Jana Schubert-Rakowski
Resilienz Ein Entwicklungspotential für Kinder
disserta Verlag
Schubert-Rakowski, Jana: Resilienz: Ein Entwicklungspotential für Kinder. Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-714-0 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-715-7 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com
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Inhaltsverzeichnis I. EINLEITUNG
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II. KONZEPTUELLER RAHMEN
17
II. 1 Kindheit II. 1. 1. gesellschaftstheoretische Ansätze
17 17
II. 1. 2 sozialisationstheoretische Ansätze und das Kind als sozialer Akteur
18
II. 1. 3. strukturelle Ansätze
20
Kindheit in der Generationenbeziehung (Leena Alanen)
20
Kinder als ökonomische Generation (Jens Qvortrup)
21
II. 1. 4 biographietheoretischer Ansatz und Kindheit als Teil des Lebenslaufes II. 2 Familie II. 2. 1 Begriff
22
23 24
II. 2. 2 Familie als Sozialisationsinstanz
25
II. 2. 3 Familie als Schutz- und Schonraum
26
II. 3 Armut II. 3. 1 Ressourcenansatz
27 27
Absolute Armut
27
Relative Einkommensarmut
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II. 3. 2 Lebenslagenansatz
29
II. 3. 3 Lebenslagen von Kindern/Kinderarmut
30
II. 4. Resilienz II. 4. 1 Was ist Resilienz?
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II. 4. 2 Forschungsstand
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II. 4. 3 Charakteristika
34
II. 4. 4 Konzepte von Resilienz
35
31
Konzept der Bewältigung von Krisen (Oevermann)
35
Das Moderatorkonzept/Puffer-Modell (Rutter)
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Konzept der Resilienz von Familien (Walsh)
37
Rahmenmodell von Resilienz (Kumpfer)
37
II. 4. 5 Kritik an den Konzepten von Resilienz
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II. 4. 6 Schlussfolgerungen
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III. DAS KINDER- UND JUGENDPROJEKT: DIE ARCHE
41
III. 1 Das Projekt
41
III. 2 Intentionen und Ziele
42
III. 3 Visionen
42
III. 4 Das Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ e.V. in Hellersdorf
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IV. DIE FELDSTUDIE: DESIGN UND METHODISCHES VORGEHEN
45
IV. 1 Qualitative Sozialforschung als Ansatz
45
IV. 2 Grounded Theory (Glaser/Strauss)
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IV. 3 Objektive Hermeneutik (Oevermann)
47
IV. 4 Dokumentarische Methode (Bohnsack)
49
IV. 5 Interview IV. 5. 1 biographische Methode
50 50
IV. 5. 2 Das narrativ-biographische Interview
51
IV. 5. 3 Interviews mit Kindern
52
IV. 6 Fallauswahl
52
IV. 7 Datenerhebung IV. 7. 1 Vorgehensweise
55 55
IV. 7. 2 Leitfadeninterview
56
IV. 7. 3 Memos
57
IV. 8 Transkription
57
IV. 9 Datenauswertung IV. 9. 1 Datenanalyse im Rahmen der Grounded Theory
58 58
IV. 9. 2 Kodierparadigma
60
IV. 9. 3 Objektive Hermeneutik
62
IV. 9. 4 Analyse narrativer Interviews
63
IV. 9. 5 Dokumentarische Textinterpretation
63
IV. 10 Fallrekonstruktion/Fallkontrastierung
64
V. ERGEBNISSE
67
V. 1 Fall 1 – Annika
68
V. 1. 1 Interviewsituation
68
Hintergrund
68
Das Interview – Melanie und Christian
69
Das Interview – Annika
70
V. 1. 2 Biographie der Familie
71
Melanie
71
Christian
73
Elternbeziehung
74
Eltern-Kind-Beziehung
79
V. 1. 3 Portrait Annika
84
Persönliche Merkmale
84
Lebensumwelt
89
V. 1. 4 Deutungsmuster
92
Melanie
92
Christian
93
Annika
94
V. 1. 5 Hypothese zum Fall Annika: Krise als Möglichkeit zur Entwicklung V. 2 Fall 2 – Anna V. 2. 1 Interviewsituation
95
96 96
Hintergrund
96
Das Interview - Jens
97
Das Interview - Anna
97
V. 2. 2 Biographie der Familie
99
Jens
100
Marion
102
Elternbeziehung
102
Eltern-Kind-Beziehung V. 2. 3 Portrait Anna
106 111
Persönliche Merkmale
111
Lebensumwelt
117
V. 2. 4 Deutungsmuster
120
Jens
120
Anna
121
V. 2. 5 Hypothese zum Fall Anna: Krise als Gefahr für die Entwicklung
122
V. 3 Fall 3 – Daniel V. 3. 1 Interviewsituation
123 123
Hintergrund
123
Das Interview – Andre und Kerstin
124
Das Interview - Daniel
124
V. 3. 2 Biographie der Familie
125
Andre
125
Kerstin
126
Elternbeziehung
127
Eltern-Kind-Beziehung
134
V. 3. 3 Portrait Daniel
140
Persönliche Merkmale
140
Lebensumwelt
143
V. 3. 4 Deutungsmuster
145
Andre und Kerstin
146
Daniel
146
V. 3. 5 Hypothese zum Fall Daniel: Krisen als Chance
147
VI. FALLVERGLEICH UND FALLKONTRASTIERUNG
149
VI. 1 Krisen und Wendepunkte
149
VI. 2 Potenziale der Kinder an Resilienz
152
VI. 3 Typenbildung
155
VII. SCHLUSS
159
LITERATURVERZEICHNIS
165
VERZEICHNIS DER INTERNETADRESSEN
170
ANHANG
171
Anhang I - Interview mit Bernd Siggelkow vom 06.12.2004
171
Anhang II Anhang II/1 Leitfaden für Interviews mit Kindern
177
Anhang II/2 Leitfaden für Interviews mit Eltern
179
177
Anhang II/3 Leitfaden für Interviews mit Betreuern
181
Anhang II/4 Transkriptionsregeln
182
Anhang III Anhang III/1 – exemplarisches Interview mit einem Kind Anhang III/2 – exemplarisches Interview mit Eltern
183 183 190
Anhang IV – exemplarisches Memo
209
Anhang V – exemplarisches Interview mit einem Betreuer
211
„Dazu kommt noch, dass ich außerordentlich viel Lebensmut habe, ich fühle mich immer so stark und im Stande, viel auszuhalten, so frei und so jung! Als ich das zum ersten Mal merkte, war ich froh, denn ich glaube nicht, dass ich mich schnell unter den Schlägen beuge, die jeder aushalten muss.“ (Tagebuch der Anne Frank, S. 306)
I. Einleitung Wieso kann ein Mensch ertragen, was den anderen verstört oder zerstört? Wie wirken sich schwierige, teils aussichtslose Lebenslagen und Lebenssituationen auf Kinder aus? Welchen Schutz erfahren Eltern und Kinder aus benachteiligten Verhältnissen durch staatliche Institutionen? Mit diesen Fragen werde ich mich im vorliegenden Buch beschäftigen.
Seit den 1990er Jahren wird die Armut von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Armuts- und Sozialberichterstattung in der Fachöffentlichkeit zunehmend zur Kenntnis genommen. Auch aktuell wird das Thema Kinderarmut in den Medien diskutiert. Anlass ist das vermehrte Bekanntwerden von Vernachlässigungsfällen und Gewalt gegen Kinder. Als Ursachen werden elterliche Überforderung, mangelnde elterliche Anteilnahme und Unterstützungsfähigkeit deklariert.
Bereits im Jahre 2003 lebten 1,1 Millionen Kinder von Sozialhilfe. Die entsprechende Sozialhilfequote ist mit 7,2 % mehr als doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung. Nach der Studie des paritätischen Wohlfahrtsverbandes lag im August 2005 die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die nach Inkrafttreten der Hartz IV-Regelungen Anfang 2005 in Bedarfsgemeinschaften auf Sozialhilfeniveau lebten, bei 1,5 Millionen. In Berlin lag die so gemessene Kinderarmutsquote bei 29,9 % (448.500 Kinder). Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist im März 2006 einen diesbezüglichen Anstieg um weitere 290.000 aus. Rechnet man die Jahrgänge der 15- bis 18-Jährigen (nach UN-Konvention über die Rechte von Kinder gehören sie zu den Kindern) und diejenigen, die Leistungen nach SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, hinzu, so leben heute in Deutschland 2,2 Millionen Kinder auf Sozialhilfeniveau (vgl. Deutscher Kinderschutzbund – Bundesverband e.V., 2006, S. 27). Armut führt zu sozialer Ausgrenzung. Sie schränkt die Chancen der Betroffenen ein, am sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Sie können sich nicht so verwirklichen, wie es ihren individuellen Fähigkeiten und 11
Lebensentwürfen entspricht. Angesichts des immer größer werdenden Anteils der von Armut betroffenen Kinder, stellt sich die Frage, ob diese noch der Mehrheitsgesellschaft angehören oder ob sich hier eine Subgesellschaft entwickelt, deren Tragweite und Einfluss bislang nicht abschätzbar ist.
Mit Gewalt gegen Kinder ist jedoch nicht nur die physische Misshandlung von Kindern gemeint. Vielmehr ist dieser Begriff weiter zu fassen. Er schließt entsprechend dem Gewaltbegriff von Johan Galtung neben Vernachlässigung auch strukturelle Gewalt ein. Viele Kinder sind in ihren sozialen Verhältnissen gefangen. Diese hemmen sie in ihrer Entwicklung, schränken sie ein und enthalten ihnen Chancen vor. Im schlimmsten Fall unterliegen Kinder einer materiellen, sozialen und mentalen Benachteiligung. Hier erfahren sie das ganze Ausmaß an Gewalt. Diese Art der Gewalt wird von Individuen oft nicht wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert sind. Kinder sind in diesem Fall durch Armut stark bedroht. Die Bedrohung wirkt auf ihre konkrete Lebenslage. Sie sind ihrem Selbstverständnis und in ihrer Persönlichkeit betroffen. Ihre Armut drückt sich vor allem darin aus, dass sie ihre potentiellen Formen der Kommunikation, des Lernens und des gesellschaftlichen Lebensstils der Allgemeinheit nicht verstehen und anwenden können.
Wie nun gerade diesen Kindern eine altersgerechte Entwicklung gelingen kann, zeige ich in diesem Buch auf. Die dafür erforderlichen Widerstandskräfte von Familien wurden bislang wenig untersucht. Genauso wie Kinder Armut von ihren Eltern „sozial erben“ können, sind sie in der Lage, Widerstandskräfte von ihnen zu übernehmen. Sind Familien bzw. Eltern nicht in der Lage, ihren Kindern den Erwerb von Bewältigungskompetenzen und Widerstandskräften zu vermitteln und einen kindgerechten Schutz- und Vorbereitungsraum zur Verfügung zu stellen, sollten diese Aufgaben von sozialen Einrichtungen übernommen werden. Damit können die Einflüsse von materieller Armut verringert und die soziale Reduktion relativiert werden. Den Kindern kann die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlich-kulturellen Leben und Entfaltungschancen eingeräumt werden.
Diesen Gedanken folgend werde ich in der vorliegenden Studie aufzeigen, was das Konzept der Resilienz zum Verständnis der Lebenssituation von benachteiligten Kindern in dem christlichen Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ e.V. in Berlin-Hellersdorf1 beitragen kann. 1
Das christliche Kinder- und Jugendwerk „Die Arche e.V.“ in Berlin-Hellersdorf wird im Folgenden „Arche“ genannt.
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Fraglich ist, inwieweit das Konzept der Resilienz die Arbeit der Betreuer in der Arche beeinflusst. Ich wende eine mehrdimensionale Analyse der Lebenslagen der Kinder und ihrer Eltern an. So erscheint ein ganzheitliches Bild von Armut. Ausgehend von der Analyse der jeweiligen persönlichen Eigenschaften und Merkmale sowie der Lebensumwelt, soll herausgearbeitet werden, welche Faktoren schützend oder risikoträchtig für die kindliche Entwicklung sind. Zugleich soll der interne Zusammenhang zwischen Risiko- und Schutzfaktoren aufgedeckt werden. Mit der Untersuchung zeige ich, in welchem Ausmaß die Kinder über Potenziale und Widerstandskraft verfügen und welcher Stellenwert diesen Fähigkeiten durch die Mitarbeiter der Arche eingeräumt wird. Der Schwerpunkt meiner Studie wird auf dem Konzept der Resilienz von Familien und dem Rahmenmodell für die Entwicklung von Resilienz liegen. Besondere Bedeutung wird den von Eltern sozial erworbenen Merkmalen der Kinder sowie der kindlichen Selbsteinschätzung, ihren Verhaltensmustern und Adaptionen, sozialen Fertigkeiten und Formen der Problembewältigung beigemessen. Zu fragen ist, welche Rolle die Arche bei der Verbesserung kindlicher Chancen und beim Erlernen der vorgenannten Fertigkeiten spielen kann. Es wird sich herausstellen, ob die dauerhafte Begleitung der Kinder durch die Archemitarbeiter dazu geeignet ist, den Kindern Selbstwertgefühl, soziale Kompetenzen und Widerstandskraft zu vermitteln. Die Sichtweise der Kinder wird dabei im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stehen und den Blickwinkel vorgeben.
Das vorliegende Buch gliedert sich in zwei Teile. Im theoretischen Teil lege ich mein Vorverständnis von relevanten Begriffen wie Kindheit, Familie, Armut und Resilienz dar und setze mich detailliert mit ihnen auseinander. Ansätze wie der symbolische Interaktionismus und die Phänomenologie fließen in die Darstellung ein. Bezüglich der Kindheit (Kap. II. 1) stelle ich sozialisationstheoretische, strukturelle und biographietheoretische Ansätze vor und gehe auf Kindheit in Generationenbeziehungen ein. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang die gesellschaftliche Wahrnehmung des Kindes als sozialer Akteur, der sein Leben im Generationengefüge aktiv gestaltet. Meiner Betrachtungsweise liegt ein biographietheoretischer Ansatz von Kindheit zugrunde.
Die Aufgaben der Familie (Kap. II. 2) als Sozialisationsinstanz und ihre Zuständigkeit bei der Bereitstellung eines kindlichen Schutz- und Schonraumes führe ich im Anschluss aus. Nachfolgend stelle ich theoretische Ansätze von Armut (Kap. II. 3) vor, wobei für meine Studie der Lebenslagenansatz ausschlaggebend ist. Zur Erfassung kindlicher Lebenslagen werden die Kriterien zur Erfassung der Erwachsenenlebenslagen auf die von Kindern übertra13
gen, abgeändert und angepasst. Im Weiteren setze ich mich mit verschiedenen Konzepten von Resilienz (Kap. II. 4) auseinander. Ich gehe hierbei auf vier Ansätze ein, die mich in meiner Untersuchung beeinflussen werden. Es handelt sich um das Konzept zur Bewältigung von Krisen nach Oevermann, das Moderatorenkonzept von Rutter, das Konzept der Resilienz von Familien nach Walsh und das neuere Rahmenmodell von Kumpfer. Maßgeblich ist, welche Krisen Wendepunkte in den Biographien der Familien auslösen und welche Mechanismen und Handlungen zur Entwicklung von Potenzialen gegenüber Resilienz bei Kindern und Eltern führen. Der zu entwickelnde Ansatz soll ganzheitlich konstruiert sein. Resilienz wird hier nicht als spezifische Eigenschaft eines Kindes gesehen, sondern als ein Potenzial, welches sich bei Eltern und Kindern zeigen und von Eltern auf Kinder (und umgekehrt) übertragen werden kann. Zusätzlich kann eine soziale Hilfseinrichtung die Entwicklung entsprechender Potenziale begünstigen, in dem sie den Kindern und Eltern Handlungsspielraum und Entfaltungsmöglichkeiten bereit stellt.
Im Anschluss stelle ich das Kinder- und Jugendhilfsprojekt „Die Arche“ e.V. vor (Kap. III). Ich gehe hierbei besonders auf dessen Arbeitsweise und Ziele ein. Meine Untersuchung führte ich in der im Jahre 1995 gegründeten Arche in Berlin-Hellersdorf durch, welche ich ebenfalls vorstellen werde. Anschließend erläutere ich die eingesetzten methodischen Ansätze, mein Forschungskonzept und die methodischen Ansprüche an die Datenerhebung und Datenanalyse (Kap. IV). Die hauptsächlich angewandten Methoden bestehen in der Grounded Theory, der objektiven Hermeneutik und der dokumentarischen Textinterpretation. Der dokumentarischen Textinterpretation nach Bohnsack kommt in der Datenanalyse besondere Bedeutung zu. Bohnsack schlägt die Rekonstruktion des Falles und die Kontrastierung aller Fälle vor. Hierauf greife ich in der Auswertung und Darstellung meiner Fälle zurück. Zuvor erhob ich Daten im Rahmen biographisch-narrativer und Leitfadeninterviews. Es schloss sich die Transkription und das Fertigen von Memos an. Bei der Auswertung gab ich der Interpretation des Datenmaterials durch schrittweise Vorgehensweise nach der Grounded Theory und nach sinnverstehenden Ansätzen wie objektiver Hermeneutik den Vorzug. Diesen umfassenden Methoden kann ich aus Gründen des mir gesetzten Rahmens für die Studie nicht in Gänze folgen.
Am Ende eines jeden Kapitels befinden sich Hinweise auf meine konkrete Vorgehensweise und meine Schlussfolgerungen.
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Eine umfassende Darstellung der Fälle (Kap. V) erfolgt dann im empirischen Teil der Studie. Hier beschreibe ich anfangs für jeden Fall separat die Interviewsituation, das Verhalten und das Auftreten der Befragten. Ich gehe auf Probleme während des Interviewens ein und stelle die Reaktionen und Interaktionen zwischen den Interviewpartnern dar. Des Weiteren wird besonders auf die Biographie der Familie, die Elternbeziehung, die Eltern-Kind-Beziehung sowie die persönlichen Ressourcen der Kinder eingegangen. Ich erläutere, inwieweit ihre Lebensumwelt einen risikohaften Einfluss auf ihre Lebenssituation darstellt. Es werden explizit die Risiko- und Schutzfaktoren der Kinder, ihrer Eltern und der Lebensumwelt herausgearbeitet, ihre Wirkungsweisen analysiert und in Zusammenhang gebracht. Daraus ergibt sich ein Deutungsmuster für den Fall. Jeder Fall schließt mit einer ersten Hypothese ab. Die Falldarstellungen münden in einem Fallvergleich und einer Fallkontrastierung (Kap. VI). Es werden verschiedene Typen von Potenzialen an Resilienz und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder herausgearbeitet. Abschließend werden die Ergebnisse meiner Diplomarbeit kurz umrissen und komprimiert dargestellt (Kap. VII). Es werden die wichtigsten Argumente zusammengefasst und die wesentlichen Aspekte meiner Fragestellungen beantwortet.
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II. Konzeptueller Rahmen Ich möchte im folgenden Kapitel ausführen, welche Begriffe der Fragestellung und dem Thema meiner Studie zugrunde liegen und von welchem Verständnis von Kindheit, Familie, Armut und Resilienz ich ausgehe.
II. 1 Kindheit Das heutige Leitmotiv der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ist die Forderung, Kinder als Personen aus eigenem Recht zu betrachten. Kinder sollen nicht länger als Werdende, sondern als Seiende verstanden werden, die für sich selbst sprechen. Diese Perspektive auf Kinder ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, wie die bisherige Literatur zur Kindheitsforschung zeigt. Deren grundlegende Ansätze sollen im Folgenden dargestellt werden.
II. 1. 1. gesellschaftstheoretische Ansätze Philippe Ariés und Lloyd deMause beschäftigten sich in den 1960er und 1970er Jahren mit der Genese und dem Wandel von Kindheit seit dem Mittelalter. Die mittelalterliche Gesellschaft hatte ein Verhältnis zur Kindheit, welches darauf gründete, Kinder als integrierten Bestandteil der Gesellschaft zu sehen. Die kindliche Besonderheit wurde nicht bewusst wahrgenommen. Kinder galten als in der Größe reduzierte Erwachsene. Sie gehörten der Erwachsenenwelt an, sobald sie der Fürsorge ihrer Mutter nicht mehr bedurften (vgl. Ariès, P., 1977, S. 209). Erst seit dem 14. Jahrhundert ist eine Tendenz zu verzeichnen, dem Kind eine eigene Persönlichkeit zu verleihen. Kindheit wurde nunmehr als gesellschaftliche Konstruktion angesehen, welche Wandlungsprozessen und damit stetigen Veränderungen unterliegt.
In den 1980er Jahren wurde vor allem von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim Kindheit unter dem Aspekt von Individualisierungs-, Enttraditionalisierungs- und Modernisierungstendenzen untersucht. Alle Individuen sind in erster Linie “mit den Vorgaben gesellschaftlicher Institutionen konfrontiert und unterliegen den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes, des Bildungssystems und des Sozialstaates“ (Grunert, C./Krüger, H.-H., 2006, S. 29). Die Gestaltung der Lebensführung ist damit den gesellschaftlichen Strukturbedingungen unterge-
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