begreifen, in der diesen ein irgendwie prekärer, defizitärer Status gegenüber den »fundamentaleren« Naturwissenschaften Physik, Chemie usw. bescheinigt wurde. Während letztere weithin als die »harten«, »exakten« Disziplinen angesehen wurden und werden, haben die Humanwissenschaften den Ruf, »unexakte«, »weiche« Erkenntnispraktiken darzustellen. Manchmal – nicht immer – ist das abwertend gemeint und geht bis zum Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit dieser Disziplinen. Insofern die Diagnose der