Sollen ohne Können?

Michael Kühler. SOLLEN OHNE ... Dieter Sturma und Michael Quante ..... rens, zudem Kurt Bayertz, Thomas Gutmann, Bettina Schöne-Seifert, Lud- wig Siep ...
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SOLLEN OHNE KÖNNEN? Kühler ·

Wie sinnvoll ist es, von Akteuren etwas zu fordern, wenn sie der Forderung nicht nachkommen können? Angesichts des weithin anerkannten Prinzips „Sollen impliziert Können“ erscheint ein solches Sollen ohne Können zunächst kaum vorstellbar. Kühler argumentiert jedoch dafür, dass die Beziehung zwischen Sollen und Können eine deutlich komplexere ist, die nicht zuletzt davon abhängt, von welchem Sollen genau die Rede ist, wie das Nichtkönnen der Akteure zustande gekommen ist und worin es genau besteht. Auch die Interpretation des Implikationsverhältnisses ist keineswegs unumstritten. Kühlers Kernthesen lauten dann erstens, dass es sich bei dem Prinzip „Sollen impliziert Können“ nicht um eine begriffliche Implikation, sondern um ein komplexes, genuin normatives Abwägungsverhältnis zwischen verschiedenen Facetten des Sollens und des (Nicht-) Könnens handelt, und zweitens, dass es gute Gründe gibt, um auch an nicht erfüllbaren konkreten Sollensansprüchen festzuhalten, ohne dass dies den Adressaten gegenüber unfair wäre. Diese Gründe werden im Rahmen sowohl pragmatischer als auch in einem engen Sinne moralischer und schließlich in einem weiten Sinne ethischer Überlegungen entfaltet.

Michael Kühler

SOLLEN OHNE KÖNNEN? Über Sinn und Geltung nicht erfüllbarer Sollensansprüche ethica ISBN 978-3-89785-320-1

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Michael Kühler · Sollen ohne Können?

ethica Herausgegeben von Dieter Sturma und Michael Quante

Michael Kühler

Sollen ohne Können? Über Sinn und Geltung nicht erfüllbarer Sollensansprüche

mentis MÜNSTER

Einbandabbild: Karl Heinz Kühler, Collage Diese Arbeit ist zu weiten Teilen im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB 485 »Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration« der Universität Konstanz entstanden und wurde auf Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt. Die abschließende Ausarbeitung erfolgte im Rahmen der Kolleg-Forschergruppe »Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Die Kolleg-Forschergruppe hat aus den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mitteln dankenswerterweise ebenfalls einen Teil der Druckkosten übernommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. = ethica, Band 23

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-320-1

Meinen Eltern

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ................................................................................................................. 11 1 Einleitung ......................................................................................................... 13 1.1 Das Verhältnis zwischen Sollen und Können: eine einfache Frage? ............................................................................................................ 13 1.2 Der Gang der Argumentation ................................................................. 14

TEIL I GRUNDLEGENDE FRAGEN 2 Sollen und Können: eine begriffliche „Landkarte“ ............................. 29 2.1 Sollen ........................................................................................................... 29 2.2 Können und Nichtkönnen ...................................................................... 37 2.2.1 Woran kann ein Akteur gehindert sein? .................................................... 38 2.2.2 Inwiefern kann ein Akteur gehindert sein? ............................................... 41 2.2.3 Wodurch kann ein Akteur gehindert sein? ................................................ 44 2.3 Verhältnis zwischen Sollen und Können ............................................... 51 3 Normativität und Freiheit ........................................................................... 57 3.1 Normative Ansprechbarkeit .................................................................... 57 3.2 Verantwortlichkeit und normative Ansprechbarkeit als Zuweisungspraxis ........................................................................................ 62 3.2.1 Strawsons „reaktive Haltungen“ ................................................................. 62 3.2.2 Wallaces normative Erweiterung von Strawsons Ansatz ........................ 65 3.3 Freiheit als kompatibilistisches Können ................................................ 70 3.3.1 Frankfurts Ablehnung des Prinzips alternativer Möglichkeiten (PAP) ................................................................................................................... 71 3.3.2 Konditionale und dispositionale Analyse von Können inklusive Anderskönnen ................................................................................................... 76

3.4 Freiheit als libertarisches Können .......................................................... 80 3.5 Fazit ............................................................................................................. 82

8

Inhaltsverzeichnis

4 Sollen, Handeln und Versuchen ................................................................ 85 4.1 Handlungsversuche ................................................................................... 85 4.2 Handeln und Versuchen ........................................................................... 88 4.2.1 Der volitionale Ansatz ................................................................................. 89 4.2.2 Der instrumentalistische Ansatz ................................................................. 92 4.2.3 Der Fähigkeitsansatz .................................................................................... 93 4.3 Sollen, Versuchen und Erfolgsbezug ..................................................... 94 4.4 Fazit ........................................................................................................... 102

TEIL II DIE BEGRIFFLICHE THESE: SOLLEN IMPLIZIERT KÖNNEN 5 „Sollen impliziert Können“: begrifflich ................................................ 105 5.1 Sollen ......................................................................................................... 106 5.2 Können ..................................................................................................... 107 5.3 Die Herausforderung des Sein-Sollen-Fehlschlusses ........................ 108 5.4 Zeitlich indexiertes Sollen und Können .............................................. 113 6 Zeitliche Indexierung ................................................................................. 117 6.1 Die Problematik eintretenden Nichtkönnens .................................... 117 6.2 Fernes Können und die Rolle epistemischer Hinderungen ............. 122 6.3 Objektive und subjektive Pflichten ...................................................... 124 6.4 Tatsächliche Pflichten und Prima-facie-Pflichten .............................. 128 6.5 Fernes Sollen und fernes Können: plausible Begriffe? ..................... 130 7 Moralische Dilemmata ............................................................................... 135 7.1 Moralische Dilemmata und deontische Logik .................................... 137 7.2 Die Berücksichtigung des moralischen Rests ..................................... 141 7.3 Von Prima-facie-Pflichten zu tatsächlichen Pflichten ....................... 147 8 Die handlungsleitende Funktion des Sollens ...................................... 153 8.1 Sollensansprüche als Handlungsgründe .............................................. 153 8.2 Konkrete normative Ansprechbarkeit und Wollen ............................ 157 8.3 Konkrete normative Ansprechbarkeit und Handlungsversuche ..... 159

Inhaltsverzeichnis

9

9 Die Plausibilität des zugrunde gelegten Sollensbegriffs ................. 167 9.1 Praktische Notwendigkeit und modallogische Notwendigkeit ........ 167 9.2 Prima-facie-Pflichten und praktische Notwendigkeit ....................... 169 9.3 Die Passensrichtung des Sollens ........................................................... 174 9.4 Fazit ........................................................................................................... 181

TEIL III DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN SOLLEN UND KÖNNEN ALS PRAKTISCHE PROBLEMATIK 10 Die pragmatische These .......................................................................... 185 10.1 „Sollen impliziert Können“ als kolloquiale Implikatur ................... 185 10.2 Implikatur nach Grice .......................................................................... 186 10.3 Sollen implikiert kolloquial Können .................................................. 188 10.4 Kritik an der pragmatischen These .................................................... 190 11 Die normative These ................................................................................. 195 11.1 Sollensansprüchen soll ein geeignetes Können gegenüberstehen ....................................................................................... 195 11.2 Die komplexe normative These ......................................................... 197 11.3 Die einzelnen Facetten des Sollens .................................................... 199 11.3.1 Die Realisierung des Gesollten als primärer praktischer Zweck ....... 199 11.3.2 Die Beurteilung von Handlungen .......................................................... 200 11.3.3 Die Beurteilung des Akteurs und die Möglichkeit der Entschuldigung ............................................................................................... 201 11.3.4 Die Zuweisung von Verantwortlichkeit zwischen Zumutbarkeit und strikter Haftbarkeit ................................................................................. 204

11.4 Fazit ......................................................................................................... 207

TEIL IV WARUM EIN SOLLEN OHNE KÖNNEN? 12 Pragmatische Argumente für ein Sollen ohne Können .................. 211 12.1 Selbstverschuldetes Nichtkönnen und Herstellung des Könnens ..................................................................................................... 212

10

Inhaltsverzeichnis

12.2 Präventive Verhinderung des Nichtkönnens .................................... 213 12.3 Rechtzeitige Herstellung geeigneten Könnens ................................. 215 13 Moralische Argumente für ein Sollen ohne Können ....................... 219 13.1 Der Einbezug des moralischen Rests ................................................ 219 13.2 Moralische Konflikte, moralische Dilemmata und Bedauern ....... 223 13.3 Fairness und Akteursbedauern ........................................................... 227 13.4 Fairness, Entschuldigung und die Beurteilung des Akteurs ........... 233 13.5 Dirty-hands-Szenarien und tragikbedingte Reue ............................. 237 14 Ethische Argumente für ein Sollen ohne Können ........................... 245 14.1 Ethik und die Identifikation mit Idealen .......................................... 245 14.2 Ideale ....................................................................................................... 248 14.3 Zur volitionalen Konstitution der Identität einer Person .............. 250 14.3.1 Identität durch radikale Wahl ................................................................. 251 14.3.2 Identität durch volitionale Notwendigkeiten ....................................... 252 14.4 Identität und persönliche Ideale: Verbindlichkeit und Idealismus .................................................................................................. 254 14.5 Fazit ......................................................................................................... 261 Literatur ............................................................................................................. 263 Index ................................................................................................................... 279

VORWORT Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Wintersemester 2011/12 vom Fachbereich Geschichte/ Philosophie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man in einer Arbeit, die man zwar bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig verfasst haben sollte (und auch wollte), dies bis dahin jedoch keinesfalls schaffen konnte, just die Position der Geltung eines Sollens auch ohne Können zu verteidigen anstrebt. Dass sich das nötige Können letztlich doch eingestellt und damit eine Fertigstellung ermöglicht hat, die zumindest nicht unverhältnismäßig mehr Zeit in Anspruch genommen hat als ursprünglich anvisiert, habe ich der Unterstützung einer ganzen Reihe von Personen zu verdanken. Mein besonderer Dank gilt Gottfried Seebaß, der die Arbeit im Rahmen seines Projekts „Normativität und Freiheit“ innerhalb des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“ der Universität Konstanz initiiert, begleitet und stets mit Rat und Tat unterstützt hat. Für die unkomplizierte Zusammenarbeit in diesem Projekt und die vielen hilfreichen Diskussionen möchte ich mich darüber hinaus besonders bei Nadja Jelinek bedanken, die ein komplementäres Unterprojekt im Rahmen des Projekts „Normativität und Freiheit“ bearbeitet hat. Einzelne Teile der Arbeit konnte ich zudem im Forschungskolloquium von Gottfried Seebaß vorstellen und diskutieren. Für hilfreiche Kritik und wertvolle Hinweise möchte ich mich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums herzlich bedanken: im Einzelnen nochmals bei Gottfried Seebaß und Nadja Jelinek, zudem bei Thomas Diemar, Jens Kistenfeger, Neil Roughley, Julius Schälike, Stephan Schlothfeldt, Michael Schmitz und Florian Zimmermann. Des Weiteren gilt mein Dank allen Mitgliedern des Konstanzer Fachbereichs Philosophie und des SFB 485 sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Konstanz-Zürich-Kolloquiums für weitere hilfreiche Anregungen und Unterstützung. Welch wertvollen Beitrag ein wohlwollendes, kollegiales und kritisch-konstruktives Arbeitsumfeld zum Gelingen einer solchen Arbeit leistet, darf keineswegs unterschätzt werden. Umso mehr hat es mich gefreut, die abschließenden Arbeitsschritte in einer ebenso kollegialen und kritisch-unterstützenden Umgebung fertigstellen zu können, wie man sie sich besser nicht wünschen kann: innerhalb der Kolleg-Forschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Müns-

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Vorwort

ter. Auch hier konnte ich Teile der Arbeit in großer Runde und in vielen kleinen Runden kritisch diskutieren und erhielt weitere wertvolle Hinweise und Anregungen. Allen Beteiligten an der Kolleg-Forschergruppe gilt deshalb mein besonderer und herzlicher Dank, im Einzelnen insbesondere Reinold Schmücker und Michael Quante für ihre kontinuierliche Unterstützung mit Rat und Tat und für ihr Engagement im Zuge des Habilitationsverfahrens, zudem Kurt Bayertz, Thomas Gutmann, Bettina Schöne-Seifert, Ludwig Siep und Ulrich Willems sowie Johann S. Ach, Birgit Beck, Simon Derpmann, Dominik Düber, Annette Dufner, Bijan Fateh-Moghadam, Stephan Klatt, Ruth Langer, Sebastian Laukötter, Alexa Nossek, Markus Rüther, Marco Stier, Barbara Stroop, Lioba Welling, Fabian Wenner, Manon Westphal und nicht zuletzt ebenfalls allen Fellows der Kolleg-Forschergruppe, von denen ich hier stellvertretend nur Joel Anderson, John Christman, John Martin Fischer, Arnd Pollmann, Erzsébet Rózsa, Thomas Schmidt, Thomas Schramme und Jens Timmermann erwähne. Ebenfalls gilt mein Dank allen Mitgliedern des philosophischen Seminars der Universität Münster, mit denen ich ebenfalls hilfreiche Diskussionen führen konnte. Unabhängig von einer direkten Konstanzer oder Münsteraner Verbindung möchte ich mich einmal mehr für kontinuierliche Unterstützung und wertvolle kritische Hinweise und Anregungen außerordentlich und ganz herzlich bei Monika Betzler und Hans Ineichen sowie bei Nora Hangel, Alexandra Kofler, Jörg Kühnelt, Gerard Montague, Bernd Prien, Radka Tomečková, Marcel van Ackeren und bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Lehrveranstaltungen bedanken. Ebenfalls außerordentlich dankbar bin ich schließlich Michael Kienecker, der vonseiten des mentis Verlags dieses Buchprojekt mit viel Geduld und Verständnis in hervorragender Weise begleitet und unterstützt hat, sowie Dieter Sturma und nochmals Michael Quante für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ethica. Entsprechend der in diesem Buch vertretenen These ändert im Übrigen der Umstand, dass im Rahmen einer solchen Danksagung leider nicht alle Personen zugleich an erster Stelle genannt werden können, nichts daran, dass dies angemessenerweise so sein sollte.

1 1.1

EINLEITUNG

DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN SOLLEN UND KÖNNEN: EINE EINFACHE FRAGE?

Gibt es ein Sollen ohne Können? Wer im Alltag mit Forderungen konfrontiert wird, die er nicht erfüllen kann, der wird sie üblicherweise mit einem Hinweis auf sein Nichtkönnen zurückweisen. Umgekehrt fordern wir andere gemeinhin gar nicht erst auf, etwas Bestimmtes zu tun, wenn wir wissen, dass sie es nicht tun können. Wer würde etwa ernsthaft von einem Dreijährigen fordern, ein Auto zu reparieren? Im Hintergrund dieser Praxis steht die Überzeugung, dass ein Sollensanspruch bzw. dessen Erheben sinnlos ist, wenn die Adressaten ihn nicht erfüllen können. Beredten Ausdruck findet diese Überzeugung beispielsweise in dem (römischen) Rechtsgrundsatz „impossibilium nulla obligatio“ sowie im philosophischen Prinzip „Sollen impliziert Können“. Die Frage, ob es ein Sollen ohne Können gibt, scheint sich demnach schnell und dezidiert beantworten zu lassen: nein. Bei näherem Hinsehen jedoch präsentiert sich das Verhältnis zwischen Sollen und Können als weitaus komplexer. Wenn ich beispielsweise ein Stoppschild überfahre, weil meine Bremsen defekt sind und ich deswegen nicht anhalten kann, so scheine ich durchaus etwas zu tun, das ich nicht tun soll. Und selbst wenn man mir in diesem Fall dieselbe Handlungsunfähigkeit wie meinem Freund auf dem Rücksitz unterstellen sollte, betrachten wir das Stoppschild deshalb noch immer keineswegs einfach als (normativ) inexistent. Wenn mich mein Freund dann später bittet, ihm beim Reifenwechsel zu helfen, und mich tadelt, wenn ich es nicht tue, so wird ihn meine Antwort, er wüsste doch ganz genau, dass ich den Wagen nicht anheben kann, nicht allzu sehr beeindrucken. Stattdessen wird er mich auf den Wagenheber in der Ecke und die zugehörige Gebrauchsanleitung aufmerksam machen. Umgekehrt werde ich meine Forderung, er solle seine Schulden an mich wie vereinbart heute zurückzahlen, keineswegs einfach als gegenstandslos betrachten, wenn er nicht über genügend Geld verfügt. Später am Abend wird sich schließlich meine Frau von meiner Erklärung, dass ich deshalb nicht wie versprochen um 20 Uhr zu Hause war, weil ich für die rechtzeitige Rückfahrt viel zu betrunken war – genau wie mein Freund –, ebenfalls kaum nachhaltig beeindrucken lassen. Die Rechtsprechung beispielsweise kennt für derartige Fälle das Prinzip „actio libera in causa“ und spricht damit die Problematik eines zuvor selbstverschuldeten Nichtkönnens an, wenn es um die Ahndung von im Rausch begangenem Fehlverhalten geht. Die Zuweisung von Verantwortlichkeit aufgrund von (nicht eingehaltenen) Sollensansprüchen reicht gar bis hin zum Konzept der Haftbarkeit. Wenn etwa Eltern

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1 Einleitung

für ihre Kinder haften, so steht ihr eigenes Tun und damit zugleich ihr entsprechendes Können gar nicht erst zur Debatte. Weiterhin entfalten Ideale und Utopien Sollensansprüche, obwohl sie per definitionem nicht vollständig realisierbar sind. Und häufig genug finden wir uns in dilemmatischen Situationen wieder, in denen wir nicht allen Sollensansprüchen zugleich nachkommen können. In all diesen Situationen und Umständen erscheint uns das Sollen jedenfalls nicht als in toto sinnlos. Des Weiteren spielt offenbar die Art des Nichtkönnens eine gewichtige Rolle. Wenn etwas logisch oder naturgesetzlich unmöglich ist, z.B. schweigend zu sprechen oder aus eigener Kraft und ohne Hilfsmittel zu fliegen, so halten wir entsprechende Sollensansprüche viel eher für sinnlos als solche, die nur von bestimmten Personen nicht erfüllt werden können. Der Anspruch etwa, dass ein ertrinkendes Kind gerettet werden soll, erscheint per se keineswegs sinnlos, selbst wenn die einzige Person im Umkreis nicht schwimmen kann. Noch unsicherer erscheint die Infragestellung eines Sollens, wenn der Akteur lediglich nicht weiß, dass er etwas tun soll. Zwar kann er demnach in der Tat in gewisser Weise nicht entsprechend handeln. Dennoch kennen wir die Rede von Sorgfaltspflichten, z.B. sich über Verhaltensregeln zu informieren oder bestimmte Fähigkeiten rechtzeitig auszubilden, so dass in derartigen Fällen häufig nicht der Sollensanspruch in Frage gestellt, sondern dem Akteur vielmehr dessen Nichterfüllung zur Last gelegt wird. Schließlich bleibt fraglich, was mit dem Hinweis auf die Sinnlosigkeit nicht erfüllbarer Sollensansprüche genau gemeint ist. Handelt es sich tatsächlich um eine begrifflich zu verstehende Sinnlosigkeit, so dass Sollensansprüche gar in analoger oder zumindest ähnlicher Weise unverständlich wären wie etwa die Rede von einem verheirateten Junggesellen? Oder steht eher eine praktische Sinnlosigkeit bzw. Witzlosigkeit zur Debatte, indem aufgrund des Nichtkönnens der Adressaten von vornherein klar ist, dass die Sollensansprüche nicht zur Realisierung des Gesollten führen werden? Selbst wenn man also die Vorstellung eines Sollens ohne Können ablehnt und die Zurückweisung nicht erfüllbarer Sollensansprüche somit für plausibel hält, bleibt zunächst offen, um welche Art von Zurückweisung es hierbei genau geht.

1.2

DER GANG DER ARGUMENTATION

Im Fokus der folgenden Untersuchung steht die Frage nach dem Sinn und der Geltung konkreter Sollensansprüche, wenn diese sich durch ein ebenso konkretes Nichtkönnen bzw. in relevanter Hinsicht eingeschränktes Können aufseiten der Adressaten in Frage gestellt sehen. Es wird dafür argumentiert, dass die Möglichkeit eines Sollens ohne Können nicht per se ausgeschlossen