PRIG06.CHP:Corel VENTURA

All dies ist so schlicht und wird in seriösen Schriften und Beschrei- bungen wegen ...... Plan, in bezug auf mich etwas Durchdachtes oder Zielgerichtetes zu.
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Moskau – Japan und zurück

Transfer LXXIV

Titel der Originalausgabe: Tolko moja Japonija © der Originalausgabe: Nowoje Literaturnoje Obosrenije, Moskau 2001 Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die freundliche Unterstützung.

Die Handzeichnungen auf dem Umschlag und der Haupttitelseite stammen von Paul Thuile.

Lektorat: Eva-Maria Widmair © der deutschsprachigen Ausgabe FOLIO Verlag Wien • Bozen 2007 Alle Rechte vorbehalten Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen Druck: Dipdruck, Bruneck ISBN 978-3-85256-360-2

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BEGINN

V

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iele von unseren Leuten waren heutzutage in diversen Europas. Die Jungs kannst du damit nicht mehr beeindrucken. Haben wir alles gesehen! Haben wir alles erlebt! Wem machst du heute noch mit der Beschreibung längst bekannter europäischer Geheimtips eine Freude? Die kennt man doch. Aber nach Japan sind aus unserem Hinterhof bisher nur wenige gekommen. Wenige. Ich bin als erster hingekommen. Und ich enttäusch euch nicht. Jungs, hab ich euch etwa je enttäuscht? Ljowtschik, du weißt doch noch, wie damals die fünf Typen aus dem Eckhaus auf uns losgegangen sind. Jeder mit einem Totschläger, weißt du noch? Und wir waren nur zu dritt – du, ich und Wowik. Den Weg zurück zwischen die Schuppen hatten sie uns gleich abgeschnitten. Du weißt doch noch, dieser Rothaarige mit dem riesigen Muttermal übers halbe Gesicht war mit dabei. Wir haben später mit ihm auf dem unbebauten Grundstück rumgebolzt. Er hat toll gespielt. Sein Dribbling war klasse. Und sein Torschuß mit links – fast unhaltbar! Kröte hat ihn später erstochen, deshalb hat er ja auch gesessen. Kröte kam übrigens erst raus, als du mit deinen Alten schon weggezogen warst. Ich wohnte noch in unserem vierten Block im dritten Aufgang. Na, du weißt ja. Kröte ging’s da schon schlecht – hat gehustet, Blut gespuckt. Zwei Jahre später wurde er beerdigt. Du, es ist fast keiner gekommen. Wer hätte auch kommen sollen – alle haben entweder gesessen oder waren schon tot. Ich war als einziger da. Also, ich hab zu denen, den fünf Typen aus dem Ziegel-Eckhaus, weißt du noch, gesagt: [ 5 ]

Jungs, laßt es. – Was, was? Was sollen wir lassen? – fingen sie an. Laßt es einfach –, antwortete ich beherrscht. – Sonst garantieren wir für nichts. Und sie gingen. Ljowtschik, du bist mein Zeuge. Oder ein anderes Mal, Wowik, das war schon 1959, in Koktebel, weißt du noch? Fünf Typen aus dem Ort sind mit Knüppeln auf uns losgegangen. Und es war Nacht, wo rennst du da hin? Kennst den Ort nicht, es ist dunkel, Nacht eben. Und ich sag: Jungs, laßt es. – Was, was? Was sollen wir lassen? – Weiter fiel ihnen nichts ein. Das sollt ihr lassen –, antwortete ich ruhig. – Ihr seid von hier, ihr kennt uns nicht. Und wir garantieren für nichts. Oder, Wowik? – Und du hast genickt. Sie haben uns geglaubt, haben sich umgedreht und sind gegangen. Oder, Wowik? Ich lüg doch nicht, erzähl doch keine Geschichten ... Aber ich bin abgeschweift. Also, ich war als erster von uns allen in Japan. Okay, ein paar entfernte Bekannte waren auch da, aber die halten vorerst den Mund. Vorerst noch. Deshalb beeile ich mich, allen unseren Leuten und den anderen, die bisher nicht da gewesen sind, etwas dringend Notwendiges mitzuteilen. Es kann sogar etwas Übernotwendiges sein, dessen Erforderlichkeit allerdings eventuell nicht sofort zu spüren ist. Eventuell spürt man sie auch später nicht. Eventuell auch nie. Aber es gehört trotzdem zu den allernotwendigsten Dingen. Es ist sogar das einzige Allernotwendigste. Und ich halte es für meine Pflicht, es mitzuteilen. Es ist ein unabtrennbarer Teil eines ganzen Komplexes von Eindrücken und Erlebnissen. Mehr noch – es ist sein Fundament und Entstehungsgrund. Ich schreibe in kurzen, abgehackten Sätzen, damit mein Text verständlich und eingängig ist, obwohl ich eigentlich lange, verschlungene Sätze vorziehe, die den komplizierten und vor sich hin mäandernden Lauf oder Fluß der Gedanken in den gewundenen Kanälen komplizierter Zuordnungen, Mißverständnisse und Verneinungen abbilden. [ 6 ]

Und dieses Grundlegende nun tritt gleichsam in der alles übertreffenden Fülle, Kraft und Zeugungsenergie einer gewissen Hyperjapanik zutage, wo es sich mit seinesgleichen flimmernd über ein neutrales mediatorisches Feld austauscht. Das heißt, mein Japan, mein privates Japan, ist mir viel früher erschienen als alles, was mich später überwältigt hat und heute umgibt. Ich erinnere mich seit meinen Zeiten im dritten Aufgang des vierten Häuserblocks daran. Es war Winter, alles war von gleißendem Schnee verschüttet, und mir erschien Japan. Sicher, damals konnte ich es noch nicht in der ganzen Fülle seiner Perspektiven und Bedeutungen wahrnehmen und einschätzen. Trotzdem. Es trat dort auf, wo es völlig gleichberechtigt, wesenseinig, und ohne alle möglichen fernen, geheimnisvollen, orientalischen Details zu scheuen, mit meinen gleichfalls privaten Orten Afrika, Patagonien, Beljajewo, dem Kap der guten Hoffnung, der Waisengasse, den Patriarchenteichen, dem Broadway etc. in Beziehung treten konnte. Und das leuchtet ein, denn die Sehnsucht nach Japan ist stärker als Japan selbst und all die zahlreichen Dinge, die es uns und sich selbst als Japan präsentieren und anheimstellen kann. Kein Japan kann das leidenschaftliche, beständig wachsende, sich erhitzende, selbstentzündliche, in einem Anfall von wildem, impotentem Jähzorn alles und jeden als unwahr zerstörende reine Verlangen nach Japan erfüllen oder befriedigen. Dazu ist einzig und allein das geistig erfaßte Japan fähig, weil es sofort schon Japan im Quadrat ist. Also alles, was Japan ist, zusammen mit allem, was Japan alles nicht ist und was überhaupt nicht Japan ist, eingeschlossen das, was in der Nähe und nicht in der Nähe so herumliegt. Also ist das schon nicht mehr Japan. Vielmehr, es ist nicht Japan, sondern die Möglichkeit Japans unter beliebigen Umständen und an beliebigen Orten im Raum. Deswegen ist es nicht erforderlich, aber auch nicht überflüssig oder vielmehr nicht anstößig, ein wie auch immer geartetes existentes Japan zu erleben und dabei alles echt Japanische in dem nach Entstehung und Vorteilhaftigkeit primären Japan zu belassen. Bisweilen werde ich eben vom Schicksal an Orte abkommandiert, die unmittelbar und konkret an ihrem Namen zu bestimmen und zu erkennen sind. Vielleicht wirkt [ 7 ]

das jetzt über Gebühr gekünstelt und hochtrabend. Doch wenn es nun einmal so ist, warum sollte man es dann auf andere Weise präsentieren? Nicht doch. Also entschuldigt mal schön. Die Jungs verstehen, was ich meine. Und hier wende ich, bloß um das oben Gesagte zu bekräftigen, ein unter ernstzunehmenden Literaten unzulässiges Verfahren an. Unzulässig ist es auch unter einfachen Reisenden und Schilderern fremder Sitten und Gebräuche, zu denen ich jetzt wohl eher zähle als zu den Meistern der Feder und des gedruckten Wortes. Ja, aber wer sind wir denn? Wir sind doch trotz allem Hinterhofjungen! Ja, ja, auch nach so vielen entschärfenden und abkühlenden Jahren sind wir nach wie vor chaotische und zornige Hinterhofjungs. Also kann man uns verzeihen. Und derartige Tricks werden natürlich mehr als einmal im Verlauf dieser Erzählung vorkommen. Aber der hier ist der frechste und offenste. Und ich geniere mich nicht. Ich führe bloß als schwache, wenig überzeugende Erklärung für alle anfänglichen Überlegungen zu dem Japan, das dem Sehnsüchtigen unterwegs nach Japan ständig erscheint, mein Gedicht an, das zu unvordenklich fernen Zeiten geschrieben wurde, als ich selbst von einem zufällig, auf irgendeine unglaubliche, unmenschliche Weise auf meinem Weg, sagen wir, von der Ferienanlage nach Hause, anzutreffenden natürlichen Japan nicht einmal zu träumen wagte. Damals traf man im wesentlichen irgendwelche betrunkenen Leute, tote Katzen und Ratten auf seinem Weg an. Was noch? Okay, die Jungs aus dem Eckhaus mit den Totschlägern. Okay, nicht identifizierte Leichen, die vielleicht einfach in unseren Hof geworfen worden waren, um uns so richtig zu kompromittieren. Aber Japan traf ich nie an. Und das Gedicht – hier ist es: In Japan wäre ich Catull gewesen Und in Rom der reinste Hokusai In Rußland nun bin ich derselbe Der ich in Japan als Catull Und in Rom als der reinste Hokusai Gewesen wäre [ 8 ]

Zum Glück (zum Glück nur und ausschließlich für diesen Fall hier) liest heutzutage kaum noch jemand Gedichte. Der angeführte Text richtet sich an einen Leser, der wohl kaum einmal mit seinen flinken Computerfingern die brüchigen, nutzlosen Seiten schmaler Lyrikbände berührt hat. Also ergibt sich gerade für ihn die Gelegenheit, sich mit meiner dichterischen Tätigkeit bekanntzumachen, die aus mir Hofherumtreiber immerhin einen Menschen gemacht hat. Oder genau umgekehrt – die mich und alles Menschliche in mir zugrunde gerichtet hat. Entsprechend also über Japan. Solange niemand dort hingefahren ist und etwas anderes erklärt hat, bin ich sozusagen sein einziger Alleinherrscher im hier gemeinten engen Wortsinn. Was ich will, das schreibe ich. Und alles ist wahr. Sicher, alles, was überhaupt jemals geschrieben wurde, ist wahr. Bloß existiert meine heutige Wahrheit vorerst allein, ohne jede unnötige Konkurrenz, die quälende und enervierende Abstände zwischen den vielen benachbarten Wahrheiten hervorbrächte, die wiederum die Existenz einer großen, sie alle übertreffenden Wahrheit voraussetzten. Einer Wahrheit, identisch mit absoluter Leere und Schweigen. Doch vorerst ist meine bescheiden und gedämpft sprechende Wahrheit die einzige und einzig vernehmliche Wahrheit. Ich habe ja schon einiges über Moskau geschrieben. Über Moskau weiß ich ja nun wirklich einiges! Und Sachen, die sonst keiner weiß. Aber nein, jeder will gleich widersprechen: So war es nicht! – Was war nicht so? – Alles! – Und wie war es dann? – Anders! – Und wie bitte schön anders? – So, wie es meiner Ansicht nach war! – Ach, sieh mal an, seiner Ansicht nach! Sieh mal an, jeder weiß, wie es war! Jeder weiß alles über Moskau. Aber über Japan weiß bis [ 9 ]

jetzt keiner was. Und ich weiß das. Und die wissen es auch. Und ich frage sie schroff: Warst du da? – Nein. – Dann halt den Mund. Ich war nämlich da! – Also über Japan. Beim ersten Kontakt des Flugzeugs mit der Erde, beim ersten Hinausschauen aus dem Fenster und dann, schon etwas später natürlich, beim ersten Wandern durch die Hallen des Flughafens machst du instinktive und logischerweise nutzlose Versuche, die Bedeutung all dieser schnörkeligen Schriftzüge zu erfassen oder zu ergründen. Etwas Ähnliches kann jeder erlebt haben, dem es einmal passiert ist, auf den Straßen von Helsinki oder Budapest herumzulaufen. Doch dort ist es möglich, durch das Muster der lesbaren lateinischen Buchstaben, auch wenn sie absolut unbekannte Verknüpfungen unbekannter Wörter darstellen, etwas zu erraten und sich in der Hoffnung und der Illusion des Wiedererkennens zu wiegen. Hier jedoch wird einem buchstäblich nach einer Minute sonnenklar, wie absolut lächerlich derartige Versuche und Ambitionen sind. Unseliger! Entspann dich! – raunt gleichsam die tröstende und lindernde Stimme universaler Ähnlichkeit und Identität. Und es tritt auch eine wohlige Entspannung ein, eine ruhige Überzeugung, daß etwas, was ein Mensch gesagt hat, vielleicht nach hundert Jahren, vielleicht in einer anderen Verkörperung, aber im Endeffekt womöglich doch von einem anderen verstanden wird. Also die letzte, glühend ersehnte Utopie der ganzen Menschheit: die totale Gültigkeit der allgemeinmenschlichen Urgründe. Das tröstet. Für die Interessierten und noch Unwissenden bemerken wir hier gleich, daß es bei ihnen, den Japanern, drei Systeme zur Fixierung von Gesprochenem gibt: das weltbekannte, dem chinesischen analoge große System der Symbolschrift und dann die heimischen Erfindungen, die Silbenschriftsysteme Katakana und Hiragana. Konsonanten werden von Vokalen begleitet und treffen weder geschrieben noch gesprochen aufeinander. Deshalb las sich mein Name, nach dem [ 10 ]

Hören notiert und nicht etwa von einem Dokument abgeschrieben, in einem offiziellen Schreiben so: Domitori Porigow. Ich war nicht beleidigt. Ich freute mich sogar über den neuen, magischen Geheimnamen, den man in meiner Heimat nicht kennt, am Ort der permanenten Ansprüche an mich oder auch Hoffnungen auf mich, die in meinem bei Geburt erhaltenen irdischen Namen beschlossen liegen. Von meinem anderen, verborgenen Namen hatte ich zwar etwas geahnt, war aber nie in die Situation gekommen, mich mit eigenen Augen von seiner realen Existenz und seiner konkreten Form zu überzeugen. Und hier hatte ich zum Glück nun endlich die Ehre. Und er gefiel mir. Ich gewann ihn lieb. Oft, wenn ich nachts mitten in Japan, überstrahlt von hellem Sternenglanz, erwachte, wiederholte ich voller Behagen laut: Domitori! Domitori! Porigow! – Und schlief zufrieden lächelnd wieder ein. Daß die Japaner, und selbst die gebildetsten Slawisten unter ihnen, rührend und rettungslos die Laute r und l, d und dsh sowie s und sch verwechseln, weiß man. Doch wir sind keine Puristen, unser Englisch-Französisch-Deutsch-und-was-sonst-noch ist ebenfalls weit (ach, wie weit!) von jeder Perfektion entfernt und dient als Zielscheibe ständiger versteckter oder deutlicher Spötteleien authentischer Muttersprachler, die uns das übrigens nie offen vorwerfen. Oder höchstens manchmal. Und dann in guter Absicht: Sie haben unendlich viele Möglichkeiten, Ihr wunderbares Englisch zu perfektionieren. – Danke, Sie sind unglaublich freundlich zu mir. – Nein, wirklich, Sie sprechen wunderbar Englisch, aber Sie haben einfach unendlich viele Möglichkeiten, es zu verbessern, wie wir übrigens auch –, beschließen sie elegant die zart verhüllte Invektive. Aber ich trage ihnen das nicht nach. Und war deswegen nie beleidigt. Wegen meiner Dickhäutigkeit habe ich den Spott nicht einmal bemerkt und alles für bare Münze genommen. So grob und unempfindlich bin ich. Ich glaubte ihnen wirklich und begriff, daß unser Englisch vorne, an den Seiten und auch hinten einen unüber[ 11 ]

sehbaren Spielraum für Verbesserungen hat. Aber wie sollten wir, die Nachkriegsratten aus dem Hinterhof, uns auch in einer dermaßen snobistischen Beschäftigung hervortun? Die kamen erst nach uns, diese Sowjet-Junker, die so gerne des Englischen pflegten, wie sie es nannten. Das hieß, sie gingen in eine Kneipe und fingen an abzukacken: Was für ein Getränk bevorzugen Sie heute, Sir? – Whisky mit Soda, my darling! – antwortete Sir. Herzchen, für den Gentleman hier, wenn Sie so gut sind, einen Whisky mit Soda, bitte. Und mir dann wohl einen Rum. – Aber wir waren einfache, mit solchen Raffinessen nicht vertraute Bürschchen von der Schabolowka, Chawskaja oder Tulskaja. Uns kann man verzeihen. Oh, sicher, das kann man. Doch wir selbst verzeihen uns nicht. Nein, das tun wir nicht. Wir sind anspruchsvoll und objektiv gegen uns selbst. Ich bin es auch. Nun sind die japanischen Verwechslungen wunderbar amüsant, niedlich und lustig und erzeugen bisweilen, dem Sprecher unbewußt, neue Bedeutungen, die dem Angeredeten allen Wind aus den Segeln nehmen. Gleich zu Beginn meines Aufenthalts wurde ich von einem reizenden jungen Mädchen gefragt: How wrong are you staying here? – Sie meinen wahrscheinlich, how long I am staying here. – Ja, ja, how wrong? – bestätigte sie nett und unbeirrt, weil sie den Unterschied einfach nicht wahrnahm, den unterschiedlichen Klang nicht hörte. Was soll’s. Es geht auch so. Man versteht auch so alles. Wenn ich mir einen japanischen Namen oder ein Wort wiederholen ließ, mußte ich mich auch oft anstrengen, um herauszuhören: l oder r? Sie sagten es auf die gleiche, für mich ununterscheidbare Weise noch einmal: lr oder ssch gleichzeitig. Die Unfähigkeit des russischen Gehörs, ein Mittelding zwischen s und sch aufzunehmen, führt zu all den zahlreichen Varianten bei uns, ein Wort mit einem solchen Laut zu schreiben oder zu sprechen. Unseren Leuten würde ich raten, ihn als zusammenhängendes ssch auszusprechen. Sollen unsere mal ein bißchen weiter sein als andere. In allem anderen sind sie vielleicht rückständiger und ungebildeter, aus den oben ange[ 12 ]

führten entschuldbaren Gründen. Und sie sind auch schon zu alt für all das neue Weltwissen und die globalen Offenbarungen. Ich verstehe sie, und ich bedaure sie sogar. Sollen sie wenigstens in dieser Sache tüchtiger sein als andere und die Japaner positiv mit ihrer der authentischen so ähnlichen Aussprache überraschen. Man könnte ja zum Beispiel statt Suschi oder Sussi Susschi sagen. Hört sich ähnlich an, oder? Nein? Na, ich weiß ja nicht. Außerdem gibt es hier auf den fernen, fernöstlichen Inseln noch lateinische Buchstaben und einen parallelen Gebrauch der arabischen und der einheimischen Schreibweise von Ziffern. Die Jahre werden nach der Regierungszeit der Kaiser gezählt. Und japanische Kaiser regieren ungefähr sieben bis zehn Jahre lang. Da rechne mal schön! Als ein Bekannter von mir erklärte, er sei im Jahre 1956 geboren, teilte man ihm mit verständlicher Irritation mit, das sei völlig unmöglich. Und warum? Ganz einfach – er wurde nicht im Jahr 1956, sondern im Jahr sowieso (eine sehr kleine Zahl) nach der Thronbesteigung irgendeines Kaisers geboren (ich weiß nicht mehr, wann der vorige Kaiser Hirohito den Posten übernahm, dessen Gattin gerade zur Zeit meines Aufenthalts in ihrem früheren Reich aus unserer, vielmehr der japanischen Welt schied, nachdem sie ihren autoritären, vom ungünstigen Verlauf von Zeit und Geschichte niedergedrückten Gatten um viele Jahre überlebt hatte). Der Kaiser stellte schon immer eine eher sakrale als machtpolitische Figur dar. Mit seiner Position, seiner Person und seinem Namen war er Gegenstand großer Verehrung, maßloser Vergötterung, demütiger Anbetung und einer gewissen weihevollen Furcht. Sein Leben lief verborgen vor den Augen des normalen Bürgers ab und war von Geheimnissen umgeben. Man nahm an, sein Körper bestünde aus einem bestimmten Edelmetall – einer Mischung aus schillerndem, fließendem Quecksilber und glänzendem, geschmeidigem Gold. Vielleicht waren beim Einschmelzen auch noch Diamantbröckchen und Perlmuttkrümel dabei. Vielleicht. Es war bekannt, daß er im Stehen und nur eine Stunde pro Nacht schlief. Seine Augen waren stets geöffnet und schimmerten in einem tiefen dunklen Achatglanz. Er war dermaßen konzentriert, daß er in die Ferne [ 13 ]

sehen konnte, viele Kalpa und Äonen vorwärts und zurück. Deshalb bemerkte er das Naheliegende nicht und hörte nicht das leise schweifende Knarren und Rascheln der sich nähernden und sich wieder entfernenden Schritte der unverbindlichen Alltäglichkeit. Deshalb war er fortwährend Gefahren ausgesetzt und wurde von einer unermüdlichen Wache beschützt. Deshalb wurde er auch vor den normalen blöden Augen verborgen, die allein mit der Energie ihres sündigen Blicks seine selige Unkenntnis hätten stören und den strahlend goldenen polierten Glanz seiner unbewegten Oberfläche hätten trüben können. Deshalb gab es neben ihm auch immer einen Militärregenten aus dem Stand der Samurai, der im Besitz der ganzen Fülle militärischer, politischer und administrativer Macht war. Es war nie bekannt, was der Kaiser aß und ob er überhaupt aß. Doch bei der bekannten besonderen Vorliebe der Japaner für das Essen und das damit verbundene höchst erlesene Ritual (und der Kaiser ist nun einmal ein Japaner!) aß er offenbar doch. Aber auf die allererlesenste Art und Weise, so daß er der gewöhnlichen und groben Wortbedeutung nach auch wieder nicht aß. Es stellte sich gleichfalls die Frage, ob er außer silbernem, verjüngendem und gleichzeitig mumifizierendem Wasser etwas trank. Man wußte auch nie, wie sein Tagesablauf und die Rituale der ihn betreffenden Zeremonien im einzelnen aussahen. In bezug auf alle möglichen physiologischen Funktionen wurden ebenfalls nie Vermutungen geäußert, obwohl die Japaner in dieser Hinsicht frei von unnötiger Scham und Heuchelei sind. Übrigens sind erst in letzter Zeit und nur dank der Fernsehübertragung des Abschieds von dem letzten großen Kaiser Hirohito Ablauf und Details einer Kaiserbestattung bekannt geworden. Die Japaner sind eine extrem unpolitische Nation. Sie wissen, wer ihr Kaiser ist (na ja, die, die es wissen), oder sie wissen es nicht (doch, natürlich wissen sie es!) und sind zufrieden. Und leben ruhig vor sich hin. Oh um diese auf immer von uns verlorene Ruhe! Dabei hatten wir ja etwas Ähnliches. Na ja, nicht sehr ähnlich, aber doch etwas in der Art. Und ich erinnere mich an diese Zeiten! Und so komisch das auch ist, ich empfinde kein Bedauern. Das heißt, [ 14 ]

natürlich empfinde ich welches, aber irgendwie distanziert. Das heißt, gleich bei der Erwähnung des Namens Stalin zum Beispiel bildet sich im Herzen ein warmer, anschwellender Klumpen, der aus dem Bereich der Brust nach oben, zum Kopf hinaufsteigt. Doch schon auf dem weiten Weg dorthin kühlt er ab und verwandelt sich in einen klebrigen, über den ganzen Organismus verschmierten Schleim, dringt in das areaktive Fleisch ein und verschwindet endgültig vom Horizont der Empfindungen und Vorstellungen. Und so ist es jetzt leider, leider immer und andauernd. Von dem Attentat auf ihren wenig einnehmenden Premierminister erfuhren meine vielbeschäftigten und rührigen japanischen Bekannten erst von mir. Ja? – wunderten sie sich. Stießen einen tiefen Kehllaut – Oooch! – aus und gingen wieder an ihre übliche Arbeit. Ich stellte mir vor, was für ein Irrsinn bei uns ausbrechen würde, wenn etwas Derartiges passieren würde. Doch es passiert ja ohnehin ein Irrsinn nach dem anderen. Und Irrsinn ist nun mal Irrsinn. Er existiert quasi für sich, unabhängig von jeder zufälligen, ihn provozierenden Ursache. Und daraus ergibt sich, daß es eigentlich auch egal ist, was konkret passiert. Also ist es bei uns so wie bei ihnen, bloß mit immens viel Irrsinn. Aber dazu sind metaphysische Nationalcharaktere und nationale Sendungen und Missionen ja auch da. Gleich bei der Ankunft möchte man über Japan ein Buch schreiben. Einen ausführlichen, schlüssigen und alles erklärenden dicken Wälzer. Nach einem Jahr will einem nur noch ein Artikel einfallen, der aber alles, buchstäblich alles erfaßt, qualifiziert und systematisiert. Wenn man fünf Jahre hier lebt und sich in die Alltagsroutine des Lebens eingefügt hat, möchte man schon (wie erfahrene Leute betonen) gar nichts mehr schreiben. Leben und Umgebung sind festgefahren, wie es so schön heißt. Also beeile ich mich, etwas zu fixieren, solange der erste und deshalb in vielem verzeihliche glückliche schöpferische Elan noch nicht versiegt oder verkümmert ist. Zurück zu den ersten Tagen nach meiner Landung auf diesem Boden. Ich denke an meine natürlichen, blitzartigen Bemühungen [ 15 ]

von den ersten Minuten an (und zum Teil auch vorher, sagen wir, eine Woche vor der Abfahrt, in aller Eile, mitten in dem Wust unaufschiebbarer Dinge, in der Metro und auf dem Sprung), das erste, scheinbar absolut notwendige und in vielem alberne Minimum an Alltagsfloskeln zu lernen: Guten Tag! – Grüß dich. Danke! – Ach, bitte, bitte. Auf Wiedersehen! – Tschüß. Entschuldigung! – Wieviel kostet das! – Doch diese Illusion verlieren Sie bald. Zum Glück, jedenfalls für Sie und für mich. Und Sie beruhigen sich. Um so mehr, als man sich in vielen Fällen an englischen Hinweisschildern orientieren kann, die einen in den wichtigsten Momenten retten, weil sie dort hängen, wo man sie braucht. Mit Bedauern überzeugt man sich von unserer in gewisser, ja, nicht nur in gewisser, sondern in vielerlei Hinsicht mythologisierten Vorstellung von der japanischen Modernität und Amerikanisiertheit. Vor meiner Abreise bemerkte der bekannte Petersburger Dichter Wiktor Borissowitsch Kriwulin, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt: Ach, in Japan werden Sie keine Probleme haben, Dmitri Alexandrowitsch. Da sprechen alle Englisch. – O nein, Wiktor Borissowitsch. Sie tun es nicht. Das erkläre ich Ihnen persönlich und allen meinen Moskauer Jungs, falls sie aus irgendeinem dringenden Grund den Wunsch haben sollten, hier aufzukreuzen. Sie sprechen kein Englisch. Sogar hochgebildete Intellektuelle kommen ruhig und selbstzufrieden mit ihrem eigenen Idiom aus. Und, ich bitte zu beachten, sie haben absolut das Recht dazu. Ein anderer Aktivist der russischen Gegenwartsliteratur, Al. Genis (der schon ziemlich lange in Amerika lebt, den ich jedoch in Japan getroffen habe), erzählte, wie die Menschen auf den Straßen Tokios vor Lachen prusteten, als er vor zehn Jahren das erste Mal in diesem Land war und versuchte, mit ihnen in irgendeiner Affensprache, das heißt auf Englisch zu reden. Niemand hatte auch nur je das amerikanische Wort für „Bank“ gehört, und dabei war er [ 16 ]

gerade wegen kompletter Bargeldlosigkeit hyperdringend auf eine angewiesen. Und niemand konnte ihm einen Tip geben, alle platzten nur vor Lachen beim Anblick dieses wilden Menschen, der wer weiß was daherfaselte, genau wie Kaspar Hauser. Seitdem hat sich unser Kaspar für alle Zeiten das japanische Wort für Bank gemerkt. Er hat es mir auch gleich gesagt. Und ich habe es gleich wieder vergessen. Zum Glück befinde ich mich jetzt schon in einem anderen Japan. In einer anderen, in höherem Maße europäisierten Zeit und mit weniger Bedarf an Bank- und Finanzdienstleistungen. Nicht, daß meine Taschen bis zum Platzen mit japanischem Bargeld oder irgendwelchen anderen Valuta vollgestopft wären. Ich kann bloß praktisch ohne Geld auskommen, weil ich nur einmal am Tag eine winzige Dosis Essen zu mir nehme, nicht aus dem Haus gehe und mich nicht für diverse lasterhafte, kostenintensive Unternehmungen und Amüsements wie Restaurants, Spielsalons und Ähnliches begeistere. Sicher, auch eine einmalige Nahrungsaufnahme täglich bringt gewisse Ausgaben mit sich, aber das ist eine andere Frage. Ich erkläre Ihnen später einmal, wie man damit umzugehen hat. Danach, wenn Sie das begriffen haben, werde ich versuchen, Ihnen die etwas kompliziertere esoterische Lehre zu vermitteln, wie man überhaupt ganz ohne alles auskommt. Aber davon später. Ich habe die entsprechende Fähigkeit selbst vorübergehend nicht genutzt, weil es sonst einfach unmöglich gewesen wäre, etwas über Japan zu schreiben. Eine Russin, die mittlerweile ständig in Kyoto lebt, hat mir etwas Ähnliches erzählt. Vor genau denselben zehn Jahren faßten ihr die zivilisierten Japaner auf den Straßen der Stadt an die entblößten Arme, weil sie deren Nacktheit für einen Hinweis auf Verfügbarkeit hielten, denn für Frauen galt es bis vor einigen Jahren als unüblich und unschicklich, selbst bei fürchterlicher Hitze mit entblößten Armen und Beinen draußen herumzulaufen. Genau wie in Mea Schearim, dem allseits bekannten Jerusalemer Wohnviertel ultraorthodoxer Juden, wo man dich beziehungsweise Sie, wenn Sie eine Frau sind, für das empörende Auftreten mit abstoßend, ja einfach widerwärtig nackten Armen bis zum Ellbogen oder Beinen bis zum Knie auch mal mit Säure in Empfang nimmt. Und man kann die [ 17 ]

Leute verstehen. Ich empfinde selbst zeitweise etwas Ähnliches. Übrigens war Säure auch bei uns in der Waisengasse im Umlauf. Ich erinnere mich an einen Vorfall, der in ganz Moskau Staub aufwirbelte, als eine junge Frau aus dem Nachbarhaus ein Fläschchen dieser alleszerfressenden Flüssigkeit ins Gesicht der Verführerin spritzte, die ihr den jungen Fußballer-Ehemann, das Idol der Jugend unseres Hofes, abspenstig gemacht hatte. Doch da hatten alle Beteiligten, weiblich wie männlich, in Maßen entblößte Arme und Beine. Das war also nicht der Grund. Tja, und hier geht jetzt alles drunter und drüber, das heißt, im Gegenteil, alles hat sich der bei uns üblichen Norm angeglichen. Ich rede von Japan, denn in Mea Schearim haben sich die Dinge nach wie vor und unerschütterlich in traditioneller Traulichkeit erhalten – was die Kleidung betrifft und was die Säure betrifft. Hier dagegen tragen die Mädels schon Shorts, die kürzer als die Schlüpfer sind, und Tops, die gerade eben noch den heute schon dem Blick der Völker aller Länder in der ganzen aufgeklärten Welt ausgesetzten oberen Teil des entwickelten weiblichen Organismus bedecken. Da hat doch die Zeit, die ich im Lande der aufgehenden Sonne verbringe, schon ganz sachte die Grenzlinie überschritten, die vom Aufkeimen erster Zweifel an Fähigkeit und Notwendigkeit markiert wird, irgend etwas aufzuschreiben oder zu beschreiben. Indessen finde ich, da ich ein gewisses Umgehungsmanöver ausgetüftelt habe, doch die Kraft in mir, zuversichtlich und ausführlich fortzufahren. Dieses Manöver – Denn man kann es ja auch anders sehen. Ein häufiges, alltägliches Ereignis. Du fährst nach Scheremetjewo, in einem Auto, das im Grunde allen Autos auf der ganzen Welt gleicht (wenn man nicht groß auf Einzelheiten des Designs und des Motors eingeht und außerdem noch ein paar Sorgen hat, was bei diesem Leben leicht der Fall ist). Du kommst am Flughafen an, der im wesentlichen allen Flughäfen der Welt gleicht. Steigst in ein Flugzeug, dessen nationale oder sonstige Zugehörigkeit nur schwer auszumachen ist (aufgrund der hohen Standardisiertheit von Innendesign, Service und dem [ 18 ]

schlichten Speise- und Getränkeangebot). Fliegst ein paar Stunden in einem fast unerklärlichen Vakuum, einem nicht identifizierbaren Raum-Zeit-Gefüge. Landest auf einem ähnlichen Flughafen. Wirst in einem ununterscheidbaren Auto in ein Hotel gebracht, das auffallend an jedes beliebige Hotel derselben Klasse in jedem beliebigen Teil des bewohnten, zivilisierten Universums erinnert. Okay, manchmal ist das Hotel schlechter, klappriger, es kommt vor, daß die Toilette irgendwo auf dem Hof ist. Manchmal ist auch die Dusche am anderen Ende des Ganges. Das ist dann wirklich unbequem und unangenehm. Allerdings begegnet einem so etwas in unserer uniform und eintönig ausgestatteten Welt so selten, daß es der Erwähnung gar nicht lohnt. Morgens nimmst du das von der allgemeingültigen, lästigen menschlichen Tagesordnung vorgeschriebene Frühstück ein oder auch nicht (ich nehme es wegen späten Aufstehens und der widerwärtig frühen Stunde dieser Unternehmung fast nie ein). Doch ich weiß, daß unsere Leute, die bis heute sparsam und vorausschauend sind, es stets pünktlich einnehmen, dadurch daß sie beim Morgengrauen aus dem Bett springen und in den Speisesaal streben, um sogar fürs Mittag- und fürs Abendessen vorsorglich Brote einzupakken, verstohlen zurechtgemacht mit ein wenig Aufschnitt, Schinken oder Käse. Aber wer wollte sie dafür auch nur moralisch verurteilen, um so mehr, wenn etwas Derartiges juristisch gar nicht verfolgt wird? Also, dann gehst du zu einer Gemäldegalerie oder Kunsthalle, die sich nur minimal von derartigen Einrichtungen in den Großstädten der ganzen Welt unterscheidet. Baust deine übliche Installation auf, die du öde und einfallslos schon seit vielen Jahren landauf, landab reproduzierst. Oder du liest zur Abwechslung die übliche Auswahl erhabener russischer Weltschmerzgedichte, die kein Mensch versteht und die dir längst zum Hals heraushängen. Zur Vernissage oder zur Lesung kommt das übliche Volk zusammen, das sich mit dir und auch untereinander, denn es gibt immer und überall eine Menge Ausländer, in einem pseudoenglischen Idiom verständigt, das ihm ebenso fremd ist wie dir. Danach folgt ein Besuch im ebenfalls schon obligatorischen italienischen Restaurant am Ort. Allerdings ist das Restaurant zutiefst italienisch und von den übrigen Lokalen mit [ 19 ]

italienischer Küche auf der ganzen Welt nicht zu unterscheiden, insofern es von einem normalen, von anderen Italienern nicht zu unterscheidenden Italiener geführt wird, der sich schon vor langer Zeit und etliche Generationen zuvor für immer hier niedergelassen hat, aber Fan eines italienischen Fußballclubs wie etwa AC Milan ist und die Wände mit Fotos von Rom, Florenz, Sophia Loren, Paolo Rossi, Roberto Baggio und dem Papst in vollem Papstornat und mit zum Segen erhobener, zitternder Greisenhand vollgehängt hat. Danach kehrst du ins Hotel zurück. Am Morgen geht’s mit dem gleichen oder einem ähnlichen Auto wieder zum Flughafen. Flugzeug. Scheremetjewo. Auto. Daheim. Wo warst du? Warst du überhaupt weg? Jetzt oder das letzte Mal? Du oder ein anderer? Und überhaupt, was soll das Ganze? Wer hat dir diesen Horror angehängt? Mit welchen heimtückischen Absichten? Und wohin jetzt? Nirgendwohin. Bleib stehen und halt es aus. Akzeptier das Ganze brav, wie man ja auch brav und einsichtig den ständigen und permanenten Aufenthalt am wahren Ort seiner irdischen Existenz und Provenienz akzeptiert – in meinem lieben Beljajewo zum Beispiel. Apropos, als ich auf solche Weise einmal von A nach B gereist war, erklärte ich schuldbewußt-entschuldigend, also mir selbst im voraus meine Schuld vergebend: Tut mir leid, ich kann kein Dänisch. – Wir können auch kein Dänisch –, wurde mir geantwortet. Und tatsächlich, sie konnten kein Dänisch, weil das ein ganz anderes Land war (welches, weiß kein Mensch), wo man nicht die leiseste Ahnung davon hat, wie man Dänisch spricht. Doch generell sind alle Städte der Welt für den, der mal da war und sie kennt, beinahe identisch, wenn sie mit einem raschen, ihre Grundstruktur einscannenden Blick betrachtet werden. Überall gibt es Autostraßen, Fahrbahnen, Unterführungen, Unfälle und stockenden Verkehr (das schon Langeweile, ja Ärger weckende Symbol des Kampfes für die nationale kulinarische Unabhängigkeit, McDonald’s, erwähne ich erst gar nicht). Für diejenigen, die an Problem und Methode der [ 20 ]

Machtergreifung interessiert sind, stehen zu unterschiedlichen Zeiten erbaute oder errichtete Brücken, Post, Telefon und Telegraf, Kasernen und Arsenale bereit. Überall sind Restaurants. Ja, Restaurants sind überall. In den Restaurants gibt es hohe europäische oder niedrige asiatische Tische, mit oder ohne Tischtuch, Speisekarten und Personal, auch Kellner genannt. Manchmal ist sogar ein Oberkellner da. In kleinen, gemütlichen Lokalen in Seitenstraßen schreitet zwischen den Gästen der füllige, schnauzbärtige und ständig lächelnde Besitzer umher, neigt sich zu den Tischen herab und fragt seine Gäste mit sanfter Stimme: Wie gefällt es Ihnen bei uns? – Es ist nett. – Und ich finde es nett, wenn meine Gäste es nett finden. Kommen Sie wieder. – Auf jeden Fall. – Sicher, ich rede jetzt von Banalitäten und werde es weiter tun. Von dermaßen banalen, augenfälligen Dingen, daß es anständigen Menschen nicht einfiele, in anständiger Gesellschaft ihren Atem darauf zu verschwenden. Mir ist es selber peinlich, Derartiges zu erwähnen. Doch zum Glück lebt in mir noch das freimütige, einfache Bürschchen aus dem Hinterhof Ecke Mytnaja-Straße unweit vom Danilow-Markt. Alles, was ich jetzt erwähne, versteht sich sozusagen von selbst. Und ich werde darüber auch wie über Selbstverständliches reden. Es ist allgemein und allseits bekannt, so daß man sich eigentlich auch mit etwas Originellerem und Ausgefallenerem befassen könnte. Aber ich spreche darüber. Jetzt erst recht! Es bohrt zu sehr in mir. Und am Ende kommt’s ja doch noch so, daß jemand anders es nicht aushält und aufspringt und ausruft: Ich erzähl euch jetzt ... – Nein! Halt, halt! Das möchte doch lieber ich sein. Lieber möchte ich die Siegespalme erringen. Denn so ging es ja schon mit Tarantino. Wie ging es denn mit Tarantino? – Ganz einfach. Mir war das Ganze schon vor Ewigkeiten eingefallen. Lange vor ihm, denn ich bin ja zirka dreißig Jahre älter. [ 21 ]

Schlicht aus Faulheit habe ich es mir lange und langsam durch den Kopf gehen lassen. Hab darüber nachgegrübelt, wie ich es am besten zurechtfeile und dem anspruchsvollen Publikum präsentiere. Ein anständiges adäquates Alter abgewartet, um auch mir selber gegenüber fair zu sein, um nichts Übereiltes rauszubringen, sondern Erlebtes und Durchlittenes. Und um mich vor der Außenwelt nicht zu blamieren – ein Mensch reiferen Alters, der weiß, was er sagt. Und da kam Tarantino! Wie, der Tarantino? – Ja, genau der. Tauchte auf wie ein Dorftrottel. Sprang ganz ohne meine russisch komplizierten und raffinierten psychischen Leiden und Skrupel in die Arena. Rannte ganz einfach an denen, die ehrlich in der Schlange standen, vorbei nach vorne und schrie das Ganze aus, als wäre es seins. Das hätte er mal zur Zeit meiner Kindheit versuchen sollen! Damals hat man solchen Leuten schnell gezeigt, wo der Hammer hängt. Und wenn sie’s nicht einsehen wollten, hat man ihn einfach benutzt, und dann, Pardon, waren sie still, für lange Zeit. Doch es zeigte sich, daß den Leuten die subtilen Erwägungen und erlesenen Emotionen, mit denen ich mich so viele Jahre herumgequält hatte, schnurz waren. Und daher beeile ich mich, Ihnen mitzuteilen: Überall, ja, überall gibt es ein und dasselbe! Mehr noch – strenggenommen gibt es überhaupt nichts anderes auf dem Erdball. In den Hochhäusern der ganzen Welt befinden sich in der Regel Aufzüge, die normalerweise in jeder beliebigen funktionstüchtigen Etage halten, mit Ausnahme spezieller Dienst-, Geheim- oder geschlossener Etagen. Wenn man genau hinguckt, findet man innen an der Aufzugswand auch ohne Sprachkenntnisse, bloß aufgrund der üblichen kanonisierten Anordnung, sogar bei völliger Dunkelheit und nur durch Ertasten die Knöpfe für die Etagen, für das Öffnen und Schließen der Tür und ebenso den nutzlosen Knopf für den Kontakt mit dem Techniker im Fall des Steckenbleibens. An den Hauseingängen gibt es entweder Klingeln oder Sprechanlagen. Natürlich, manchmal gibt es sie auch nicht. Weil alle rausgerissen sind. Oder noch nicht eingebaut. Es gibt Lebensmittelgeschäfte und Fachgeschäfte für verschiedene Konsumgüter – Schuhe, Kleidung, Mö[ 22 ]

bel, Geschirr, Schreibwaren, Musikinstrumente und Spielzeug, Kristallwaren, Baumaterialien, Gebrauchtwaren und Sonderangebote, diverse technische Geräte, Autos, Elektronik. Ja, und Kosmetikgeschäfte. Geschäfte für diverse Kuriositäten. Es gibt auch noch Blumengeschäfte und solche für alle möglichen rührend miauenden, bellenden, krächzenden, knurrenden, kreischenden oder beharrlich unter Wasser schweigenden Viecher. Friseurläden und Wechselstuben finden sich an jeder Ecke. Es gibt Buden für Eis und den Ausschank von diversen Getränken. Sammelstellen für Alteisen und Glas. Dienststellen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Ich wiederhole, daß ich von bekannten Dingen rede. Von Kindesbeinen an erinnere ich mich an sie, selbst im durchaus nicht wohlgeregelten Umkreis unseres tragisch spannungsreichen Hofes. All dies ist so schlicht und wird in seriösen Schriften und Beschreibungen wegen seiner Alltäglichkeit und Reizlosigkeit fast nie aufgegriffen oder erwähnt. Doch irgend jemand muß es doch einmal erwähnen! Es gibt Universitäten und Institute für junge Menschen. Theater, Kinos, Klubs, Diskotheken, Stadien und unterschiedliche Gärten. Fast überall gibt es Tiergärten. Mein Gott, wo bin ich denn? Bin ich überhaupt aus Moskau weggefahren, aus meinem trauten Beljajewo? Oder ist die ganze Welt ein einziges großes, ja auf Planetengröße angewachsenes trautes Beljajewo? Es gibt Bahnhöfe, Flughäfen und Busbahnhöfe mit ihren augenblicklich wiedererkennbaren Zügen, Flugzeugen und Bussen. Und schließlich sind die Menschen sich ungeheuer ähnlich, überall, buchstäblich überall. Einfach unanständig ähnlich. Meine Frau fragt mich oft: Sieht der da nicht dem Soundso ähnlich? – Dem Soundso? – frage ich zurück. Wieso fragst du zurück? Ja, dem Soundso. Schrecklich ähnlich. – Tja ... –, sage ich zögernd. – Da hätten wir eine Nase, Lippen, vielleicht auch Augen ... so was wie Ohren ... – Sag ich doch. – Ja, dann natürlich. Es gibt auch Taxis und die U-Bahn. Auf der einen Straßenseite [ 23 ]

fährt man in die eine Richtung, auf der anderen in die andere. Achte auf die Ampeln. Bei Rot bleib stehen, bei Gelb entspann dich, bei Grün lauf, was du lustig bist. In der U-Bahn gibt es Kassen und Durchgangsschleusen. Über die Gleise bummeln öfters Ratten und Mäuse, die jede Angst und Scheu verloren haben. Sicher, das ist, da gebe ich Ihnen recht, ein unerfreulicher Anblick, doch er bietet sich fast allerorten, so daß keine Möglichkeit besteht, ihn nicht zu erwähnen. Wenn Sie, unwillkürlich in die Betrachtung der widerlich-faszinierenden Kreaturen versunken, Ihren Zug verpassen – macht nichts. Nach einiger Zeit kommen mit schöner Regelmäßigkeit andere. Es gibt Hotels, Informations- und Reisebüros. Viele andere Dinge gibt es, die mir jetzt gerade nicht einfallen wollen. Macht nichts, später komme ich drauf und schreibe sie dazu. Es gibt die Stadtverwaltung, die Feuerwehr und die Polizei. Ich rede nicht vom Grad der Arbeitseffektivität der aufgezählten Institutionen. Ich rede von der prinzipiellen standardisierten urbanen Struktur, die das Leben jeder modernen Großstadt prägt, unabhängig von ihrer geographischen Lage, ihren historischen Traditionen und ihren nationalen Besonderheiten. Aber natürlich geht es auch anders. Das heißt, man kann’s eben auch anders sehen: Die Autos unterscheiden sich ein bißchen, besonders für Kenner und Liebhaber dieser subtilen Materie. Und die Flughäfen sind an ihren Dimensionen, an allen möglichen Kuriositäten und am Design durchaus unterscheidbar und wiedererkennbar. Und die Stewardessen sind ein kleines bißchen verschieden. Ich bin mehreren Leuten begegnet, die bestimmte Fluggesellschaften wegen der Attraktivität und Eleganz der Stewardessen bevorzugten. Und man bekommt nicht in allen Flugzeugen Alkohol zu trinken. Das ist ja wohl ein Unterschied – der Vater aller Unterschiede! Und wenn du am Flughafen aussteigst – boah! Da sind ja lauter fremde Leute um dich rum! Japaner! Die sagen was – und du verstehst es nicht. Alles ist mit so verschiedenfarbigen Dingern vollgemalt, das sind die Buchstaben von denen oder vielmehr Silben oder ganze Wörter. Wie schon erwähnt, aus unterschiedlichen Alphabeten, die übrigens von [ 24 ]

Ausländern unmöglich zu unterscheiden sind, aber von genau diesen Japanern benutzt werden, und zwar durchaus jeweils mehr als nur eins. Doch niemand hier, inmitten all des Geschriebenen aller drei Arten, weiß etwas von den Namen, die unserem Herzen so teuer sind. Niemand weiß etwas von Pugatschowa oder Kirkorow. Das soll kein Vorwurf gegen die beiden sein. In unseren Breiten sind japanische Popgrößen ja auch gänzlich unbekannt. Der Begriff „Geistigkeit“ läßt sich nur schlecht ins Japanische übersetzen und noch viel schlechter verstehen. Wodka kennt man zwar, aber nicht als Fetisch und Nationalheiligtum, sondern einfach als prima Getränk. Schmeckt nicht übel. Aber in Maßen. Ein Tröpfchen kann man schon mal trinken. Japanern steigt schon eine lächerliche Menge Alkohol extrem schnell zu Kopf. In betrunkenem Zustand sind sie lieb und unaggressiv. Sie lächeln noch breiter, umarmen einander und singen Lieder. Spät in der Nacht drehen sie mit unsicherer Hand den Schlüssel im schlichten Türschloß, treten ein und ziehen auf der Stelle die Schuhe aus. Manchmal, worauf besonders die Japaner selbst beharren, um die Großmut ihrer eigenen und die Duldsamkeit der weiblichen Natur zu belegen, wird der Bummelant von seiner Geliebten heimgebracht. Sie wechselt sachlich mit der Ehefrau ein paar Begrüßungsfloskeln sowie Bemerkungen zum gegenwärtigen konkreten Gesundheits- und Gemütszustand des gemeinsamen Objekts ihrer Fürsorge. Manchmal berichtet sie von drolligen Details seines heutigen Benehmens im berauschten Zustand. Beide lächeln verhalten. Die Ehefrau verabschiedet ihre Halbkollegin mit einer Verbeugung und begrüßt ihren Mann ebenfalls mit einer Verbeugung. Streift sein offizielles Jackett ab, lockert seine enge Krawatte, zieht ihn aus und bringt ihn ins kühle Gattenbett, vorsorglich hergerichtet in Form einer dünnen, direkt auf der Tatami ausgerollten Matratze mit einem ebenfalls harten Kissen, das mit den Körnern eines mir unbekannten Getreides gestopft ist. Die ganze hier geschilderte Szene unterscheidet sich in höchstem Maße von einer bei uns. Bei uns ist alles etwas anders, nämlich in der Art der weiter oben schon beschriebenen Methode, jemanden mit Säure in Empfang zu nehmen oder, in einer einfacheren Variante, mit den [ 25 ]

Fäusten oder den spitzen Absätzen neuer Pumps. Ich schreibe ja nicht nur für die Jungs, sondern auch für die Mädels aus unserem Hof. Die sollen das Ganze auch in Betracht ziehen. Die sollen sich für eine ferne und womöglich völlig fremde Alltagswelt und Lebensweise rüsten. Tja, Mädels, gewöhnt euch dran. Man muß in der weiten Welt der Überraschungen und Abwechslungen Fuß fassen. Parallel gibt es natürlich alle möglichen Einheimischen und alles mögliche Einheimische, das man weder aussprechen noch auch nur in Buchstaben oder Wörter zerlegen kann. Man trifft sich aber wie immer und überall bei dem wenig erfreulichen amerikanischen Mittelwert der Bezeichnungen und Begriffe, die man allerdings in der ortsüblichen Aussprache nicht gleich wiedererkennt. Weiter gibt es viel und vielerlei Anderes, Verschiedenes, Verschiedenartiges, was sofort Blick und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Zum Beispiel verbeugen sich die Leute ständig voreinander, und sie machen nach fast jeder Bemerkung oder Erzählung von dir runde Augen und rufen laut: Oooo! –, als hättest du ihnen etwas Unerhörtes mitgeteilt oder direkt an Ort und Stelle eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Als hättest du direkt vor ihren Augen etwas fertiggebracht, was alle ihre Vorstellungen von den Kräften und Fähigkeiten des Menschen übersteigt. Dieses „Oooo!“ wird als erstaunlich tiefer, heiserer Kehllaut gesprochen, der an den letzten Atemzug eines allerdings europäischen Sterbenden erinnert. Wenn du überdies vor irgendeinem öffentlichen Etablissement auftauchst, darin verschwindest oder daran vorbeihuschst, hörst du, wie Halbausrufe oder Halbgesänge dir entgegen oder hinterher ertönen, intoniert vom gesamten gutgeschulten Personal, das sich jedesmal schier in Reih und Glied aufstellt, um den tatsächlichen oder bloß in irgendeiner fernen Zukunft potentiellen Kunden zu grüßen. Doch auch daran gewöhnt man sich. Ein Japaner, der Rußland besuchte, wunderte sich über die Arroganz und Kälte der russischen Verkäuferinnen. Als wären sie Aristokratinnen und ich nur irgendein Dreck –, empörte er sich. Na ja, Dreck hin oder her, aber etwas in der Art. Das einzige, womit man den unglücklichen Japaner – und wahrscheinlich nicht nur ihn – trösten kann, ist der Umstand, daß [ 26 ]

sich für die hochgeborenen Verkäuferinnen auch die einheimischen Käufer nicht besonders von den Zugereisten unterscheiden. Woran sich jedoch europäische Fremdlinge wirklich nur schwer gewöhnen können, ist das freudige, vielleicht nicht gerade wiehernde, aber reichlich offene Gelächter japanischer Freunde, wenn man ihnen vom Tod seiner Lieben, Verwandten, Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Stubenvögel oder sonstiger nahestehender Lebewesen berichtet. Sie lachen. Und wahrhaftig, wozu soll man die traurige Stimmung eines ohnehin schon verstörten Menschen auch noch verschlimmern? Der Bestattungsritus ist ebenfalls dermaßen ungewöhnlich und ungehörig für einen Angehörigen des christlichen Kulturkreises, daß ich zart besaitete, empfindsame Personen im voraus warnen muß: Machen Sie sich auf etwas Schockierendes und sehr, sehr Unerfreuliches gefaßt. Die Leichen werden gewöhnlich verbrannt. Nun, das ist noch nichts Besonderes. Doch Achtung! Der Zeremonienmeister teilt den andächtigen Verwandten mit, daß sie zwei Stunden warten müssen. Oder sogar drei, wenn der Verstorbene besonders fettleibig war. Warten worauf? Und was hat unsere Fettleibigkeit zu Lebzeiten oder unsere Abgezehrtheit vor dem Tod damit zu tun? Wie auch immer, warten Sie. Wie auch immer, wir warten. Nach Ablauf der gesetzten Frist oder ein klein wenig später taucht ein neuer Sarg auf, in dem ein properes, zierliches weißes Skelett liegt. Es ist erstaunlich rührend in seiner Bloßheit und Ungeschütztheit, wenn man einmal all die unnötigen eurozentristischen und kulturpsychologischen Prägungen über Bord wirft. Aber es ist doch so proper! – antwortete der japanische Verwandte beruhigend, als er eine gewisse Bestürzung bei dem Kanadier wahrnahm, den ich in Sapporo traf und der mir das Ganze erzählt hat. Der Kanadier war auf der Bestattung seines Schwiegervaters gewesen, für den er nicht gerade warme Gefühle gehegt hatte. Aber doch nicht bis zu einem solchen Grad! Stop, stop, lieber Kanadier! Du bist nicht in deiner Heimat. Hier ist das so üblich, hier ist es [ 27 ]

sogar anders nicht üblich. Nun, mit dem Vordringen des Christentums bei dem einen oder anderen wohl doch. Aber im allgemeinen akzeptieren die hiesigen Christen gelassen derartige Traditionen und folgen ihnen sogar teilweise. Und das ist noch nicht alles. Gleich darauf nimmt einer der zahlreichen Angehörigen, die in aller Seelenruhe diese letzte Erscheinungsform der irdischen Existenz eines ihrer Lieben umringen, ein leichtes, silbernes, zart tönendes Hämmerchen zur Hand, und indem sie es einander immer wieder höflich weiterreichen, zerschlagen oder zermalmen sie die Knochen des reizenden Skeletts, die von den ungeheuren, unirdischen Temperaturen, die sie im Ofen ertragen haben, ausreichend, ja sogar äußerst brüchig geworden sind. Zuletzt werden nacheinander Schädel und Halswirbel zerschlagen. Mit langen dünnen Stäbchen, die auch dazu benutzt werden, ein Stück Fleisch von einem erhitzten Metallblech zu angeln, reicht man einander winzige Fragmente der zerkleinerten Knochen, legt sie in ein spezielles Gefäß und trägt sie still nach Hause. Ich habe vergessen, meine Informanten nach dem Phonogramm dieses magischen Ereignisses zu befragen – anscheinend wird die Stille nur von etwaigem Atmen oder Schnaufen unterbrochen. In der Hauptsache ist der Raum von den leichten Perkussionsgeräuschen des Hämmerchens und dem anschließenden trockenen Knacken der zerbrechenden Knochen erfüllt. Ich weiß nicht, ob man dabei irgendwelche Beschwörungsformeln murmelt oder bloß Dinge wie: Danke! – Könnten Sie mir wohl bitte den Hammer reichen? – Gestatten Sie! – Verzeihung! – Und ähnliche Dinge. Oder ob sich alles unter tiefstem ehrfurchtsvollem Schweigen abspielt. Ich habe auch vergessen zu fragen, wie lange eine solche Prozedur dauert, wenn man das statistische Mittel der Länge aller bearbeiteten Knochen in Betracht zieht, ebenso das statistische Mittel ihrer Stabilität und die durchschnittliche Fähigkeit und Trainiertheit der Teilnehmer (denn die erdrückende Mehrheit wird nicht zum ersten Mal mit Derartigem konfrontiert sein). Interessant [ 28 ]

sind dabei natürlich auch die möglichen Leiden der Seele des Verstorbenen, die nach vielen und darunter auch europäischen Zeugnissen ihren Aufenthaltsort, und das ist erstens immerhin ihr eigener und zweitens nicht irgend etwas, sondern immerhin ihr Leib, für ziemlich lange Zeit nicht verläßt. Aus hartnäckiger Gewohnheit versucht sie, mit ihren Lieben und Verwandten in Kontakt zu treten. Untröstlich irrt sie unter ihnen umher und schreit (nach ihrer Vorstellung ziemlich laut) in dem Bemühen, Aufmerksamkeit zu erwecken. Doch niemand hört sie. Niemand! Niemand! Mein Gott, niemand hört sie! Niemand ahnt auch nur etwas von ihrer Gegenwart, obwohl viele darüber etwas in Büchern gelesen oder von Spezialisten und Leuten mit entsprechenden Erlebnissen gehört haben. Die Seele blickt aus bereits unermeßlicher Höhe ein letztes Mal bedauernd auf den trostlosen Ort ihrer früheren Wohnung nieder und fliegt, indem sie ein für allemal mit ihren irdischen Illusionen Schluß macht und die Leidtragenden ihrer kniffligen Bestattungstätigkeit überläßt, davon in eine Gegend, die uns und auch ihr selbst noch unbekannt ist. Die Teilnehmer zermahlen sorgfältig die Knochen ihres Angehörigen und finden dort nichts. Nicht den mit so viel Recht erwarteten Tod. Und nicht den Menschen. Nur Leere. Doch einigen gelingt es, hinter der Leere der Abwesenheit des Erwarteten ganz einfach eine mächtige und majestätische Leere zu erspüren, die alles zusammenfügt und vereinigt. Aber vielleicht ist es auch genau umgekehrt – sie alle, unterwiesen und zu subtiler Feinsinnigkeit befähigt durch die unsterbliche fernöstliche Meditationstradition, erspüren die Leere gerade dann voll und ganz, wenn sie mit ihr in der magischen Klopfsprache kommunizieren. Vielleicht sind sie genau aus diesem Grund leichten Sinns und fröhlich bei einer Bestattung, während wir in schwarze Verzweiflung und in die irrsinnigen Illusionen fragwürdiger Erwartungen gestürzt werden. Ich bitte um Entschuldigung für die Unterbrechung des folgerichtigen und gleichmäßigen Erzählflusses. Mir ist gerade noch etwas eingefallen, was in jeder Großstadt existiert, und ich beeile mich, es [ 29 ]

Ihnen mitzuteilen. Es existieren noch alle möglichen Juweliergeschäfte, die von Zeit zu Zeit Opfer eines Raubüberfalls mit möglichem tödlichem Ausgang für den Besitzer werden. Es gibt zahlreiche Reparaturwerkstätten und Firmen, die alle möglichen in der kultivierten Welt vorkommenden Dinge und Mechanismen reparieren und erneuern – Schuhe, Wasch- und Nähmaschinen und natürlich Autos, Computer und Elektrorasierer, Wohnungen, Kanalisationen und Wasserleitungen. Also alles, was man sich denken kann. Wenn mir darüber hinaus noch etwas in den Sinn kommt, behalte ich mir das Recht vor, die Erzählung in jedem beliebigen Moment zu unterbrechen, um Ihnen diese zusätzlichen Informationen zu geben, die für jeden unentbehrlich sind, der jeden beliebigen Winkel dieser Erde besucht. Ja, außerdem noch Läden für die Reparatur von Schmuck und das Aufheben von Laufmaschen an Damenstrümpfen. Leider habe ich es aus Unvorbereitetheit auf ein solches Bestattungsritual nicht geschafft, nach einer Menge anderer, ebenso interessanter, ja einfach hochspannender, mir aber erst später in den Sinn kommender Punkte und ungeklärter Details zu fragen – worüber zum Beispiel die Teilnehmer einer solchen Zeremonie reden, wie sie einander ansehen, ob sie sich mit den Schultern streifen oder ihre Hände einander berühren, ob sie zwischendurch einen Happen essen oder etwas trinken (denn die Sache dauert ja anscheinend Stunden), ob sie zur Toilette gehen, auf die Uhr schauen, ihre Handys ausschalten (womit hier praktisch jeder ausgerüstet ist, höchstens ganz kleine Geschöpfe nicht, wie etwa Mäuse oder Mükken, die ihrer geringen Körpergröße und ihres Fliegengewichts wegen mit der für sie riesenhaften mechanischen Vorrichtung nicht zurechtkämen). Ebensowenig habe ich mich bei Teilnehmern oder Spezialisten danach erkundigt, wie die männlichen und weiblichen Rollen verteilt sind und ob sie es sind. Ob Kinder und Tiere dabeisein können. Und wie überhaupt das Teilnehmerkontingent einer solchen Zeremonie festgelegt wird. Ich werde versuchen, das später herauszufinden, wobei ich meine trotz allem unausrottbare Schüchternheit und Verlegenheit bei Erkundigungen dieser Art [ 30 ]

überwinden muß – Gefühle, die die hiesige Durchschnittsbevölkerung derartigen Dingen gegenüber wahrlich nicht kennt. Wie dem oben Dargelegten zu entnehmen ist, wirkt die von mir erst später in Erfahrung gebrachte Situation des vorherigen, also der beschriebenen Phase und ihren Operationen vorausgehenden Verbleibs des Verstorbenen in Form einer reglosen Vorbestattungsleiche im eigenen Heim dagegen ganz und gar alltäglich. Die Angehörigen, die den Entschlafenen nicht allein lassen dürfen, verkürzen sich die Zeit neben der erkaltenden Leiche mit Teetrinken und Kartenspielen. Tagsüber umringt von herumrennenden und aus diversen Gründen oder auch ohne jeden Grund schreienden Kinderchen und verschiedenen Haustieren, bringen sie es fertig, gleichzeitig die normalen, alltäglichen Haushaltsdinge zu erledigen, indem sie sich der Reihe nach entfernen, um Geschirr zu spülen, das Mittagessen zu kochen und ähnliches. Doch alles im Rahmen der Gesetze und Bräuche und ohne an irgendeinem Punkt die allseits bekannten, unverrückbaren Regeln zu verletzten oder zu übertreten. Und bestimmt erschiene das Ganze, von außen betrachtet, wenn es etwa hier passieren würde, dem unvorbereiteten Blick erstaunlich durchdacht, ausgewogen, von einer unverständlichen Rationalität und Tradition beseelt und dabei von einer außergewöhnlichen Beinahe-Schönheit und Eleganz erfüllt – ähnlich der Teezeremonie oder dem Tempelschauspiel –, aber gleichzeitig wie nette menschliche Umgänglichkeit und Natürlichkeit. Das heißt, die Teilnehmer agieren offen und eindeutig entsprechend den übernommenen Rollen. Bist du der Tote, lieg still und halt aus. Bist du ein naher Angehöriger, sitz neben dem Sarg, zerkleinere anschließend die Knochen und bring sie in einem Gefäß nach Hause. Dann befolg zwei Monate lang das Trauerritual. Bist du noch ein Kindchen oder ein Tier, leb einfach. Renn herum, aber überschreite nicht die Grenzen des Zulässigen. Bist du ein Fremder, bleib für dich und finde nach Möglichkeit bei möglichen Informanten national-ethnographische Details und den geheimen Sinn des Schauspiels heraus. Doch unhörbar, verstohlen, damit nicht einmal der Befragte und Antwortende etwas Unstatthaftes oder Unerlaubtes ahne. Denn [ 31 ]

derartiges Geheimwissen nach außen zu tragen ist ja im Grunde unstatthaft und unerlaubt. Jeder Mensch und jedes Ding kenne seinen Platz, seinen Stand und seinen Wirkungskreis. Und ich kannte meinen. Vielmehr bemühte ich mich nach Maßgabe meiner Kräfte und meines Wissenstandes darum, da ich ja nicht zu so sakralen Handlungen und Orten zugelassen war, wo ein Fehler einen fast nicht wiedergutzumachenden physischen und metaphysischen Schaden nicht nur für einen selbst, sondern für alle Unschuldigen ringsum nach sich zu ziehen droht. In diesem Zusammenhang wird auch die weite Verbreitung eines Wandersujets verständlich, das allen Gästen mit folgender Einleitung erzählt wird: „Der Freund eines meiner Freunde ...“ Daraufhin folgt die Geschichte, wie der Freund des Freundes von einem sehr hohen Stockwerk eines noblen Wohnhauses aus in den Tod stürzte. Die Polizei verwarf die Selbstmord-Version sofort, denn der Hinabgestürzte trug Schuhe. Und welcher Japaner würde zu Hause in Schuhen herumlaufen? Oder, die Variante für diejenigen, die alles Japanische und alle Japaner mystifizieren: Welcher Japaner würde in Schuhen in den Tod gehen? Gut, das hat auch wieder seine Logik. Schuhe werden vor jedem Raum ausgezogen, der als mehr oder weniger privat gilt. Im Gegensatz zu unseren Verstorbenen, die in speziellem Schuhwerk beerdigt werden, gehen die hiesigen Toten barfuß, das heißt nur in Strümpfen, in die andere Welt. Kann man daraus schließen, daß die Japaner sich das Jenseits als kleinen privaten Raum vorstellen? Ist es ein Sonnenstübchen, das ihnen in der Phantasie vorschwebt und in der Ewigkeit überlassen wird? Oder ein dunkler, düsterer, mit Spinnweben überwucherter Keller? Oder bloß ein neutraler und unkonkreter mehrdimensionaler Raum? Oder ist das Jenseits unserer Welt ähnlich und voller vielfältiger, vielgestaltiger Räume mit vielen verschiedenen Funktionen? Besser allerdings sollte man ganz feinfühlig und wohlerzogen die Möglichkeit eines kleinen, dunklen, feuchten, aber trotzdem persönlichen Badehäuschens in Betracht ziehen. Sicher, in alledem liegt eine gewisse Übertreibung – sehr oft habe ich nicht gerade beobachtet, wie jemand, der zum Beispiel ins Auto stieg, sich [ 32 ]

die Schuhe auszog, und dabei ist das ja nun wirklich ein privater Ort! Stimmt übrigens nicht, sie ziehen sich die Schuhe aus. Sie tun es. Ein paar tun es. Ich hab’s gesehen. Ich kann’s bestätigen. Doch auch in bezug auf das Jenseits gibt es einige Details, die geklärt werden konnten. Jedenfalls hier in Japan. Zum Beispiel besuchen alle Toten einmal im Jahr, zum sogenannten Obon-Fest, den Ort ihrer Bestattung. Ihnen steht ein einziger Tag für alles und jeden zur Verfügung. Da stellt man sich automatisch vor, wie sie am Vorabend der Ferien wie eine lärmende, einträchtige Horde von Gymnasiasten in der Halle versammelt sind und sich, wenn es „Jetzt!“ heißt, auf die Regale stürzen, wo ihre Schuhe stehen. Da sehen Sie es, eine Art innerer, grundsätzlicher, vorreflektorischer Intuition sagt einem trotz allem, daß man dort die Schuhe auszieht. Mit Schuhen an den Füßen schwärmen sie dann ungestüm zum Ort ihrer Bestattung aus. Entsprechend der Massenmigration am Himmel sind erhebliche Dislokationen der lebenden Bevölkerung auf der Erde zu beobachten. Es geht darum, daß die Angehörigen traditionell am Ort der Bestattung ihrer Vorfahren im Haus ihrer Brüder und Schwestern oder Väter und Mütter zusammenkommen. Und diese Tage sind etwas Besonderes für das ganze Land. Sie zu ignorieren wäre äußerst gefährlich. Es ist nämlich so, daß die vorübergehend zurückgekehrten Entschlafenen, nicht mehr an Maß und Gemessenheit unserer Welt gewöhnt und mit unvergleichlicher Energie erfüllt, losstürzen, um ihre abwesenden Lieblingsverwandten zu suchen. Wie Kinder bei Tisch, die nach einem gewünschten Gegenstand greifen und dabei, ohne es zu merken, alles andere auf den Boden werfen. So können auch unsere, genauer gesagt ihre Toten in dem innigen Wunsch, ihre Lieben zu sehen, größere Gegenstände von der Erdoberfläche fegen. Indem sie ein wenig naiv von einem analogen Wunsch der Lebenden ausgehen, stürmen sie durchs Land und stoßen dabei an Beteiligte wie Unbeteiligte. Gerade in diesen Tagen hört man überall schreckliche Explosionen und Donnerschläge, die hin und wieder zu Zerstörungen führen, die mit Erdbeben vergleichbar sind und ihnen auch häufig zugeschrieben werden. In der Regel sind Japaner treu und pünktlich in ihrer [ 33 ]

Pflichterfüllung. Doch es gibt ja auch Fortgereiste und Besinnungslose und Betrunkene und noch nicht Aufgewachte und Verschollene. Es kann passieren, daß Leute einfach gestorben sind und es noch nicht geschafft haben, die früher Verschiedenen davon zu benachrichtigen. Vieles kommt vor und geschieht, was man kaum voraussehen oder verhüten kann. Der Brauch des Gedenkens selbst ist schlicht. Er erinnert an den Totengedenktag. Ich konnte ihn auf einem weitläufigen Friedhof in einer Großstadt beobachten, wo am Eingang aus irgendeinem Grund gigantische, das heißt originalgroße Kopien der Köpfe von den Osterinseln aufgestellt waren. Sie stehen zwar ganz offensichtlich auch mit einem Ahnenkult in Verbindung, aber das sind völlig andere Ahnen, nicht die einheimischen. Allein, wie kann es in dem allgemeinen kosmologischen Prozeß Vergleiche und Differenzierungen geben? Daneben ist ebenfalls in Originalgröße das weltberühmte quasibritische Stonehenge aufgestellt, allerdings so heil und unbeschädigt, wie es wohl nie existiert hat, nicht einmal zur Zeit seiner ursprünglichen Errichtung. Wie es offenbar nur im Bereich von Ideen und göttlichen Entwürfen existiert, weswegen es auch in die Nachbarschaft der entschlafenen Ahnen, der zeitweiligen Bewohner dieses Friedhofs gehört. Die Lebenden nun, die noch auf dieser Erde und an diesem Orte weilen, kommen in großen Familienverbänden und in strikter Ruhe und Schweigsamkeit herbei und waschen die Naturgrabsteine unterschiedlicher Konfiguration und Größe mit Wasser ab. Diese Steine erreichen manchmal eine unvorstellbare, praktisch sich im Himmel verlierende Höhe. Ihre wunderschöne, unberührte natürliche Kontur hebt sich dunkel vor dem strahlenden Himmel ab, und ihre Oberfläche ist übersät mit verschiedenartigen tief eingeschnittenen, leuchtend farbigen und ziemlich großen Schriftzeichen. Die Steine fließen manchmal mit dem dunkelnden Firmament zusammen, und dann scheinen die Buchstaben direkt am Himmel zu brennen. Die Ankömmlinge stellen schlichte Blumen und Räucherkerzen auf. Danach stehen alle mit gesenktem Kopf und zusammengelegten Händen still da. Die Kinder sind in dieser Pose besonders rührend. Damit ist das Ritual beendet. [ 34 ]

Alles geht leise und fast ohne Worte vor sich, doch das Umherhuschen der unermeßlichen Menschenmenge erzeugt ein undeutliches Rascheln, das einen auf die Idee bringt, man höre bisweilen das Sprechen oder Raunen der Verstorbenen. Und so ist es auch. Und alles ringsumher ist streng, gesammelt, würdig und von Sinn erfüllt. Ich habe viele japanische Friedhöfe besucht. Sie sind natürlich sehr gepflegt. Doch den Charme russischer, besonders russischer Dorffriedhöfe habe ich dort nicht empfunden. Und es geht keineswegs um die Idylle einer verwahrlosten und vor sich hinwuchernden, halbverwilderten romantischen Flora, die die Autoren des 19. Jahrhunderts so liebevoll beschrieben haben. Es geht wohl offenbar eher um die Namen und Daten, die man liest, um sich in Gedanken in die Lebenszeit der betreffenden Toten zu katapultieren oder nach blitzschneller Einfühlung von magischer Hand dorthin versetzt zu werden. Iwan Iwanowitsch Schutkin, 1825–1915. Sieh an, Puschkin hat er noch erlebt, aber Napoleon nicht mehr. Dafür hat er den Ersten Weltkrieg noch erlebt. Und Tolstoi und Dostojewski hat er in all ihrer Macht und Herrlichkeit gekannt. Hat von allem was gesehen. Ja. Oder Marja Danilowna Schtscherbakowa, 1940–1989. Übrigens mein Jahrgang. Übrigens die absolute Namensvetterin meiner Nachbarin, eines Mädchens aus dem zweiten Stock in unserem Treppenhaus, der Freundin meiner Schwester, die später den schlüpfrigen Weg der Spekulation und Halbprostitution beschritt. Diese Marja Danilowna hier hat die Perestroika noch mitgekriegt. Und hat allerlei gesehen. Ich habe ja selbst genau dasselbe gesehen. Ich kann aber Sachen erzählen, die keine Marja Danilowna erzählen kann, um so mehr, als sie schon tot ist. Also werde ich das schleunigst tun, solange ich noch nicht in einen anderen metaphysischen Status und Aggregatzustand versetzt wurde nebst Erlaubnis und Mission, einmal jährlich schweigend meinen irdischen Wohnort auf irgendeinem Friedhof zu besuchen. Wenn ich ein japanischer Toter wäre. Als europäischer weiß ich nicht einmal, wie ich mich verhalten müßte. Es besteht kein strenges [ 35 ]

Reglement. Andere haben eins, aber das macht nichts. Irgendwie wurschteln wir uns auch durch. Um so mehr, als wir bisher noch nicht verstorben sind.

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1. F O R T S E T Z U N G

D

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a ich hiermit schon ein neues Kapitel betreten habe, dabei aber noch glücklich in der Seinsweise eines Nichtentschlafenen verblieben bin, beeile ich mich, Ihnen dies und alle damit zusammenhängenden Details und Einzelheiten mitzuteilen. Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, daß es sowohl Alltäglicheres als auch Lustigeres gibt als feierliche Begegnungen mit Verstorbenen oder Diskussionen mit der Polizei über das Problem der Identifizierung von Selbstmördern. So verbrachte ich einmal, beispielsweise und übrigens, in der nördlichsten Stadt von Hokkaido und ganz Japan, Wakkanai, von wo aus unser-ihr Sachalin zu sehen ist, zwei Tage und zwei Nächte in dem dortigen riesigen Tempel einer Spielart des Zen-Buddhismus. Eingeladen hatte mich dorthin der Klostervorsteher, nachdem er meine Performance in einem riesigen Konzertsaal besucht und nicht ohne Vergnügen angesehen hatte, wie es mir wenigstens schien. Gleich nach der Vorstellung, tief in der Nacht, fuhren wir in seinem Auto geradewegs zum Tempel. Als wir hineingegangen waren, direkt ins Zentralgebäude, fiel mir nicht weit vom Altar mit dem dort thronenden Buddha eine Vielzahl niedriger Tische auf, die nach dem internationalen Festordnungsgesetz wie der Buchstabe T angeordnet waren. Sie breiteten sich unten, direkt zu unseren Füßen, wie eine wundervolle exotische Landschaft aus, vollgestellt, beladen, überfüllt mit einer irrsinnigen Menge an Speisen, die unermüdlich durch neue, von der Frau des Vorstehers herbeigetragene ergänzt wurden. Das alles hätte man nicht essen und [ 37 ]

trinken können, obwohl die Japaner auf diesem Gebiet schrecklich tüchtig sind. Ich mußte daran denken, wie ein Student aus Tokio, der ein halbes Jahr bei einer anständigen Petersburger Familie lebte, buchstäblich aufgebracht und von Mißtrauen gegen die nette, gastfreundliche Frau erfüllt war, die ihm das Essen kochte: Was ist das schon! Zum Frühstück irgendein Brei oder Kartoffeln mit Fleisch. Mittags bloß Suppe und Kartoffeln mit Gemüse und Fleisch. Und abends das gleiche! – Wie hätte ich ihm erklären können, daß er nach unserem höchsten Standard verköstigt wurde? Nachdem wir zu Tisch gesessen, uns bequem zurückgelehnt und uns einen Schwips angetrunken hatten sowie ein wenig mit den Eigenarten und Ecken und Kanten des anderen vertraut geworden waren, verständigten wir uns über ein paar Einzelheiten unserer doch sehr unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Um mich nicht in Details zu verlieren, die eine ungenaue Übersetzung ohnehin nicht in seine Sprache und Begriffe hätte transferieren können, versicherte ich, daß im orthodoxen Christentum alles ungefähr genauso sei. Was, alles ist genauso? – fragte mein Gastgeber listig zurück. Na ja, nicht alles. Aber vieles –, antwortete ich ausweichend. Das wußte ich schon –, erklärte er, wobei er offensichtlich den in Japan sehr verbreiteten Katholizismus im Sinn hatte, den er aber anscheinend auch nur flüchtig kannte. Ich versuchte nicht, ihm den Unterschied, ja den unüberwindlichen Abgrund zwischen der Orthodoxie und seinem Buddhismus einerseits und der Praxis oder auch nur der Lehre des Katholizismus andererseits zu erklären. Im Grunde macht es ja keinen Unterschied! Im Grunde weiß er es ja wirklich! Im Grunde wurde das Ganze, wenn nicht vom Menschen fabriziert, so doch in seinen, des Menschen, gekrümmten und nivellierenden Raum gesetzt. Im Grunde haben wir ja schon die größere Hälfte des Lebens gelebt und sind nicht gestorben. Im Grunde ist auch so alles klar. Nachdem er ein schnurloses kleines Mikrofon zur Hand genommen hatte, brachte der Meister über Funk mit tiefer, übernatürlicher [ 38 ]

Stimme, die uns von allen Seiten erreichte, im ganzen Tempelbezirk einen Toast auf das Kloster aus, das alle Menschen offen empfange. Man übersetzte. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Was sollte ich auch dagegen haben? Für mich war alles einleuchtend und angenehm. Und interessant. Und spannend. Ich fragte, und er erzählte und erklärte. Er berichtete, daß in den seitlichen Anbauten (einer Art kleinem Extrakloster) einige seiner Schüler lebten, die die Tische sowohl aufgestellt als auch beladen hatten. Dann hatte der Meister noch ein paar Schüler, die zum Unterricht herkamen. Den Titel „Meister“ benutzte seine gesamte Umgebung und auch er selbst, wobei er von sich in der dritten Person sprach und ruhig, aber gleichzeitig auch feierlich verkündete: Der Meister zeigt Ihnen jetzt etwas! – Der Meister erklärt es Ihnen! – Der Meister weiß das! – Hören Sie dem Meister zu! – Jawohl. – Was für eine Lehrmethode der Meister bei seinen Schülern anwandte, konnte ich nicht herausfinden, denn nach seinen Worten schienen alle recht zu haben, und wer die größte Ungereimtheit oder Unglaubwürdigkeit sagte, hatte am meisten recht. Also gibt es nichts beizubringen. Und infolgedessen auch niemanden, dem man etwas beibringen könnte. Jedenfalls klang das so in der etwas unklaren Übersetzung meines angetrunkenen Begleiters. Der Meister überwand die Schwierigkeiten und die verständliche und verzeihliche Begrenztheit derartiger Kontakte, indem er mir das Wesen der himmlischen Hierarchie in seiner Lehre ganz einfach dadurch erklärte, daß er Buddha mit dem Premierminister und die Bodhisattva mit den verschiedenen Vizes, den einfachen Stellvertretern des Premiers und den Ministern verglich. In Begeisterung geraten, versuchte er sogar, die einzelnen Ämter zu Funktion und Rang der entsprechenden Bodhisattva in Beziehung zu setzen. Das ging schon schwerer. Er ließ es bleiben. Als ich einen Fauxpas begangen hatte, äußerte ich, mein Christus werde dort, am mutmaßlichen Ort ihres, wenn nicht gemeinsamen, so doch benachbarten Aufenthalts für [ 39 ]

mich bei Buddha eintreten. Der Meister akzeptierte diese Variante gern und schlug als mögliches Format ihres offiziellen Zusammentreffens so etwas wie die Verhandlungen zwischen den Staatschefs der großen Sechs vor, die gerade zu der Zeit auf Okinawa stattfanden. Er stellte das Ganze als Treffen zwischen Putin und dem japanischen Premier dar. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Er schlug vor, unser Staatsoberhaupt speziell für mich an Ort und Stelle zu materialisieren. Ich zweifelte nicht an der Möglichkeit, sondern am Sinn dieser Operation. Okay, er materialisiert ihn. Und? Dank meiner Unsicherheit und meines Zweifels bildete sich in der Ecke etwas Graues, Undeutliches, Ausdrucksloses und steif Dasitzendes. Ohne meinen aktiven Wunsch und dadurch ohne meine Mithilfe war die Sache, wie sich herausstellte, bei all der unmenschlichen, ja übermenschlichen Kraft des Meisters unmöglich, insofern das, wie er mir erklärte, bedeuten würde, jemand anderem den eigenen Willen aufzuzwingen, was dem Wesen der Lehre sowie der Seele des Meisters zutiefst zuwider sei. Ich wunderte mich über diesen Takt und diese Menschlichkeit einer Lehre, die obendrein noch in der konkreten Praxis verankert ist. Bekanntlich gilt als Kriterium für die Wahrheit trotz allem die Praxis. Okay, ich habe den Meister vergessen zu fragen, wie sehr und in welchem Maße es eine Rolle spielt, ob der, sagen wir, zu Materialisierende (in diesem Falle also Putin) Lust oder Unlust verspürt, materialisiert zu werden. Wie ich bemerken konnte, ging das Ganze nämlich nicht nur ohne seine Mithilfe vonstatten, sondern sogar ohne sein Wissen. Womöglich werden völlig unglaubliche Kommunikationskanäle genutzt, die von außen nicht zu erkennen, ja nicht einmal zu erahnen sind. Doch wahrscheinlich berücksichtigt man dabei bloß die eigenen Leute und Eingeweihte. Und zu denen gehörte ich schon. Zwar nur für die knappe Zeit meines Aufenthalts, in der die Gesetze der unermeßlichen Gastfreundschaft galten, doch ich gehörte dazu. Der Meister lächelte still und listig. Ich hörte ein Rascheln hinter mir, drehte mich um – der Buddha hatte seine Haltung verändert und die versonnene, melancholische Pose des Buddha Maitreya eingenommen. Ich wandte mich ab – er kehrte in seine frühere [ 40 ]

Position zurück. Der Meister lächelte weiter vor sich hin. Hinter seinem Rücken schwebten faserig-wolkige Nebelgebilde vorüber, auf denen, strikt nach ihrer von Verdiensten und der Stellung in der Hierarchie abhängigen Größe aufgereiht und angeordnet, eben jene als Minister qualifizierten Bodhisattva thronten. Sie schwebten vor meinen schon zufallenden Augen vorüber und lösten sich auf. Doch sie lösten sich nicht wirklich auf, sondern nur vor meinen Augen. Sonst – in Wahrheit – schwebten sie weiter, schwebten über das gesamte Territorium des göttlichen China, über das unbesiedelte Sibirien, über den zwergenhaften Ural hinweg bis nach Moskau. Schwebten über dem Kreml, über Putin, der, in einen gebügelten weißen Judoka-Anzug gehüllt, kampfbereit mit dem Gesicht des Todes in der Lotoshaltung regungslos auf Stalins Marmorschreibtisch saß. Über Lenin, der blinzelnd seinen Krallenblick in die Steingewölbe seiner Mausoleumswohnung bohrte und durch ihre lastende Masse hindurch diesem spindelförmigen lautlosen Flug zusah. Über dem in der vielschichtigen, schweren und ziemlich feuchten kremlnahen Erde eingegrabenen armen Breschnew, dessen Knochen, vermengt mit den Knochen seiner Mitgenossen im Politbüro, von keinem silbernen Hämmerchen der Ewigkeit berührt worden waren. Ja, so etwas gibt es. Und so etwas gab es in meiner Gegenwart – das heißt, es geschah. Etwas Ähnliches habe ich übrigens auch in der orthodoxen Kirche in Tokio bemerkt. Ich sah und spürte hinter mir eine Verlagerung von Ikonen und vergoldeten Figuren. Ich entdeckte mit eigenen Augen ihre Quasi-Austauschbarkeit und Lebendigkeit. Offenbar liegt so etwas in Urgrund und Atmosphäre des in jeder Hinsicht vielschichtigen hiesigen Lebens. Und ich empfand das und empfand es tief. Anschließend führte mich der Meister in verschiedene Räume des Altarbereichs, wobei er jedesmal, wenn wir das nächste Gelaß der Abgeschlossenheit und Sakralität betraten, sagte, hier dürfe außer dem Meister niemand eintreten. Nur der Meister allein darf hier eintreten! – Auch hier darf nur der Meister herein. – [ 41 ]

Und hier ist es jedem außer dem Meister verboten hereinzukommen! – sagte er und wandte mir seinen bläulich rasierten Schädel mit den blitzenden runden Brillengläsern zu. Sein Enkelsöhnchen, das dabei war, raste die ganze Zeit wie ein Irrwisch herum, stand auf, fiel hin und zielte mit seiner mir unbekannten hypermodernen Kinderbewaffnung auf den unerschütterlichen Buddha. Am Morgen kurvte das Kleinkind in einem Mini-Auto durch das riesige Tempelgebäude. Träge spazierte eine schwanzlose Katze daher. Hunde verirrten sich allerdings nicht in die Räume – sie lagen alle in einiger Entfernung vom Tempel an der Kette. Der Haushalt des Zen-Buddhismus-Meisters war ausnehmend komfortabel eingerichtet, und zwar nicht ohne kleinbürgerliche Nettigkeit und Behaglichkeit. Was mich, das will ich betonen, außerordentlich befriedigte und sogar freute. Ich erinnere mich, wie während einer meiner ersten Reisen nach Deutschland, die ich gemeinsam mit Lew Semjonowitsch Rubinstein machte, der nervöse, die ganze Zeit sozusagen hüpfende, die ganze Zeit unaufhörlich und rasch, aber anständig Russisch sprechende, uns begleitende und betreuende Slawistik-Doktorand, ein ehemaliger Linker und Maoist, lang, hager und mit runder Brille auf seinem runden, rasierten kleinen Schädel, uns abends ausführte. Nach seinen damaligen linken Vorstellungen mußte uns einer der radikalsten Treffpunkte der damaligen Bochumer Jugendszene gefallen. Spätabends brachte er uns in ein karges Etablissement, das einem heruntergekommenen verrauchten Moskauer Imbiß ähnelte und eine kaputtgeschlagene und von Brandlöchern gespickte Einrichtung aus Plastik besaß – Tische, Stühle, Bänke, nackte Wände und röhrende Kühlschränke. Rubinstein und ich wechselten einen Blick und erklärten dem Chef bescheiden, aber unmißverständlich, daß wir einen derartigen Radikalismus in Moskau zur Genüge gesehen hätten und etwas Gemütliches, Kleinbürgerliches vorzögen. Daraufhin saßen wir fast die halbe Nacht unter dem mißbilligenden, aber ergebenen Schweigen des Deutschen matt und selig in einer unvorstellbar albernen türkischen Kneipe, wo wir unter durchdringendem [ 42 ]

huriähnlichem Frauengesang aus Lautsprechern an bemalten kleinen Tischen auf dem Teppich hockten. Aber es war schön. Während unserer armseligen, lange zurückliegenden Hofkindheit konnten wir, wenn wir abends zu erleuchteten Fenstern hineinschauten und den Haushalt wohlhabenderer Nachbarn mit ihren Teppichen, Fernsehern und bunten Bildern an den kahlen Wänden betrachteten, von einem derartigen Paradies nur träumen. So daß man also verstehen kann, warum ich Lebensweise und Einrichtung dieses Zen-Buddhismus-Meisters mit Verständnis und Befriedigung guthieß. In den Toiletten mit geheiztem Boden und Sitz, seitlich mit einem leuchtenden Mini-Schaltpult ausgerüstet (die Funktion der Bedienungsknöpfe mit japanischer Aufschrift konnte ich nicht herauskriegen), hingen süße Puzzles mit den Darstellungen von Kätzchen, Zicklein und Kindlein. In einigen Zimmern erstrahlten moderne leistungsstarke Fernsehgeräte mit enorm breitem Bildschirm. Riesige Wohnräume waren angefüllt mit allerhand Stehlampen, Tischen mit Schnitzwerk und normaler bequemer japanischer Ausstattung. Überall standen riesige Kühlschränke, vollgestopft mit Speisen und unterschiedlichen Getränken, wie in teuren Hotels. Ich erkundigte mich: War das wirklich kein Spezialhotel für spezielle zen-buddhistische Gesandte, Wallfahrer und Pilger? Nein, schlicht ein Wohnhaus. Und all dieser unglaubliche Komfort war für das normale, geordnete Leben von drei Familienmitgliedern bestimmt, das des Meisters, seiner Frau und der greisen, aber ständig lächelnden siebenundachtzigjährigen Mutter der Frau. Ach ja, ich habe noch den Enkel außer acht gelassen, der gerade dort wohnte. Ach ja, die Schüler habe ich noch vergessen. Doch wenn die den Komfort und die Einrichtung auch nutzten, so vermutlich nur selten und unregelmäßig. Immerhin waren es nur Schüler. So weit, so gut. Für eine Familie war es wirklich sehr komfortabel. Und nicht nur für die Familie, sondern auch für zufällig hierher geratene Reisende. Der Meister schenkte mir einen schwarzen Fächer mit einem uralten buddhistischen Sutra auf beiden Seiten. Solche Fächer, wie mir meine informierte Umgebung sogleich mit Ehrfurcht und sogar [ 43 ]

einem gewissen respektvollen Grauen erklärte, würden nur für Geistliche gefertigt und seien nicht frei verkäuflich. Ich sprach dem Meister natürlich mit viel Gefühl meinen Dank aus. Unter den Versammelten konnte nur mein Begleiter, Professor der hiesigen Universität, zwei Drittel des komplizierten alten Textes knacken. Womöglich zeigte sich hier auch der Einfluß des Alkohols. Den anderen, die nur eine begrenzte Anzahl von Schriftzeichen kannten, war der Text einfach zu hoch. Na ja, der Meister hat ihn natürlich voller Stolz vorgelesen, was ungefähr eine halbe Stunde dauerte. Er war überhaupt ein überraschend netter und krasser Typ. Auf meine Frage nach einer Speise, die mir unbekannt war und, wie sich herausstellte, der Mehrheit meiner auf diesem Gebiet überaus erfahrenen und bewanderten Tischgenossen ebenfalls, tat er kund, das sei Hundepimmel. Und brach, ohne meine Reaktion abzuwarten, in wieherndes Gelächter aus. Genau so wurde das von dem Philologieprofessor der hiesigen Universität übersetzt – es sei Hundepimmel (Sie kennen ja das Draufgängertum aller Russisch-Lehrenden und -Lernenden jeglicher Völker und Länder bezüglich des Verstehens und Benutzens unserer Vulgärbegriffe). Der Meister schenkte mir noch Socken, Unterhemd und Unterhose, das heißt, wohl eher seine Frau, aber direkt in seinem Auftrag, als ich nach fast dreistündiger Wonne in einer riesigen Badewanne in einem ebenfalls riesigen Badezimmer gerade neben den Gebetsräumen feststellte, daß ich alle meine Sachen zum Wechseln an meinem früheren Aufenthaltsort gelassen hatte. Die geschenkten Sachen trage ich mit Dankbarkeit auch heute noch, zusammen mit einer Art gläserner Gebetsperlen an einem Gummiband, die man ums Handgelenk legt. Wenn man sie durch die Finger gleiten läßt, beruhigt und entspannt das, und das brauche ich von Zeit zu Zeit sehr. Und bekomme es. Die Perlen sorgen dafür. Und ich denke mit Dankbarkeit an den Meister. Ach ja, mir ist noch etwas eingefallen – in allen Städten finden sich nach Ausstattung und Sauberkeit differierende öffentliche Toiletten. Es ist sehr wichtig, das zu erwähnen und nicht zu vergessen. Sie verstehen den Grund meiner Pedanterie auf diesem Gebiet sehr gut. [ 44 ]

Und ich habe mich daran erinnert, es nicht vergessen und erwähnt, wenn auch mit einer gewissen Verspätung. Überhaupt ist diese Frage oder vielmehr dieses Problem für mich mit einem ungewöhnlichen und sich ständig wiederholenden eindrucksvollen Traum verbunden, den ich aber hier nicht schildern werde, da er einen unangenehmen Eindruck hervorrufen könnte, weil er mit einem nicht gerade erhabenen, aber erbaulichen Bild aus dem zen-buddhistischen Tempeldasein verknüpft ist. Vielleicht erzähle ich ihn später, wenn es sich ergibt. Während des Gesprächs lächelte der Meister von Zeit zu Zeit dermaßen breit, daß er verschwand. Ja, ja, er verschwand. Dann saß ich ruhig da, wartete auf seine Rückkehr und achtete nicht auf die anderen, die ebenfalls auf nichts mehr achteten. Wenn der Meister zurückkam, hob er seine Tasse Sake und sagte: Kampai! – Washe sdorowje, auf Ihre Gesundheit! – fiel ich ein. Na sdorowje! – platzte der Slawist heraus und benutzte damit die mir so verhaßte Wortverbindung, die, offenbar von Polen in alle Länder der Welt getragen, unter allen Slawisten der Welt unverantwortlicherweise als authentischer russischer Spruch beim Heben des Glases kursiert, die mit Alkohol von beliebiger Beschaffenheit und Qualität gefüllt sind. Überall, wo ich damit konfrontiert werde, erkläre ich diesem aus unbekannten Gründen aufgekommenen linguistischen Fehler entschlossen den Krieg. Die nahezu unüberwindliche Trägheit und Passivität der Betrogenen kann die Energie und Pedanterie meiner pädagogischen Bemühungen nicht schwächen. Nicht na sdorowje, sondern washe sdorowje. – Man hat mir aber na sdorowje gesagt! – Und das ist falsch. Na sdorowje sagt man beim Essen, und das bedeutet, daß es einem gut bekommen soll. Und wenn man trinkt, heißt es washe sdorowje, und das bedeutet, daß man auf die Gesundheit von jemandem trinkt. – Na gut, washe sdorowje! – stimmte der Slawist gutmütig zu. Langsam schlürfend tranken wir. Da verschwand ich plötzlich [ 45 ]

auch, das heißt, ich entdeckte an der Stelle, wo ich hätte vorhanden sein müssen, eine Leere. Ich sah mich suchend nach mir um, konnte mich aber nicht finden. Dann hörte ich auch auf, mich umzusehen, weil ich mich gänzlich verloren hatte. Natürlich verschwand ich auch für meine Umgebung gänzlich. Doch die nahm das ebenfalls hin, als müßte es so sein. Ich verschwand für alle, nur nicht für den Meister. Nach wie vor lächelnd, sah er unfehlbar auf die Stelle meiner neuen, ständig wechselnden Position. Dann tauchte ich wieder auf. Der Meister begrüßte mein Auftauchen mit einem leichten Kopfnicken und einem neuerlichen „Kampai!“ und aß einen Happen. Das Essen auf dem Tisch wurde nicht weniger. Na sdr ... – stotterte der Slawist los und verbesserte sich gleich darauf (Kompliment, hat sich’s gemerkt!): – Washe sdorowje. Auf Ihre Gesundheit, im Namen aller Menschen meiner großen Heimat! – rief ich mit bereits etwas inadäquatem Pathos aus. Alle tranken abermals. Auf keine, nicht einmal auf minimal annähernde Weise werde ich Details konkreter Speisen und ihrer Zutaten beschreiben – das ist nicht mein Gebiet. Dafür gibt es Liebhaber und Profis, die fitter sind als ich, um viele Male fachkundigere Fachleute. Ebenso auf dem Gebiet der Beschreibung von Details aller möglichen Erscheinungsformen von Sex und Erotik. Wie übrigens auch vom Trinken. Und vom Rauchen und von der Einnahme von Drogen. Also bleibt praktisch nichts mehr zu beschreiben übrig, wo ich mich als Profi erweisen könnte. Eben, eben, darüber gräme ich mich! Ich gehe viel lieber auf die Jagd ... Himmel, was für eine Jagd soll das denn sein! Eher geht das Kleinkind, der Enkel des Meisters, auf Buddhajagd (natürlich im mystischen Sinne). Erst kürzlich, nach einigen Veranstaltungen und Besuchen diverser wunderbarer hiesiger Vergnügungsstätten, die voller ungewöhnlicher ergötzlicher und erheiternder Angebote steckten, begriff ich mit aller blendenden Klarheit, wie viel ich im Leben verpaßt und versäumt habe. Du lieber Himmel! Leute gibt’s! Leute gibt’s, die wissen alles! Sie wissen, können dieses Wissen einsetzen und setzen es auch ein, ohne sich irgendwie zu bremsen. Besonders empfindlich [ 46 ]

habe ich das nach der Lektüre eines krassen Textes von einem Moskauer Playboy und Saufheini verspürt. Es gibt Leute, die wissen und verstehen, was man wo um 11 Uhr morgens trinkt, und sogar vor 11 Uhr! Was, wo und für wieviel um 12 Uhr oder ungefähr um diese Zeit. Wo um 13, 14, 15, 16 Uhr! Und das die ganzen vierundzwanzig Stunden durch! Sie wissen nicht nur übers Trinken was, sondern auch, wie man opulent dazu ißt. Sie wissen und fühlen genau, wohin und an wen man sich wenden muß, wo man mit Stil ein irrsinniges Geld lassen und wo man sich seinen fast totalen Geldmangel versüßen kann. Wo man Mädchen anmacht und wie man mit ihnen in Hauseingängen, in Straßenbahnen, am Cafétisch, auf Stränden und Pfaden, in Zügen und unbekannten Wohnungen, gehend, rennend oder fliegend kopuliert. Wie man fremde Wohnungen vollkotzt, in die man zufällig geraten ist, und wie man sie cool und genießerisch auseinandernimmt und darin Büfetts, Spiegel und Fenster zertrümmert, um sie dann ohne einen Hauch von Irritation oder Schuldgefühl unbeschwert wieder zu verlassen. Wie man Schaufenster und Autos zerstört. Wie man kreischend abhaut. Wie man trotzdem reinrasselt, auf dem Revier sitzt und mit kindlich-unschuldigem Gesichtsausdruck einen unsäglichen treuherzigen Blödsinn von irrsinniger, spöttisch-gespielter Reue daherfaselt, wobei man selbst bis zu unaufhaltsamen hellen Tränen an die Aufrichtigkeit der Reue glaubt. Und direkt danach, wenn sich’s ergibt, jemandem die Fresse einschlägt. Wie man fast in den Knast kommt und wie durch ein Wunder von einem einflußreichen Verwandten rausgeholt wird. Du lieber Himmel! Und ich! Was kann und kenne ich? Höchstens ungefähr die Maße meines Schreibtischs in Zentimetern oder die fehlende Wattzahl in der Glühbirne der Nachtbeleuchtung über meinen ununterscheidbaren Zeichnungen. Ja, erst jetzt, in der Neige meines vorgerückten Alters, wo ich schon nichts mehr ändern und empfinden, sondern mich nur noch grämen kann, habe ich begriffen, daß ich umsonst gelebt habe. Im Grunde ist mein Leben mißglückt. Also bin ich schlicht verloren und habe überhaupt keine Chance, aus diesem engen und ständig weiter schrumpfenden Kreis zu entkommen. Ich meine damit, daß ich lediglich noch über die Leere [ 47 ]

nachzudenken und nachzugrübeln habe. Was ist das eigentlich, die Leere? Ich rede ja nicht davon, daß es etwas nicht gibt. Es geht ja nicht – wissen Sie noch? – um das hier: Haben Sie keinen Fisch? – Keinen Fisch gibt’s in der Fischabteilung, bei uns gibt’s kein Fleisch! – Verstehe. – Was verstehen Sie?! – Alles! – Sieh mal einer an, er versteht alles! – Obwohl das auch in dieser Szene steckt – die nette Subtilität und Korrektheit einer Definition der Abwesenheit als ständiger und unwiderruflicher virtueller Anwesenheit. Die Idee ist an sich attraktiv und könnte zu einem Spezialgebiet von Empfindungen und spekulativen Annahmen sowie von Erkenntnis, ja, sogar von penibel-gründlicher Forschung werden. Doch wir reden jetzt nicht davon. Davon reden wir später. Jetzt sprechen wir von etwas, worin nichts, endgültig nichts ist. Und dadurch ist dieses Etwas selber quasi auch nicht da. Und wenn nichts da ist, gibt es auch keinen Gedanken darüber. Doch der Gedanke ist da. Er dient quasi als Grenze, die von der Außenwelt aus unter keinen Umständen zu überschreiten ist. Doch eine Grenze ist ja bekanntlich eine gewisse virtuelle Anlage, die wiederum beiden angrenzenden Seiten zugehört. Das heißt doch wohl, daß sie existiert, die Leere! Wenn auch nur auf dem Wege einer solchen wackeligen Beweisführung! Und sie grenzt an alles, sogar an das, was nicht aneinander grenzt. Also befindet sie sich dazwischen. Das heißt doch, daß sie real existent oder vorhanden ist. Und in der Konfrontation mit der Vielzahl der auf dieser Seite wuselnden Dummheiten und Lappalien übertrifft sie diese sogar durch ihre Gewaltigkeit und unzerteilte Kompaktheit. Aber wie übertrifft sie sie – in welchen Maßeinheiten, mit welchen Parametern und Eigenschaften? Wer weiß das schon. Einige nennen sie das wahre Sein, das unseren unkontrollierbaren und schlechtverständlichen Veränderungen nicht unterworfen ist. Einige geben ihr ehrfürchtig bebend den Namen „das Andere“. Einige nennen sie locker [ 48 ]

und familiär Wahrheit und meinen damit offenbar sowohl die Wahrhaftigkeit des Geschehens in ihr wie auch die Möglichkeit, es auf irgendeine Weise nach außen zu senden und gleichzeitig zu empfangen. Einige taufen sie Gott. Beziehungsweise die Verkündigung Gottes auf apotheotische Weise oder Gott weiß was noch. Meister Eckart (es gab so einen) wußte etwas Derartiges und bestand darauf, daß er es wußte, und wurde dafür übrigens nicht nach den Sitten der damaligen Zeit verbrannt. Na ja, er hatte den Durchblick. Und die, die ihn unverbrannt gelassen haben, hatten ihn auch. Uns anderen ist alles mörderisch unklar. Selbst wenn du dort warst, warst du es ja nur durch ein gewisses flackerndes, vages Übertreten der erwähnten Grenze. Das heißt, wegen der Schnelligkeit der Bewegung oder des Flimmerns kriegst du quasi nicht mit und kannst nicht genau sagen, wo du warst, wo du stehst und wo du überhaupt existierst. Und es stellt sich heraus, daß du in ihr existierst, obwohl es natürlich – wie jeder versteht – unmöglich ist, in ihr zu existieren. Man kann bloß durch dieses Flackern quasi ein Doppelwesen, ein Doppelcharakter, eine Doppeldeutigkeit sein. Mir scheint, als wäre die bekannte sowjetische Doppelgedanklichkeit nicht ein spezifisches Phänomen konkret historischer und konkret geographischer, soziokultureller menschlicher Anormalität, sondern Ausfluß eben jener fundamentalen meta-anthropologischen und ontologischen Situation der Dualität und des Flackerns. Ach, was soll’s, auf derartig logisch-diskursive Weise sagt man über die Leere wohl kaum etwas Einleuchtendes. Versuchen wir es lieber so: Ist die Leere ein Mann oder eine Frau? – Auf diese Frage antwortet man: Jau Beginnt die Leere mit etwas, oder endet etwas mit der Leere? – Auf diese Frage antwortet man: Ja Oder man antwortet: Möglich Oder eine dritte Antwort: Wird schon werden

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Hat die Leere eine Form oder ein Alltagsleben? – Auf diese Frage antwortet man einfach Ist die Leere eines oder zwei? – Auf diese Frage antwortet man nach Bedarf Denkt die Leere selber in Begriffen der Leere oder der Fülle? – Auf diese Frage sollte man nicht immer antworten Wird die Leere aus sich selbst erzeugt oder aus etwas anderem, das wiederum etwas anderes erzeugt? – Auf diese Frage sollte man ausweichend antworten Tritt die Leere in etwas anderem in Erscheinung oder nur in Leere? – Auf diese Frage antwortet man mit dem Heben beider Daumen beider Hände Ist die Leere sichtbar oder fühlbar, oder begreift man sie nur durch reine Spekulation? – Auf diese Frage antwortet man, indem man zwei Finger zu einem Ring zusammenführt Lohnt es sich, der Leere etwas zu borgen, oder borgt man sich etwas von ihr? – Auf diese Frage antwortet man mit einem Nicken Schweigst du, weil du die Leere bist oder weil du nichts über die Leere zu sagen hast? – Darauf antwortet man mit beredtem Schweigen

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Ist alles um der Leere willen in der Leere oder übersteigt etwas in ihr sie? – Auf diese Frage antwortet man mit Abwesenheit Offenbart die Leere nur Leere, oder wird durch die Leere alles offenbart, und all das, was durch die Leere offenbart wird, offenbart es die Leere oder ihre Überschüssigkeit? – Auf diese Frage sollte man mit Leere antworten

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2. F O R T S E T Z U N G

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m nächsten Tag wurde im Tempelhof für ein begrenztes Kontingent der hiesigen Nomenklatur in meiner hochgeehrten Anwesenheit ein opulentes Grillfest mit Getränken veranstaltet. Das Braten von Fleisch auf offenen, funkelnden brennenden Kohlen, die mit einem leichten Gitterrost bedeckt sind, heißt hier Dschingis Khan, zum Gedenken an den großartigen Herrscher der Mongolei und der halben restlichen Welt, der diese berühmte Tradition hierhergebracht hat. Was sie sonst noch über Dschingis Khan wissen – ich kann’s nicht sagen. Doch offenbar wenig. Obwohl auch das genug ist. Dschingis Khan ist ja seit vielen Jahrhunderten, wenn man nach den ethnographischen und den Landschaftsfilmen über die Mongolei urteilt, die ich hier in Japan gesehen habe, nun schon lange so etwas wie eine offizielle gesamtnationale Gottheit. Und wahrhaftig – er ist eine gewaltige, kosmische, unmenschliche Erscheinung, das in jedem Fall! Wir sind es, die so gar nicht mit unseren Stalins-Hitlers klarkommen. Na ja, irgendwie werden unsere Nachfahren mit ihnen klarkommen und obendrein auch noch mit uns, die wir nicht auf adäquate Weise mit unseren Stalins-Hitlers klargekommen sind. Zum Essen wurde wieder etwas Köstlich-Herrliches, Unirdisches und irrsinnig Einfaches angeboten, was ich der Grobheit und Rückständigkeit meiner Natur wegen nicht einmal in Ansätzen identifizieren und beschreiben kann. Das heißt, ich wiederhole, das schlägt nicht in mein Beschreibungsfach. Das einzige, was ich nicht umhin [ 52 ]

kann hervorzuheben, ist ein so spezifisch japanisches nahrhaftes Nahrungsphänomen wie Sushi. Und ich hebe durchaus nicht seine geschmacklichen Qualitäten und Besonderheiten hervor, die zweifellos vorhanden sind. Doch davon rede ich nicht. Ich bin kein Spezialist dafür. Mich zieht Sushi als Erscheinung an, genauer, als Erscheinungsbild oder -form des Quants der minimalen notwendigen und hinreichenden Einheit der Nahrungsaufnahme, die für die Analyse von Nahrungsaufnahmeprozessen weitaus exakter, eindeutiger und sinnvoller ist als das gesamteuropäische verschwommene „Stück“. Der Zeitpunkt der Erfindung von Sushi ist unbekannt. In die gesamtnationale und von dort aus in die internationale Küche ging es erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein, wobei es aus der Verpflegung ärmster Fischerfamilien stammt. Und wirklich, was ist es schon? Reis und roher Fisch. Wie originell, besonders in einem Land, das von allen Seiten von Meer umgeben und überall mit Reis bebaut ist! Doch die Zeit schätzte die rationale Ästhetik im Minimalismus dieser Speisestruktur und den Lakonismus der kulinarischen Geste und begriff sie als richtige Maßnahme auf dem Gebiet der nicht einfachen Stratifikation des Speisekosmos. Seltsam, aber wenn ich vor einer kleinen Schüssel Sushi sitze, kommt mir aus irgendwelchen Gründen fast immer das Bild von einschrumpfendem und bis zu seiner letzten Möglichkeit, Unveränderlichkeit und Unteilbarkeit zusammenschrumpfendem Chagrinleder in den Sinn. Eine seltsame Assoziation! Doch sie ist streng privat und lohnt nicht der Beachtung. Gerade in Japan, wo die Zubereitung von Speisen und die Vorbereitung aufs Speisen in den Rang einer Kunst erhoben wurden, klingen die Erklärungen zu meiner geschmacklichen Unzurechnungsfähigkeit besonders absurd, wenn nicht kränkend oder sogar ketzerisch. In unserem Hinterhof und auch später, zur Zeit meiner bescheidenen, aber reinen Entwicklung zum jungen Mann, war etwas wie das oben Aufgezählte leider, leider nicht zu erleben oder zu erproben. Womöglich war das der Grund dafür, daß sich unsere verdorbenen Seelen schon frühzeitig verhärteten, unfähig zur Wahr[ 53 ]

nehmung von Neuem, Delikatem und Raffiniertem. Leider habe ich zu einigen Kunstformen gar keine Neigung – zu Volkstanz etwa oder, sagen wir, zu Elfenbeinschnitzerei oder zu all diesen Hunde-, Pferde- oder Küchenschabenrennen. Leider, leider – unempfänglich seit meiner Kindheit und bis heute. Übrigens bekam ich in Osaka die Ausstellung eines Künstlers vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu sehen. Er war gleichermaßen erfolgreich in der Kunst der Graphik, der Keramik und der Kleinplastik wie auch in der Kunst des Kochens. In der Ausstellung waren natürlich Graphik, Keramik und Skulpturen vertreten, doch ebenso mit ihrer überbordenden Farbenpracht und Größe dies alles in den Schatten stellende, die Grenzen des alltäglichen Lebensmaßstabs überschreitende, ins Weltall fliegende und in unirdischen Abgründen verschwindende Farbfotos irgendwelcher himmlischen Köstlichkeiten. Und das waren nicht die heutzutage so üblichen populären fotografischen Abbildungen, die alle Ausstellungsräume dominieren. Indem sie mit ihrem vergrößernden fotografischen Duktus gewisse aus dem Kontext gerissene hypertrophe Beispiele von Körperlichkeit oder Gegenständlichkeit zeigen, treten sie heute überall als einzige visuelle Darstellungs- und Präsentationsweise auf und drängen die uns so vertrauten traditionellen, jahrhundertelang erörterten Verfahren des Zeichnens, Malens und Modellierens an den Rand und in den Hintergrund. Nein, hier wurden tatsächlich Repräsentationen von Gerichten gezeigt. Allem Anschein nach waren es Gerichte, die der Künstler selbst erfunden hatte, oder solche, mit deren Zubereitung und Variation er am populärsten und erfolgreichsten gewesen war. Was ich nicht einmal erwähne, ist die allseits bekannte und allen zum Hals heraushängende, doch selten von jemandem tatsächlich in vollem Umfang miterlebte Teezeremonie. Im Verlauf von fünf oder sogar gut acht Stunden gleiten mehrere Frauen, während sie das gelbe Teegetränk mit Pinseln und Stäbchen umrühren und das Gefäß mit speziellen antistatischen Seidentüchern abreiben, über die glatte Oberfläche des polierten Holzbodens dahin. Von Zeit zu Zeit behauchen sie den Tasseninhalt mit einem Spezialatem aus ihrem [ 54 ]

Mund, nachdem sie zuvor gewisse nur hier bekannte, leicht bittere Gewürzkräuter gekaut haben, die den spezifischen Geruch von Lagerfeuerrauch und das Aroma indischer Räucherkerzen auf einmal abgeben. Indem die Hauptvollziehende des Rituals, die Hausfrau, mit einem winzigen, raschen Libellenflirren der zarten Hand – dem Beben von Falterflügeln gleich – einen durchbrochenen Fächer bewegt, umhüllt sie die Tasse mit den kühlen Schwingungen eines flatternden Luftstroms, auf daß diese sich nicht allzu stark erwärme. Und sie verharrt und verbleibt tatsächlich in einem gleichmäßigen, konstanten Temperaturbereich. Oder sie wird unter den Kimonosaum gesteckt und vor den verlangenden Augen der Außenwelt verborgen, und dort wird dann etwas Geheimes, Heimliches, zutiefst Intimes mit ihr gemacht. Gefüllt mit diesem Flackernden, Geheimnisvollen und Unbekannten, wird sie nach einiger Zeit wieder den Blicken der Außenwelt dargeboten, ruhig, buddhaartig und in einem leisen, innerlichen himmelblauen Schein erglänzend. In einem lang andauernden Tanz mit der Tasse, die sich auf einem kleinen eleganten Kohlenbecken befindet, um nicht zu erkalten, sich aber gleichzeitig auch nicht zu sehr zu erwärmen, einen stetigen, unveränderlichen Rhythmus beibehaltend und sich nähernd und wieder entfernend, nähert sich die Frau dann schließlich doch der Hauptperson des Festes. Parallel dazu beginnen zwei oder drei ihrer Gefährtinnen, die mit dem ganzen von Fall zu Fall, von Provinz zu Provinz oder von Familie zu Familie unterschiedlichen notwendigen Zubehör um die Zeremonienchefin kreisen, sie aber nicht überholen, sich ebenfalls dem Gast zu nähern, um in dem Moment, wenn die Hausfrau ihm auf einem niedrigen polierten Tischchen den Tee serviert, genau im selben Augenblick rechts, links und hinter ihr zu stehen. Und richtig, alle zusammen befinden sich plötzlich genau auf dem von der Zeremonie und der höheren Fügung vorherbestimmten Fleck. Den ganzen oben beschriebenen langen und zuweilen quälenden Zeitraum hindurch muß der Gast und Betrachter dieser hochfeierlichen und außerordentlich respekteinflößenden Zeremonie regungslos dasitzen. Ohne auch nur mit einem Muskel seine Ungeduld oder sein Unbehagen zu verraten. Und genau so sitzt er [ 55 ]

auch da. Und all das, wir möchten daran erinnern, wegen eines einzigen armseligen Täßchens Tee, von dem die russischen Wasserschlucker, nicht ohne eigene Eleganz, mit abgespreiztem kleinen Finger und einem Pusten speziell für diesen Anlaß und dem lautstarken krachenden Abbeißen eines Stücks von einem weißen Raffinadezuckerklumpen in derselben Zeit bis zu hundert oder noch mehr aus bauchigen glänzenden Samowaren und ebenfalls riesigen, schön mit leuchtend roten Blumen bemalten Tassen herunterstürzen. Urteile selbst – wo ist mehr Kunst? Wo liegt mehr gesunder Menschenverstand? Dort, wo Kultur, höfisches Wesen und Erquickung überwiegen. Nun, bei all den oben angeführten Vorbehalten und mich selbst herabsetzenden Wertungen war ich doch einmal gezwungen, die Rolle des Experten und Spezialisten für das Degustations- und Restaurantwesen zu übernehmen. Doch die Situation war, sagen wir, exklusiv. An diesem Ort konnte einfach niemand außer mir jenen minimalen und in vielem mystifizierten Akt der Expertise durchführen. Es geschah während des Besuchs eines russischen Lokals namens „Katze“ in der Stadt Sapporo. Wegen dieses Namens hatte ich in gedanklichen Räumen schon allerlei spekulative Gebäude errichtet, etwa, daß die Katze wohl überall das einzige buddhaartige Tier ist, in unseren verschneiten Gefilden aber der einzige Vertreter potentieller Buddhaartigkeit überhaupt. Gleich darauf erreichte mich die aufklärende Auskunft des Besitzers, daß bloß der Sippenname seiner Frau Mijao laute. Weshalb ihm der Name sympathisch gewesen sei. Na gut. War er ihm eben sympathisch gewesen. Und wirklich, von allen Wänden und aus allen Ecken funkelten Katzenaugen. In der Luft hing das weiche Knarren ihrer reproduzierten Stimmen. Den Besitzer selbst schmückten ein dekorativer Schnurrbart und Koteletten à la Katze. Zahlreiche lebende Tiere liefen einem zwischen den Beinen herum, saßen auf den Bänken und machten den Gästen mit ihren gewaltigen, biegsamen, gemästeten Körpern unwillig Platz. Einige von ihnen hüpften auf die Tische und versuchten, das Mahl mit einem zu teilen. Der Besitzer schob [ 56 ]

zärtlich-spaßhaft ihre Köpfe von den Tellern fort und sagte etwas auf japanisch – es war unverständlich, aber offenbar unaufdringlich überzeugend. Die Katzen sprangen vom Tisch und liefen höchstwahrscheinlich in die attraktivere Küche. Der Besitzer konnte sich durchaus auf russisch verständigen, da er als Kind eines internierten Angehörigen der besiegten und gefangengenommenen Kwantung-Armee in Rußland geboren war. Seine Mutter war, welch glücklicher Zufall, ebenfalls Japanerin, wenn auch russischer Machart. In seine Heimat war er erst vor kurzem zurückgekehrt, nach der Perestroika, vor etwa sieben Jahren. Russen waren wegen ihrer außerordentlichen Seltenheit in diesen Breiten offenbar rare Gäste in seinem Lokal. Der Besitzer kramte gern sein Umgangsrussisch hervor und hatte es deshalb nicht eilig, wieder in der Küche zu verschwinden. Auf meine Frage, wie sein Vater die Schrecken der sibirischen Kälte und des Lagers ausgehalten habe, sagte er, wobei unerwartet ein Lächeln sein Gesicht erhellte: Oh, sehr gut! – Wie denn das? – Ganz einfach. – Und er erklärte es absolut einleuchtend und vernünftig. Es ging darum, daß ein korrekter und ehrenhafter japanischer Soldat nach der Gefangennahme hätte Harakiri begehen müssen. Insbesondere das Offizierskorps, zu dem auch der Vater des Erzählers gehörte, hätte etwas Derartiges tun müssen. Das ist auch nachvollziehbar – sie hatten es ja nicht vermocht, den geliebten Imperator vor Schande und Niederlage zu bewahren. Selbst wenn ihre Landsleute unter dem Einfluß der neuen Lebensweise und der neuen Normen des Zusammenlebens, die die amerikanischen Sieger eingeführt hatten, ihnen nicht gerade offen Vorhaltungen gemacht hätten wie: „Was bist du nicht mit deinem Panzer zusammen verbrannt, du Drecksack!“ – die überlebenden Besiegten hätten trotzdem ihr Leben lang unter dem psychosozialen Status eines Feiglings und Verräters zu leiden gehabt. Und so löste die sowjetische Gefangenschaft sozusagen das Problem. Das sind nicht meine Hirngespinste, sondern es stammt aus der Erzählung eines Japaners, des Sohnes eines Japaners, [ 57 ]

der gemeinsam mit allen anderen Japanern den Zweiten Weltkrieg verloren hat. Möglicherweise habe ich nicht alles richtig oder alles falsch verstanden. Doch offensichtlich existierte in Gesellschaft und Psyche der Japaner der damaligen Zeit etwas Derartiges. Jedenfalls war es für unseren Japaner relevant, für den Vater des Besitzers des Restaurants „Katze“ auf Hokkaido, der ohne jeden Widerwillen oder Unmut Jahrzehnte in sowjetischen Lagern und in der Verbannung verbracht hat. Das Essen in dem Restaurant ähnelte durchaus russischem, soweit es im Kontext einer fremden Ethnie und fremder Alltagsgewohnheiten reproduziert werden kann. Zum Beispiel wurden die Gerichte nicht separat und homogen in den üblichen Riesenportionen serviert – ein Riesenteller dampfender Borschtsch etwa oder ebenfalls ein Riesenteller mit ein- oder zweihundert rührenden, wie willenlose Kinderkörper herumrutschenden Pelmeni-Nüdelchen. Nein. Serviert wurde alles akkurat und elegant in japanischer Manier auf einem Lacktablett zur gleichen Zeit in großer Vielfalt und in kleinen Dosen: ein paar Pelmeni, ein paar Salzgürkchen mit Tomätchen, zwei, drei winzige Piroggen, ein paar gekochte Kartöffelchen mit einer Spur Dill, ein Täßchen Schtschi. Die Schtschi, russische Kohlsuppe, roch und dampfte gut. Ich versuchte, meinen Tischgenossen die Aussprache von Schtschi beizubringen. Die ganze Zeit kam nur etwas wie „Si-tschi-schi“ heraus. Doch das Essen schmeckte allen und wurde, von mir in seiner Authentizität bestätigt, mit jenem großen Vergnügen verschlungen, das zusätzlich das Gepräge landeskundlicher Studien trägt. An einem Großteil der Wand prunkten reihenweise unzählige Varianten russischen Wodkas. Ich ließ mir das hier ausgeschenkte Baltikum 3 schmecken. In der hintersten Ecke des Lokals entdeckte ich unter einer seltsamen Auswahl zerfledderter und vergilbter russisch-englisch-japanischer Bücher eine Nummer der Zeitschrift „Kommunist“ von 1989. Vermutlich war ich nicht nur im fernen Japan, sondern auf der ganzen Welt der einzige, der sie elf Jahre nach ihrem Erscheinen in die Hand nahm, aufschlug und sogar aufmerksam durchsah. Es war angenehm, sich als besondere, exklusive Persönlichkeit zu [ 58 ]

fühlen, die ins Guinness Buch der Rekorde gehört hätte. In der Zeitschrift interessierte mich vor allem die Diskussion zahlreicher Autoren darüber, ob die Kommunistische Partei eine Partei nicht nur der Arbeiterklasse, sondern des ganzen sowjetischen Volkes sein könnte, wie man zu Chruschtschows Zeiten feierlich und verschlagen propagiert hatte. Mir ist das noch erinnerlich. Das alles habe ich in meinen Institutshörsälen in den Kursen zu Parteigeschichte, wissenschaftlichem Kommunismus und Politökonomie durchgenommen, die sich übrigens kaum voneinander unterschieden. An all das konnte ich mich mitten in diesem unwissenden und sich seiner Unwissenheit nicht schämenden Japan lebhaft erinnern. Übrigens, Scham wegen des Nichtwissens all dieser Dinge, die raffiniert-spekulativ sind und dadurch diejenigen in ihren Bann ziehen, die Derartiges verstehen und danach verlangen, verspürt die heutige ziellos aufgewachsene Generation auch nicht. Eine Zeitlang verharrte ich so, lächelnd und in stillen, sanftmütigen Erinnerungen versunken. Dann kam ich zu mir und widmete mich wieder der Zeitschrift. Ein korrekt gesinnter Autor empörte sich über die Unflätigkeit eines derartigen Versuchs oder auch nur einer solchen Definition. Nach seiner richtigen Überzeugung besteht das Volk aus so vielen unterschiedlichen sozialen und klassenabhängigen Schichten und Zwischenschichten, daß deren Interessen innerhalb des Programms und der Aktivitäten einer Partei nicht zu vereinbaren sind. Er war für die Kommunistische Partei als kristallklare Partei der Arbeiterklasse. Die Existenz einer so seltsamen neuen sozialen Einheit wie der des Sowjetvolkes, die ebenfalls von Ideologen zu Chruschtschows Zeiten öffentlich deklariert und propagiert worden war, unterzog er ausdrücklichem Zweifel und sogar offener beißender Häme, obwohl er überzeugtes Parteimitglied war und folglich das Prinzip der Parteidisziplin und des demokratischen Zentralismus akzeptierte. Er war erfüllt von gerechtem Zweifel und daraus folgender Abwehr. Und ich stimmte ihm zu. Nur einmal stimmte ich nicht zu, als er mit ebensolcher Leichtigkeit aus der Offensichtlichkeit seiner ideologischen und klassenbezogenen Korrektheit auch die Einfachheit der [ 59 ]

Lösung aller anderen Probleme ableitete. Zum Beispiel der ökonomischen und sozialen. Der Autor und offenbar auch die Essensgerüche, die mich in jenem Restaurantmoment am noch nicht gedeckten Tisch umgaben, erinnerten mich lebhaft an eine Geschichte aus der Zeit meiner bildhauerischen, nein, ich sage nicht Jugend, ich sage selbstbewußt Reife. Solange die vielfältigen Getränke und Speisen noch nicht gebracht und serviert wurden, erzähle ich Ihnen rasch, wie ich mit meinem Freund und langjährigen Kampfgefährten beim Aufstellen diverser Tiere voller Schnörkel, Schnurrbärte, Löckchen und Verzierungen auf dem ganzen Territorium der ehemaligen Sowjetunion Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre (genau weiß ich das nicht mehr), Boris Konstantinowitsch Orlow, mit ebendieser Absicht in der allseits bekannten Stadt Bratsk eintraf. Die Stadt ist zwar allseits bekannt, zeichnet sich aber durch nichts aus, prägt sich sozusagen nicht ein. Dort gibt es nichts Erlesenes, Kurioses, historisch Einzigartiges oder Groteskes. Neue öde Bauten mit einer Menge Bewohner. Doch nicht daran hatten wir uns zu gewöhnen. Gewöhnen mußten wir uns an etwas anderes, im damaligen Lande der Sowjets allerdings auch nicht wunder was Einmaliges oder Unbekanntes. Nein. Es war eine absolut übliche Sache. Sie nahm nur in verschiedenen Regionen jedesmal ihre eigene unglaublich kuriose Kontur, Ausschmückung, Ornamentik und Erscheinungsform an. Direkt nach der Ankunft, nachdem wir unsere Sachen in dem Halb-Hotelhalb-Wohnheim der uns einladenden Organisation gelassen hatten, zogen wir los, um die Stadt, ihr Leben, ihre Funktionsweise und ihre Versorgungslage zu erkunden. Und das erste, allerdings auch einzige, was wir entdeckten, waren gigantische Riesentorten von gelber, rosa, lila und giftgrüner Anilinfarbe in ausnahmslos allen Schaufenstern und auf ausnahmslos allen Ladentheken. Und sonst nichts. Die himmlisch-gleißende oleographische Farbe und die Gestalt dieses Konstrukts, die an eine Mandel erinnerte, konnten gleichzeitig begeistern und in Schrecken versetzen. Natürlich regte sich auch nicht der kleinste Gedanke an einen möglichen Erwerb von etwas [ 60 ]

Derartigem mit dem Ziel des anschließenden Verzehrs, der womöglich der letzte gewesen wäre. Genausogut könnte man zum Essen oder gar einfach so die Manifestation eines Wunders oder einer offenkundigen Vision erwerben. Ich weiß nicht, ob sich die unbesonnene, für Wunder unempfindliche Hand eines komplett verhungerten Einheimischen nach diesem Entwurf eines unmenschlichen Verstandes ausstreckte. Ich habe es jedenfalls nicht gesehen. In meiner Gegenwart ist nichts Derartiges passiert. Indessen war keine der Verkaufstheken, und zwar seit langem und auf lange Sicht, mit etwas anderem bestückt, und sei es nur mit Brot. Die Einwohner der Stadt trieben wie immer irgend etwas auf. Doch wir, die wir an diesem Ort bislang noch keine Familien-, Freundschafts-, Beziehungs- oder Mafiawurzeln geschlagen hatten, waren gezwungen, uns unter Tränen an die Organisation zu wenden, die uns empfangen hatte, eines der größten Unternehmen der Stadt, eine Holzverarbeitungsfirma. Und wir wurden gnädigst für eine Mahlzeit täglich der Werkskantine zugeteilt. Nachdem die Werksangehörigen zu Mittag gegessen hatten, kamen wir an die Reihe. Wir traten schüchtern in den Speisesaal, um uns ein Schüsselchen von dem einzigen Gericht zu nehmen, das es während unseres zweimonatigen Aufenthalts dort gab – Hörnchennudeln mit Wurstresten. Zu unserer Essenszeit war von den Wurstresten keine Spur mehr zu sehen. Womöglich war auch zu Beginn nichts davon zu sehen. Wenn aber die Reste existierten, und sei’s auch nur in den Träumen der Menü-Autoren, dann mußte doch auch die Wurst irgendwo existieren! Doch wo? Wir widmeten uns damals dieser Frage nicht. Wenn wir rasch unser Schüsselchen, das eine uns zustehende Stück Brot und das Glas mit dem dünnen teeähnlichen Getränk ergriffen hatten, hasteten wir zu einem Tisch, da nach uns die Schlange der Arbeitsveteranen und Rentner antrat. Für sie blieb erst recht nur ein völlig diffuser Schleim übrig. Doch sie murrten nicht. Warum sollten sie auch? Als ob sich durch ihr Murren diese Himmelswurst aus der Luft für sie gebildet hätte! Nein, sie hätte es nicht. Und sie hat es auch nicht. Jedenfalls nicht während unseres Aufenthalts dort.

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Genau diesen einzigen, aber ernsthaften Einwand hatte ich gegen den in jeder anderen Hinsicht völlig durchargumentierten Artikel in der Zeitschrift „Kommunist“. Natürlich erhob sich die Frage: Welche Arbeiterklasse, und wo ist sie? Doch natürlich stellte sich die Frage nicht für mich. Für mich hatten sich derartige Fragen auch nicht in den fernen Zeiten der Publikation dieses Artikels gestellt. Für mich hatten sich andere Fragen gestellt, die weder im Moment ihrer Entstehung noch späterhin in der Zeitschrift „Kommunist“ hätten veröffentlicht werden können. Aber ich beklage mich nicht. Ich leide nicht an einem Mangel an Möglichkeiten, meine Fragen und Ansprüche der Gesellschaft, meinen Freunden, meinen Neidern und mir selbst zu präsentieren. Gleichwohl kamen Fragen und Zweifel dieser Art in vielen gescheiten Köpfen und besorgten Seelen jener Zeit auf. Man widersprach dem Autor hitzig oder behutsam, daß die Wiedergeburt des Klassengegensatzes mit der Wiedergeburt erst jüngster, und Sie wissen schon, welcher, Zeiten schwanger gehe. Daß die entwickelten Gesellschaften ohnehin schon lange nicht mehr in die üblichen marxistischen Klassen, sondern in ganz andere Schichten unterteilt seien. Daß die Parteien auf der ganzen Welt sich wahrlich nicht durch ihre Sozialprogramme unterschieden, die seelenruhig die aktuellsten und attraktivsten Ideen und Parolen voneinander ausliehen, sondern, wie kann man das ausdrücken, durch ein gewisses ererbtes Aroma, einen Reiz der Tradition. Ich hatte mich so hinreißen lassen, daß ich geradezu unanständig meine gesellige Runde vergessen hatte und durch die Frage eines meiner Begleiter wieder in den Zustand sozialer Zurechnungsfähigkeit versetzt werden mußte: Wird in Rußland Bier getrunken? – Wie Sie sehen –, antwortete ich, während ich ihm das ansprechende Glas mit dem vertrauten Baltikum herzeigte und auf ex leerte. Was ist das? Was ist das? – Wohl das zur Zeit beste russische Bier. Jedenfalls halte ich es dafür –, war meine entschiedene Antwort. Wie heißt es? – [ 62 ]

Baltikum. Baltikum 3. Es gibt viele Baltikum. Aber das soll keine Reklame sein –, fügte ich scherzhaft hinzu. Ja, das soll keine Reklame sein, sage ich gar nicht mehr scherzhaft hier, an dieser Stelle des Textes und zu einer Zeit, die sich stark von der Zeit der BaltikumTrinkerei und des sie begleitenden Gesprächs mit der Erwähnung des Biernamens Baltikum unterscheidet. Der Fragende lächelte verständnisvoll und kippte liebevoll sein kleines Stumpenglas süßen russischen Wodka. Ich lächelte zurück. Es war warm und klar. Das Wetter war hinreißend. Wir saßen auf dem offenen Platz vor dem Restaurant unter riesigen, ausladenden, dunklen, rauschenden Bäumen an einem prächtig gedeckten Tisch. Tranken und sangen russisch-sowjetische Lieder, die alle hier recht gut kennen und von denen einige sogar japanische Textvarianten haben. Erstaunlich, daß diese schlichte Naturbeschreibung in den unverbindlichen letzten drei Sätzen es so leicht ermöglicht, von neuem zu meinem netten Gastgeber in dem zen-buddhistischen Kloster zurückzukehren, da sie eine absolut identische Situation beschreibt. Es war warm und klar. Das Wetter war hinreißend. Wir tranken und sangen russisch-sowjetische Lieder, die man hier recht gut kennt und von denen viele sogar japanische Textvarianten haben. Besonders inbrünstig sang der Verwaltungschef des Ortes, der erstaunlich flink und flüssig Russisch sprach und den ein für Japaner, die ja normalerweise ziemliche Probleme mit dem Haarwuchs im Gesicht haben, außergewöhnlicher riesiger Kosakenschnurrbart zierte. Ich muß sagen, daß außerhalb solcher privat initiierten Veranstaltungen (es gab auch Barbecues im Park der Universität Hokkaido zum Abschluß einer Konferenz, zum Ende meiner Ausstellung und so weiter) in der Natur nicht gerade viel gesungen und getrunken wird. Im Gegensatz zu Europa und sogar Rußland, wo Parks und Grünanlagen mit Vergnügungsstätten aller Art gefüllt sind, hält man die Parks, Grünflächen und Gärten in Japan diesbezüglich jungfräulich rein, ungeachtet der besonderen Vorliebe der Japaner für das Essen und für Restaurants, die es in irrsinniger Menge in allen [ 63 ]

Straßen und Gassen jeglicher Städte und Städtchen gibt. Offenbar bevorzugen sie aber die ontologische Reinheit der einzelnen Beschäftigungsarten: Ergötzt du dich an der Natur, dann ergötz dich an der Natur, ißt du, dann iß und laß es dir schmecken. Und vermisch diese so unterschiedlichen und an Unterschiedliches appellierenden Beschäftigungen nicht. Obwohl nein, ganz so ist es nicht. Gerade Picknicks und Imbisse in der Natur veranstaltet man sogar sehr oft. Für diese Gelegenheit besitzt man, das heißt, besitzen fast alle portable, leichte, trag- und zusammenklappbare Kohlenbecken von der Größe eines kleineren Diplomatenkoffers. Aus leichten Täschchen werden sogleich kleine Tüten mit heiß und lange glühenden Kohlen sowie beizeiten vorbereitete Packungen mit fein geschnittenem Hühner- und sonstigem Fleisch hervorgeholt. Manchmal auch mit Fisch. Natürlich auch eine unübersehbare Menge ebenfalls beizeiten in Scheiben geschnittener Zwiebeln, Tomaten, Kartoffeln und anderer Gemüsesorten – im Grunde alles, was für diese Prozedur nötig ist. Leb also und freu dich deiner portablen Größe und deines großen Appetits. Und störe niemanden. Laß andere sich auf genau dieselbe kompakte Art ihres in dem Moment gelungenen Lebens freuen. Und es stört auch tatsächlich niemand den anderen. Und man gibt allen voll und ganz die Möglichkeit, sich ihres eigenen Glücks zu freuen. Auf mich jedoch, den auch die kleinste Belastung des Daseins durch Gegenstände deprimiert, der stundenlang bloß in Shorts und T-Shirt mit einem zweifach gefalteten Blatt Papier und einem Stift für solche nichtssagenden Notizen wie diese hier herumtigert, wirkte selbst das wie eine Maßlosigkeit und eine Entwürdigung der kostenlos gewährten Leichtigkeit des Seins. Sie aber machen es sich gern und sehr routiniert wo auch immer gemütlich, bisweilen selbst an ungewöhnlichen Orten wie, sagen wir, auf der Fahrbahn einer Straße. Na ja, das ist natürlich ein wenig übertrieben. Aber eines Tages habe ich tatsächlich so etwas gesehen, allerdings mitten auf einer vollkommen ruhigen Nebenstraße und dazu noch zur stillsten, bleiernsten Sonntagsvorabendzeit. Nachdem sie direkt auf dem Asphalt adrett einen niedrigen Tisch aufgeschla[ 64 ]

gen und das bereits erwähnte und oben beschriebene fürs Grillen notwendige Inventar zum Gebrauch vorbereitet hatten, taten sich die jungen und älteren Männer und Frauen, etwa zehn bis vierzehn an der Zahl, in Erwartung des auf den Kohlen vor sich hinbratenden Fleischs an Vorspeisen gütlich. Sie waren entspannt. Während die Männer sich um die Bratprozedur kümmerten, redeten und lachten die Frauen kaum hörbar über irgend etwas. Als sie mich bemerkten, lächelten sie mir zu, baten mich aber nicht zu Tisch, obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte. Dann wuchs etwas hinter meinem Rücken, jagte mir die ganze Zeit nach, überholte mich, eilte mir voraus, stieg mir heimtückisch-verführerisch in die Nase und krallte sich dort sogar raubtierartig fest: der Geruch sehr anständig zubereiteten gerösteten Fleischs. Aber ich hielt stand und drehte mich nicht um. Doch, es werden Picknicks in der Natur veranstaltet. Aber Gaststätten habe ich sogar in vielbesuchten Parks außer zu besonderen Anlässen wie Festivals und Volksfesten nicht bemerkt. Alles ist rein und monoton – das Bummeln durch Park- und Stadtwaldalleen verläuft für sich, und das Bummeln in Restaurants verläuft auch für sich. Überhaupt sind die Leute hier ziemlich konsequent, genau und gewissenhaft bei der Befolgung ihnen und allen auferlegter Alltagsrituale. Zum Beispiel bin ich wirklich ein As, wenn’s darum geht, in den Straßen der Hauptstädte diverser Länder dieser Erde Münzen von sehr unterschiedlichem Wert zu finden – in London zum Beispiel habe ich es geschafft, ein Pfund auf dem Boden zu entdekken, in Deutschland klaubte ich sogar große Münzen wie Fünfmarkstücke auf. Sicher, dein Glück und dein Kapital baust du dir auf einer solchen Basis nicht auf! Sicher! Aber nett ist es trotzdem. Seltsame Gedanken huschen dir durch den Kopf, unwahrscheinliche Hoffnungen regen sich in deiner Seele – plötzlich findest du auch noch ein dickes Portemonnaie, prall gefüllt mit lauter Hundertern! Warum auch nicht, fragt man sich? Gibt’s das etwa nicht? O doch! Um so mehr, als es heute unmodern ist, arm zu sein. Da zeigt sich [ 65 ]

in reduzierter Form das wahre alte Prinzip, ein armer Bürger sei ein unzuverlässiger Bürger. Oder plötzlich hört jemand, wie du zufällig irgendwo deine Gedichte liest, ist hin und weg von ihrer unglaublichen Kraft und Schönheit und bietet dir sofort einen sagenhaften Vertrag an. Oder publiziert einen Prachtband mit deinen Sachen. Und lädt dich auf einen VIP-Empfang ein, und alle applaudieren bei deinem Erscheinen. Und dein Erfolg ist gesichert. Denn erfolglos oder unbekannt zu sein ist heute auch nicht populär. Es war immer unschön, aber heute ist es einfach unanständig. Ja. So ist das. Die Japaner jedoch mit ihrer boshaften Akkuratesse und Umsicht haben mir nicht einmal in minimalem Umfang dieses Vergnügen eines unentgeltlichen, ja fast himmlischen Erwerbs bereitet – nicht den mickerigsten kleinen Yen habe ich vom kargen japanischen Boden aufgelesen. Was soll’s, ich habe ihnen verziehen. Und sie nehmen kein Schmiergeld an. Nicht eine Kopeke. Nicht im Restaurant, nicht im Taxi und an keinem anderen öffentlichen Ort. Man wird dir einige Häuserblocks nachrennen, um dir dein zufällig liegengebliebenes und absolut unnötiges, nirgendwo mehr verwendbares sinnloses Kleingeld zurückzugeben. Prinzipiell hinterlassen Japaner keinen Müll, aber eigentlich tun sie es doch. Wie auf der ganzen Welt, wo die Kultur und Industrie aller möglichen Plastikpackungen und Gießgefäße entwickelt und sogar überentwickelt ist, liegt so etwas haufenweise an den Flußufern herum. Doch die Straßen der Städte sind trotzdem unvergleichlich sauberer als die von New York, London, Berlin oder Moskau. Erstaunlich ist auch die Geduld der Japaner in Warteschlangen. Eine Art Gefühllosigkeit, würde ich sogar sagen. Das Leben hier ist äußerst angefüllt, ja gesättigt mit Menschen und Bevölkerung, aber es ist organisiert. Die Warteschlangen erzeugen sich selbst, als wären sie naturgegebene und mit nichts in Widerspruch tretende biologische, aber glücklicherweise nicht katastrophische Erscheinungen. Alle warten ruhig auf alles. In der U-Bahn stürmt man nicht die Waggons, sondern stellt sich an der mit einer weißen Linie auf dem [ 66 ]

Bahnsteigsasphalt markierten Stelle des zu erwartenden Stops von Waggon und Tür ordentlich hintereinander auf. Aber am auffälligsten ist, daß man jemanden, der sich in die Schlange schmuggelt, nicht zurechtweist oder anschreit: Bürger, wo wollen Sie hin? – Sie da, gilt das Gesetz für Sie etwa nicht? – Sie haben hier aber nicht gestanden. – Ich helf dir gleich, dich in die Schlange zu drängen! – Jedem nur ein Kilo auf die Hand! – Rückt doch auf, rückt doch auf, sonst drängen sich die Leute in die Schlange rein! – Nein. Vielleicht gibt es hier insgesamt mehr Kilos, also genug für alle. Vielleicht gibt es auch mehr Zeit, die für alle reicht. Aber die Leute scheinen den Regelverletzer, der sich rücksichtslos in die Schlange drängt, nicht einmal zu bemerken. Sie stehen ruhig da, unterhalten sich miteinander und lächeln einander an, während sie auf ihre Stunde warten. Wenn sich vorne noch einer reinschiebt, lassen sie den auch noch rein. Auch den dritten lassen sie rein. Den vierten. Und den fünften, sechsten, siebten, zehnten. Na ja, ob sie den fünfundzwanzigsten auch reinlassen, weiß ich nicht – wahrscheinlich tun sie’s. Im Endeffekt tritt natürlich mal eine Pause zwischen den Reindrängern ein, und jemand, der seine Zeit abgewartet hat, verbeugt sich ruhig vor seinen Gesprächspartnern in der Schlange und verschwindet im Amtszimmer, im Sprechzimmer, am Schalter usw. Das ist doch nichts anderes als emotionale Abstumpfung. In Deutschland zum Beispiel kann so etwas nicht passieren. Dort herrscht Ordnung*. Und die ist heilig! Für sie, um ihretwillen, in ihrem Namen und mit ihrem Namen auf den Lippen werden, ohne zu zögern, Menschen niedergetrampelt. Ich weiß noch, wie ich in Köln einmal während eines der Volksfeste, die sie dort seit dem Mittelalter regelmäßig-jährlich veranstalten, eilig zu einem Termin unterwegs war. Die Leute hatten sich schon beizeiten, frühmorgens, in riesigen Familien zu beiden Seiten der geplanten Umzugsroute * Im Original deutsch.

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aufgestellt. Sie füllten alle Bürgersteige. Als ich eilig versuchte, sie dicht am Bürgersteig auf der Fahrbahn zu umgehen, machten sie Anstalten, mich wild und unbarmherzig in die Mitte eben dieser Fahrbahn zu stoßen, direkt unter die Räder der sich nähernden Prozession, weil sie befürchteten, ich könnte ihnen dabei zuvorkommen, die in die Menge geschleuderten kostenlosen Billigbonbons aufzusammeln. Sie standen seit dem frühen Morgen da. Das war ihr Platz. Er war dem Gesetz nach ihr Eigentum. Diese Bonbons waren von vornherein und eindeutig ihr Eigentum und für sie bestimmt. Und wenn du dich nicht ans Gesetz hältst, dann krepier ruhig. Nein, in Japan ist alles menschlicher, wenn auch auf seine eigene seltsame, gefühllos-gleichgültige Art von Menschlichkeit. Eine ähnlich geduldige Einstellung hat man hier, Pardon, auch den Raben gegenüber. In Japan gibt es nämlich Raben, keine Krähen wie bei uns. Diese Raben, muß ich sagen, sind widerlich und dreist und schreien mit erstaunlich lauter, johlender, ekelhafter hysterischer Stimme. In ihrer Dreistigkeit stoßen sie direkt auf den Kopf von Menschen herab. Fälle, bei denen menschliche Wesen totgehackt wurden wie bei Hitchcock, waren meines Wissens aber nicht zu beobachten. Jedenfalls nicht während meines Aufenthalts hier. Doch eine sensible, nervöse Moskauer Professorin, die hier mit den Japanern linguistische Erfahrungen austauschte, wurde durch massenhaftes, hinterrücks praktiziertes Herabstoßen auf ihren Hinterkopf geradezu terrorisiert. Sie behauptete, es habe sogar direkte, unzweideutige Versuche gegeben, ihr die Schädeldecke aufzuhakken. Zum Glück kam es nicht dazu. Von Nervenkrisen geschüttelt, behauptete sie außerdem, daß „bei denen“ eine spezielle, hinterlistig angezettelte, von oben sanktionierte und jesuitisch gesteuerte Verschwörung gegen sie im Gange sei. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, von welcher unerforschlichen Höhe aus die Sanktion erfolgt sei. Sie verfiel in einen hysterischen Zustand und saß nur noch zu Hause, zusammengekauert auf dem Sofa in der Ecke, die Füße hochgezogen. Es kam ihr die ganze Zeit so vor, als würden die Raben zum Fenster hereinschauen und, in großen Scharen versammelt, darauf warten, daß sie auf die Straße träte. Beunruhigt von [ 68 ]

ihrer langen Abwesenheit fanden japanische Kollegen, die sie besuchen kamen, sie in völlig unzurechnungsfähigem Zustand vor, ungekämmt, mit riesigen Schatten unter den Augen und ununterbrochen wiederholend: Sie warten auf mich! – Wer? – Sie! – Wer sie? – Die Vögel! Die Vögel! Eure Vögel! Die wollen mich umbringen! – Warum? – Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! – Doch das waren wahrscheinlich bloß ihre irrationalen Panikvorstellungen. Wer wollte sie töten? Vögel? Das war ja lachhaft! Obwohl: Warum eigentlich? Solche Vorfälle sind bekannt. Sie sind sowohl in historischen Dokumenten als auch in künstlerischen Werken festgehalten. Und wenn es im vorliegenden Fall auch keine vorsätzliche mysteriöse Verschwörung gab, so war das Ganze doch unangenehm. Die mitfühlenden Kollegen wandten sich an irgendwelche Organisationen zum Schutz der Menschen vor den Tieren. Die kamen, schüttelten den Kopf, fühlten mit und grämten sich. Dann gingen sie wieder. Ich weiß nicht, ob sie versucht haben, etwas zu unternehmen. Wie auch immer, das waren nicht unsere Vögel, die noch wissen, was Anstand ist und wo sie hingehören. Nein, das waren die, von denen das Lied feindselig-respektvoll sagt: Schwarzer Rabe, ziehst du Kreise Über meinem Angesicht? Heute bleibst du ohne Beute, Schwarzer Rabe, ich bin’s nicht. Ja, ja, indem ich wütend gerade diese Zeilen intonierte, stürzte ich mich auf einen von ihnen, der die Dreistigkeit besessen hatte, von hinten auf mich herabzustoßen, als ich, in Trance mein aktuelles lyrisches Opus schaffend, friedlich durch den Park schlenderte. Das [ 69 ]

schreckliche Rauschen von Federn über meinem kahlrasierten Kopf und das jenseitige Gefühl der Berührung von Todesschwingen riefen mich in die Wirklichkeit zurück. Ich fuhr vor Überraschung zusammen, und das schwarze Ungeheuer schwang sich in die Höhe. Hiesige Spezialisten, zu derartigen Dingen befragt, antworteten im Fernsehen, daß man solche Akte der Aggression einfach nicht beachten solle. Wenn man sehr beunruhigt sei, solle man einen breitkrempigen Hut tragen. Im Extremfall könne man auch einen Schirm benutzen. So eine Antwort war das. Aber ich bin nicht so einer, ebensowenig wie zahlreiche meiner hitzigen Stammesgenossen aus Rußland. Ich verfolgte den Frechling von Baum zu Baum über das Territorium des gesamten Parks. Der Missetäter suchte sich die höchsten und verborgensten Äste aus, aber vor mir blieben sie nicht verborgen. Ich war unaufhaltsam und unerbittlich in meiner Raserei, der Raserei der Pandavas, als sie den Kauravas nachsetzten. Oder wie sie auch hießen. Oder umgekehrt. Meine Raserei war unerschöpflich und alles vernichtend. Ich wählte möglichst runde Steine, da die flachen sich während des Flugs um ihre Längsachse drehten und seitwärts abdrifteten. Ich suchte mir wie David die Geschosse für meine todbringenden Würfe genau aus. Mein Widersacher war schon allen Ernstes beunruhigt, ja sogar leicht hysterisch. Seine Kameraden, offenbar mein Recht, meine Kraft und meine Unbesiegbarkeit ahnend und sogar ein wenig für sich und ihre beunruhigte versteckte Brut fürchtend, verhielten sich strikt neutral. Ich rächte mich ja nicht nur für mich, sondern auch für jene unschuldige, fast in Erstarrung und Leblosigkeit getriebene, von wildgewordenen japanischen Vögeln schuldlos zugrunde gerichtete Professorin, meine nette Landsmännin. Ich rächte mich für alle meine Leute. Für Sanka, der sich in der zehnten Klasse unter die Räder eines heranrasenden Zuges geworfen hatte, und zwar wegen der ersten Fünf in seiner Schullaufbahn, die ihm ein bösartiger und rachsüchtiger einäugiger Mathematiklehrer mit dem Spitznamen Bolzen verpaßt hatte, das Ebenbild eines brutalen Mörders. Für Tolik, der im Alter von zehn, zwölf Jahren in einer Röhre erstickt war. Wir alle waren in die gerade erst auf unser angestammtes [ 70 ]

Territorium gebrachte riesige Kanalisationsröhre gekrochen, die für die geplante, immer wieder aufgeschobene und dann doch nicht zustande gekommene Reparatur der geborstenen Kanalisation bestimmt gewesen war. Tolik kroch als erster rein. Wir hinterher. Wir kamen irgendwie wieder raus, und er blieb stecken. Als die von uns alarmierten Erwachsenen und Schlosser herbeigerannt waren, konnten sie ihn nur noch blau und leblos rausziehen. Das überraschte unsere ganze Hofgemeinschaft auf das unangenehmste. Ich rächte mich auch für den Rotkopf – obwohl er fremd war, das heißt von einem fremden Hof –, den unser Kröte erstochen hat. Und ebenso für unser ganzes geschmähtes und in den Ruin und in die Klemme gebrachtes, großes und leidgeprüftes, seine Wiedergeburt ersehnendes und heute doch so weit davon entferntes Land. Wozu spreizt du deine Krallen Über meinem Angesicht? Wartest du auf deine Beute? Schwarzer Rabe, ich bin’s nicht! – Rief ich aus, indem ich Chaos und Zerstörung über dieses Schlangennest brachte. Nach zwei bis drei Stunden Verfolgung war mein Gegner moralisch und physisch zur Gänze bezwungen, da er in einen erstarrten, todesähnlichen Zustand vollständiger Inexistenz verfallen war. Als ich stehengeblieben und nach dem ungestümen Laufen und Wüten wieder etwas zu Atem gekommen war, sah ich meinen entehrten Feind durchdringend an und beschloß, mich mit dem Ergebnis zufriedenzugeben. Ich betrachtete triumphierend die Umgebung und warnte dabei mit meiner ganzen Haltung jeden, der versucht hätte, diese riskante aggressive Geste zu wiederholen, daß er die Verantwortung für die Folgen zu tragen hätte. Und sie verstanden. Wir alle verstanden alles. Ich war befriedigt. So eine Antwort gab ich dem Schuft und ihnen allen. Unsere Antwort. Und sie war verstanden worden. Voll und ganz. Was geschwankt, was vorübergehend die klaren Konturen getrübt hatte, stand wieder auf seiner üblichen stabilen Alltagsbasis. Und es kam nicht wieder vor. [ 71 ]

Ich erwähne nur nebenbei, daß Vögel ungemein gelehrig sind. Nicht weniger als Menschen. Wie zum Beispiel in dem brandneuen, erst kürzlich fertiggestellten Bahnhof von Kyoto mit seinen vielen Ebenen, wo man eine breit beworbene und mehrfach feierlich und mit selbstverständlichem Stolz vorgeführte Hochspannungsanlage zum Töten von Tauben angebracht hat, damit die nicht in die überdachten Räume flögen und die Köpfe der Besucher beschmutzten. Man zeigte zarte Taubenkörper her, die augenblicklich, aber anständig geröstet worden waren. Na und? Die Vögel paßten sich an. Sie kamen nicht mehr geflogen, so daß für die dortigen Bürgerrechtsaktivisten für Tiere sogar der Beschwerdegrund entfiel. Und die Vögel schienen sich auch nicht zu beschweren. Jedenfalls wurde in keinem einzigen Massenmedium über etwas Derartiges berichtet. Oder ich zum Beispiel, ich habe in meinem hohen Alter, in Japan und in demselben Park, wo sich das Feld meiner gerechten Rabenschlacht erstreckte, gelernt, freihändig Fahrrad zu fahren. Bis dahin konnte ich alles – fahren, bremsen, abbiegen, absteigen, aufs Fahrrad steigen, im Weg stehenden Frauen, Kindern und Tieren ausweichen, mit der einen oder mit der anderen Hand alleine fahren und sogar ohne sichtbaren Körperschaden hinfallen. Aber freihändig fahren zu lernen hatte sich nicht ergeben. Nun, hoch in den Jahren, habe ich es gelernt. Wenn es sein muß, lernst du alles. Schaust zu, wie es die anderen machen, guckst genau hin, und es klappt. Und in Japan habe ich viel herumgeguckt und zugeguckt. Und viel gelernt, was mir neu war. Ich sage Ihnen, das Land kann zweifellos gut absorbieren oder infizieren. Mehr als andere Länder. Na ja, mehr vielleicht nicht, aber durch den Kontrast bemerkt man es eher. Wenn du drauf achtest, bemerkst du es an dir und anderen. In den europäischen Ländern sind die sozialen Verhaltensweisen im Grunde ziemlich identisch, mit größerem oder geringerem Augenmerk auf privacy. Aber hier ertappst du dich nach einiger Zeit dabei, daß du dich bei Begrüßungen oder Verabschiedungen irrsinnig lange fast bis zum Boden verbeugst und sanft lächelst. Ertappst dich dabei, lächelst innerlich, [ 72 ]

machst aber weiter, weil du dem Trägheitsgesetz der dich umgebenden unaufhörlichen Verneigerei gehorchst. Einem Amerikaner, der schon ziemlich lange hier lebte und Japanisch konnte, wie gut, kann ich nicht beurteilen, versuchte ich aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht mehr, aus welchem, das russische Wort „tolmatsch“, Übersetzer, beizubringen. Es kam immer nur „tormatsch“ heraus. Schon kurz nachdem man in Japan angekommen ist, wirken die vereinzelten europäischen Gesichter in den Straßen irgendwie falsch, ungenau, grob im Vergleich zu der extremen Reinheit und Klarheit japanischer Gesichter. Übrigens sind Europäer hier so selten, daß sie sich bei der Begegnung auf der Straße grüßen wie Verwandte oder Stammesbrüder in fremdstämmiger Umgebung. Die meisten von ihnen sind übrigens Spieler der vielen verschiedenen lokalen Fußballmannschaften, wo sich Weiße und Schwarze aus Lateinamerika, Australien, dem ehem. Jugoslawien, Rumänien und noch ein paar Fußballnationen aller möglichen Kontinente tummeln. Sie spielen nicht schlecht. Und auch die Japaner haben sich in dieser Hinsicht ordentlich herausgemacht. Zum Beispiel haben sie dieser Tage die Mannschaft der Vereinigten Arabischen Emirate mit 5:1 vom Platz gefegt. Unsere würden das zur Zeit nicht schaffen. Als das Land seinerzeit für Fremde geöffnet wurde, hat man ihnen in fünf Häfen das Wohnrecht eingeräumt. Na ja, Häfen – das ist ein relativer Begriff. Zu der Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, waren das erbärmliche, elende Fischernester, ziemlich weit weg von den Städten. Die Ausländer wurden dort angesiedelt, auf daß sie die ehrbare Bevölkerung nicht verdürben oder erschreckten. Und die Bevölkerung war damals in dieser Hinsicht wirklich schreckhaft. Tja, teilweise ist sie das bis heute. Und bis heute, heißt es, kann die Anzahl der Europäer nur in diesen Hafenstädten, in Nagasaki, Yokahama und Kobe, mit der Anzahl der Asiaten in modernen europäischen und amerikanischen Städten verglichen werden. In der letzten, Kobe, hat sich, nebenbei gesagt, auch der größte japanische Yakuza-Mafioso niedergelassen. Ich weiß nicht, was ihn hergelockt hat – vielleicht der Traum vom Wilden Westen, vielleicht Kobes Ähnlichkeit mit dem Chikago der zwanziger Jahre, verkörpert von [ 73 ]

den in der Stadt so zahlreichen bleichen amerikanischen Mehlgesichtern. Ich bin in den erwähnten Europäerreservaten nicht gewesen. Die langen und massigen Amerikaner nehmen sich jedoch in den kleinen japanischen Räumen und Verkehrsmitteln anderer Ortschaften, die ich besucht habe, bis heute äußerst ungeschlacht, wenn nicht sogar ulkig-häßlich aus. Sorry, die Herren Amerikaner, das war nicht meine Absicht. Die Natur selbst stellt euch so bloß. Freilich nur innerhalb der Grenzen Japans, wie wir anmerken möchten. In Amerika sind die Amerikaner ganz in Ordnung, da müssen sie quasi so sein. Ich habe sie auch dort mehrfach beobachtet. Dort fällt einem an ihrem Aussehen nichts Ungewöhnliches auf. Dort ist so etwas keine Schande. Jedenfalls geht es. Es ist erlaubt. Und nicht verboten. Also bleibt, wie ihr seid! Nach ganz kurzer Zeit guckst du hier auch seelenruhig fern, in der absoluten Überzeugung, daß du die unabdingbare kritische Masse an Informationen verstehst. Und tatsächlich, du kriegst sie mit, um so mehr, als das Prinzip von Fernsehsendungen überall dasselbe ist. Die Details – wer ermordet wurde, von wem, weshalb, ob überhaupt, ob man ihn verfehlt hat, ob man ihn reingelegt hat – sind im Grunde alle nicht wichtig. Wichtig ist, daß ein Ereignis stattgefunden hat. Daß etwas passiert ist. Bei Treffen und Gesprächen mit Japanern nickst du bestätigend, bis du dich besinnst und zur größten Verwunderung und Betrübnis des Sprechenden schuldbewußt lächelst und die Arme ausbreitest: Tut mir leid, Alter, ich würd ja gern, aber ich versteh dich nicht! – ????? – Ich verstehe kein Japanisch. Hab bloß so getan. – ??????????? – Und ihm kommt das alles plötzlich so komisch vor, daß du erst zuhörst und zuhörst und plötzlich ein Gesicht ziehst. Aber er läßt sich nichts anmerken, wartet nur ab und lächelt vorsichtig. Weil du ja im Grunde alles verstehst, weil es unmöglich ist, einfaches, vernünftiges und aufrichtiges menschliches Sprechen nicht zu verstehen. Und wenn du doch nichts verstehst, was soll man da machen? Leb, wenn du kannst. So steht ihr einander gegenüber. [ 74 ]

Dann treten endgültig wechselseitige Klarheit und Verständlichkeit ein. Das Leben ist ja prinzipiell voller verschiedenartiger und prinzipieller ein- und wechselseitiger Mißverständnisse. Ein Mann in Berlin zum Beispiel, mit so gutem Deutsch ausgerüstet, daß er alle Feinheiten von Aussprache und Inhalt verstand, jedoch in finanziellen Schwierigkeiten steckend, was ihn ungeheuer bedrückte und beständig quälte, hörte spät in der Nacht, als er eine Straße überquerte, direkt hinter seinem Rücken: Mir würden hundert Mark völlig reichen. – Aus irgendeinem Grund hatte eine junge Frauenstimme beschlossen, mitten in der Nacht ihre Sorgen mit ihm zu teilen. Hundert Mark würden mir auch völlig reichen –, seufzte unser Mann und stellte sie sich in Gedanken vor. Und erst nachdem er fünfzig Meter weitergegangen war, begriff er plötzlich, daß er mit einer Prostituierten gesprochen hatte und seine Antwort entweder bloß unpassend oder sogar zweideutig gewesen war. Also, du merkst allmählich, daß die Verbindung zu deinem früheren Leben einschläft. Du fragst schon nicht mehr nach: Was tut sich da eigentlich? Ist vielleicht was passiert? Ein Militärputsch vielleicht? – Ein Putsch? Was für ein Putsch? – Keine Ahnung, vielleicht gab’s ja einen! – Tja, und was tut sich da noch? Hier werden im Fernsehen mehr Asiaten gezeigt – Koreaner, Chinesen, Indonesier. Bei denen passiert auch etwas Wichtiges, nicht weniger wichtig als das bei euch, vielmehr bei uns. Der Osten ist hier Amerika. Von dort kommt eine reichliche Menge Nachrichten in reichlicher Auswahl. Manchmal huscht ein von früher schmerzlich vertrautes Bild aus dem russischen Leben vorbei. Und ist wieder verschwunden. Und du hast nicht verstanden, was dazu gesagt wurde – ob alles furchtbar wird oder ob alles gut wird. Oder ob alles schon gut ist und noch besser wird. Wie kriegst du das raus? [ 75 ]

Da fällt mir ein, wie vor kurzem an einem winzigen Bahnhöfchen in Sibirien ein unrasiertes Männlein auf uns zutrat. Aus Moskau? – So ungefähr. – Hm. Und wie ist es da so? – Alles soweit in Ordnung. – Und wie geht’s dem einen da, dem Kahlkopf? Brüllt immer noch rum und läßt euch Mais anbauen, was? – Mein Gott, er meinte Chruschtschow! Der wurde doch schon vor sechsunddreißig Jahren gestürzt. Und ist schon wer weiß wie lange tot! Dem wurde schon ein Denkmal errichtet! Dessen Bronze ist schon stumpf geworden, der Granit ist schon vom jahrelangen Wind und Regen glattgespült! Andere sind schon gestorben. Und nach ihnen wieder andere. Doch hier, bitte sehr, ist Nikita Sergejewitsch quicklebendig und quietschfidel und beherrscht sogar in gewissem Maße die Köpfe. Na ja, jedenfalls den Kopf von dem Kerl, der sich nach Politik und Gesellschaftsleben der Gegenwart erkundigt hat. Oder ein anderer Fall, aus Estland, wo eine alte Russin, die ihr ganzes Leben unter den schweigsamen einheimischen Siedlern verbracht hatte, sich eines Abends nach dem üblichen schweren Arbeitstag in der Landwirtschaft ermattet auf der Holzbank ausstreckte. Dmitri, du könntest mir zum Abend was vorlesen. – Was denn? – Meinetwegen die Zeitung. – Und wo ist sie? – Hinterm Ofen, zum Anfeuern. Da sind viele. – Die sind ja schon zwei Jahre alt. – Das macht mir doch nichts. – Und tatsächlich – das machte ihr nichts. Und so stellt man sich in der Emigration, etwa auf irgendwelchen felsigen Burbul-Inseln, zunächst auch eine freundliche, ebene, über und über mit frischem, weichem grünem Gras bewachsene Heimat vor. Mit der Zeit verliert ihr Bild dann gänzlich jede überflüssige Rauheit einer sich ständig ändernden Oberfläche und nimmt die [ 76 ]

Gestalt eines glatten, schimmernden, hoch in der Luft schwebenden, kugelförmigen Nostalgieobjekts an. Betrittst du dann nach zwanzig Jahren unter Tränen die ersehnte Erde, stellst du fest, daß es sie nicht gibt. Daß absolut nichts wiederzuerkennen ist. Daß sie genau dort geblieben ist, woher du auf der Suche nach ihr angerannt gekommen bist, das heißt am Felsenufer der Burbul-Inseln. Bloß schnell zurück, zurück auf die Burbul-Inseln! Und von neuem singt es im Herzen, wie in kürzlich vergangener Zeit: Es fliegen die ziehenden Vögel Ins Blau fernen Herbstes hinein Sie fliegen in ferne Länder Doch ich bleib bei dir nur allein Doch ich bleib bei dir nur alleine Du Heimat, mein ewiges Licht Ich brauch nicht das türkisch’ Gestade Und Afrika brauche ich nicht

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3. F O R T S E T Z U N G

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nd wir kehren in unsere vorübergehende Heimat Japan zurück. Orientieren und akklimatisieren uns und begreifen, daß die Menschen im Prinzip überall Menschen sind. Ach, es sind Menschen? Dann können sie einen auch umbringen. Nein? Und warum nicht? Sie können es sogar sehr gut. Wie auf der ganzen Welt hängen in Schaukästen die Fahndungsfotos von Verbrechern. Du trittst heran und suchst in den normalen Gesichtszügen nach einer unverhohlenen, außergewöhnlichen, von der Natur oder den Himmelsmächten vorherbestimmten und durch keinerlei Gebete oder erbauliche Ermahnungen zu eliminierenden Grausamkeit der Person oder aber nach dem sie von anderen unterscheidenden spezifischen, verborgenen, nur dem in geistigen Dingen erfahrenen Auge sich heimlich offenbarenden unauslöschlichen Siegel des Satans. Nichts, rein gar nichts kannst du erkennen. Einfach erstaunlich ist das. Und so ertappst du dich bei bauernschlauen und gewissenlosen Versuchen, belanglose Details unter die Lupe zu nehmen: Da, die Nase ist ein bißchen krumm! Auf der Oberlippe ist eine Warze. Und noch etwas in der Art. Gleich darauf blickst du in das spiegelnde Glas des Schaukastens – deine eigene Nase liegt fast auf der Seite, du hast Schielaugen, eine Hasenscharte, riesige Segelohren, aus Nasenlöchern und Ohren wachsen büschelweise schwarze Haare, zwei Warzen hast du auf der Wange und dazu noch eine mitten auf der Stirn, genau da, wo ein drittes Auge rausgucken müßte. Na und? Macht doch nichts. Du lebst und spazierst unschuldig zwischen den vor dir [ 78 ]

zurückschreckenden Leuten herum. Und es fällt niemandem ein, dich auf der Stelle zu ergreifen und aufs Polizeirevier zu schleppen: Da ist er! Da ist er! – Wie, da ist er? – Na, die Nase ist krumm! – Ja, ist sie. Und? – Er hat Schielaugen und eine Hasenscharte! – Ja, eine Hasenscharte. Und? – Wieso denn und? Segelohren, Riesennasenlöcher, Haare aus den Ohren! – Gut, aus den Ohren. Und? – Wieso denn und? Wieso denn und? Herr Wachtmeister! Er hat noch zwei Warzen auf der Wange und eine da, wo bei normalen Leuten ein drittes Auge sein müßte! – Ein drittes Auge? Das überprüfen wir doch mal. Nein, kein drittes Auge. Also laufenlassen. – Aber Herr Wachtmeister! Herr Wachtmeister! Wie können Sie ihn denn laufenlassen?! – Gehen Sie, gehen Sie. Ich habe viel zu tun. Sidorow, begleiten Sie den Bürger hinaus! – Lassen wir also diese nicht gerade erbaulichen Versuche. Ja, auch hier mordet man Dutzende auf einen Streich. Ich werde Ihnen aber nichts von, sagen wir, den weltbekannten Grausamkeiten der entsetzlichen Geheimsekte AUM Sinrike erzählen, deren dämonische Führer die ganze Japankarte mit geheimnisvollen geometrischen Zeichen und Figuren vollgemalt haben, um damit Reihenfolge und Ablauf der rituellen Totalvernichtung der Bevölkerung des ganzen Landes zu bezeichnen. Nein, ich rede von einfachen Dingen. So hat ein vierzehnjähriger Jugendlicher kürzlich einem Zwölfjährigen den Kopf abgeschnitten, ihn in seinem Zimmer auf den Tisch gestellt und lange aufgeregt mit ihm gesprochen. Worüber – daran konnte er sich beim Verhör nicht mehr erinnern. Und ist das etwa wichtig? Ein anderer erschlug in guter Raskolnikow-Manier seine alte Nachbarin mit dem Hammer und schrieb ins Tagebuch, daß er [ 79 ]

ausprobieren wollte, wie das ist, wenn man jemanden umbringt. Nun, er hat’s ausprobiert – diesbezügliche Begeisterungsausbrüche enthält das Tagebuch des Experimentators allerdings nicht. Ebensowenig wie, nebenbei gesagt, die Schrecken und Qualen einer verlorenen Seele oder gar Reue. Ein dritter hat ganz einfach seine Mutter abgestochen – nun, das erfordert nicht einmal einen besonderen Kommentar. Mutter bleibt Mutter. Noch ein anderer bestieg einen Reisebus mit lauter Bewohnern der geräuschvollen und überspannten Hauptstadt, die einem herrlichen Urlaub auf der tropischen Insel Okinawa entgegensahen. Der Jugendliche stieg in den Bus, nahm irgendeiner schwerfälligen Mama das rührende kleine Kindchen weg, setzte es sich auf den Schoß, hielt ihm ein Messer an die zarte Kehle und erzählte fast mit Tränen in den Augen von seinem kleinen Bruder in ungefähr demselben Alter. Schilderte, wie er ihn liebte, wie er mit ihm spielte, wie er ihn in seinem weichen Bettchen schlafen legte und ihm sogar etwas zur Nacht erzählte oder vorsang. Konkrete Forderungen oder handfeste Gründe für sein deutlich inadäquates Verhalten gab der junge Liebhaber von kleinen Kindern nicht an. Er hielt das Kind fest, hielt es eine Weile und ließ es wieder los. Wozu hielt er es fest? Was ging in seinem Kopf vor? Was regte sich in seiner ungeformten Seele? Weder konnte er es selbst erklären, noch ein anderer für ihn. Aber im Grunde ist ja auch so alles klar. Und das alles innerhalb von einem halben Jahr. Der nächste Jungverbrecher metzelte die ganze Familie seines Klassenkameraden nieder. Erklären konnte er sein Handeln ebenfalls nur höchst verschwommen und diffus, aber wenigstens irgendwie und auf eine Weise, die der Glaubwürdigkeit schon näher kam. Er hatte wohl auf irgendeinem Schulfest oder Wettbewerb von seinem guten Freund und dessen Familie eine enthusiastischere Reaktion auf seine sportliche oder künstlerische Leistung erwartet (welche, weiß ich nicht mehr). Halten wir fest, daß im Gegensatz zu amerikanischen Teenagern, die ihre Mitschüler aus großer Distanz mit Gewehren mit Zielfernrohr oder notfalls mit irgendeinem alten Revolver umbringen, unser Jugendlicher das alles mit einem normalen, allerdings imponierend großen Messer gemacht hat. Diese [ 80 ]

schreckliche, geradezu bestialische Mordwaffe wurde danach häufig mit noch daran haftenden Spuren von geronnenem Blut im Fernsehen präsentiert. Das muß man sich mal vorstellen – da muß man doch zu jedem Körper hinlaufen, dicht an ihn, den nachgiebigen, bebenden, herantreten und das Messer in der ganzen Länge der gigantischen Schneide bis zum Heft hineinstoßen und in ihn versenken. Es dann herausziehen und, ohne es abzuwischen, in den nächsten hineinstoßen. Dann, nachdem man es womöglich in der weichen, schmatzenden und erschlaffenden nachgiebigen Masse herumgedreht hat, es wieder rausziehen und in den nächsten versenken. Und das alles mit noch halb kindlichen, zarten und nicht sehr tauglichen, jedoch schon harten und nervigen Jugendlichenhänden. Brrr! Und das der Reihe nach mit allen fünf Mitgliedern der mitten in der Nacht noch nicht zur Besinnung gekommenen Familie. Der Reihe nach. Und die? Die wehren sich, fassen mit hilflosen Händchen nach der Klinge, wobei sie sich im Nu die Handflächen fast bis auf die Knochen aufschneiden und sich mit verfrühtem Purpurblut beflecken. Eins ist mir bis heute ein Rätsel, nämlich wie von fünf Leuten, von denen drei völlig erwachsen waren, nicht wenigstens einer der totalen Niedermetzelung irgendwie entkommen konnte, wenn er schon nicht imstande war, sich und seine Angehörigen zu verteidigen. Ich weiß ja nicht. Vielleicht waren sie verschlafen und konnten, wenn sie vom Schrei des vorher Gemetzelten erwacht waren, das Geschehene nicht schnell genug begreifen, um sich wenigstens minimal, und sei es auch nur instinktiv, zu wehren. Ich weiß ja nicht. Vielleicht waren sie von vornherein verloren, und da sie das wußten und sogar im voraus an sichtbaren Zeichen und Hinweisen fast bis ins Detail, bis hin zu Ort und Zeit des zu Erwartenden, erkannt hatten, nahmen sie einfach ergeben die Prädestination des Schicksals und seine strafende Hand in Form der nervigen Hand jenes Jugendlichen hin. Jedenfalls verteidigten sie sich nicht, und auch kein anderer konnte sie verteidigen. Und alles geschah auf die mörderisch-unglaublichste Weise. Doch wozu sich in solch lockend-abstoßenden und gleißendfarbstrotzenden, beinahe filmästhetischen Details verlieren? Ich er[ 81 ]

zähle Ihnen lieber von einem Vorfall, der vor dem Hintergrund der letzteren sogar niedlich-komisch und rührend aussieht. Und dennoch. Ich erzähle Ihnen etwas Einfaches, was ich, als Zeuge und unmittelbarer Beobachter, selbst erlebt habe und was deshalb um so glaubhafter ist. Eines Abends gegen sieben hörte ich etwas Seltsames, wie das schwache Heulen eines Hundes. Ich schaute aus meinem breiten Fenster im Parterre, dessen Vorhang über die ganze Wand hin aufgezogen war. Das Heulen verstärkte sich. Erst nach einiger Zeit gelang es mir schließlich, seine Herkunft oder vielmehr seine Quelle zu lokalisieren. Es ertönte hinter den geöffneten Fensterläden im ersten Stock des Hauses gegenüber. Ich horchte. Einige friedlich vorbeischlendernde kleinbürgerliche Japaner, Nachbarn von mir, lächelten freundlich und maßen dem Geräusch offenbar keinerlei Bedeutung bei. Ich hatte mich schon wieder fast völlig beruhigt und wollte gerade den dichten Vorhang vors Fenster ziehen, als in ungelenkem Kampf auf den Balkon des ersten Stocks im Hause gegenüber zwei Körper rollten, der eines Mannes und der einer Frau. Wie man mir später mitteilte, ein seit langem verheiratetes Paar. Allem Anschein nach versuchte der Mann, während er ekstatisch schrie und offenbar etwas klarstellen wollte, seine Frau auf wüste Art ins Jenseits zu befördern. Na ja, euch muß ich dazu nichts erklären. Mit der jahrhundertelangen Erfahrung unserer Heimat kann man so etwas vom Anfang bis hin zu den diversen möglichen Ausgangsvarianten unterschiedlicher Schwere und Irreversibilität nachvollziehen. Schließlich können sich viele aus unserem Hof, natürlich ohne in Begeisterung zu geraten, aber auch ohne unnötig zu dramatisieren, gut an derartige Dinge aus dem Leben ihrer Väter und Mütter, Onkel und Tanten, Nachbarn und Nachbarinnen erinnern. Und obendrein aus ihrem eigenen darauf folgenden Erwachsenenleben, das sich wenig von dem vorherigen Leben all der vorherigen Generationen unterscheidet. Sankas Vater hat im Suff alles mögliche angestellt, was mit seiner Offiziersuniform und seinem ziemlich hohen Dienstgrad unvereinbar war. Witaliks Vater, Arbeiter in der Gießerei der nahe gelegenen Fabrik „Roter Proleta[ 82 ]

rier“, schwarz, sehnig und bösartig, prügelte regelmäßig einmal in der Woche den weiblichen Teil seiner zahlreichen Familie fast zu Tode. Und auch Witalik verfolgte er auf unsicheren, einknickenden Beinen über den ganzen Hof. Und wir guckten zu. Witalik war aber wegen seiner Nüchternheit und Jugend viel schneller und behender. Wir wollen also nicht zu streng sein mit den bescheidenen, durch irrsinnige Lebensumstände fehlgeleiteten Japanern, die uns, der Gesellschaft und Gott in diesem Zusammenhang nichts Konkretes versprochen und sich zu nichts Konkretem verpflichtet haben. Voller Befremden sah ich mich rasch um in der Hoffnung, Hilfe beim Stoppen dieses Irrsinns oder doch wenigstens eine gewisse Aufklärung und Präzisierung hinsichtlich der Umstände und Teilnehmer des Geschehens zu erhalten. Die Nachbarn jedoch fuhren fort umherzuschlendern, wobei sie bisweilen sorglos zum Balkon hinübersahen. Auch ihre Kinderchen wimmelten dort mit ihren Fahrrädern und Fahrrädchen herum, völlig hingerissen von ihrem eigenen, selbstgemachten Tumult. Ja, die Leute werden selbst des schokkierendsten, pikantesten Schauspiels müde, wenn es sich während eines langen Zeitraums mit erschöpfender Regelmäßigkeit einmal in der Woche wiederholt. Wie oft kann man denn darüber staunen und erschrecken, daß ein schon ziemlich altes Ehepaar, chronische Alkoholiker oder Drogensüchtige, auf diese amüsante Weise die RoutineMonotonie des makaber-monoton sich abspulenden Lebens betont? Nur wenn rein gar nichts zu tun war, legten die Leute erneut den Kopf in den Nacken und beobachteten einen kleinen Ausschnitt des Dramas, das mittlerweile einen ziemlich hohen Grad an tragischer Spannung erreicht hatte. Sie nahmen um dieses kleinen Amüsements willen ihre passenderweise anwesenden Gäste mit auf den Hof. Die Gäste schauten ebenfalls lachend zum Balkon, tauschten Zuschauereindrücke aus und traten dann, indem sie den leichten Fliegenvorhang vor der Türöffnung zurückschlugen, wieder in die Wohnung, von wo aus ihre leise plaudernden Stimmen und das Scheppern und Klirren von Geschirr zu hören waren. Währenddessen näherte sich das Paar mit ungeschickten Drehungen dem Balkongitter. Es muß angemerkt werden, daß der Ehemann [ 83 ]

seiner ihm angetrauten Gegnerin an Gewicht bedeutend unterlegen war. Man könnte sogar sagen, daß sie sich mit Hilfe seines Zerrens quasi selber die obligatorischen, von einer unerbittlichen höheren Hand vorgezeichneten geometrischen Linien entlang zum unausweichlichen Geschehen zerrte. Der frühe Wittgenstein hätte das als Satz bezeichnet. Wir dagegen, philosophisch weniger gebildet, nennen es in weiterer und entsprechend vagerer Hinsicht und Bedeutung schlicht und einfach Vorsehung. Der Gatte hatte die Gattin in bedrohlicher Position schon fast über das Balkongitter gewälzt und riskierte, durch die kleinste falsche Bewegung zusammen mit seinem Opfer seinerseits zum Opfer eines falschen Kalküls und eines Sturzes in die Tiefe zu werden. In der freien Hand hielt er zudem einen imponierenden Gegenstand, der mich an eine Löschwiege erinnerte. Heute, zur Zeit der Kugelschreiber, ja der Computerdrucker, Faxgeräte und Kopierer ist diese erlesene altertümliche Requisite natürlich unmodern geworden, und man sieht sie kaum noch. Es war ein Rätsel, wie sie in die ruchlose Hand geraten konnte, die sich über dem Kopf eines noch lebenden Menschen erhob. Andererseits, warum sollte sie eigentlich nicht in die Hand eines älteren permanenten Fastmörders geraten, dessen Gewerbe unbekannt war? Immer wieder schrie er etwas Schreckliches mit schwarz klaffendem Mund. Offensichtlich waren das die üblichen, beinahe schon rituellen Morddrohungen, also Drohungen, gleich hier, an diesem banalen Ort, ein grausames, aber gerechtes Exempel zu statuieren. Wegen meiner sprachlichen Unzurechnungsfähigkeit konnten mir die Umstehenden die Bedeutung seiner mörderischen Worte nicht erklären. Doch ihre Kraft und Wucht waren deutlich und schockierend genug. Gut, natürlich half mir auch meine gesamte frühere Kommunalka-Erfahrung dabei, die Äußerung mit einem gewissen Maß an Wahrscheinlichkeit und, selbstredend, unter Berücksichtigung hiesiger Eigenart und kultureller Tradition wie folgt zu rekonstruieren: Du Sau, du Nutte! Ich mach dich platt! – Die Umstehenden kicherten nur und zeigten dem Neuling an den Fingern eine glasklare Wittgenstein’sche Kombination von Sätzen her, die mit der Rückkehr des Paars in die inneren Gemächer endete. [ 84 ]

Ich wunderte mich über ihre Gelassenheit. Doch tatsächlich, nachdem es eine Weile in dieser ungleichgewichtigen Position gehangen hatte, richtete sich das Paar auf und verschwand recht kühl und ruhig unter gemurmelten gegenseitigen Vorwürfen hinter der Tür seiner Wohnung. Alle schlenderten noch ein wenig herum und gingen dann auseinander. An alledem war für mich im Prinzip nichts Ungewöhnliches oder Unerklärliches. Na ja, bis auf ein gewisses kleines, winziges, akzessorisches, dabei aber fesselndes Restchen, dessen tiefen Sinn ich nicht imstande wäre zu erklären, auch wenn ich mich sehr bemühen würde. Und in diesem kleinen Zusätzchen liegt der gesamte Sinn des Anderen, Fremdländischen und fast Unfaßbaren. Bitte sehr, schon wieder hat das Heulen angefangen. Ich gehe nachschauen und schreibe dann weiter. Bin zurück. Schreibe weiter. Prinzipiell Neues kann ich nicht hinzufügen. Okay, es kam mir vor, als wäre die Amplitude des Schlingerns und Pendelns der Körper überm Balkongitter ein kleines bißchen steiler ausgefallen. Auch die Formeln der verbalen Drohungen hörten sich heute etwas anders an. Ich habe versucht, die Nachbarn zu befragen, doch mit dem gleichen Erfolg wie bei den letzten Malen. So habe ich wieder versucht, die Worte selber zu rekonstruieren. Das kam dabei heraus: Du alte Lausefotze! Ich fick dich tot! – Etwas in dem Stil. Ich tauschte mit den Nachbarn zeremonielle Verbeugungen und unbestimmte Handbewegungen aus, und wir verließen einander. Hernach kam ich zurück, um die Episode zu Ende zu schreiben. Und schrieb sie zu Ende. Und spitze die Ohren – nein, für heute ist die Sache endgültig und unwiderruflich mit dem immer gleichen, erwartungsgemäß friedlichen Ergebnis zum Abschluß gekommen. Wie immer und überall in derartigen Fällen siegte die Freundschaft, hier allerdings als Handlung zu verstehen, die, etwas komplizierter als üblich, aus etlichen Teilen besteht und ihr Resultat nicht auf direkte, sondern auf mäandernde, zum Teil sogar unkontrollierbare Weise erreicht. [ 85 ]

Ja, ja ... Und da sagt ihr: Nein, diese Japaner! Ach, das sagt ihr nicht? Ihr sagt das nicht? Na gut, aber irgend jemand sagt: Nein, diese Japaner! Was ist mit den Japanern? Sie sind eben Japaner. Nicht besser und nicht schlechter, sondern genau so, wie Japaner sein sollen. So sind sie eben. Und so sind bei ihnen auch die Penner. Wie in allen Städten der Welt, die etwas auf sich halten, verteilen sie sich, von ihrem und vom objektiven Standpunkt aus gesehen, auf die brauchbarsten Aufenthaltsorte – sie hausen in Bahnhöfen, Parks (im Sommer), unter Brücken. Sie tun auch das Übliche – ein bißchen schlafen, ein bißchen trinken, ein bißchen klauen. Doch beeindruckender als alles, was ich jemals auf der ganzen Welt von ihnen gesehen habe, war ihr Auftreten in Tokio. Nachdem ich wieder einmal im Stadtzentrum eine Sehenswürdigkeit besichtigt hatte, trottete ich durch die aufreibende subtropische Hitze. Mitten in dem gleißenden Licht tat sich eine tröstliche Höhlung mit einem undefinierbaren Raum in der Tiefe vor mir auf, ein Stück Uferweg unter einer Brücke. Aus natürlicher Neugier schaute ich hinein. Sobald sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bot sich dem Blick ein in Zusammensetzung und Konsistenz unbestimmter und unbestimmbarer Mischmasch dar. Ein massenhaftes, fast wurm- oder schlangenartiges trübes Gewimmel. Unter der Brücke, ihre ganze riesige Breite lang, erstreckten sich mehrere Reihen von diversen Papierunterlagen, Kartons, halbverfaulten Lumpen und anderem Zerknäultem und Schmutzigem von nicht identifizierbarer Beschaffenheit und Farbe. Zum Glück gestattete die Hitze, sich nicht um die Erhaltung von Wärme zu sorgen. Ganz im Gegenteil, man mußte sich ihrer entledigen, sie abstrahlen, sie loswerden. Ich wollte mich an das kühle Steinfundament der Brücke lehnen und wich sogleich wieder zurück. Von allen Seiten bewegte sich eine fast schon einheitliche, unteilbare, nicht nach Personen unterscheidbare menschliche Masse auf mich zu. Sie hatte keinerlei sichtbaren rationalen Vorsatz oder Plan, in bezug auf mich etwas Durchdachtes oder Zielgerichtetes zu unternehmen, etwa mich zu beleidigen, zu erniedrigen, zu berauben, zu ermorden, zu vernichten oder zu absorbieren. Sie nahm nur mit [ 86 ]

einem unreflektierten Gespür eine aufwühlende fremde Gegenwart wahr und bewegte sich wie Tentakeln in diese Richtung. Natürlich hätte man durchaus von dieser Masse verschlungen oder in ihr ersäuft werden können. Man hätte, banaler, von einem ihrer kleinen Ausläufer beraubt werden können. Man hätte sich auch freiwillig in ihr oder in einer ihrer Zellen auflösen können. Zum Beispiel durchs Vertrinken des gesamten schmalen Erbes, das einem die Eltern hinterlassen haben, hätte man freiwillig in einen derartigen Zustand verfallen, also zu so einem Penner werden können. Auf diese Weise wächst ihre Masse auch tatsächlich an. Das Gewusel und Gewimmel schien aus der Erde emporzuwachsen, an den leicht feuchten inneren Steinoberflächen der mächtigen Brücke hinabzugleiten, von überallher näher zu rücken. Im Halbdunkel ertönten Schluchz- und Schmatzgeräusche sowie Laute und halbe Wörter, die kaum als menschliche Sprachäußerungen hätten definiert werden können, nicht einmal von Japanern. Die erzählten ihrerseits mit einem Schaudern, einem instinktiven Zucken der Schultern oder der Gesichtszüge davon wie von einer Sonderform biologischer Existenz. Wie von einem Alien, dem Produkt von Manipulationen außerirdischer Kräfte, die aus einer Phantomkörperlichkeit biologisch eine soziale Schicht erzeugt hätten. Gelähmt vor Schreck, drückte ich mich an die feuchten, tröstlichen Steine, zog wie ein zarter Paarhufer mal das eine, mal das andere leicht zitternde Bein an, verfiel allmählich der geheimnisvollen hypnotischen Ausstrahlung der herandrängenden Masse, wurde immer schwächer und hatte innerlich schon fast kapituliert und die Aussicht akzeptiert, mich als humanoider Tropfen in ihr aufzulösen. Zweifellos war das der sichere Weg in den Untergang. Natürlich nur vom Standpunkt einer normalen Anthropologie aus. Dachte man an die erhabenen historischen Vorbilder und Ursprünge dessen, was mich umgab, so glich es keineswegs dem Phänomen des machtvollen, heroischen griechischen Kynismus, nicht einmal in seiner Spielart des offenen Zynismus. Hier traten keine stolzen und freien Persönlichkeiten auf, die der Unterdrükkungsgesellschaft den Fehdehandschuh hinwarfen. Nein. Doch von [ 87 ]

einem anderen Standpunkt aus konnte etwas Derartiges als neue Form der Existenz quasianthropologischer Wesen oder der quasianthropologischen Existenz teilseparater menschlicher Körper betrachtet werden. Indessen hatte ich nicht genug Mut, mich mit einem letzten Sprung auf die Seite der archaisch kynischen oder aber der frischgebackenen, noch nicht durch lange historische Erfahrung getesteten und legitimierten Menschheit zu schlagen. Der brökkelnde Schwung meines erwähnten Mutes reichte nur dazu, mit einem Satz aus dem faulig-blauen Halbdunkel des Unterbrückenraums herauszuschnellen und mich von neuem in die unerträgliche, aber besser verständliche und faßliche gleißende Hitze des offenen, banalen Tokio zu stürzen. In einer schwülen und feuchten Nacht hatte ich einen leichten, erfrischenden Traum. Ich sitze im Garten unter einer Platane, in einem Hof, der schwach von einem rundgesichtigen Mond beschienen wird und mich an Platanen und gluckernde Bewässerungsgräben in Taschkent oder Samarkand erinnert. Ein einheimischer Rhapsode singt mit heiserer, gleichsam erstickter Stimme zu einer Art Gusli eine Ballade. Darin wird von einem Prinzen erzählt, der zu Spionagezwecken in fremde Lande geschickt wurde. Ein Junge richtet dem blinden Sänger immer wieder den Turban, der ihm in die Stirn rutscht, und wischt ihm die großen Schweißtropfen ab, die in seinen Brauen hängen. Bisweilen hebt er auf einem Holzspatel ein Häufchen weißes Pulver an seinen ins Leere kauenden ausgetrockneten Mund. Der Alte wirft wie ein Hahn den Kopf hoch und streckt dabei das unrasierte Kinn mit den vereinzelten harten, sehr langen grauen Haaren vor, schluckt das Pulver hinunter, trinkt sogleich aus einem Blechkrug nach und erstarrt für kurze Zeit. Seine Augen und die aller Zuschauer verdrehen sich. Die Ballade dauert lange, denn auch der Held braucht eine lange Zeit, um in geheimnisvolle ferne Länder zu segeln. Dort lebt er ebenfalls lange und vergißt fast, daß er Japaner ist. Eine Art altjapanischer Stirlitz. Anscheinend erreicht er dort ein unbeschwertes hohes Alter, paßt sich vollkommen an die neue Umgebung an und gewinnt sie von ganzem Herzen lieb. Der [ 88 ]

Rhapsode befördert bisweilen mit einer knappen Bewegung den Turban von den Brauen nach oben und zwinkert mir verschmitzt zu. Sofort erkenne ich in ihm meinen Bekannten, den zen-buddhistischen Meister. Doch er wendet sich ab, starrt mit seinen blinden Augen in den Raum und singt weiter. Die Zuhörer lauschen mit typisch japanischer Aufmerksamkeit und nicken höflich mit dem Kopf. Dann fangen sie an, mich komisch von der Seite anzusehen und zu mustern. Da wird mir in einer plötzlichen Eingebung klar, daß ich ja jener altjapanische Prinzspion bin und sie die Ausländer sind, unter denen ich mein ganzes unerkanntes Leben verbringen mußte. Und jetzt bin ich erkannt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als in bewährter japanischer Manier Selbstmord zu begehen. Aber ich zögere noch. Ich zögere, ich zögere. Ich zögere. Zögere. Zögere. Zögere. Zögere, zögere, zögere, zögere, zögere ...

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4. F O R T S E T Z U N G

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ie nächsten beiden Tage nach dem zen-buddhistischen Kloster verbrachte ich in einem kleinen Hotel, das von allen möglichen mir fast, das heißt nicht fast, sondern zur Gänze unbekannten Pflanzen zugewuchert war und einen bezaubernden Blick auf das ruhige Meer hatte. Ja, ja, und all das in dem kleinen Wakkanai, wo meine ersten Tage in der fast irrealen Gesellschaft des ewig lächelnden und ausweichenden Meisters verstrichen waren. In dem friedlichen, alltäglichen Hotel wachte ich auf, streckte mich, wusch mich, frühstückte und machte einfach weite Spaziergänge an dem von grünen Hügeln gesäumten Meer, begleitet von den unerquicklichen Schreien der Möwen, die irgend etwas von mir erwarteten. Offenbar etwas anderes, als ein einfacher russischer Wandersmann aus der Ecke Beljajewo, Schabolowka, Danilow-Markt, Waisengasse und Patriarchen-Pionierteiche ihnen bieten konnte, den weiß der Himmel welch ein Wind hierhergeweht hatte. Offensichtlich ein ganz anderer Wind als der, der irgendwann einmal diese aufdringlichen, ominösen Vögel hergeweht hatte. Na gut. Lassen wir das. Ich ging ins Hotel zurück. Dort traf ich einen fast schon kanonischen, da auf diese Weise in unserer romantischen Vorstellung verankerten Vertreter der japanischen kontemplativen Kultur, einen undurchsichtigen Computerspezialisten aus Tokio, der hier Urlaub machte, um sich am Anblick der lokalen Antwort auf den Fuji, nämlich des Rishiri-Fuji, zu erfreuen. Dieser Berg, niedriger als der ursprüngliche Fuji, aber außerordentlich hoch, ähnelt dem Original in all [ 90 ]

seinen bizarren Umrissen, die auf den zahllosen Darstellungen von Hokusai verewigt sind. Er ragt auf einer kleinen Insel nicht weit von Hokkaido empor. Man kann für wenig Geld auf einer Fähre dorthin fahren und, nach den Erzählungen von Leuten, die da waren, wundersame Blumen von geradezu paradiesischer Farbenpracht pflücken. Nach diesen aufgeregten Erzählungen spielen sich dort absolut verblüffend-unerhörte Dinge ab – Blütenköpfchen, groß wie Kinderköpfe, schaukeln sanft auf biegsamen, elastischen, aber durchaus nicht zerbrechlichen Stengeln, wobei sie quasimenschliche Laute von sich geben, die von einigen als ununterbrochene Deklamation des altindischen und dann an die Buddhisten vererbten Mantras OM entschlüsselt werden. Übrigens ist das nicht weiter erstaunlich, zumal man hier seitlich an den Tempeln überall zwei nach europäischem geistig-ästhetischem Verständnis hyperscheußliche Figuren von Dämonen oder schlicht Verbrechern findet. Eine von ihnen, links vom Tempel und rechts vom Eintretenden, ist O, die andere M. Dieses allerorten verbreitete Mantra kann plötzlich aus einer finsteren Spalte heraus ertönen, oder es fällt von einem Dach oder vom mächtigen Ast eines uralten Baumes herab, oder es hüpft dir geradewegs aus dem geöffneten Rachen eines ganz gewöhnlichen Haustiers entgegen, einer Katze oder eines Hundes. Oder es wird plötzlich ohne Umschweife ausgesprochen, und zwar von einer schmalen, bandförmigen Schlange, die in einem undurchdringlichen, von zahllosen knotigen Stämmen zugewachsenen Bambusdickicht unter abgefallenem Laub hervorgekrochen kommt. Oder ein buddhistischer Meister, wie der, den ich kürzlich besucht habe, sagt es einfach während eines normalen Gottesdienstes im Tempel. Die Blumen nun, vollständig im Mantra versunken, verströmen phänomenale, ununterbrochen wechselnde Farben. Es wird nicht empfohlen, ihnen auf mehr als einen halben Meter nahe zu kommen, denn sie verwandeln sich im Nu in eben jene anthropomonstromorphen, jedoch naturwidrigen Träger von O und M. Die Folgen sind natürlich unbeschreiblich. Gestatten wir uns lediglich, die allmählich kopfüber in ihnen verschwindenden menschlichen Leiber, die dumpfen Schluchzer und die raschen Zuckungen des [ 91 ]

ganzen, bereits völlig willenlosen Organismus zu imaginieren. Oder einfach das Erstarren an Ort und Stelle, das Nachgeben der weichen, weißen, wurmartigen Beine und hernach das endlose, bis zur kompletten Zersetzung des Fleisches Jahre dauernde Sitzen Aug in Aug mit einer gebieterischen und unbeirrbaren, gestalt- und eigenschaftslosen Substanz des Willens. Würde sich das nicht in unbekannten Breiten, sondern im antiken Griechenland abspielen, das übrigens auch vollkommen unbekannt ist, könnte man die Blumen wegen ihrer magnetisch anziehenden, verlockenden und niemanden je wieder loslassenden Macht mit einem Avatara der Sirenen vergleichen. Deren Bild, absolut erschreckend und, ähnlich dem der Baba Jaga, ohne das geringste übliche romantische, feminin-erotische Flair, ist mir in der Kindheit oft erschienen. Es drang auf mich ein, eine Tür, die sich zu einem schoßähnlichen dunklen Raum hin öffnete und in ausgeleierten Angeln hing. Wie eine stürmische Kamerafahrt drang es auf mich ein. Ich versuchte, etwas dagegen zu tun, aber Nacht für Nacht verschlang mich die grauenhafte stumme Grube. Später jedoch ließ das unvermittelt nach, verschwand. Offenbar wurde ich körperlich und geistig erwachsen. Wer weiß, wie diese Baba-Jaga-Sirenen hier gerufen und verehrt werden, wenn sie überhaupt verehrt werden! Obendrein sind die nackten Felsen des Berges mit den schwierigsten Kletterrouten der Welt versehen, und nur wenige Wagemutige können sich dazu entschließen, ihnen zu folgen. Von denen wiederum kehren nur äußerst wenige zurück. Wie erzählt wird, versuchen die Zurückgekehrten danach nicht wieder, etwas Derartiges zu unternehmen, aber sie versuchen auch nicht, wenigstens irgendwie die Gründe für ihre spätere finstere Konzentration auf das Deklamieren gewisser innerer Worte und Beschwörungen zu erklären. Das geschieht schweigend, mit einer unbeschreiblichen inneren Energie, die man beim flüchtigsten Blick auf ihre eingefallenen Gesichter und die kümmerlichen Umrisse der reglosen Gestalten sofort erkennt. Nur ihre Lippen bewegen sich lautlos. Und sie selber blicken starr vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Wie sich herausstellte, verbringt mein Computerspezialist fast [ 92 ]

jeden Urlaub hier und betrachtet den Berg aus der Ferne, von der kühlen, öden Küste bei Wakkanai aus. Er macht keine Anstalten, zur Insel hinüberzufahren, und hat auch nie den Wunsch danach gehabt. Er erklärte mir, daß er vollauf damit zufrieden sei, seinen Blick zu konzentrieren, um alles, was auf der Insel, auf dem Berg und sogar in ihm vor sich gehe, zu sehen und zu begreifen. Ich glaubte ihm und schwieg respektvoll. Gerade habe ich eine überraschende Entdeckung gemacht. Im Widerspruch zu dem objektiven Gesetz der direkten Proportionalität zwischen der Verringerung von Fähigkeit, Gelegenheit und Lust zum Erzählen über das Aufenthaltsland einerseits und der Anzahl der dort verbrachten Kalendertage andererseits ist mein schriftstellerischer Elan im Gegenteil gewachsen und hat sich gefestigt, wovon man sich anhand des vorliegenden Textes überzeugen kann. Offenbar hat mir dabei eine prinzipielle ideologische, lebenspraktische und schriftstellerische Einstellung geholfen – was auch immer sich schreiben läßt, es läßt sich nur auf die eine Art und Weise schreiben, wie es sich eben schreiben läßt. Und es läßt sich nur das schreiben, was sich immer schreiben läßt, egal, wo es sich schreiben läßt.

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5. F O R T S E T Z U N G

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ehren wir jedoch zum Ausgangspunkt zurück. Bei der ersten Fahrt durch die Stadt bemerkt man auch gleich die erste Eigentümlichkeit des hiesigen Lebens. Die für Großstädte so üblichen zahllosen Straßenarbeiten und Umleitungen werden ständig und überall von ein paar Ordnern in schönen, fast schon Generalissimusuniformen und mit märchenhaft in der Dämmerung leuchtenden roten Kommandierstäben in den Händen umringt und betreut. Also buchstäblich eins von den Bildern, die uns als Kind durch den Anblick geheimnisvoll gekleideter Erwachsener mit geheimnisvollen Gegenständen mysteriöser, fast schon magischer Bestimmung in den Händen so verzaubert haben. Das alles ist so. Aber man entdeckt immer nur buchstäblich einen oder zwei Arbeiter. Dafür sind von dem festlich herausgeputzten Begleitpersonal, das in regelmäßigen Abständen den Bürgersteig entlang aufgestellt ist, die ersten schon hundert Meter vor dem betreffenden schlichten Vorgang, immer um die zehn Leute präsent. Anfangs denkt man, daß hier sicher eine wichtige offizielle Veranstaltung stattfindet. Doch dann stößt man auf eine zweite derartige Sache. Dann auf eine dritte. Eine vierte. Eine fünfte. Nein – die graben nur ein bißchen in der Erde. Reparieren eine Kleinigkeit. Entsprechend sind die Fassaden von Gebäuden, die renoviert werden, akkurat christoartig (nicht etwa christlich, obwohl es genug Japaner katholischer Konfession gibt, sondern nach dem Beispiel des leidenschaftlichen Verpackers verschiedenartiger Dinge von unmenschlichen Dimensionen, des Künstlers Christo), also chri[ 94 ]

stoartig verhüllt mit festem Stoff. Auf dem Gerüst eines auf diese Weise fest verpackten Baus arbeitet ein einziges vergessenes Menschlein. Unten sind es vier bis fünf Mann, die dir freundlich lächelnd den selbstverständlichen, einzig möglichen und schlichten Umweg zeigen. Obwohl, das möchte ich festhalten, sie bauen, vielmehr dieser einzige baut schnell und gut. Sogar rasant. Das heißt, dieser eine oder diese zwei oder paar Leute, freigestellt von Organisationstätigkeiten und abgestellt zu unmittelbaren produktiven Bautätigkeiten auf dem Gerüst, arbeiten erstaunlich schnell. Schneller als viele unserer Baubataillone, mit Baukombinaten und -verwaltungen zusammengenommen und malgenommen. Ließe man alle um die Baustelle Herumstehenden zur unmittelbaren Arbeit zu, so würde Japan sich, hat man den Eindruck, im Nu mit einer ungeahnten Menge aller möglichen Wohn- und Produktionsgebäude bedecken, so daß man keine Luft mehr bekäme. Und es gäbe keine Möglichkeit, sie zu besiedeln oder zu verwalten, ohne Fremde herzubitten, sagen wir, zum Beispiel Russen. Offenbar dient das als Hauptgrund für das Fernhalten vieler Menschen von ihrer geliebten, aber sozial geradezu gefährlichen Tätigkeit. Auf einem simplen kleinen Parkplatz zeigen Ihnen drei, vier Ordnungsbeamte, die buchstäblich fünf Meter voneinander entfernt stehen, lächelnd und voller Verantwortungsgefühl Ihren Platz zum Einparken, der übrigens auch ohne diesen gewissenhaften Eifer schwer zu verfehlen wäre. An einer Tankstelle stürmen Ihnen zehn Mann entgegen und tragen Sie fast bis zur Zapfsäule, indem sie Sie quasi einander weiterreichen. Danach reinigen sie Ihre Aschenbecher (die Japaner sind monströse Raucher, sie rauchen fast alle, und zwar viel). Nach dem elegant inszenierten Prozeß des Betankens Ihres Autos gibt man Ihnen zur Belohnung ein Tütchen hauchfeiner Reisfadennudeln oder ein Päckchen seidenweicher Papiertüchlein. Eine Bagatelle, aber nett. Gut, das ersetzt natürlich keineswegs die Geldhandelsbeziehung, ausgedrückt in der Bezahlung des Benzins. Dann stürmen zwei Mann, nachdem sie Sie überholt haben, direkt auf die Fahrbahn und halten mit weit ausholenden Gesten den Verkehr an, um Sie in die Freiheit zu entlassen. [ 95 ]

Ist das nun ein alter gesellschaftlicher Brauch oder ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit? Am ehesten beides zusammen. An der Universität treiben sich zum Beispiel zwei Leutchen in äußerst vorgerücktem Alter herum. Niemand weiß, was sie da machen. Jedenfalls konnte oder wollte mir das niemand auf mein indezentes Fragen hin erklären. Früher sollen sie für die Universitätsheizung verantwortlich gewesen sein. Doch seit kurzem, seit man deren Betrieb und entsprechend die Bedienung vollständig automatisiert hat, kennen sie sich nicht mehr richtig aus – das Alter, und dann die Ausbildung ... Im Falle eines Schadens oder Ausfalls des Heizungssystems wird einfach ein Reparaturtrupp aus Fachleuten gerufen. Doch diese beiden, tüchtig, seriös, lächelnd und korrekt gekleidet mit korrektem schwarzem Anzug und Krawatte, halten sich wie eh und je von morgens bis abends an ihrem festen Arbeitsplatz auf, der Universität. Und wahrhaftig, man kann doch verdienstvolle Leute nicht bloß aus dem dummen Grund auf die Straße setzen, daß sich wegen eines absurden zufälligen Umstands keine konkrete Verwendung für sie findet. Es heißt, sie seien fabelhaft im Organisieren und Arrangieren von Picknicks für die Professoren- und Dozentenschaft, manchmal auch unter Teilnahme von Studenten. Und Picknicks finden hier, nebenbei gesagt, sehr häufig statt. Bei dieser Gelegenheit werden oftmals größere, ernsthafte Probleme gelöst, die in der formellen Atmosphäre regulärer Sitzungen nur schwer zu lösen sind. Doch in einer netten Umgebung in der Natur, bei einem Glas Wein, mit einem Happen Fleisch und unter Lächeln und Scherzworten kommen alle miteinander zu dem hochgeschätzten, rettenden Kompromiß, der nicht einmal artikuliert werden muß. Alles geschieht auf sanfte, auf familiäre Art. Entsprechend ist die Organisation solcher Veranstaltungen gar keine so geringfügige oder belanglose Sache. Es fand sich also eine Tätigkeit für unsere von der Heizung Freigestellten. Und die sind nicht gekränkt. Und alles ist perfekt. Und alle sind zufrieden und müssen sich nicht wie die Mörder unschuldiger Seelen fühlen. Und das Leben geht weiter. Oder ein anderes faszinierendes Bild dieser Art. Eine beachtliche militärische Unterabteilung tummelt sich an einem Flüßchen am [ 96 ]

Stadtrand. Ungefähr sechs Mann in durchnäßter, schwer herabhängender Uniform zerren etwas im Wasser herum, sei es eine Kabelleine oder der Stein der Weisen, und bekommen die Sache einfach nicht in den Griff. Sechs weitere einfache Soldaten, aber mit prächtigen, in der anbrechenden Dämmerung leuchtenden roten Armbinden und Kommandierstäben, sorgen an Land dafür, daß sie sowie die spärlichen Neugierigen (wie etwa ich) und die einfachen Passanten nicht gestört werden. Sechs stehen stramm und verantwortungsbewußt neben vier riesigen leeren Lastwagen. Zwanzig Wehrdienstleistende in voller Montur richten währenddessen, und fast sind sie schon fertig, die entsprechenden vier hyperriesigen Zelte ein, in denen gemütlich arrangierte Plastikklappstühle und -tische aufgestellt sind. Aus kleinen Näpfen, die komischerweise in tarnfarbigen Sisalnetzen stecken, angeln einige weitere Wehrdienstleistende, von anderen Pflichten befreit, mit geschickten Stäbchen wie die Heuschrecken etwas offenbar unvorstellbar Leckeres und stopfen es in ihre weit geöffneten, karpfenartig frühzeitig gespitzten, akkuraten Münder. Vorübergehend deponieren sie die Näpfe auf dem Tisch, in der Nachbarschaft von sofort erkennbaren Sojasoßefläschchen und weiteren verschiedenartigen mysteriösen Gläschen mit geheimnisvollen Gewürzen. Lächelnd rauchen sie und werfen sich offenbar scherzhafte Bemerkungen zu. Dann ergreifen sie langsam und würdevoll von neuem die Näpfe, nehmen die Stäbchen fest in die Hand und fangen aufs neue an. Ich hatte große Lust, zu ihnen hinzugehen, in die Näpfchen zu schauen und zu fragen: Leute, was essen wir denn hier Schönes? – Aber sie verstehen ja eh nichts und würden mich nur mißtrauisch von der Seite angucken. Da geht man besser erst gar nicht hin. Und ich ging nicht hin. Ja, und nicht weit weg schimmern natürlich in bescheidenem Weiß die herbeitransportierten und ordentlich installierten unvermeidlichen drei Toilettenhäuschen. Und etwas abseits, direkt am Flußufer im Angesicht der bis zum Gürtel im Wasser stehenden melancholischen Wehrdienstleistenden, diskutieren außerdem noch sieben, acht energische und entschlossene Leute, offenbar aus dem [ 97 ]

Offizierskorps, ernsthaft über irgendeine Sache und machen Vermerke in ihren aufgeklappten Kartentaschen. Alles ist so schlicht, still und bedeutsam, ist erfüllt von einem verborgenen, doch für alle spürbaren geheimnisvollen Sinn. Ich möchte betonen, daß die Arbeitslosigkeit, wie man mir erzählt hat, bis zur berühmten Asien-Finanzkrise in Japan kein Problem war. Genau wie seinerzeit in der unvergeßlichen Sowjetunion mit ihrer Zuweisung von Arbeitsplätzen. Bei der unermüdlichen staatlichen und familiären Patronage gab es also keine Möglichkeit, sich in den „endlosen russischen oder vielmehr japanischen Weiten“ zu verirren oder zu verlieren. Jetzt jedoch sind diese Probleme aufgetreten und werden allem Anschein nach nie mehr verschwinden, sondern bloß von Jahr zu Jahr anwachsen und die traditionelle japanische Gesellschaft stetig verändern und umformen. Das führt schon jetzt zu ernstlichen Unstimmigkeiten in den bewährten herkömmlichen Beziehungen. Besonders in den Beziehungen zwischen den Generationen. Übrigens, derartige Dinge kann man und konnte ich selber bereits in vielen Ländern dieser Erde wahrnehmen. Einmal teilte mir ein nicht mehr junger Mitreisender in einem raschen, lautlosen Zug, der mich durch die gepflegten Räume des nagelneuen Deutschland von Berlin nach Köln brachte, bekümmert mit, es sei aus, mit Deutschland sei alles zu Ende. Meine befremdete stumme Frage beantwortete er mit folgender plausibler Erklärung: Gestern lasse ich einen Arbeiter zu mir rufen ... – Er war Besitzer eines kleinen Unternehmens in der Nähe von Hannover. ...? – Ich sag zu ihm, mach erst das und dann das. – ...? – Und wozu? fragt der. – Und mein Gesprächspartner verstummte, blinzelte langsam mit seinen geschwollenen Lidern und nahm völlig richtig an, daß keine zusätzlichen Erklärungen nötig seien. Sie waren es auch nicht. Ein wenig verstehe ich ja die Sprache der Vergleiche und Metaphern. Sicher, in Japan taucht das alles in etwas anderer Form auf, [ 98 ]

versehen mit den spezifischen Nuancen fernöstlichen Kolorits. Die von uns angenommene totale Modernität oder gar Verwestlichung der japanischen Gesellschaft ist ein wenig mythologisiert. Sogar sehr mythologisiert. Das heißt, ein absoluter Mythos. Zu meinem großen Erstaunen sprechen nur sehr, sehr wenige Menschen Englisch, sogar unter den sogenannten Intellektuellen, die, wo immer sie auch leben, ja in das Erleben und Erfahren weltgültiger und europäischer Werte verstrickt sind. Die, sollte man meinen, müßten es doch sprechen. Nein. Sie tun es nicht. Es tun nur ganz wenige. Andererseits stecken sie auch nicht bis zum Hals in ihrem Altertum. Nein. Zum Beispiel erwähnte ich bei einem Dichtertreffen in Tokio auf die Frage nach der Informiertheit des russischen Publikums bezüglich japanischer Dichtung natürlich die unserem Ohr so geläufigen Haikus und Tanka und den Namen Bashô – aus der schlichten, aber nicht gerade kleinen Auswahl unserer Kenntnisse aus dem Orient, die Ähnliches aus den Gegenden Chinas, Persiens und Indiens mit einschließt. Nach dem Auftritt kam eine bekannte und anerkannte hiesige Dichterin zu mir und äußerte völlig ernsthaft nicht gerade einen Vorwurf, aber eine gewisse Verwunderung darüber, daß ich, der ich doch offensichtlich ein durchaus moderner Mensch und Dichter sei, Derartiges für Dichtung hielte, während die Beschäftigung mit Tanka beispielsweise, ganz ungemein verbreitet im heutigen Japan (sogar Schulkinder werden gezwungen, welche zu dichten), schon zu einer Art traditioneller kultivierter Tätigkeit im Sinne eines Spiels gehöre, zu einer Art Kunsthandwerk, wie das Hobby unserer Naturliebhaber, die aus Wurzeln und Zweigen allerlei wunderbare Bastelarbeiten schnitzten. Ja, und die Poesiewettbewerbe für angebliche Tanka, die für Hausfrauen, Rentner und Liebhaber jeder Art sinnvoller Freizeitgestaltung veranstaltet würden, seien doch auf der ganzen Welt bekannt. Aber Dichtung im eigentlichen Sinn, fuhr die Dichterin mißbilligend fort, echte Dichtung sei etwas anderes. Das seien Texte und poetische Strategien nach westlichem Muster. Ich widersprach nicht. Was hätte ich auch sagen können? Ich stimmte sogar stumm zu, konnte ihr das allerdings nicht in einem ihr verständlichen Idiom erklären. Ich bin ja selbst ein Anhänger von [ 99 ]

solchen Dingen innerhalb der russischen Wortkunst. Ich zuckte nur die Achseln und murmelte etwas von der beträchtlichen Uninformiertheit der russischen kulturellen Öffentlichkeit in bezug auf zeitgenössische japanische Literatur und Kunst im allgemeinen. Was die reine Wahrheit war und mich in gewissem Maße in den Augen der Dichterin rehabilitierte, die von der Dichter-Beaumonde beider Amerika, Europas und auch Japans „der japanische Alain Ginsberg im Rock“ genannt wird. Eines Tages wurde ich auf eine derartige Sitzung exhumierender Verseschmiede in einem Club von Tanka-Liebhabern eingeladen. Ehrwürdige Leute in nicht besonders ehrwürdigem Alter saßen, die Schuhe ausgezogen, in der für mich so unbequemen Haltung vor Holzstellwänden an niedrigen, mit Teetäßchen geschmückten Tischen. Übrigens, der Erfinder dieser heimtückischen Haltung, ein Chinese, ist bekannt. Im obenerwähnten Tempel des obenerwähnten zen-buddhistischen Meisters fand sich neben all den übrigen außergewöhnlichen und reizvollen Dingen auch ein Mini-Altar für diesen Erstentdecker mit der altchinesischen Darstellung eines nicht ganz deutlich erkennbaren, langschmalbärtigen Chinesen. Räucherkerzen brannten. Durch ein Milchglasfenster fiel milchiges Licht. Eine dieser speziellen einheimischen schwanzlosen Katzen lief vorbei. Ich betrachtete aufmerksam die Darstellung des Menschen, der mit seiner auf der ganzen Welt verbreiteten und sogar bei uns in Rußland berühmten Sitzhaltung eine für mich so beschwerliche Plage erfunden hatte ... Die Tanka-Liebhaber tauschten der Reihe nach Blätter mit Schriftzeichen aus und deklamierten japanische Worte, was sie bekräftigten, indem sie die Zeichen virtuell in die Luft oder in die Fläche der linken Hand schrieben, wobei sie an irrsinnige Mathematiker erinnerten, die ihre Folgerungen mit in die Luft gezeichneten Phantomen von Formeln, Zeichen und anderen mathematischen Monstren bekräftigen. Die bekannte lyrische Gattung Tanka besteht, wie sich alle erinnern werden (unsere Leutchen jedenfalls bestimmt), aus fünf Zeilen, die nacheinander 5–7–5–7–7 Silben enthalten (oder am Ende acht bei raffinierteren Varianten). Aller[ 100 ]

dings sind für den nichtjapanischen Blick sowohl Zeilen als auch Silben sowie ihre Verteilung vollkommen unkenntlich, da in Schriftzeichen geschrieben wird, die ausgesprochen eine ganz unterschiedliche Anzahl Silben haben. Das Geschriebene entspricht also nicht dem Gesprochenen, und die Struktur wird erst mit dem Aussprechen wirksam und ist für mich und den Großteil der Europäer überhaupt nicht wahrnehmbar. Es war ein Thema vorgegeben worden: ein mitgebrachtes Stück Melone (wobei tatsächlich jemand ein Stück Melone mitgebracht hatte, das ich anschließend allerdings nicht wiedersah und nicht gekostet habe). Der Inhalt dessen, was die Versammelten geschrieben hatten, war mir ohne Übersetzung komplett unverständlich, der Mann, der mich hierhergebracht hatte und einige Zeit mein Dolmetscher gewesen war, hatte fortgemußt, und niemand der Anwesenden kannte auch nur irgendeine Mittlersprache. Doch alle bewahrten ihre lächelnde Ruhe und befaßten sich mit literarischer Handarbeit. Als die Reihe an mich kam, deklamierte ich ebenfalls unter allgemeinem freundlichem, aufmunterndem und im voraus alles verzeihendem Lächeln mein Werk, an dem ich ehrlich gearbeitet hatte, wobei ich die Silbenzahl an den Fingern abzählte, ohne mir allerdings die Mühe zu machen, es auf dem Papier oder mit einem Phantasiestift in der langmütigen Luft zu fixieren. Hier ist mein Tanka, sehen Sie nur. Ein Stück Melone Aß ich, ohne an üble Folgen zu denken Und die sind selbstverständlich Dann auch auf der Stelle erfolgt

(5) (7) (5) (7) (8)

Das ist die Edelvariante. Wenn man das „Dann“ wegnimmt und bloß „Auch auf der Stelle erfolgt“ liest, ist das die einfache Variante mit sieben Silben. Wählen Sie aus, was Ihnen mehr liegt. Ich finde beide gut. Also, Sie verstehen das alles. Von den Einheimischen jedoch war niemand zu einem Urteil fähig, weder was die erste, noch was [ 101 ]

die zweite Variante betrifft, denn sie hörten bloß eine Kombination gewisser Laute, die sie aber nicht auf die Art hätten wahrnehmen können, daß sie imstande gewesen wären, sie in rational faßliche Elemente aufzuteilen und von neuem zu einer bedeutungstragenden und sinnvollen Einheit zusammenzusetzen. Was soll’s, verzeihen wir ihnen, sie verzeihen uns ja auch nicht wenig, ich glaube, sogar mehr. Verzeihen wir ihnen. Und wir haben ihnen verziehen. Mein Vortrag wurde wohlwollend angehört, obwohl, wie ich bereits erwähnte, niemand der Versammelten auch nur annähernd meine demütige, pünktliche Befolgung der Gesetze einer mir unbekannten Dichtkunst eines mir unbekannten Landes beurteilen konnte. Und man fuhr fort. Danach wurde heißem Tee zugesprochen, dem übrigens auch schon während der langen poetischen Prozedur zugesprochen worden war. Und man ging auseinander. Zu Hause angekommen, konnte ich mich, aufgewühlt von dem schöpferischen Prozeß, nicht beruhigen. Ich dachte an das einzige Land der Welt, das man als Land der Vorherrschaft und Macht der Dichtung und ganz allgemein des erhabenen sakralen Worts bezeichnen könnte. Und die Heimat dieses Landes ist die ehemalige UdSSR, das heutige Rußland. Ich besann mich auf von der Tradition abgesegnete, logisch konstruierte und künstlerisch etablierte, aber eben kraftvollere Beispiele für ähnliche Versuche aus unserer eigenen Erfahrung. Ihre Kraft und durchschlagende Stärke hat mit den netten japanischen Effekthaschereien überhaupt nichts gemeinsam. Die große Erfahrung einer großen Vergangenheit! Schon zu meiner Zeit ging es dabei weniger um Verfahren der Wirklichkeitsbeschreibung als um die Präsentation von Kommunikationstypen und -kanälen. Um Methoden der Stabilisierung sowohl der einzelnen Psyche, die sich in große Kollektive einfügt, als auch ebendieser Kollektive. Und dennoch waren das die Splitter und Schimmer großer Entwürfe, wie das normalerweise bei zweit-, dritt-, viert- und-soweiter-klassigen sakralen oder auch historischen Texten der Fall ist. Was ich meine, ist die wuchernde Schicht von Kommentaren, Berichtigungen, natürlichen Fehlern, diktiert sowohl von der Nachlässigkeit von Barden, Schreibern und Setzern als auch vom Geist [ 102 ]

der Zeit, der die ganze Wirklichkeit ringsum unwiderstehlich mit sich fortreißt. Der bloße Akt des Berührens von derartigem literarischem Material verwandelt sich in eine sinntragende Handlung oder eine vernünftige Äußerung. Und ich fand, inmitten des schwächenden Labyrinths des japanischen Hedonismus, in diesen Gedanken Linderung und sogar Erquickung. Ich entsann mich meiner eigenen Arbeit an dem Text von Stalins Rede auf dem Kongreß der Völker Daghestans. Wie sofort ins Auge springt, wird in diesem Text natürlich die heutige Vorstellung betont, die Zeit des Verfassens von Stalins Rede sei eine Zeit historischen Irrsinns gewesen. Eines allumfassenden, uralten und unüberwindlichen Irrsinns. Und zur gleichen Zeit repräsentieren der Text selbst wie die aus ihm aufsteigende und ihn umgebende und ihn erzeugende Wirklichkeit eine unabänderliche und ausdrückliche Ausrichtung sowohl der Führer als auch der Massen auf das Unmögliche, Jenseitige, auf das, was nach Wesen und realer Erscheinung irrsinnig und unirdisch genannt werden kann. Urteilen Sie selbst. Stalin. Der Kongreß der Völker Daghestans 1. Deklaration über die unirdische Autonomie des irrsinnigen Daghestans Genossen! Die Regierung der Unirdischen Irrsinnigen Föderativen Republik, im Krieg gegen ihre irrsinnigen Feinde im Süden und im Norden, gegen das irrsinnige Polen und Wrangel, hatte bisher keine Möglichkeit und keine Zeit, ihre unirdischen Kräfte für die Beantwortung der irrsinnigen Frage aufzubieten, die das irrsinnige Volk bewegt. Jetzt, da die Armee des unirdischen Wrangel zerschlagen ist und ihre irrsinnigen Überreste auf die unirdische Krim fliehen, mit dem irrsinnigen Polen aber ein unirdischer Friede geschlossen ist, hat die irrsinnige Regierung die unirdische Möglichkeit, sich der Frage der Autonomie des irrsinnigen Volkes zuzuwenden. [ 103 ]

Früher lag die Macht im irrsinnigen Rußland in den Händen irrsinniger Zaren, Gutsherrn, Fabrikbesitzer und unirdischer Unternehmer. Früher war das irrsinnige Rußland das Rußland unirdischer Zaren und irrsinniger Henker. Rußland lebte davon, daß es irrsinnige Völker unterdrückte, die zum irrsinnigen unirdischen Imperium gehörten. Die irrsinnige Regierung Rußlands lebte auf Kosten der Säfte und Kräfte irrsinniger Völker, darunter auch des unirdischen Volkes. Das war die irrsinnige Zeit, als alle Völker das unirdische Rußland verfluchten. Doch nun gehört diese irrsinnige Zeit der Vergangenheit an. Sie ist begraben und wird niemals wieder auferstehen. Auf den irrsinnigen Trümmern dieses irrsinnigen unirdischen Rußlands erhob sich ein irrsinniges Rußland – das Rußland der unirdischen Arbeiter und Bauern. Und so begann das irrsinnige Leben der unirdischen Völker, die zum irrsinnigen Rußland gehörten. Es begann die Ära der unirdischen Befreiung der irrsinnigen Völker, die unter dem Joch irrsinniger Zaren und Reicher und unirdischer Gutsherrn und Fabrikbesitzer schmachteten. Die irrsinnige Periode, die nach der unirdischen Revolution begann, als die Macht in die Hände der irrsinnigen Arbeiter und Bauern überging und die irrsinnige Macht unirdisch wurde, war nicht nur durch die Befreiung der irrsinnigen Völker des unirdischen Rußlands gekennzeichnet. Sie stellte außerdem die irrsinnige Aufgabe, alle irrsinnigen Völker überhaupt zu befreien, darunter auch die unirdischen, unter der Knute der irrsinnigen Imperialisten schmachtenden Völker des irrsinnigen Ostens. Das unirdische Rußland ist die irrsinnige Fackel, die den irrsinnigen Völkern der irrsinnigen Welt den Weg zur unirdischen Befreiung vom Joch der Unterdrücker erhellt. In dieser unirdischen Zeit befand es die irrsinnige Regierung Rußlands, die dank des Sieges über ihre irrsinnigen Feinde die unirdische Möglichkeit erhielt, sich den irrsinnigen Angelegenheiten der unirdischen Entwicklung zuzuwenden, für notwendig, euch zu erklären, daß das irrsinnige Daghestan autonom sein soll und bei [ 104 ]

der Wahrung der irrsinnigen Verbundenheit mit den unirdischen Völkern des irrsinnigen Rußlands eine unirdische Selbstverwaltung einrichten wird ... Und so vom fernen 1919 weiter bis zum Jahre 1987. Eventuell auch bis 1991. Oder auch bis 1996. Oder auch bis 1999. Höchstwahrscheinlich sogar bis jetzt. Und, gut möglich, für lange Jahre im voraus. Und höchstwahrscheinlich gleich für immer.

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6. F O R T S E T Z U N G

U

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nd hier und heute? Hier steht jetzt nicht das irrsinnige Daghestan der unirdischen Zeiten der Errichtung der irrsinnigen Macht der unirdischen Arbeiter und Bauern auf der Tagesordnung. Hier gibt es jetzt das friedliche, durchaus normale Japan. Es ist durchaus normal und fortschrittlich. Ehrlich gesagt konnte ich bei den Japanern kein besonderes Faible, keine alltägliche oder gewohnheitsmäßige Sympathie für das Traditionelle feststellen. Besonders bekümmert hat mich eine gewisse Nachlässigkeit, ja sogar kühle Gleichgültigkeit gegenüber dem von mir so geliebten, ungemein charmanten Sumo-Ringkampf. Indessen will ich objektiv sein. Und ich bin es auch. Sicher, sicher doch, die stickigen Säle, in denen die betreffenden Wettkämpfe am hellichten Tag in der unerträglichen Zeit mitten im Hochsommer stattfinden und die überfüllt sind von sich Luft zufächelnden Leuten. Es wird aber viel mehr und häufiger das schlappe und mittelmäßige Baseball verfolgt, das alle Fernsehkanäle füllt. Wenn ich am Flughafen von der Übertragung der regelmäßig – alle zwei Monate zwei Wochen lang – veranstalteten Sumo-Wettkämpfe überrascht wurde, verfolgte ich als einziger unter den hin- und herlaufenden, leicht besorgten Passagieren fasziniert die Wechselstöße der gigantischen, aufgepumpten Figuren mit den wogenden Lagen von herangezüchtetem mächtigem Keilerfleisch. Offenbar haben diese überdimensionierten Riesenwesen die Minderwertigkeitsgefühle der Japaner im Hinblick auf ihren Wuchs voll und ganz kompensiert. Andererseits, [ 106 ]

woher konnten sie bei der jahrhundertelangen Isolation des Landes zur Zeit der Entstehung des Ringkampfs etwas von den baumlangen Ausländern wissen, die damals übrigens noch selbst die reinsten Däumlinge waren? Nein, die Aufzucht dieser rituellen Exemplare war ein selbstverursachtes und selbsterzeugtes Phänomen der reinen Freude, war Selbsterkenntnis und Selbstgenügsamkeit an sich, ohne jeden Seitenblick auf irgend jemanden oder irgend etwas. Die speziell mit einer besonderen Speiseration gemästeten Giganten verschlingen als notwendige professionelle Pflicht und als sportliches Training von Jugend auf und während ihrer gesamten Profikarriere eimerweise eine unglaubliche magische Spezialkost. Ausgewachsen und erwachsen wirken sie wie riesige Opferlämmer. In einer spezifischen geschlossenen Gemeinschaft erzogen, sind sie vertraut mit den Eigentümlichkeiten und Grausamkeiten ihrer Welt, wissen aber gar nichts von den völlig anderen Grausamkeiten und Eigentümlichkeiten der Außenwelt, wo sie den Eindruck absolut unschuldiger und unwissender Wesen machen, so verwundbar und rührend, daß man weinen möchte. Ich sage Ihnen, jedesmal, wenn mein Blick auf den Bildschirm fiel, wo diese Wesen herumtappten, hatte ich einen Kloß in der Kehle, und auf der Wange spürte ich das flinke Maustrippeln eines zum Kinn rollenden kitzeligen Tropfens salziger Flüssigkeit. Sie wachsen und wachsen, unaufhaltsam. Sie erreichen Alter und Größe der Reife und einer besonderen, nur ihnen eigenen Vollendung und Vollkommenheit. Man kommt zu ihnen und bindet sie. Nein, man bindet sie nicht einmal, sondern zerrt sie einfach zum rituellen Schafott. Mit ihren Riesenkräften könnten sie diese lästigen kleinen Küchenschaben-Menschlein viele Kilometer weit auseinanderschleudern, aber sie wehren sich, da sie ihre Bestimmung kennen, nur dem Schein nach. Man schleppt sie zum Ort der Exekution, zwingt sie auf die mächtigen breiten Knie, biegt ihren Kopf zum sich vorwölbenden gigantischen Globusbauch hinunter und hält ihn dort einige Minuten lang fest. Der Atem aller Teilnehmer der Ringkampfzeremonie wird ruhig, rhythmisch, fällt mit dem erhabenen, allerdings von außen unhörbaren Rhythmus von Himmel und All [ 107 ]

zusammen. Für einige Zeit herrscht absolute Stille, und die ganze Umgebung ist vollkommen erstarrt – keine Stimme hebt sich, kein Knarren knarrt, kein Blatt wiegt sich, keine Wolke segelt vorüber, um einen tröstlichen Schatten auf die Gesichter zu werfen. Nichts geschieht. Dann schneiden die Exekutoren mit dem leichten Schwung eines scharfen Rasiermessers ihren Opfern an verschiedenen Stellen die Haut auf und prüfen, nachdem sie ein bestimmtes Stück davon abgezogen haben, ob die erforderliche Konsistenz und Dichte der Fleisch- und Fettschicht gegeben sind. Dann wird eine ladestockgroße geschärfte Nadel in den Körper getrieben, und man ermittelt anhand der darauf zurückgebliebenen Spuren, ob Schichtung und Abfolge der herangezüchteten Lagen des nicht leicht zu erzeugenden ungeheuren Fleisches korrekt geartet sind. Danach drückt man das kleine Köpfchen, dem der federnde Körper nicht erlaubt, sich tief genug zu neigen, mit festem Griff zur Erde nieder – und das war’s! Apropos, genau mit diesem Trick, indem sie Temperament und Elan des Gegners ausnutzen und seinen Kopf unerwartet schroff nach unten drücken, reißen die gewandtesten und schlausten SumoRinger nicht selten übereifrige Partner, die ihnen manchmal an Lebendgewicht weit überlegen sind, zu Boden. Der Kampf wird ohne eine Einteilung in nutzlose Gewichtsklassen durchgeführt, die die soziale Einheit des engen Kollektivs zu sehr personalisieren und zersplittern würden. Alles geht nach den archaischen Regeln absoluter und totaler Kraft vor sich. Nur ein Sieger wird bestimmt, ohne irgendwelche zweiten oder dritten oder weiteren Plätze. Er bekommt auch alle Preise, in unglaublicher Anzahl. Gut, es gibt eine bestimmte hierarchische Klassifizierung der Ringer, aber sie manifestiert sich überhaupt nicht äußerlich in irgendwelchen Preisen oder Auszeichnungen. Es gibt sie bloß zum internen Gebrauch und zur Information für die Zuschauer. Wie man mir erzählt hat, sind die Einzelheiten des Spektakels voller Bedeutung und gehen auf mythologische Vorzeiten zurück. Der Kampf zweier kolossaler Giganten spiegelt den Kampf der zwei Elemente Yin und Yang wider (es sind ja auch ihre Symbole Weiß [ 108 ]

und Schwarz vertreten). Dabei wird in Mitteilungen über den Ausgang des Kampfes immer Weiß, also Yin, als Sieger dargestellt – was ja auch einleuchtet. Das ganze Geschehen vollzieht sich innerhalb eines unerhört schlüpfrigen Lehmkreises, der den Himmel symbolisiert (der Lehm repräsentiert logischerweise das Firmament). Das über dem Kreis hängende quadratische Tuch, gehalten von vier Säulen in den Farben der vier Himmelsrichtungen, bedeutet die Welt. Und es ist auch die Welt. Buchstäblich die ganze Welt, im wörtlichen Sinne. Außerdem sind noch im System der unterschiedlichen Markierungen, in der Zählweise der Punkte zur Ermittlung des Siegers, im Ritual der Vorstellung der Kämpfer und besonders der Meister dieses Fachs, im spezifischen Halbtanz oder der Halbpantomime der Sieger, im Reiswerfen, in den Rufen der Kampfrichter und in den Daten, Fristen und der Dauer der durchgeführten Wettkämpfe eine Menge Hinweise und Details enthalten, die auf uralte mythologische Schichten zurückgehen, sich aber heute selbst von den feinsinnigsten japanischen Forschern nicht mehr erkennen oder rekonstruieren lassen. Ach, und überhaupt, zu ihrer größten Schande und eigentlich zur Schande der ganzen Nation kamen die drei letzten allerstärksten und allererfolgreichsten Sumo-Ringer aus Hawaii. Einer von ihnen, der große Kanischka, hat den Sport aufgegeben und betätigt sich jetzt, übrigens außerordentlich virtuos, in allen möglichen Reklamespots und Shows, was nach den Regeln der ziemlich elitären und archaisch wie eine Zunft organisierten Ringerkaste und ihrer ganzen Umgebung einfach unerhört und sogar unvorstellbar ist. Jedoch haben die Japaner ihm, wie man mir sagte, verziehen und lieben ihn auch in seiner neuen Eigenschaft. Und er ist tatsächlich unnachahmlich elegant mit seinen weichen und scherzhaften elefantenähnlichen Gesten zur Musik oder ohne sie, wenn er mit dem fast kindlich gutherzigen Lächeln seines breiten Mundes in dem winzigen Köpfchen, das seine schrankförmige, in einen leuchtenden Kimono gehüllte Figur krönt, all den Kühlschränken, Kaffeemühlen, Motorrollern und so weiter seinen Segen gibt. Als er noch eine unbesiegte Größe war, raste er mit einem Gewicht von etwa dreihundert Kilo mit einem Motorrad durch die Gegend. [ 109 ]

Man kann sich das Ergebnis eines Zusammenstoßes mit einem beliebigen anderen Transportmittel vorstellen. Und als Zuschauer kann man sich auch sehr gut vorstellen, wie die Giganten unter dem Aufprall eines anderen Riesen von den extrakleinen Spezialpodesten herunterkrachen, die extrahoch, nämlich ein paar Meter über dem Boden, errichtet sind. Nur eine unglaublich feste Schutzschicht aus herangezüchtetem Fleisch und Fett von dreihundert bis dreihundertfünfzig Kilogramm schützt die Teilnehmer vor dem Bruch aller möglichen, auch in ihrem trotz allem menschlichen Körper vorhandenen Rippen und Knochen. In ständiger Gefahr befinden sich dabei die nächststehenden, dicht an das Podest herangetretenen Zuschauer sowie die Betreuer der Zweikämpfe. Die große Anzahl tödlicher Fälle von Stürzen unmenschlichen Gewichts aus gigantischer Höhe auf Richter, Fotoreporter und einfache Zuschauer von durchaus menschlicher Gestalt irritiert oder deprimiert das Publikum aber anscheinend kein bißchen. Mit beneidenswerter Regelmäßigkeit werden neue Richter gestellt (von neuen Zuschauern spreche ich erst gar nicht). Sie sitzen ernst und konzentriert in den vier Ecken des obenerwähnten Podests in der obenerwähnten Haltung, wobei sie, den Kopf tief gesenkt, dem Geschehen nicht einmal zusehen, aber mit ihrer speziell antrainierten inneren Intuition alles wissen, begreifen, vorhersehen und durchschauen und unfehlbar den Sieger ermitteln. Und das leuchtet auch ein. Die Richter haben wie die übrigen wenigen Eingeweihten Zutritt zu den inneren Gemächern und den Trainingssälen der Ringer, wo letztere, wenn sie morgens aufgestanden sind, ihre erste gigantische Portion lebensspendender Grütze vertilgen. Anschließend sitzen die Giganten eine Stunde lang in einer speziellen Haltung mit gespreizten Knien, wobei sie allmählich mit einer kaum sichtbaren Bewegung und für einen Außenstehenden fast unmerklich (aber was hätte hier ein Außenstehender zu suchen!) die Beine strecken und die Position des absoluten Spagats einnehmen. In dieser Position erstarren sie für lange Zeit, bis spezielle Angestellte sie wieder zu sich bringen, indem sie zart mit melodischen Glöckchen klingeln und die Giganten mit langen schmalen Pinselchen in den behaarten Ohrmuscheln kitzeln. [ 110 ]

Mit einer ebenso langsam-gleitenden, fast nicht zu fixierenden Bewegung erheben diese sich aus dem tiefen Spagat, der einem das Begriffsvermögen übersteigenden Absturz gleicht, zu voller Größe und erstarren von neuem für einige Stunden. Danach folgen ein paar leichte Sparring-Runden, beendet mit drei, vier Kämpfen voller Kraft. Woher das bekannt ist, weiß keiner. Kein Außenstehender hatte jemals Zutritt zum inneren Leben dieser Sekte. Keines ihrer Mitglieder und keiner ihrer Betreuer hat das Recht, der Außenwelt davon etwas kundzutun. Und keiner hat es je getan. Und keiner würde es je tun, egal für welches Geld und Gut und unter welcher Folter. Den Frauen der Ringkämpfer nimmt man einen schrecklichen Eid über das Nichtausplaudern jeglicher Details aus dem Berufs- wie dem Privatleben ab. Zuvor wird die Frau lange und akribisch in den Grundlagen der familiären, Klan-internen und sakralen Mission ihrer künftigen Gattenrolle unterwiesen. Vor allem in der Fertigung der Spezialkost. Die Zutaten und die Modalitäten ihrer Zubereitung und Konservierung sind ein großes Geheimnis sogar für die Konsumenten selbst. Eßt nur, schafft euch euer unglaubliches Nilpferdgewicht an, kümmert euch um die Sache selbst, aber steckt eure dicke Nase nicht in geheime Belange. Den Frauen wird ein dreifach blutig-körperlicher Eid abgenommen. In gewisser Weise erinnert mich das an die ebenso vor fremden Blicken verborgenen Rituale und geheimnisvollen Zubereitungs- und Konservierungsmethoden des Sirups „Logidse-Wasser“, der früher direkt im Zentrum von Tbilissi auf dem Rustaweli-Prospekt produziert wurde. Ob die Firma wohl nach den vielen Bredouillen noch besteht? Ob es den Sirup noch gibt? Ob er nach wie vor die wenigstens damals lässigen und eleganten Einwohner Tbilissis und die faszinierten Gäste Georgiens erfreut? Ach, einmal noch dort sein und probieren! Eine exquisite Leckerei ist das, sage ich Ihnen. Mir fällt auch die Geschichte von den paar zusätzlichen Ingredienzien in dem Getränk Coca-Cola ein, aber daran glaube ich nun wirklich nicht. Was kann es da schon für furchtbar wichtige Geheimnisse geben? Ach was, irgendwelche Heimlichkeiten, nach denen keiner fragt. Die sollen sie nur ruhig für sich behalten! [ 111 ]

Indessen werden all diese Geheimnisse wie stets und überall auf unbekannte Weise publik. Zwar stellt sich die Frage, inwieweit man hier von Zuverlässigkeit und Authentizität ausgehen kann. Womöglich lügen die Leute auch nur schamlos? Wir haben jedoch keine andere Möglichkeit, etwas darüber in Erfahrung zu bringen und Ihnen diese gewaltige Wahrheit mitzuteilen. Es gibt auch keine Möglichkeit, die Wahrhaftigkeit der vernommenen und an alle Welt weiterverteilten Angaben zu überprüfen. Doch man wird ja wegen derart lachhafter und diffuser Zweifel nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Zumal sie selbst, die quasi wahrhaftige Wahrheit und Richtigkeit, transformiert in Wörter, Sätze und Texte, an Ausdruckskraft und Spannung der unseren wenig voraushat. Nun, vielleicht ein bißchen, aber prinzipiell hat sie ihr nichts voraus. Also – auf geht’s! Nach dem ersten Training beginnt die entscheidende Prozedur. Der Sumo-Ringer steht auf einem Bein, hebt das andere seitlich, parallel zum Boden, an, breitet die Arme aus, drückt den Kopf an die stämmige Brust und bleibt lange starr so stehen. Nach einiger Zeit, etwa nach einer Stunde derartigen Stehens, beginnt sein Skelett einen charakteristischen, gleichmäßigen reinen Laut von sich zu geben, der an das Summen der Drähte von Hochspannungsleitungen erinnert. Der Ringer läuft ein kleines bißchen blau an und kühlt merklich ab. Jedenfalls breitet sich nach dem Zeugnis dort Anwesender ein charakteristischer kühler Hauch um ihn herum aus, der hier als „Kälte des ersten Stehens“ bezeichnet wird. Das Fleisch füllt sich dabei mit einer bleiernen Schwere, die die Haut regelrecht zu Boden zieht, so daß die ganze Konstruktion von der Seite aussieht wie ein merkwürdiges Stalaktitengebilde. Nach einiger Zeit zieht sich das Fleisch nach innen zusammen und läßt dabei gigantische leere Taschen zurück. Allmählich, langsam, dumpf pulsierend, füllt sich der befreite Raum der Haut mit anschwellendem, eigenartig schwerem und quecksilberähnlich schlüpfrigem Fleisch. Eines Tages bekam ich unter merkwürdigen Umständen die Gelegenheit, mit zwei Fingern verstohlen den Körper eines professionellen Sumotori im spezifischen Zustand totaler Spannung zu [ 112 ]

berühren. Einzelheiten dieser Umstände kann ich nicht einmal diesem russischen Text anvertrauen, der wohl kaum jemals einem Vertreter der exklusiven Sekte unter die Augen kommen und von ihm gelesen werden wird. Und dennoch lasse ich die ganze Vorsicht walten, auf die mich meine Gönner hingewiesen haben, die mich dort einließen und, wie übrigens auch ich, im Falle der Entdeckung unserer Späherei und Spionage in keiner geringen Gefahr geschwebt hätten. Meine Empfindung nun war extrem außergewöhnlich – als hätte ich eine zerlaufende, fast nicht mehr spürbare und vergehende quasiräumliche Substanz berührt, in der man einsinken und bis zur Unendlichkeit, bis zum völligen Verschwinden immer weiter versinken könnte, wenn dem nicht eine magisch-rituelle Grenze gesetzt wäre. Und gleichzeitig ließ diese Haut nichts auch nur einen Millimeter durch ihre gleichsam mit Starkstrom geladene glatte, fast glacélederartige Oberfläche hindurch. Eine gewisse Vorstellung von der Sache vermittelt die bekannte pantomimische Übung mit dem tragischen Betasten einer phantomartigen, inexistenten, aber gleichzeitig undurchlässigen, die betreffende Person von allen Seiten umgebenden transparenten Wand. Oder auch, wie ich auf meinen ersten Reisen ins frappierende Europa in vollem Lauf mit Nase und Brille gegen blendend blankgeputzte, unsichtbare und deshalb fast nicht existente Schaufenster und Glastüren knallte. Ich konnte die neu errichtete durchsichtige, für die üblichen russischen Wahrnehmungsmanöver unaufspürbare Grenze zwischen Künstlichem und Realem, zwischen Schaufenster und Leben nicht erkennen. Ich hatte nur Erfahrung im Umgang mit unseren undurchsichtigen, trüb angelaufenen Glasscheiben, überzogen vom Geheimnis und der letztlich unbeschreiblichen Intimität der Orte und Räume, die sie abgrenzten und schützten, indem sie die Außenwelt des Beobachters in einen Ort der Traurigkeit und Unbehaustheit verwandelten. Besonders wenn man an kalten Winterabenden an Fenstern vorbeibummelte, hinter denen ein anziehendes und verlockendes gelbes Licht leuchtete. Da fühlte man sich unerträglich einsam und verwaist. Sogar wenn man zu zweit war, wenn du und ein Freund, sagen wir, Wowik aus dem Nachbaraufgang, euch an das leuchtende [ 113 ]

Fenster des Kontors der Hausverwaltung preßtet und dabei die kleinen Kindernasen plattdrücktet – trotzdem fühltet ihr euch nicht besser! Trotzdem wart ihr Bewohner der Außenwelt, die in dem paradiesischen Kosmos beheizter, glücklicher Büroräume nichts zu suchen hatten. Okay, ich bin etwas abgeschweift. Hab den Faden verloren. Aber es tut so unbeschreiblich gut, an diese Fenster zu denken, an Wowik oder Tolik und an mich selbst, der ich noch unverständig war, aber alles so sensibel und so intensiv verspürte, wahrnahm und empfand! Na ja, was soll’s. Also, nachdem er infolge der oben beschriebenen Prozeduren fünf, sechs Kilogramm zugelegt hat, nimmt der Ringer mit innerer Anstrengung seine Haut wieder hoch, strafft sich und steht eine halbe Stunde schweigend da, um eine neue innere Balance zu gewinnen. Infolge solcher täglicher Übungen wiegt er am Ende seiner Karriere etwa dreihundertfünfzig bis vierhundert Kilo. Es ist klar, daß der Prozeß in keiner Weise forciert werden darf, und alle arglistigen Versuche, Zeit und Folgerichtigkeit zu hintergehen, endeten in der Regel und enden auch bis heute tödlich. Nein, es geht nur mit dieser langsamen, erschöpfenden, alle anderen Interessen und Verbindlichkeiten bis zum Nullpunkt absorbierenden Routine. Übrigens kommt etwas Derartiges ja in all den öden langjährigen Kloster-, Einsiedler-, Meditations- und Jogasystemen und -prozeduren zur Erlangung höherer Kenntnisse und Fähigkeiten vor. Ein Forcieren endet immer ergebnislos und häufig tragisch. Danach folgen die Wasserprozeduren. Die Giganten tauchen schweigend in riesige Wasserzuber, wobei sie die Menge Wasser verdrängen, die dem auch hier, in diesem geschlossenen sakralen Raum, wirksamen Gesetz des Pythagoras entspricht. Einige noch junge Anfänger waschen die kolossalen Körperflächen und -zonen der Großen, Verdienten, Berühmten und dem Alter und entsprechend dem Gewicht nach Fortgeschrittenen ab. Generell herrscht in den geschlossenen Internaten, in denen die Ringer unabhängig von Alter und Verdienst ihr ganzes Leben verbringen, eine brutale Hierarchie mit den üblichen Prügeln, Demütigungen und der erbarmungslosen Ausbeutung der Jüngeren. Aber alles nur zum Besten [ 114 ]

der Jugend und zugunsten der Sache. Die Anfänger waschen ihre Idole voller Bewunderung und vergleichen dabei in Gedanken deren Maße mit ihren eigenen, nach dortigen Begriffen schwächlichen Körpern – bloß um die hundert, hundertfünfzig Kilogramm Lebendgewicht. Besonders akribisch werden die tiefen Fettfalten ausgewaschen, da bei der hiesigen Hitze und Feuchtigkeit immer die Gefahr besteht, daß dort wie Feuersbrünste um sich greifende wunde Stellen oder auch Kolonien gefräßiger und sich stürmisch vermehrender Freßbakterien auftauchen. Beim Anheben der gigantischen, flußpferdartigen, gerundeten und elastischen Körperschichten tun sich richtiggehende tiefe, schwärzliche und übel nach abgestandener Luft und faulendem lebendigen Fleisch riechende Abgründe auf, die von einem eigenen isolierten und geheimnisvollen Leben erfüllt sind. Zu Schwere und Intensität des in den Räumen herrschenden Geruchs trägt außerdem das tägliche Einschmieren des Athletenhaars mit einem speziellen, unerträglich stinkenden Öl bei, das ihm Geschmeidigkeit verleiht und es ermöglicht, daraus ganz spezielle spitzfindige und hyperraffinierte rituelle, geradezu architektonische Konstrukte auf den kleinen Köpfchen zu errichten. Das Öl dringt durch die Haarkapillaren in die Haut, verbreitet sich von dort aus im ganzen Körper und verläßt die Ringer für den Rest des Lebens nicht mehr. Es ist interessant, daß künftige Gattinnen, die mit diesen Übermännern die nicht gerade leichten Bande der Ehe zu knüpfen trachten, frühzeitig davor gewarnt werden. Für die Frauen, ja überhaupt für alle Leute, die nicht daran gewöhnt sind, aber bei diesem Geschäft mittun wollen, existiert eine in alter Zeit speziell ausgearbeitete Methode der Akklimatisation oder Gewöhnung an einen derartigen Geruch, den ein normaler Mensch auf keinen Fall ertragen kann. Wer nicht daran gewöhnt ist, muß sich auf der Stelle übergeben. So etwas passiert nicht selten bei Wettkämpfen, wenn ein unachtsamer Fan in Ekstase unerlaubt nah an das Podest herangeht. Manchmal geht das tödlich aus. Die Gewöhnungsprozedur spielt sich schrittweise und sehr langsam ab. Bei dieser Sache ist es wieder am gefährlichsten, den Prozeß zu forcieren. Der Geruch muß sich allmählich, in kleinen Portionen, in den Poren des sich Gewöhnen[ 115 ]

den ansammeln und dort abstehen. Dann fängt auch dieser an, ein wenig zu riechen. Natürlich nicht so stark wie die Ringer. Aber jedenfalls dreht man sich auf der Straße und an öffentlichen Orten schon nach ihm um. Das ist so etwas wie ein Zugehörigkeitsmerkmal. Man tut das mit einem gewissen Ekel, aber gleichzeitig mit Respekt und Bewunderung. Übrigens besteht die größte Schwierigkeit für einen Sumo-Ringer nach dem Abbruch seiner Laufbahn im Problem des Gewichtsabbaus und im Loswerden des Geruchs. Das eine wie das andere gelingt selten jemandem. Und endgültig gelingt es nie. Übrigens riechen die normalen Japaner ihrerseits überhaupt nicht. Absolut nicht. Weder unter den Achseln noch in der Schamgegend. Weder riechen ihre Socken, noch stinkt es faulig aus den Ohren oder dem Mund. Ein erstaunliches Phänomen. Ich habe sie über ihre Eßgewohnheiten ausgefragt – nichts Besonderes. Ich aß dasselbe und stank wie ein Schwein. Ich dachte, es liegt vielleicht am Wasser – nein, auch nicht. Und sie schwitzen absolut nicht. Einfach frappierend, wie die kleinen Japaner bei der Hitze hier, wo du schweißüberströmt daherläufst, an dir vorbeijoggen, die wollenen Trainingsanzüge bis zum Kinn zugeknöpft, mit hochgestellten Kragen und mit Wollmützen und Wollhandschuhen – und es läßt sie völlig kalt! Und dann habe ich nicht bemerkt, nicht ein einziges Mal, daß ein Japaner einen fahren läßt. Auch nicht in zutiefst männlicher Gesellschaft. An keinem öffentlichen Ort, nicht in Fluren, nicht auf der Toilette – es passiert nicht. Kommt nicht vor. Und überhaupt nicht deshalb, weil sie besonders feinsinnig wären (obwohl das so ist) oder besonders schamhaft (obwohl sie es sind!, sie sind schamhaft!, sehr sogar!). In ihrer Physis gibt es einfach nichts dergleichen. Offenbar ist diese Nation so. In Japan hat mich auch ein sonderbarer Aussatz befallen. In relativ kurzer Zeit pellte sich wie bei einer Schlange meine ganze Haut ab. Das war eine physische und besonders eine psychische Qual – es war mir peinlich, mich an öffentlichen Orten zu zeigen, ich hüllte mich bis zum Hals ein, aber die Krankheit verriet sich [ 116 ]

trotzdem. Als die Japaner erfuhren, worum es ging, lachten sie. Sie erklärten mir, daß Japaner eben deshalb so sauber und geruchlos sind, weil sie regelmäßig ihre alte Haut abwerfen, in die sich, wie man sie auch wäscht und mit den neuesten Shampoos abrubbelt, unausrottbar der Dreck, Schweiß und Unflat der Welt hineinfrißt. Sie werfen alle halbe Jahre die alte ab und stehen in einer neuen, sauberen da. Aufgrund jahrelanger Praxis und jahrhundertelanger Tradition vollzieht sich die Prozedur bei ihnen rasch – innerhalb von vierundzwanzig Stunden – und völlig schmerzlos. Ich staunte nur, konnte aber nichts mehr daran ändern: Meine Haut blätterte ab. Allerdings war ich in einer gewissen Unruhe, denn für unsere Verhältnisse ist eine solche Sauberkeit womöglich übertrieben oder sogar schädlich. Das werden wir kontrollieren. Obwohl es in der russischen Geschichte vor mir schon mehr als genug Kontrolleure gegeben hat. Es ist bekannt, wie das für sie und für uns alle ausging. Also, nach dem Waschen verschlingen die Ringer erneut einen Eimer kalorienreicher Kost und gehen für drei, vier Stunden schlafen. Abends wird das ganze Programm von A bis Z wiederholt. Alle zwei Monate begeben sich die Nutzer von heimlichen Tempeln und Trainingstatamis in öffentliche Säle, wo sie dem Publikum ihre Kraft, ihr herangezüchtetes Gewicht und ihr professionelles Können präsentieren. Das Publikum rast. Man kann sich vorstellen, wie das noch buchstäblich vor einem Jahrhundert wirkte! Welche Größe, welch mystisches Einvernehmen! Andererseits verdirbt das Publikum in gewisser Weise die Reinheit von Design und Aufmachung der Darbietungen. Natürlich sähe das bei absoluter Leere und Stille weitaus effektvoller aus. Ja, vielleicht sollten bloß der Kaiser und einige seiner engsten Vertrauenspersonen und einflußreichsten Hofleute anwesend sein. Und sicher wäre es gut, wenn einer von uns Kaiser wäre, um uns einzuladen. Am besten wäre es, selbst Kaiser zu sein und keinen irgendwohin einzuladen, sondern der Wache unter strengen Verweisen mit unglaublichen asiatischen Foltern zu drohen angesichts der bloßen Möglichkeit des Eindringens von Unbefugten und Unerwünschten in die menschenleeren Räume der unbewohnten [ 117 ]

Säle und riesengroßen Gärten des Kaiserpalastes zu Tokio. Es wäre schön, sich im Palast eine winzige Kammer als Wohnraum auszusuchen, sie behaglich einzurichten und, nachdem man rasch die übrigen zahllosen kalten, leerstehenden Räume durcheilt hat, in die unüberschaubaren Weiten des inneren Parks hinauszutreten. Einsam auf den schattigen Pfaden um die grünen Teiche herum zu wandeln und zuzuschauen, wie die gigantischen zweihundertjährigen Karpfen ihre grätigen Greisenmäuler herausstrecken und Beschwörungsformeln zur Erhaltung des Kaisers sprechen. Bisweilen aus den Pfoten bläulich schimmernder Eichhörnchen eine Gabe in Form einer goldenen Nuß, bestreut mit weißlichem Salz, oder einer Seidenrolle mit geheimnisvollen Schriftzeichen entgegenzunehmen. Und urplötzlich preßt ein unvorstellbares, unüberwindliches, ganz unvergleichliches Gefühl von Einsamkeit das Herz zusammen und tritt als schleimiger Kloß in die Kehle, den man nicht wieder herunterbringt, genau wie wenn man dem hoffnungslosen letzten Akt der Verdi-Oper „La Traviata“ lauscht. Tränen der Verlorenheit und Verlassenheit treten einem in die Augen. Man möchte fortlaufen, irgendwohin, um Liebe und Anteilnahme zu suchen. Doch nein, du schluckst den Klumpen herunter, straffst dich und schaust nur um so strenger in Richtung der zitternden unsichtbaren Wache. Übrigens, als ich gerade „La Traviata“ und damit die ganze klassische Musik erwähnte, dachte ich sofort an einen unglaublichen Sachverhalt, der damit in Zusammenhang steht. Nicht mit „La Traviata“, meine ich, sondern mit klassischer Musik. Obwohl, wer weiß, vielleicht hat „La Traviata“ in den Augen einiger verfeinerter und in dieser Verfeinertheit ganz schmal gewordener, strenger, ja einfach harter Richter weder das Recht, die ganze klassische Musik zu repräsentieren, noch auch nur überhaupt als solche zu gelten. Ich kannte derartige Leute. Und wurde von ihnen mehr als einmal wegen meiner plebejischen und unverbesserlichen Leidenschaft für die Opernkunst beschämt. Zum Beispiel hat der berühmte Lew Landau voll Zorn, Sarkasmus und unvorstellbarem Dünkel jeden, der dieses unwürdige, ja [ 118 ]

unanständige Genre zufällig erwähnte, aus seinen begehrten Seminaren über theoretische Physik verbannt. – Was? Die italienische Oper? Eine Plattheit für die Armen im Geiste und im Gedanken! Demnächst reden Sie noch von der Operette! – explodierte der große Gelehrte. Er ließ natürlich nur Monteverdi, Bach und Gluck gelten. Und Mozart. Eventuell noch Mahler, glaube ich. Ja, ich glaube, Mahler auch. Und vielleicht noch Bartok. Ich selbst habe Landau nicht gekannt und seine Seminare nie besucht. Von dem, was dort gemacht, geredet und wie Magie verkündet wurde, weiß ich nicht einmal vom Hörensagen etwas. Und überhaupt, wem von den Großen und Berühmten bin ich schon auf meinem farblosen und kümmerlichen Lebensweg begegnet! Leider, leider hat mir keine charismatische Persönlichkeit ihren Segen gegeben, so daß sich meine Beurteilungen von Menschen wie auch von Vorgängen, die sich um mich herum abspielen, der Sünde des Voluntarismus und der Kriterienlosigkeit schuldig machen. Man könnte sogar sagen, der absoluten Phantasterei. Ich äußere mich aber trotzdem, obwohl ich weiland keine Chance hatte, das erwähnte Seminar zu besuchen. Ich kann’s mir eben, und zwar absolut glaubwürdig, so vorstellen: Aber ich, ich hab das doch als Witz gemeint, daß das totaler Kitsch ist ... Totaler Blödsinn ... – Hastig sucht der unglückliche Verbannte mit dem fast schon komplett ruinierten wissenschaftlichen Ruf nach einer rettenden Erklärung. Wie? Blödsinn? Kitsch? – Blitzschnell denkt Landau scharf nach. – Na gut. – Mit einem gewissen Degout verzeiht er eine derartige Verirrung, da er darin versteckt Ironie und Spottlust vermutet, nach seiner Vorstellung ebenso unabdingbare Begriffskomponenten erhabener Spiritualität und Intellektualität wie Voraussetzungen für rasante spekulative Höhenflüge und elegante Manipulationen in der virtuellen Sphäre seiner unmittelbaren Tätigkeit und Lebensleidenschaft, der theoretischen Physik. Gemäß der wohlwollenden Herablassung des großen Gelehrten erklären wir uns also damit einverstanden, daß „La Traviata“ möglicherweise zwar nichts aus der Sphäre der ernsten Musik, aber [ 119 ]

immerhin irgend etwas repräsentiert. Wir haben uns einverstanden erklärt. Und jetzt sind wir damit einverstanden und wenden uns einer der seltsamsten Fernsehsendungen zu, die ich in der kurzen Geschichte meiner Bekanntschaft mit dem Fernsehen je gesehen habe und die mir gerade im Zusammenhang mit der Erwähnung von „La Traviata“ und E-Musik in den Sinn kam. Man gab, wie man so sagt, Beethoven, seine berühmte Neunte. Natürlich nicht die Zwölfte. Also. An der pathetischsten Stelle, der Ode „An die Freude“, zeigten sich zu Füßen des Chors, hinter dem Orchester, aber gut sichtbar, da sich Aufmerksamkeit und Geschick der Kameraleute in dem Moment auf sie konzentrierten, vor meinen Augen seltsame Geschöpfe. Bei unserer russischen Rückständigkeit und ausgeprägten Archaik in dieser Hinsicht, bei unserer dumpfen, antiquierten, blitzartigen inneren assoziativen Bereitschaft, jegliche menschliche Unvollkommenheit und Mißbildung mit einem Unglück, das sich auf uns zu stürzen droht, mit einem moralischen Makel und sogar mit einer Strafe Gottes in eins zu setzen, konnte das, was ich sah, mit Fug und Recht wie Ketzerei wirken. Doch auf der heutigen westlichen und allmählich schon die ganze übrige Welt erobernden Skala der political correctness verdiente dieser Anblick die höchste Wertung von allem, was ich bisher gesehen hatte. Natürlich hatte ich schon diverse und auch höchst originelle Dinge gesehen. Zum Beispiel entdeckte ich bei einer Wagner-Aufführung in der National Opera in London mit einem Male eine Frau in langem schwarzem Abendkleid, die unter einem verwaisten ExtraLichtstrahl direkt am Rand der Bühne stand. Sie vollführte mit den Händen eine mysteriöse, ausdrucksvolle und mir anfangs unverständliche Pantomime. Das heißt, ich begriff nicht, wie oder auf welche Weise das mit dem hochromantischen „Fliegenden Holländer“ in Verbindung stand. Was verzeiht man nicht alles den heutigen avantgardistischen Reformern der verstaubten und von einem Schmierfilm überzogenen Opernbühne, was läßt man sich nicht alles von ihnen gefallen! Doch es stellte sich heraus, daß das nicht etwa ein hypermoderner Inszenierungstrick war, sondern einfach eine [ 120 ]

Übersetzung des Bühnengeschehens in die Gebärdensprache der Gehörlosen. Wie sich ihnen die Musik vermittelte – ich weiß es nicht. Anscheinend kann man sie, wie ich mal gehört habe, als Schwingung von Luftschichten oder -wellen in der Atmosphäre wahrnehmen. Oder man kann, fest an eine harte Oberfläche gedrückt, kleine Differenzen und Graduierungen in deren Schwingungen verspüren. Keine Ahnung, mag sein. Eine andere Erklärung für das Ereignis kann ich nicht finden. Doch was ich im japanischen Fernsehen gesehen habe, ließ die langweiligen Engländer weit hinter sich. Also, zu Füßen des Chors saßen in Rollstühlen eine Menge halbgelähmter Leute, die sich auf unterschiedliche Weise hin und her warfen, jeder in seinen eigenen Konvulsionen, die weder im Rhythmus, noch in der Intensität miteinander oder mit der Musik übereinstimmten. Sie öffneten ihren Mund mit der darin sichtbaren dicken bläulichen Zunge und sangen oder röhrten offenbar etwas, was bei dem allgemeinen Dröhnen des Orchesters und dem harmonischen, kraftvollen, optimistischen Klang des Chors, der aus gesunden, sogar hypergesunden Leuten bestand, unmöglich herauszuhören war. Nach allen Seiten flogen unkontrolliert zuckende Arme, wirre Haare auf zurückgeworfenen Köpfen, Speicheltropfen von feuchten Lippen. Man möge mir verzeihen, aber ich möchte festhalten, daß alle diese Gesichter, noch dazu spezifisch grell und ungeschickt geschminkt und aus nächster Nähe aufgenommen, an Bilder aus Phantasmagorien Fellinis erinnerten. Am häufigsten wurde einer mit einem langen, eingefallenen Gesicht gezeigt, der in Ekstase unverständliche Worte herausschrie. Ein gefällig herbeigeholtes Mikrofon drängte den organisierten, hervorragenden Chorgesang in den Hintergrund und gab Töne wieder, die an die körperlichen Qualen des ertaubten und stotternden Beethoven erinnerten. Durch den zurückgekehrten vollen Orchesterklang hindurch drang etwas, das nicht gerade gut mit ihm harmonierte ... Doch schon konnte man es nicht mehr ignorieren. Das Gehör tat nichts anderes mehr, als sich auf der Suche nach diesen seltsamen Klängen anzuspannen. Seltsamerweise verwandelte sich alles Schritt für Schritt in ein auf [ 121 ]

seine Art harmonisches Schauspiel, das mit seiner Resonanz die ganze Umgebung, die Bühne, die Chorsänger, den Saal, die Fernsehkameras zum Schwingen brachte. Gewaltig tönte es: Freude! Freude! Freude!* Freude! Freude! Unirdische Freude! Irrsinnige Freude! Mein Gott, welch unerträgliche Freude! Schon durchschlugen mit vereinter verwegener Kraft die Männerstimmen auf dem Weg zum Himmel und zur allgemeinen Einigkeit im Glück die Decke des riesigen Konzertsaals. Ich hielt mich an meinem Stuhl fest und stieß mir meinen duseligen Kopf schmerzhaft an dem gefährlich niedrig hängenden Balken an der Decke meines kleinen, durch und durch zitternden japanischen Holzhäuschens. Bretter und Bambusgestänge knirschten und knackten. Der flakkernde und funkensprühende Fernsehschirm war voll von aufgerissenen Mündern und sich langsam darin bewegenden schleimigen, wie Schlangen ineinander verschlungenen Zungen. Die mutigen, erfahrenen Kameramänner, imstande, auch in einer so außergewöhnlichen Situation mit ihren bleischweren Kameras umzugehen, nahmen beharrlich – und richtig! – von nichts anderem ringsum Notiz und rannten nur von einem Recken der Exaltiertheit zum anderen. Und da, auf dem Gipfelpunkt der Apotheose und fast der Apokalypse, gefror auf dem Bildschirm die Nahaufnahme eines zuckenden Gesichts mit weit aufgerissenem Mund, und es erklang ein engelhaftes, ungemein hohes Frauensolo. Und alles kam nach leichtem Schwanken wieder zur Ruhe, kehrte in seine Umrisse und Konturen zurück. Natürlich, klar, in der Musik dreht es sich ja auch darum. Alle Menschen werden Brüder (so war das doch wohl). Natürlich. Das bestreite ich nicht. Natürlich sind wir alle Brüder! Wir sind Brüder, unabhängig von Hautfarbe, Religion, Alter, Geschlecht und irgendwelchen körperlichen Unterschieden und Behin* Im Original deutsch.

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derungen, die noch mit dem Begriff des Menschlichen vereinbar sind. Da ich kein Wort von dem japanischen Kommentar zu der Aufführung verstand, bekam ich nur das Augenscheinliche mit, wobei ich die ganze Zeit versuchte, mich am moralischen Schopf zurück in die Situation der Gleichheit aller Menschen voreinander, besonders vor der Musik und der erhabenen Spiritualität und um so mehr vor Gott zu ziehen. Vielleicht erwachen ja in den Minuten, wenn die Freude in der Ode „An die Freude“ erklingt, in den Kranken und Versehrten ungestüme Lebens- und Geisteskräfte und lassen sie des allgemeinen, normalen menschlichen Lebens teilhaftig werden. Und vielleicht eröffnet gerade ihre Behinderung und Beschränktheit gewisse unerkannte, verborgene Möglichkeiten, in ihrer Variante der musikalischen Darbietung etwas von der übrigen gesunden und dickfelligen Menschheit bislang Unentdecktes zu entdecken und hervorzuheben. Es ist ja bekannt, daß Komplexe und von der selbstzufriedenen, dickfelligen Menschheit so genannte Behinderungen nicht wenige kreative Offenbarungen hervorbringen. Dennoch läßt mir eine quälende Frage oder ein Zweifel die ganze Zeit keine Ruhe: Bis zu welchem Grad und wie tief kann die menschliche Natur von Leiden und diversen Lähmungen befallen sein, um dennoch etwas schaffen zu können, was auf dem bereits vorgegebenen Niveau von Tiefe und Vollkommenheit und vor dem Verständnishorizont der normalen erwachsenen Erdbevölkerung von anderen informativ-kommunikativ zu erfassen ist? Schwer zu sagen, aber der Anblick war auf seine Art beeindruckend, wie eine Performance. Und ich habe begriffen, daß auch ich behindert bin. Na schön, wenn nicht behindert, dann irrsinnig, das auf jeden Fall. ... Ich bin bevollmächtigt, hier im Namen der unirdischen Regierung der Unirdischen Irrsinnigen Republik zu erklären, daß alle diese irrsinnigen Gerüchte unwahr sind. Die irrsinnige Regierung des unirdischen Rußlands gewährt dem irrsinnigen Volk das unirdische Recht, das auch für die übrigen irrsinnigen Völker gilt, die das unirdische Rußland besiedeln. [ 123 ]

Wenn das irrsinnige Volk seine irrsinnigen Gesetze und unirdischen Bräuche zu wahren wünscht, dann sollen sie gewahrt werden. Gleichzeitig halte ich es für irrsinnig zu erklären, daß die irrsinnige Autonomie des unirdischen Daghestans nicht seine Loslösung von dem unirdischen Rußland bedeutet und auch nicht bedeuten kann. Autonomie bedeutet nicht unirdische Unabhängigkeit. Das unirdische Rußland und das irrsinnige Daghestan müssen die irrsinnige Verbindung zueinander aufrechterhalten. Denn nur in diesem irrsinnigen Fall wird das irrsinnige Daghestan seine unirdische Freiheit bewahren können! Und was kommt als Nächstes?!

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7. F O R T S E T Z U N G

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ndessen kommt etwas. Und es ist da. Und Gott sei Dank sind das jetzt einfachere und alltäglichere Dinge. Wenn man einmal von dem Ungewöhnlichen, selbst in Japan nicht gerade Häufigen, und ebenso von Altertum und Tradition absieht, dann stellt man fest, daß man das scheinbar allseits bekannte, innovative und exquisite moderne japanische Design wie auch die zeitgenössische Architektur, beide so oft auf den Seiten der einschlägigen Zeitschriften und in Fernsehdokumentationen präsent, innerhalb Japans ganz außerordentlich selten zu Gesicht bekommt. Obwohl es auch hier Ausnahmen gibt. Manchmal begegnet man Ausgefallenem und Unerwartetem. Von einer dieser Sachen muß ich ganz einfach erzählen, wobei ich meine rückhaltslose Bewunderung und meine gleichzeitige Verwirrung nur mit Mühe verhehlen kann. Ein Bericht also, getragen von einem Gefühl, das in allen Punkten Aristoteles’ Begriff des Erhabenen entspricht. Zunächst bringt ein Auto Sie drei Stunden lang weit in ein unbewohntes Territorium hinein, indem es in einer absolut bezaubernden Gegend höher und höher hinaufgleitet, umgeben von feierlich bewaldeten Bergen, die einander nachlaufen, einander auf den Rücken klettern, wie’s die Tiere tun. Sie erleben so etwas wie die Initiation einer Bergbesteigung. Die Hügel reichen Sie, wie der Volksmund sagt, einander weiter, wobei sie Ihnen aufmerksam in die Augen schauen und am Grad der Intensität des Funkelns Ihrer Pupille den Grad Ihrer geistigen Transformation und Ihrer entspre[ 125 ]

chenden Gerüstetheit für die draußen vor sich gehende Veränderung der imposanten Bühnendekoration ermitteln. Das erinnerte mich natürlich an Südkorea, wo ich auch zufällig einmal war. Den Ort meines vorübergehenden Aufenthalts umgaben ganz ähnliche Hügel mit dem spezifisch asiatischen Blauschimmer ihres Nebelgewandes. Ich schlenderte allein in einer dichten HolzLaub-Gegend einen menschenleeren Pfad entlang. Der kolossale metallische Gesang der Zikaden, der durch Verstärker, die die Bässe wegnahmen, bis zum Gebrüll von Kupferbronze-Stieren gesteigert schien, zerriß einem geradezu das Trommelfell. Und auf dem Gipfelpunkt seines unerträglichen Ertönens verfiel oder verschwand es sozusagen plötzlich, mit einem Mal, und wurde einfach zu einem schwer wahrnehmbaren Hintergrundgeräusch. Es war sogar, als würde es ganz und gar aufhören, aber ohne sich dabei in Qualität und Stärke auch nur um einen Fatz zu verändern. Allmählich, ganz verhalten, ganz langsam, ganz sachte anwachsend, flog und floß ein anderer tiefer, monotoner, rhythmisch-abgehackter Ton in diese Lärmstille hinein. Während ich dahinging, schaute ich mich um und lauschte angestrengt, fand aber nichts, was einen derartigen Ton hätte hervorbringen oder irgendwie als Urheber desselben hätte gelten können. Ich war absolut ruhig und gefaßt, denn auch der ohrenbetäubende Zikadengesang war ja von Wesen hervorgebracht worden, die ich nicht sehen konnte und sogar in ihrer wahren natürlich-biologischen Existenz in Zweifel zog. Der Laut war zur gleichen Zeit mechanistisch, mathematisch, überirdisch und materiell und ähnelte dem berühmten Planetenton. Schließlich wurde an einer Wegbiegung eine kleine buddhistische Kapelle sichtbar, wie eine unserer buntbemalten Märchenhütten auf Hühnerbeinen. Ich trat näher und sah hinein. Ein stiller, reglos dasitzender, kahlgeschorener koreanischer Buddhistenmönch erzeugte die monotonen Laute eines Gebetsgemurmels. Sie tönten einförmig, ohne sich in Frequenz, Timbre oder Rhythmus zu verändern. Sie erklangen ununterbrochen und ließen nirgendwo ein Ende vermuten, wie auch ihr Anfang nicht auszumachen war. Der Mönch erinnerte in seiner Regungslosigkeit und Bronzeartigkeit an eine Maschine oder einen [ 126 ]

Mechanismus zur Erzeugung dieser Laute. Ohne von ihm gesehen zu werden, stand ich schweigend hinter ihm und ging dann weiter. Während ich mich immer weiter in die Hügel und Wälder zurückzog und mich entfernte, begriff ich plötzlich, daß irgendwo in den Tiefen des Universums, wenn auch keine Schlacht, kein Kampf oder Wettstreit, so doch ein vergleichendes Nebeneinander der beiden Klangachsen Zikade und Mönch stattfand – das, was man früher nach Pythagoras Sphärenmusik genannt hat. Es ist möglich oder sogar sehr wahrscheinlich, daß es unermeßlich viel mehr Klangachsen gibt, doch in der uns oder vielmehr mir damals zugänglichen Version erklangen und rivalisierten nur diese zwei. Ich entfernte mich. Die Stimme des Mönchs löste sich allmählich im Kupferdonner der Zikaden auf. Doch auch nachdem sie physisch gänzlich aus der Raum-Zeit-Umgebung entschwunden war, fuhr sie fort, als ewiggültiger, elementarer Idealgesang zu existieren und zu klingen. Als ich auf dem Rückweg war, gewahrte ich in einer gewissen Entfernung von der Kapelle wieder ihre physisch klingende Erscheinungsform. Wieder umrundete ich die Kapelle, trat hinein, umrundete den Mönch, der mich auch jetzt nicht ansah, trat hinaus und ging in Richtung Hotel. Und ging endgültig fort. Dann fuhr ich weg und kehrte weder zu diesen Orten noch ins goldglänzende Korea je wieder zurück. Doch wie Sie sehen, hat sich dieses Bild als ein primäres und elementares hartnäckig in meinem Kopf festgesetzt. Die Fahrt hinauf wurde von einem schwach spürbaren Wattedröhnen in den Ohren und einer strikten Selbstbeherrschung im Angesicht der kritischen Natur begleitet. Ringsumher war niemand. Niemand wurde verlangt oder erwartet. Die in unserem Fahrwasser folgenden Autos blieben zurück, da sie einer solch unparteiisch kritischen Prüfung offenbar nicht standhielten. Die Verlassenheit der in Windungen hinaufführenden Straße erinnerte an die Düsternis der Flußströmung im Jenseits. Die Reise dauerte nicht zu kurz und nicht zu lang – gerade lange genug, um Ihnen keine Illusionen darüber zu lassen, daß Sie das, was sich Ihnen offenbaren würde, zum üblichen Trott eines unerleuchteten Lebens rechnen könnten. Nein, bereits nach einer Stunde konnte das gemächliche Emporglei[ 127 ]

ten nur noch als monadenhaft-exklusive, mit nichts verbundene und vergleichbare Tat gelten, bezogen einzig auf sich selbst. Schließlich sind Sie durch den Willen und die Mühe der Sie geleitenden Hände auf die erforderliche Höhe gelangt – auf eine erheblich über dem Meeresspiegel gelegene, grasbedeckte und nach allen Seiten offene, nicht besonders große flache Plattform direkt auf dem Gipfel. Und gleich fällt Ihr Blick auf den noch beeindrukkenderen, das Haupt in den Wolken bergenden, blau schimmernden, wie eine Erscheinung verschwimmenden und sich gleichsam in seinem Umfeld auflösenden Koloß des hiesigen Fuji. Ich habe ja bereits von einem, vielmehr vom zweiten Fuji erzählt, denn der erste ist trotz allem der originäre, ideale und normative, befindet sich an einem zentralen Ort und wurde in einer Vielzahl von Darstellungen mit dem Pinsel oder mit der Nadel der klassischen japanischen Farbradierung wiedergegeben. Doch vor Ihnen erhebt sich nun ein anderer Fuji, und auch der ist nicht der letzte. Der dritte oder der vierte, vielleicht auch der fünfte, je nachdem, wie man vom ersten oder primären aus zählt. Alle Berge mit einem ähnlichen Umriß werden hier üblicherweise auf einen idealen Prototyp zurückgeführt, wobei die übrigen einfach Avataras des wahren Wesens sind – und richtig so! Da Berggipfel vulkanischen Ursprungs einander generell ähnlich sind, füllt sich die Welt also mit Abbildern des Fuji. Allein in Japan existieren Dutzende davon. Und alle blicken sie in Richtung des Originals und Urhebers und führen mit ihm lautlose erhabene Gespräche. Wir lauschen – nein, nur der Wind, der in Böen daherfährt, füllt unsere Ohren mit ununterbrochenem Gedröhn. Und als Zeichen oder Markierung der Begegnung mit diesem Wunder war auf dem Gipfel, der dem hiesigen Fuji gegenüberliegt, also dort, wo wir gerade standen, eine außergewöhnliche Anlage angelegt worden. Nein, sie ragte nicht empor und trat nicht in einen unfairen, von vornherein verlorenen Wettstreit mit den Titanen, die sie umringten. Sie führte ganz im Gegenteil in die Erde. Und zwar ziemlich tief hinunter, ein umgekehrtes Bild der aufragenden Gipfel. Nach exakter Berechnung wurde dafür eine Summe ausgegeben, die genau einer Million US-Dollar entsprach. Das geschah in den Jahren [ 128 ]

des berühmten asiatischen Wirtschaftsbooms, als man mit dem Geld nichts anderes anzufangen wußte, als es in den Bau von solchen neunten, zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Welt- und Nebenweltwundern zu stecken. Was man auch tat, um dann später über die Ungeheuerlichkeit, aber die unzweifelhafte Realität derartiger Kosten zu staunen. Die Anlage nun, die einige Dutzend Meter tief in den harten Berggipfel hinunterführte, war und ist bis heute eine öffentliche Toilette. Zeitgenossen und Historiker lassen nicht zu, daß ich lüge. Dito unzählige Zeugen und verblüffte Besucher dieses Ortes. Daß man hier eine Toilette und nicht eine abgeschmackte Aussichtsplattform oder gar eine schicke Veranda angelegt hat, ist leicht erklärlich und auf einen einfachen, banal-alltäglichen Standpunkt zurückzuführen, magische und esoterische Gründe einmal außen vor gelassen. In Japan widmet man generell allerlei albernen, sogar ominösen Nichtigkeiten des Lebens, die den Menschen betreffen, ganz außerordentlich viel Aufmerksamkeit und versucht nach Kräften, sie wenn nicht zum Vergnügen zu nutzen, so doch wenigstens ihren schockierenden Schlag gegen und ihren beschwerlichen Druck auf die verfeinerte menschliche Natur nach Möglichkeit abzufedern. Auf die Einwohnerzahl bezogen, entspricht die Anzahl der Toiletten in Japan der Gesamtsumme derjenigen in den fünf oder sogar sieben am weitesten entwickelten Ländern des europäischen Kontinents. Ich rede hier ja nicht von den geographischen Orten und Ländern, die die menschlichen Schwächen verachten und nichts mit ihnen zu tun haben wollen, weshalb sie es ihnen überlassen, sich in dieser Welt einzurichten, manchmal auf Kosten des Menschen selbst. In Japan ist das nicht so. Dort gestaltet man diese und ähnliche Dinge auf sanfte, bequeme und unbeschwerliche Weise. Die im Leben unabdingbaren Anlagen, Vorrichtungen und Mechanismen finden sich immer im allernötigsten Moment und am allernötigsten Ort. Sie sind menschenleer, hallend und ohne jeden deprimierenden Geruch. Ganz im Gegenteil – sie duften nach gewissen Räucherkerzen und Aromen, wie etwa nach Berglavendel und anderen unirdischen Wonnen. Sie sind fast ohne Eigenschaften und sehr kühl, was bei der entkräftenden japanischen Hitze wichtig [ 129 ]

ist. Natürlich ist es dort sauber, und an einigen Kabinen steht „European style“. Das bedeutet, daß hier, anders als in den übrigen, den Kabinen japanischen Stils, wo man in einer Pose hocken muß, die in unserer Datschen- und Feldkultur seit grauer Vorzeit und bis auf den heutigen Tag als „sitzender Adler“ bekannt ist, zur Bequemlichkeit der selten sich hierher verirrenden armen Europäer, die den europäischen Stil zu würdigen wissen, die uns vertraute Toilettenschüssel zum Sitzen steht. Meiner Meinung nach ist das enorm fürsorglich und zuvorkommend. Tränen der Rührung treten einem in die Augen, und man möchte auf japanische Art den Kopf zu einer dankbaren Verbeugung senken. Es existiert sogar ein spezieller Gott für diese Sache. Er ist erstaunlich wohlgestaltet und sehr sauber, entsprechend den Zielen und Idealen seiner professionellen Zugehörigkeit. Die ersten Wasserklosetts mit Abfluß wurden immerhin im Fernen Osten erfunden. Genauer, sie wurden im sehr alten China erfunden, als in Europa auch die alleraristokratischste Bevölkerung noch viele Jahrhunderte, ächzend und die ganze Welt verfluchend, sich verkühlend und Prostata und Blase abfrierend, vor die Tür gehen mußte. Hier ist das von alters her anders geregelt, bequem und schonend für die Gesundheit. Da alles, was im hochgeschätzten China erfunden wurde, mit nur sehr kurzer Verzögerung auch in Japan auftauchte, kann man kühn von einer Jahrhunderte währenden Sauberkeit und Durchdachtheit dieser Sache ausgehen. Sogar den ersten Missionaren fiel die Sauberkeit der Japaner im Vergleich zu derjenigen der Chinesen auf. Ich habe bemerkt, daß hier viele ihre Arbeit, auch auf der Straße, in verblüffend weißen Seidenhandschuhen verrichten. Sogar den Müll räumen sie damit weg. Ich habe pedantisch und penibel hingeschaut – nein, sie sind weiß wie von Anbeginn an, nicht beschmutzt, nicht verdreckt, von irrsinniger und unirdischer Reinheit! Entweder werden sie alle halbe Stunde gewaschen und gewechselt. Oder es herrscht ringsum eine derartige Sauberkeit, daß man beim besten Willen nirgendwo ein Schmutzkörnchen erwischen kann. Womöglich auch beides. Um das zu überprüfen, war ich zu kurz im Land und auch schlicht nicht beharrlich genug, was doch für die Durchführung eines jeden Vor[ 130 ]

habens bis zu seinem konsequenten Abschluß unbedingt nötig ist. Ich muß es also aufs nächste Mal verschieben, wenn es sich denn ergibt und wenn in Japan alles bei dem erwähnten beobachteten Bild und Vorbild bleibt und, natürlich, wenn mir dann mannhafte Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit zuteil geworden sind. Es ist interessant, daß eine der ersten Anweisungen an Studenten, die zu einem Praktikum nach Rußland fahren, dahingehend lautet, daß sie unter keinen Umständen, bei keinem noch so dringenden Bedürfnis und in keiner noch so extremen Notsituation öffentliche Toiletten und die entsprechenden Einrichtungen in Hochschulen und Mensen benutzen dürfen. Natürlich folgt die Frage: Und was dann? Okay, diese Frage stellt sich uns natürlich nicht und wird sich uns nicht stellen. Nicht uns Jungs. Uns muß nichts erklärt werden. Sie stellt sich den Japanern, die an unsere spezifischen und in gewissem Sinne extremen Bedingungen nicht gewöhnt sind. Was können wir ihnen raten? Genau das, was die in dieser Angelegenheit erfahrenen japanischen Lehrkräfte, die Derartiges bei uns schon am eigenen Leib erfahren haben, ihren Studenten empfehlen. Es gibt nur einen Rat – man sollte versuchen, darauf zu verzichten. Wenn das vollkommen unmöglich ist, wenn Natur und Physis das aus irgendwelchen Gründen nicht zulassen, sollte man nach Möglichkeit in ein Hotel oder ein anständiges Restaurant gehen. Und im Extremfall zu Freunden und Bekannten laufen, die in der Nähe oder ruhig auch in erheblicher Entfernung wohnen. Ein respektabler älterer Professor erzählte mir verwirrt-verblüfft und sogar leicht befriedigt wegen dieser neuen, ihm bis dato unbekannten Erfahrung mit gedämpfter Stimme, daß er einmal sogar gezwungen war, sich mitten im Zentrum Moskaus und am hellichten Tag zu diesem Zweck vor eine Wand zu stellen. Apropos, man kann nicht gerade sagen, daß mich zu diesem Thema permanent und hartnäckig ein nächtlicher Albdruck quälte, aber ich habe mit einer gewissen erstaunlichen, ernsthafte Überlegung nahelegenden und sinntragenden Regelmäßigkeit einen rätselhaften Traum. Es ist, als müßte ich plötzlich dringend ein höchst unange[ 131 ]

nehmes physiologisches Notdurft-Bedürfnis stillen. Ich stürze in die nächstbeste, mir übrigens gut bekannte Richtung und finde, was man, und im Traum liegt das ja unbestreitbar auf der Hand, als Toilette bezeichnen könnte. Als öffentliche Toilette. Sie besteht aus einer gigantischen, einfach in jeder Hinsicht kolossalen Anlage, ordentlich mit Kacheln verkleidet. Aber wie ich plötzlich feststelle, ist alles, buchstäblich und im Wortsinn alles hier vollgeschissen, wie es so schön heißt. Ich suche fieberhaft nach von Verschüttungen und Strömen freien Inseln. Ich schnelle vorwärts, getrieben von der Notdurft und von der Notwendigkeit, das Tempo meiner beinahe hasenschnellen Sprünge zu halten, um nicht in Haufen oder Pfützen zu tapsen. Ich spähe angestrengt nach einem passenden Ort, um mich zu erleichtern, stelle jedoch fest, daß die Kloschüsseln hier von nie gesehener kurioser Form sind – die einen sind in sagenhafte Höhen hochgezogen, daß man gar nicht drankommt, andere sind unsicher und wackelig aufgehängt, die dritten auf moderne oder postmoderne Art raffiniert aus Stricken konstruiert, so daß man nicht hinkommt. Die vierten sind normal, aus Porzellan, aber zerschlagen oder umgekippt. Die fünften sind was völlig Idiotisches. Die wenigen normalen Kabinen sind entweder verschlossen oder, wie sich beim Aufreißen der Tür herausstellt, überschwemmt von einem schwankenden, schaukelnden, leicht wabbelnden und auseinanderfließenden Berg Scheiße. Ich fahre zurück. In der Luft hängt ein unangenehmer, widerwärtiger, im übrigen logischer und naheliegender Geruch. Da bemerke ich, daß hier auf dieselbe Art und beinahe auf derselben Route schicksalsergeben und gequält Personen beiderlei Geschlechts herumirren. Einige kapitulieren und lassen mitten in alledem die Hosen herunter oder ziehen den Rock hoch. Ich kann mich zu etwas Derartigem nicht entschließen. Ich entdecke, fast schon hysterisch, ein paar separate Eckchen, doch auch dort sind die Sitzplätze besetzt. Ich schaue mir die Inhaber nicht näher an. Sie sind fast ununterscheidbar und unidentifizierbar. Sie stellen einfach eine Art Besetztzeichen für die Sitzplätze dar. Okay, einige von ihnen, wie ich mich jetzt vage erinnere, machen den Versuch, mir teilnehmend zuzulächeln, mich zu bedauern oder mir [ 132 ]

sogar Tips zu geben. Doch ich beachte sie nicht. Da kommt mir auf einmal ein glücklicher Einfall – ich erinnere mich, daß hier irgendwo um die Ecke, einsam und entlegen, so ein dringend benötigtes Häuschen steht. Auf Umwegen stürze ich dorthin und finde mich in einem blühenden Garten wieder, was mich augenblicklich ablenkt und entspannt. Ich schnuppere an wunderschönen leuchtendbunten üppig verteilten Blumen von riesiger, unglaublicher, einfach unvorstellbarer Größe. Ihr gewaltiger Duft verdrängt den vorigen, mich hartnäckig verfolgenden Geruch. Ich fange an, ziellos und gelöst herumzulaufen. Ich schlendere zwischen den Stämmen umher, beuge mich hinunter, pflücke ein paar Beeren, lasse mich ins Gras fallen und lege den Kopf zurück. Irgendwo an einer fernen Grenze des Gedächtnisses besteht aber das aufstörende Quentchen einer letzten Unruhe oder Sorge weiter. Bisweilen kann ich mich also noch auf den Grund besinnen, der mich in dieses unvermutete, unverhoffte, mit einem Mal auf meinem Wege aufgetauchte Paradies geführt hat, das Erholung von allem Verstörenden und Niedrig-Bedrückenden bietet. Ich springe auf und halte Ausschau, um die richtige Richtung für den bevorstehenden unvermeidlichen Gang zu finden. Allmählich verwandelt sich der Blumengarten in lauter nackte Äste und dichte Sträucher, die sich in Kleidung und Haaren verfangen. Ich biege mit Mühe die Zweige weg, damit sie mir nicht die Augen ausstechen. Endlich entdecke ich irgendwo in der hintersten Ecke die ersehnte Kabine mit der ersehnten Einrichtung. Doch kaum habe ich sie erklettert, da stürzt sie ein, und ich wache auf. Ich liege mit offenen Augen da, starre an die schwach erleuchtete Decke, über die bisweilen helle Lichtstreifen von den draußen vorbeifahrenden Autos huschen, und überlege. Nein, der Traum wurde durchaus nicht von den verborgenen Anstrengungen eines unbeherrschten Magens oder Darms ins Leben gerufen – ich beeile mich durchaus nicht, mein sauberes und kühles Bett um meiner ebenfalls sauberen und behaglichen privaten Haustoilette willen zu verlassen. Nein, ich wurde durchaus nicht von den nächtlichen Dämonen einer dummen, geradlinigen Physis angeführt. Nein, hier verbirgt sich Großes und Inhaltsschweres. Sollen die Freudisten oder besser und richtiger die [ 133 ]

Jungianer derartige Traumgebilde deuten und enträtseln. Ich werde ihnen glauben. Oder auch nicht. Das sehen wir dann. Je nachdem, was für eine konkrete Stimmung und was für konkrete Aufgaben uns diese konkrete Zeitspanne bringen wird. Mal sehen. Ich schließe die Augen und schlafe wieder ein, nicht weiter gequält von solchen wilden Phantasien. Vielmehr, ich schlafe nicht ein, sondern fahre fort. Kehren wir zu unserer Hohen Toilette – in beiden Bedeutungen: hoch in den Bergen errichtet und erhaben wegen ihrer unklaren geheimen Bestimmung und Bedeutung – und damit zu allem unstrittigen Obengesagten zurück. Ich habe keinen Grund, die einheimischen Künstler und Designer, die an der Einrichtung der hier beschriebenen außergewöhnlichen Einrichtung beteiligt waren, des Unverständnisses gegenüber einer solchen Materie, der ausschließlichen Vorliebe für die reine Physiologie sowie der rettungslosen Naivität zu verdächtigen. Ganz im Gegenteil, ich möchte annehmen, daß hier ein höchst subtiles und schillerndes kulturelles Spiel verborgen liegt. Und ein diffuses, da es jüngeren Datums als Duchamps’ Spiel mit dem Pissoir ist, dieses bereits in seinem Assoziationsgepäck dabeihat und auch indirekt daran appelliert. Also. Die betreffende Anlage ist etwas Besonderes, entsprechend ihrer besonderen Lage und der ihr zugeschriebenen Symbolfunktion. Der Marmor, womit die ganze aufwendig profilierte Oberfläche von Wänden, Boden und Decke verkleidet ist, schimmert schneeweiß, besonders im matten und jenseitig geheimnisvollen Licht der Neonlampen. Während man die zahllosen, sich in einer leichten, gleitenden und freien Spiralbewegung hinabschwingenden Treppenstufen hinuntersteigt, von denen jede einen speziellen melodischen Laut hervorbringt, haucht man natürlich mit einem vor Aufregung verkrampften Kehlkopf den Namen des göttlichen Novalis und seiner groben russischen Antwort aus dem Volk, des treuherzigen Großvaters Baschow. Allmählich gesellt sich dem leichten Klang der Stufen ein gewisser sicherer und strukturierter, doch anfangs schwacher und schwer identifizierbarer Klang hinzu. Erst [ 134 ]

wenn Sie ganz in den Schoß der orpheischen Anstalt hinabgestiegen sind, entdecken Sie auf einem runden, sich langsam drehenden weißmarmornen Podest einen gigantischen Flügel, anderthalbmal so groß wie gewöhnlich, ebenfalls aus weißem Marmor, doch mit schwarzen, in ihrer Wildheit geradezu erschreckenden Intarsienstreifen und mit einer Tastatur, die komplett und ausschließlich aus schwarzen Tasten besteht. Ohne fremde Hilfe bewegen sich die Tasten somnambul auf und nieder, um eine unirdische Mozartmusik wiederzugeben. Dem Flügel gegenüber haben sich etwas verschreckt ein paar leichte, durchbrochen gearbeitete Stühle niedergelassen, die aussehen, wie aus Elfenbein geschnitzt, das sich mit der zartesten Bewegung der Hand schneiden läßt. Indessen sind sie alle aus dem gleichen Marmor. Wie im Traum wagen es die wenigen Besucher, auf ihnen Platz zu nehmen, gleichsam verzaubert von der unsichtbaren Erscheinung eines unterirdischen Lichtgeistes, der aus der ganzen weißen Marmorpracht auf geheimnisvolle Weise Töne von Bruder Mozart hervorbringt. Zu beiden Seiten wabern im Nebel mystische Abgründe mit den warnenden Zeichen D und H. Nur selten dringt jemand in die Räume hinter diesen geheimnisvollen, funkelnden Initialbuchstaben ein. Doch der Weg dieser Entschlossenen und ihre Taten werden nicht besudelt und besudeln nicht. Dank einer Spezialtechnologie, die nur an diesem Ort eingesetzt wird und neben der anfangs investierten Summe jährlich relativ bedeutende Beträge für die Unterhaltung der Toilette erfordert, werden sämtliche Fäkalien augenblicklich in ein vollkommen gereinigtes, unschädliches und weder Geruchs- noch Geschmacks- noch Sehsinn beleidigendes Produkt verwandelt. Es strömt einen leichten Wohlgeruch aus, der sich im ganzen Raum verbreitet, und zieht als leichter Resthauch nach draußen. Die Technologie reinigt bis zur Leere, bis zum leichten und durch nichts belastenden Wohlgeruch die niedrigsten Schichten des menschlichen Fleisches, während Musik und funkelndes Licht dasselbe mit den niedrigen und erdenschweren Schichten der menschlichen Seele tun. Dies ist der Weg der reinen, allerreinsten Verwandlung, die mit menschlicher Kraft und in den Grenzen der noch dominierenden alten Anthropologie nur möglich ist. [ 135 ]

Der Weg hier hinaus, der Aufbruch, das Verlassen der Oase der Leichtigkeit und Reinheit, ist ebenso schwierig wie der Weg zurück aus dem Reich der Schneekönigin, der Herrin der Kupferberge, der Zauberin der Smaragdenstadt und ähnlicher Feen-Verführerinnen, Sirenen-Verderberinnen und Herrscherinnen von unterirdischen und Unterwasserreichen. Doch gehen muß man. Man muß. So schreiben es die irdischen Regeln vor, und so steht es am Firmament geschrieben. Du gehst hinaus und gerätst von neuem in die dunkle, ja finstere, kraftvoll enge und schwerelos phantasmagorische Umarmung des neblig-dunstigen, irgendwo in nicht mehr erkennbaren Höhen dem Blick entschwindenden örtlichen Fuji. Auf denselben sukzessiven Windungen kehrst du langsam in die Welt menschlicher Dimensionen und Sorgen zurück. Wieder geschieht alles langsam, damit, sagen wir, keine seelische Taucherkrankheit die schwache, auf solche schroffen Veränderungen unvorbereitete Seele zerreiße. Anfangs allerdings fühlst du den unüberwindlichen Wunsch, für immer dort zu bleiben, dich aufzulösen, zu verschwinden. Nach einigen Kilometern überfällt dich der Wunsch, dich zurückzuziehen und dein Leben erhabenen Reflexionen und Spekulationen zu widmen. Danach überkommt dich der überaus starke Drang, allen nur Gutes zu wünschen und parallel dazu Wohltaten zu erweisen. Mit diesen Gedanken und Gefühlen preschst du in die endlosen Weiten der Ebene hinaus. Du schöpfst Atem und siehst dich um. Und sofort eröffnet dir der Geist der Vorsehung und Prüfung scheinbar mit diabolischem Sarkasmus, tatsächlich aber mit freimütiger und lehrreicher Klarheit die Möglichkeit, dich von der Unzuverlässigkeit menschlichen Kalküls zu überzeugen, insbesondere in bezug auf das Glück. Von der Unzuverlässigkeit der Kalkulationen hochkomplizierter Zufallskorrelationen in dieser Welt. Als wir, schon weit unten im Tal, in tiefem Schweigen um einen abgelegenen, mit japanischer Eleganz und Bescheidenheit angelegten Teich herumwanderten, entdeckten wir plötzlich direkt auf unserem Weg einen Schmetterling von außergewöhnlicher Schön[ 136 ]

heit. Seine Größe, seine Flügelspannweite, seine Farben, die Proportionen seiner Glieder ließen in ihm mehr vermuten als nur einen einfachen Vertreter der Insektenwelt. Wir beugten uns über das geheimnisvolle, namenlose Wunderwesen. Der Falter regte bloß seine gigantischen Flügel, ohne irgendwelche Fluchtversuche zu unternehmen, als hätte ihn eine unbekannte Macht festgeschmiedet, die stärker war als alle seine Widerstandskräfte. Er hatte eine bezaubernde Färbung, die an die magisch-geheimnisvolle Landschaft Toledos vom Pinsel des herrlichen El Greco mit ihren lodernden, phosphoreszierenden Farben denken ließ. Vielleicht ist er eine Reinkarnation von El Greco? – schlug mein Begleiter versonnen vor. Nein, eher von Plotin. Oder wer von denen hat sich mit geheimen Zeichen und Namen befaßt? Paracelsus? Oder Rabbi Levi? – schaltete ich mich ein. Na, na ... –, zweifelte die Frau meines Begleiters. Wieso? Die Reinkarnation kennt keine Nation –, scherzte ihr Mann, – keine Länder und keine Geographie. – Selbstsicher, fast stolz brachte er seinen Gedanken zu Ende. – Ich zum Beispiel bin die Reinkarnation ... – Wissen wir, wissen wir, kennen wir schon – von Monteverdi –, winkte seine Frau ab. Warum Monteverdi? – Er mag einfach seine Musik. – Monteverdi? Ist das Verdi? – Nein, Verdi ist Verdi, und Monteverdi ist Monteverdi! Und er mag nicht Verdi, sondern Monteverdi. Verdi ist italienisch und bedeutet grün. Und Monteverdi bedeutet grüner Berg. – Aha. – Er mag Monteverdi, und es hat sich herausgestellt, daß Monteverdi auch eine leichte Wirbelsäulenverkrümmung hatte. – Interessant. Ein Freund von mir hat auch eine Wirbelsäulenverkrümmung. – Aber er mag doch Monteverdis Musik nicht? – Nein –, bestätigte ich. [ 137 ]

Na, was ist mit dir, mein Schatz? – wandte sich unsere Begleiterin zärtlich an den Schmetterling. Der Schmetterling antwortete nicht, sondern blickte uns nur mit einem ungemein, ja untröstlich traurigen Ausdruck in seinen ruhigen und erstaunlich greisenhaften Augen an. Ich wurde augenblicklich zurückhaltender in meinen Bewegungen, weil mir der bekannte alte Chinese mit seinem seltsamen und lehrreichen Traum von sich selbst und dem Schmetterling einfiel, die sich bei ihrer Verwandlung ineinander einer im anderen verheddert hatten. Vor meinen Augen erstand ein trügerisches Bild meiner ach so weit entfernten, nicht erinnerlichen Kindheit – an etwas konnte ich mich also doch erinnern! Ich sah wieder, wie ich auf bleichen sommertäglichen Moskauer Vorstadtwiesen ebenfalls bleichen, mit der halbdämmrigen, körperlosen Luft ringsum verschmelzenden, blassen russischen Verwandten dieses irrsinnigen und einfach unirdischen Wunderwesens nachjage. Auf graugrünen, angewelkten Lichtungen schwebe ich gleichsam auf einer Höhe mit ihnen in flatternden, früher schwarzen und nun silbrig-glänzend ausgewaschenen Satinshorts und in abgeschabten, rutschenden Sandalen. Ich treffe jedesmal ein klein wenig daneben, und nachdem ich langsam, wie im Traum, im Tiefflug eine Kurve gemacht habe und allmählich wieder schneller geworden bin, stürme ich erneut hinter den zarten, lockenden Gauklern her, die mir ständig mit leichtem, kaum hörbarem Gelächter, das ihnen über die dünnen fahlen Lippen kommt, entgleiten. In meiner Hand halte ich ein unförmiges Gerät aus einem lila schimmernden Mullsack an einer langen, sich durchbiegenden Rute, das Kescher genannt wird und von meinem Vater an einem der seltenen Sonntage zusammengebastelt wurde, als er es geschafft hatte, aus dem stickigen Moskau zu seiner Familie auf die schlichte Datscha bei Swenigorod herauszukommen. Ich jage den körperlosen flatternden Erscheinungen nach, die direkt vor meinen Augen verschwinden wie Irrlichter im Sumpf und dabei eine leichte Spur von Schuppen auf der Waffe meiner ungeschickten Jagd zurücklassen, als hätte etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles mit dem Fingernagel Zeichen, die weder binden noch belasten, in die rauhen Seiten [ 138 ]

der Alltäglichkeit geritzt. So flogen wir über die Wiesen und die Lichtungen, bis die heranschwimmende Dämmerung uns alle in einem einzigen ununterscheidbaren und vagen abendlichen Atem und Getaumel vereinigte. Dies meine ferne, schlecht erinnerliche Kindheit. Guckt mal –, rief meine Begleiterin aus, – da steht was auf seinen Flügeln! Was denn? – Wir waren eher ungeübt im Entziffern polysemer chinesischer Schriftzeichen, aber der Mann von der Frau kannte ein paar. Wartet, die ändern sich andauernd. – Ja? Habe ich gar nicht gemerkt. – Da, ich glaube, jetzt hat es aufgehört. – Und was steht da nun? – So was wie Gefahr. – Was für eine Gefahr? – Keine Ahnung, bloß das Zeichen für Gefahr! – Mir huschten sofort die Bilder aus Kubricks „Shining“ mit ihrem unheilvollen Zischen durch den Kopf. Wem droht Gefahr? – Keine Ahnung. Da, schon wieder was anderes. – Und was? – Das kann ich jetzt nicht entziffern. Kommt, wir nehmen ihn lieber vom Weg, sonst zertritt ihn noch jemand aus Unachtsamkeit. – Faßt bloß seine Flügel nicht an! Faßt bloß seine Flügel nicht an! Ihr beschädigt sonst die Schuppen! – schrie die Frau. Ich hol mal schnell ein Blatt Papier –, sagte ihr Mann rasch, lief weg und kam mit dem versprochenen Blatt zurück. Und in dem Moment, als er mitfühlend versuchte, das Blatt unter das scheinbar fast schon entseelte Wesen zu schieben, flog der Schmetterling, die Reste der in ihm schlummernden Kräfte zusammenraffend, jäh auf und schwebte in niedrigem Tiefflug über die glitzernde Wasseroberfläche des Teichs dahin. Er hielt nur mit Mühe seine Flugbahn und eine minimale Flughöhe, indem er hin und wieder in eine gewisse Höhe aufstieg, um dann im nächsten Moment mit den Flügeln fast [ 139 ]

das Wasser zu berühren. Und an einem dieser niedrigsten Punkte seiner Flugbahn streckten sich schlaftrunkene, bleiche, grätige, aufgesperrte Fischlippen durch die fast metallische Teichoberfläche und verschlangen das unbekannte Wunderwesen. Oooch! – entrang es sich da allgemein der Kehle, rollte rasch und leicht über den glitzernden Spiegel des Teichs und stoppte am Fuße der nahen Hügel. Wir erstarrten gleichsam zu Eis und standen lange schweigend und apathisch da. Tja. Trifft man auf etwas Derartiges, so bleibt einem nichts anderes übrig, als zu versuchen, den möglichen tieferen Sinn der Sache als anschaulich offenbarte Metapher unseres vergänglichen Daseins oder besser noch als Omen zu erfassen. Nur einige wenige Vordenker und Sinndeuter könnten außerdem versuchen, den wahren Geheimnamen der jeweiligen Erscheinung, des Ereignisses oder des jeweiligen konkreten Lebewesens aufzudecken, so daß dieses ertappt stehenbliebe, auf die Knie fiele und mit tiefer, hohler Stimme, als ertönte sie hinter deinem eigenen Rücken, sich erklärte oder spräche: Sag, Alter, was willst du haben? – Diene mir! – Und was konkret kann ich für dich tun? – Das weiß ich selbst nicht! – Dann denk nach! – Das tue ich ja! Ruh dich solange aus, und ich denke über was anderes, Vergleichbares nach! – Worüber denn? – Über etwas anderes, aber Ähnliches. Jetzt hab ich’s mir ausgedacht. Da ist es: Ich hab mir was ausgedacht, zwei Wörter an Japan: Ranja Pa Ich hab mir was ausgedacht, noch zwei mit Japan drin: An Dri Ich hab mir was ausgedacht, einen Japan-Fisch: [ 140 ]

Pan Fi Ich hab mir was ausgedacht, aus Japan, so simpel: Ans Osimpe Ich hab mir was ausgedacht, einen Japan-Gott: Njapa Ngo Ich hab mir was ausgedacht, einen Hauch von Japan: Onja Pa Ich hab mir was ausgedacht, aus Japan-China zusammen: Anchi Naz u. Sam Me Und hier ist der Name von einem Japan-Mirakel: Panmi Rake Manchmal denke ich sogar eine japanische Idee: Schei Dee! – denke ich japanisch. Und es stand geschrieben, als ich auf dem Schiff nach Japan kam: Apan Ka Und es stand geschrieben um die Japan-Sonne: Ans Onne Und es stand geschrieben in den Japan-Seelen: Panse Ele Und es stand geschrieben auf den Japan-Kieseln: Ankie Se Und es stand geschrieben in der Japan-Nacht: Apan Na Und es stand geschrieben in dem Japan-Hehl: Mjap Anhe Und es stand geschrieben in Japan total: Apant Ota Und es stand geschrieben in dem Japan-Nichts: Apan Ni Und es stand geschrieben auf japanisch in mir: Schin Mi Und es stand geschrieben Japan-Japan: Apanja Pa

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8. F O R T S E T Z U N G

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as im vorigen Kapitel beschriebene außergewöhnliche Produkt eines Designergehirns ist jedoch eine seltene Ausnahme. Auf den Straßen und Plätzen großer Städte tummeln sich in ihrer Eigenschaft als Propaganda- oder Kulturdenkmal oder einfach als Verschönerung vor allem nicht sehr große nackte Bronzemädel, ein fürchterlicher Jugendstilquatsch oder irgendwelche ganz und gar unverständlichen dreidimensionalen Sachen. Hin und wieder sieht man aus der Ferne oder bemerkt man am Rande seiner Route etwas Außergewöhnliches, Modernes und Enormes. Aber selten. Sehr selten für ein unseren Vorstellungen nach hochmodernes Land. Keine Ahnung, vielleicht verziehen sich alle cleveren Japaner genau wie unsere Leute in den Westen, kaum daß sie in ihrem Land als modern und international konvertierbar entdeckt wurden. Keine Ahnung. Angesichts der phantastischen Sensibilität, des einzigartigen Takts und der Eleganz, mit der all die nicht sehr ausgedehnten diversen Naturwinkel und Parks mit ihren leichten Bauten, Dächern, Brücken, Bänken, Steinen und Blumen entworfen, eingerichtet und gestaltet sind, bleiben die Gesichtslosigkeit und Öde städtischer Großbebauung unverständlich. Zahllose Naturwunder sowie bloß exotische Örtlichkeiten, Wasserfälle, Quellen oder unerwartet wundervolle Felsen und Bäume sind von eleganten und schön ausgeführten Verbotstafeln und Zäunen umgeben. Das ruft natürlich eine gewisse Traurigkeit hervor, besonders wenn man sich vor Augen führt, daß die jungen, stürmischen Erstentdecker derartiger Orte [ 142 ]

ihren Bronzekörper gelassen unter das aus der gigantischen Höhe nackter Felsen herabstürzende eisige durchsichtige Wasser stellten, es aus Quellen tranken und die höchsten Bergspitzen erklommen. Doch so ist es ja überall, auf der ganzen Welt. Bald werden auch die einfachsten Bächlein, in denen wir heute noch unsere vom langen, heute noch möglichen Fußmarsch erhitzten und von neumodischem Schuhwerk und altmodischer Gicht verkrümmten Füße kühlen dürfen, eingezäunt sein, damit sie zur Erhaltung für künftige Generationen vor einfachem, unmittelbarem Kontakt geschützt werden. Finden wir uns damit ab. Wir tun es um dieser künftigen Generationen willen, bei denen das Ganze vielleicht nichts als flüchtiges ärgerliches Staunen, Spott oder Herablassung auslöst. Doch wie gesagt, wir finden uns damit ab. Wir tun’s. Alles hier ist mit solchem Takt und solcher Schlichtheit eingerichtet, daß es keinerlei Kritik hervorruft. Womöglich kann eine solche Leichtigkeit und Eleganz nur mit ihr gemäßen Räumen, Höhen und Ausdehnungen koexistieren, mit physischen wie psychosomatischen. Ja, die Japaner haben sich noch das archaische Gefühl und die Praxis der visuellen Kontemplation bewahrt, bei der die Dauer der Betrachtung in die Ästhetik der Produktion und Rezeption von Schönheit eingeht. Früher glaubte man, daß die echte Bedeutung eines Gegenstands oder Phänomens von der kontemplativen Praxis einer Generation gar nicht erfaßt werden kann. Nur wenn er im Laufe von Jahrhunderten betrachtet und währenddessen mit vielen, zu einem Knoten geschnürten Sinngebungen und Bedeutungen belegt wurde, offenbart sich ein Gegenstand in der Vollkommenheit, die in dieser Welt möglich ist. Sicher, etwas Ähnliches gab es früher auch in der europäischen Kultur. Ein letztes schmerzlichwildes Aufflackern von etwas Derartigem im Vorgefühl seines Endes bestand darin, daß sich Leben und Motiv einer verschmähten Künstlergeneration vor Kultur und Welt präsentierten. Äußerlich trat das als die banale Wahrheit auf, daß ein Genie zu Lebzeiten nicht anerkannt wird. Das Wesen dieses historischen Phänomens und der Vergötterung seiner Protagonisten lag jedoch in der Entdeckung und im Versuch der kulturellen Verankerung des bekannten Prin[ 143 ]

zips, daß die Schönheit eines Objekts, wie bereits erklärt, von der kontemplativen Anstrengung und Praxis einer einzigen Generation nicht begriffen werden kann – eine zu kleine, begrenzte Zahl an Sinngebungen wird in das Werk hineingelesen, als daß es wahre Größe erreichen könnte. Heute dagegen dominieren ganz andere Ideen und Verfahren. Heute droht allem, was in der knappen Zeitspanne einer auf fünf bis sieben Jahre verkürzten kulturellen Generation nicht wahrgenommen wird, daß es nicht in die Kultur eingeht. Es wachsen neue, unwissende junge Leute mit völlig anderen Praktiken und Einstellungen heran, die, und das ist die Hauptsache, Derartiges mit Begeisterung verabsolutieren und ideologisieren. Sicher, auch wir haben seinerzeit die eigenen Entdeckungen und Errungenschaften verabsolutiert und ideologisiert. Man möchte aber glauben, daß in unserer Praxis wenigstens irgendein weiterer historischer Horizont existierte, in den wir uns einfügten, wenn auch mit starken Verzerrungen der eigenen Person und der eigenen Verfahren. Heute dagegen dominiert die Clip-Ästhetik, wo die kontemplativ-reflexive Aufmerksamkeit gerade mal zwei Minuten bei einem Gegenstand verharrt. Aber das ist die wehmütige Feststellung einer banalen, bereits etablierten Tatsache. Innerhalb der Grenzen der bestehenden Ästhetik und des Prinzips kultureller Existenz wird das Schaffen eines Bildes verlangt, das vom betrachtenden Subjekt in etwa fünf bis sieben Sekunden erfaßt werden kann. Anschließend wird es zwecks Aufnahme und magischer Penetration ins Bewußtsein unentwegt wiederholt und reproduziert. In der gegenwärtigen bildenden Kunst dominiert die Theorie des ersten Blicks. Demnach muß ein Objekt der bildenden Kunst vom Blick des vorübergehenden Betrachters sekundenschnell erfaßt und aufgenommen werden. Nur in dem Fall hat es irgendeine Chance auf einen zweiten Blick. Sonst hat es schlechte Karten. Nichterkennbarkeit. Nichtanerkennung. Nichtsein. Eine französische Künstlerin hat mir mitgeteilt, daß für sie die Kunst vor Dufy nicht existiert. Kennen Sie den? Auch wenn Sie ihn nicht kennen, ändert das den Kern der Sache nicht. Also, für diese [ 144 ]

Frau existiert vor dem Glückspilz Dufy, der imstande war, als letzter auf die Straßenbahn der Ewigkeit aufzuspringen, nichts und niemand, nur Leere. Vielmehr keine Leere, sondern eben nichts – das Auge sieht einfach nicht hin und weiß nichts von der Existenz der Kunst. Womöglich registrieren Sie gerade, daß es hier in gewisser Hinsicht um das obenerwähnte Objekt meiner erhöhten Aufmerksamkeit geht, wenn auch in erweitertem Umfang und mit umfassender Bedeutung. Doch davon rede ich jetzt nicht. Auch wenn mir die Nähe einer solchen Fragestellung auffällt, fühle ich in diesem konkreten Fall weder Leichtigkeit im Herzen noch irgendeine Art von Befriedigung. Ein junger Moskauer Künstler war da noch um vieles radikaler. Er beteuerte – und wie ich weiß, ist das tatsächlich so –, daß für ihn vor den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts nichts existiert. Und er bluffte nicht etwa. Es ist bloß so, daß sich der Horizont realer und aktueller Zeit stürmisch verengt, bis er sich in nächster Zukunft endgültig zu einem sensuell-reflektorischen Punkt zusammenzieht. Dahinter gibt es einen anderen Punkt, von dem vorigen durch ein Vakuum getrennt, das keinerlei Informationen weitergibt und von keiner Flugbahn einer länger andauernden Empfindung durchkreuzt wird. Eine interessante Art von Ewigkeit. Das heißt, sie wurde bisher noch nicht realisiert, sondern ist erst im Anmarsch. In Form von in sich abgeschlossenen Äonen, die den katastrophalen, sie auf geheimnisvolle transgrediente Weise voneinander trennenden Abgrund überbrücken, wobei der Umfang der Information selbst wie auch ihre strukturhierarchischen Parameter in vielem reduziert werden. Tja, man mag das nicht begreifen, mag darüber betrübt sein, es ablehnen, aber man muß nun einmal wissen, in welcher Welt man lebt, und ganz besonders, in welcher Welt man in der nächsten Zukunft leben wird. Trotzdem gelingt den heutigen Japanern alles, was einen Bezug zu traditioneller visueller Praxis und Umgebung hat, wirklich ausnehmend gut. Überall gibt es eine Vielzahl höchst unterschiedlicher unprätentiöser, unaufdringlicher und mit unbestechlichem Geschmack ausgestatteter Ecken. Und durchaus nicht irgendwelche [ 145 ]

überdrehten tropisch-exotischen Raffinessen. Nett und natürlich, füllen sie die Räume von Städten und Vorstädten und fügen oder gliedern sich ins Umfeld ein. Als dessen unverzichtbares und mit tiefem Sinn erfülltes Element gibt es überall eine Menge einsamer, zierlicher junger Frauen mit dem Aussehen von Teenagern, die vor stehendem oder fließendem Wasser einsam traurigen Gedanken nachhängen. Es gibt eine Menge winziger alter Damen von der Größe unserer Kinder, vertrocknet, gebückt, adrett, die ebensolche Hündchen an der farbigen Leine halten, geschmückt mit irgendwelchen Schleifen oder Pelerinchen um den Hals oder die Pfoten. In den zarten Händen der Damen schimmern matt die Plastikbeutel, in die sie, am ganzen schwerelosen Körper zitternd, wie Kostbarkeiten aufmerksam die trauten Hundeköttel sammeln. Die Tiere stehen während dieser Prozedur still und stramm da und wachen nicht gerade streng, aber bestimmt über Korrektheit und Präzision des Ritualvollzugs. Alles geschieht in vollkommener Ruhe und bei höchster Konzentration. Natürlich gibt es auch eine Menge Kinder, ruhige, fröhliche und temperamentvolle, aber alle moderat in den Manifestationen ihres kindlichen Eifers und Ungestüms. An Flüssen stehen stundenlang und ohne jede Regung die allseits bekannten, keine Sensation darstellenden Angler im Wasser, die Hosenbeine bis zu den Knien aufgekrempelt und die Angelruten hochgereckt. In ihrer Nähe stehen lange und starr die Reiher in derselben Pose und werfen vorsichtig-mißtrauisch rasche schiefe Blicke auf die anthropomorphen Nachbarn: Spotten die auch nicht? Oder verbirgt sich hier nicht überhaupt eine extrem teuflische Falle? Und sie haben ja recht! Wie aufmerksam und scharfsinnig diese Gefiederten doch sind! Zur Sicherheit machen sie zwei, drei Schritte zur Seite und erstarren von neuem. Und es gibt hier viele Fische. Sehr viele. In diversen stehenden und Fließgewässern strecken sie die aufgerissenen fürchterlichen Rachen aus dem Wasser und warten, fast bis zum Gürtel entblößt, auf das ihnen zustehende Futter. Im alten Kloster des kleinen Ortes Oya hat man sie jahrhundertelang gelehrt, zu einer bestimmten Stunde auf ein leichtes Klatschen der Mönche hin an einer bestimm[ 146 ]

ten Stelle zur Fütterung herbeizuströmen. Und sie haben es gelernt. Heute ist das einer der gutmütigen Späße der ewig lächelnden Japaner – in die Hände zu klatschen und die Hunderte von silbrigen Körpern mit den nutzlos aufgerissenen perlmuttglänzenden Mäulern zu betrachten, die sich fast in ihrer ganzen nicht gerade geringen Größe aus dem Wasser recken. Die japanischen Karpfenriesen von unterschiedlicher Färbung und gigantischer Größe (bis zu drei Metern Länge und einigen Zentnern Gewicht) – die hauptsächlichen Bewohner stehender Gewässer – leben ungewöhnlich lange, einige Jahrhunderte, so daß sie fast ein biblisches Alter erreichen, ohne selbst davon zu wissen. Die ältesten, mit zahllosen Falten um den Mund und am ganzen steif gewordenen Körper, mit eitrigen Augen und einem fast bis auf die Gräten abgewetzten Schwanz, stehen, wie man mir gesagt hat, im Alter von siebenhundert Jahren lange und regungslos im Wasser, irgendwo weder im Tiefen noch im Flachen, und sehen bedrohlich jenseitig aus. Und sie könnten ja durchaus die Zeitgenossen der ersten, beim Etablieren ihrer Macht und Vorherrschaft so brutalen Shogune (die in der Jugend dieser Fische allerdings noch als gestrenge Feldherren unter ihrem Kaiser wirkten) gewesen sein und waren es übrigens auch wirklich. Zufällig waren sie auch die Zeitgenossen der alttatarischen Gewaltherrschaft über Mütterchen Rußland. Die Zeitgenossen des genialen Daddi aus Siena und der letzten Blüte des letzten byzantinischen Reiches. Und von vielem, vielem anderem Mittelalter-Magisch-Mystisch-Mysteriösem und Offen-Grausam-Gräßlichem in Europa, Südamerika, unter den Inkas, die ihren noch lebenden, zum Untergang verurteilten Artgenossen das lebendige, dampfende Herz aus der bronzefarbenen Brust rissen. Und – mein Gott! – von wie vielem noch, worauf sich nicht nur mein eigenes schwaches, sondern auch das Hochleistungsgedächtnis der gesamten Menschheit nicht besinnt! Was einfach alles in der unmarkierten, unidentifizierten dunklen Masse niedersinkt, ohne von den Bojen historischer Aufzeichnungen und Niederschriften, Eintragungen, flüchtiger Erinnerungen und Zeugnisse angezeigt zu werden, was einfach namenlos im Meer der unglaublichen wie der ganz alltäglichen Dinge untergeht. [ 147 ]

In zahlreichen stillen, abgelegenen Eckchen oder Örtchen habe ich vielfach Leute unterschiedlichen Alters und Geschlechts bemerkt, die mit Flöten, Pfeifen oder Saiteninstrumenten auf einem Bänkchen, einem Stein oder einfach im Gras saßen. Einer tauchte sogar unversehens mit einem echten Tamtam vor mir auf. Ich weiß nicht, waren das Leute, die einfach keinen anderen Platz zum Üben hatten? Oder Musikstudenten, die auf von Eltern und dem Schicksal überreichten Instrumenten probten? Betrachter von Natur und Klängen? Stifter der Harmonie zwischen Menschheit und Natur mittels Musik? Schutzgeister der betreffenden lauschigen Plätze? Ich weiß es nicht. Doch die Töne, die sie hervorbringen, sind leise und organisch. Man kann sie anfangs nicht einmal identifizieren. Trägt der Wind, der jetzt in Ihre Richtung weht, den sonderbaren, ungewohnten Klang der Luftströmungen hierher? Erkennen Sie, jetzt ganz nah herangetreten, mit einem Mal die leisen, unaufdringlichen Töne? Ich ging weg, sie blieben sitzen. Ich kam wieder, ging von neuem dort vorbei – sie waren alle auf ihrem Posten geblieben. Verließen sie ihn irgendwann einmal? Waren sie von ihrem irdischen Sensei oder von einer unirdischen Stimme herbeordert worden? Und waren sie überhaupt Menschen im vollen Wortsinn? Man weiß es nicht. Es ist mir nicht gelungen, das herauszukriegen. Doch viele kennen und bemerken sie. Unter Japanern praktisch alle. Indessen ziehen sie es vor, darüber Schweigen zu bewahren: Ja, es gibt da welche, die spielen hübsch. – Und wer sind sie? – Wer sie sind? Wissen wir nicht, wissen wir nicht. – Und wer weiß das? – Wissen wir auch nicht, wer das weiß. – Von wem kann man das erfahren? – Wissen wir nicht. Und es ist ja nicht wichtig! – Stimmt auch wieder! – Ich wundere mich über meine eigene Gefühllosigkeit und törichte Hartnäckigkeit. Wirklich, es ist doch nicht wichtig.

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An solchen Orten gibt es natürlich auch genügend zahlreiche ehrwürdige Familien – Japan ist ja ein überbevölkertes Land. All das spielt sich in Parks ab, an Fluß- und Teichufern, in für Picknicks und Amüsements ausgerüsteten Vororten. Durch die Straßen der Stadt dagegen zieht zur gleichen Zeit feierlich und malerisch die Festprozession eines benachbarten Tempels. Die Teilnehmer, gekleidet in die unterschiedlichen, leuchtend bunten mittelalterlichen Trachten gewisser Tempelgesellschaften oder gar uralter Zünfte, schreiten, in Gruppen aufgeteilt, die in kleinen Abständen von Führern angeführt werden, um die Stadt. Einige Dutzend Leute, eingespannt in riesige deichselartige Gestänge, ziehen einen kompliziert gebauten und bunt bemalten Wagen, auf dem Musiker spielen und ein junges Mädchen voller Grazie, angetan mit einem prachtvollen Kimono, sich langsam in einem uralten faszinierenden Tanz dreht. Von Polizisten begleitet, läßt die Prozession an Kreuzungen den Verkehr durch, wenn sie nicht sehr groß ist, oder wird in ihrer ganzen Länge vom Verkehr durchgelassen, wenn sie ansehnlich ist und starken Zulauf hat. In großen und alten Städten wie Kyoto dagegen dauern die Umzüge stundenlang und sind schon zu einer alljapanischen Sensation geworden. Vor den staunenden Augen des Publikums, das jährlich aus der ganzen müßigen Welt zusammenströmt, ziehen wirklichkeitsgetreu gekleidete und bewaffnete Samurai, Händler mit ihren Utensilien und unterschiedliche Gilden unterschiedlicher Handwerker unterschiedlicher Epochen vorüber. Kuriose Fahrzeuge befördern Adelige, Geishas, berühmte historische Persönlichkeiten aus vielen Jahrhunderten. Von allen Figuren sind Name, Biographie, Kostüm und die Prozessionsnummer in Programmheften genau beschrieben und vermerkt. All das wird von Wettrennen riesiger Radkonstruktionen begleitet, die an altrömische Rammtürme oder an mobile, mehrstöckige, himmelhohe chinesische Tempel erinnern. Auf ihrer Spitze balancieren halbnackte gewandte junge Leute. Ebenso junge und tollkühne Leute, zu Hunderten in entsprechende Vorrichtungen eingespannt, ziehen sie in irrem Tempo mit Geschrei und Fackeln durch [ 149 ]

die engen Straßenpassagen, die von Massen aufgeregter und gespannter Zuschauer oder Beteiligter gesäumt sind. Erhitzt vom ständigen Genuß hochprozentiger Getränke, erhöhen die Teilnehmer das Tempo, und in irgendeiner glatten Kurve, besonders an Regentagen, schafft es die himmelhohe Konstruktion nicht mehr, sie wird aus der Kurve getragen und kracht zu Boden. Auf die ringsherum stehenden und buchstäblich fast unter die Räder gekommenen Zuschauer – Frauen, Alte, Kinderchen – prasseln von der Spitze des Fahrzeugs zahllose riesige Balken, Gegenstände und Geräte aus Metall und die empfindungslosen wilden jungen Fahrer selbst herab, um Tod, Verstümmelung und herzzerreißendes Geschrei zu säen und fremdes und das eigene ungestüme Fleisch in kleine Stücke zu zerfetzen. Kaum daß die vielen Dutzend Leichen der Umzugsteilnehmer und Neugierigen vom Platz geräumt und die Hunderte von Verwundeten irgendwie in Hunderte von Krankenwagen gestopft sind, die routinemäßig in riesiger Anzahl derartige Vergnügungen begleiten, nehmen die Überlebenden, denen sich neue Irrsinnige zugesellt haben, die Verfolgung auf. Das Tempo erhöht sich. Weil sie sich unterwegs permanent aus Flaschen mit erwärmtem Sake aufwärmen, geraten die Teilnehmer in eine unbeschreibliche Raserei. Schon in der nächsten Kurve führt das zu den nächsten, noch entsetzlicheren Unfällen. Und weiter vorne oder in den Nachbarstraßen krachen Dutzende von anderen genauso Irrsinnigen zu Boden. Und in der Ferne rasen landauf, landab Tausende von anderen ebenso Irrsinnigen und Unirdischen daher, kippen um und zerschmettern auf ihrem Weg mehr und mehr andere, schließlich insgesamt und zusammengezählt ausnahmslos alle, die dann eine einzige globale Linie ihrer Inkarnation und Existenz am Firmament zurücklassen. In dem unbeschreiblichen Freudentaumel und Tumult explodieren überall von alleine die für später vorbereiteten Pulvergefäße und Feuerwerkskörper, was zusätzliche Opfer fordert, die im normalen Festverlauf gleichsam nicht vorgesehen sind, und den Schuldigen und Umstehenden Gesichter, Arme und Beine versengt. Ganz generell haben es alle Gottheiten zu allen Zeiten geliebt und lieben es [ 150 ]

noch, wenn man ihnen schlanke, stürmische, leichtsinnige und klaräugige junge Männer zum Opfer bringt. Und die jungen Männer erwidern diese Liebe. Ältere werden, wenn auch ohne besondere Begeisterung, ebenfalls angenommen. Die erst im Morgengrauen in ihre Häuser geschleppten übrigen besinnungslosen Festteilnehmer schlummern betrunken in bewußtloser halber Inexistenz, um die nächsten paar Wochen wegen der zahlreichen Opfer selbstverständlich strenge Trauer zu halten. Und so weiter bis zum nächsten Jahr. Ja, alles Traditionelle gelingt den Japanern sehr gut. Aber das Moderne, was ziemlich erstaunlich ist, gelingt ihnen weitaus weniger. Jedenfalls sind die Städte, wenn man die historischen niedrigen Hof- und Tempelbauten und die seltenen schmalen Sträßchen mit den zweistöckigen Holzhäusern in den erhaltenen alten Vierteln beiseite läßt, überaus anspruchslos. Ihr einziger Vorzug besteht allenfalls in ihrer Unaufdringlichkeit. Aber das ist ja auch etwas. Natürlich begegnest du einzelnen, dich im Chaos der Stadt unerwartet anspringenden Schöpfungen der neuesten architektonischen und technischen Gedanken. Beispielsweise dem gigantischen Stadion mit der kuppelförmigen Überdachung, das allerdings erst zur bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft 2002 fertiggestellt wird. In seinem Innern geschehen oder vielmehr werden, nach den Erzählungen der wenigen dort eingedrungenen und schwer beeindruckten Spitzel, wahrlich haarstäubende Wunder geschehen. Das Fußballfeld mit seiner ganzen nicht gerade kleinen Fläche, seiner Dicke von drei Metern und seinem nicht meßbaren Gewicht von vielen Tonnen kann fast augenblicklich in eine ungeheuerliche Tiefe versenkt und dort in einer Art Treibhausverpackung verstaut werden – feucht und warm. Aus derselben unvorstellbaren Tiefe, und zwar aus dem Schoß einer gewaltigen Kühlanlage, gleitet langsam ein Eishokkeyfeld mit idealem schimmerndem grünlichem Eis hervor. Bei Nichtgebrauch verschwindet es wieder in dem erwähnten Schoß, und statt dessen hebt sich augenblicklich ein Bühnenfeld beliebiger Gestalt und Größe empor, ausgerüstet mit einer unglaublichen audiovisuellen, mechanischen und elektronischen Anlage. Und all [ 151 ]

das dreht und wendet sich, fährt in die Tiefe und steigt wieder auf, verwandelt sich, erstrahlt in phantasmagorischem Licht und verschwindet in Sekundenschnelle wieder. Das reinste Wunder. Aber sonst beeindrucken die Städte wenig. Gut, man kann noch an das außergewöhnliche Hotel in Osaka erinnern, wo in der zentralen himmelhohen, riesenhaften Halle eine beeindruckend lange Allee von Palmen Platz findet, jede von ihnen um die zwanzig Meter hoch. Regelmäßig zweimal im Jahr sinken die gigantischen Bäume wie ballistische Langstreckenraketen in die Tiefe eines geheimnisvollen Schachtes. Sie werden mit speziellen, äußerst feinen Präzessionsgeräten heruntergelassen, die sie nicht schaukeln und nicht durch ein zu hohes Abfahrtstempo überlasten. All das geschieht schlicht zum Abwaschen der riesigen oberen Blätter, das immer eine Menge Gaffer anzieht, die tagelang dort herumstehen, in die Betrachtung der faszinierenden Prozedur versunken. Nach Abschluß der sanitären Bearbeitung wird jeder Baum aufs neue bis zu seiner monumentalen Größe angehoben. Die herrliche säulenartige Allee führt zu einem riesigen, in erheblicher Entfernung vom zentralen Eingang untergebrachten und mit allerlei elektronischer und sonstiger Bühnentechnik vollgestopften Schauspieltheater, das jedoch seinerseits in die kolossalen Dimensionen der Hotelhalle hineinpaßt. Man könnte den bereits erwähnten nagelneuen Bahnhof von Kyoto noch einmal erwähnen. Gut, dem einen oder anderen fällt noch etwas aus einer anderen Stadt ein. Aber mehr auch nicht. Doch, natürlich noch die überall vorhandenen, zahlreichen mehrstöckigen himmelhohen Autobahnkreuze, die sich manchmal zu einer so irrwitzigen Höhe emporschrauben, daß man Angst hat, auf die in verschwindender Ferne und Tiefe zurückgebliebene, verlassene und fast schon unwiederbringliche Welt auch nur herabzublikken. Sie verschönern Japans Städte und Räume schon ziemlich lange (wenn sie sie denn verschönern), so daß unser Tarkowski, als er seinerzeit in „Solaris“ das Bild der künftigen Welt darstellen wollte, diese Konstruktionen japanischen Genies wählte. Sie repräsentierten damals und repräsentieren auch heute noch selbst für Europäer eine höchst futurologische Technik, von der fossilen Sowjetbevöl[ 152 ]

kerung ganz zu schweigen, der sie nicht nur wie Konstruktionen des 21., 22. oder 25. Jahrhunderts vorkamen, sondern wie Motive aus Paradies- oder Höllenvisionen, je nach Wahrnehmung und Beurteilung der Moderne. Bei all der quasi extremen und aggressiven japanischen Technologie, die auf der ganzen Welt so berühmt ist, begann die Eroberung des Landes durch das Internet, wie man mir wiederum erzählt hat, erst vor ganz kurzem, sogar später als in unserem, in dieser Beziehung so fragwürdigen Land. Doch jetzt bewegt sich alles schon stürmisch und unaufhaltsam in die einschlägige Richtung. In der oben beschriebenen Stadt Wakkanai zum Beispiel gibt es eine auf Elektronik und Computer spezialisierte Universität. Ihre allerneueste Ausstattung, die ich mir unbeschreiblich überrascht und fast schon wild begeistert angesehen habe, war, wie sich herausstellte, von wesentlich höherem Niveau als die der diesbezüglich bestausgerüsteten, weltbekannten amerikanischen Universität. Man hat mir den Namen dieser amerikanischen Einrichtung genannt, aber ich habe ihn mir nicht gemerkt und fürchte, etwas Falsches zu sagen. Also ist die Technik bei uns, das heißt bei ihnen, das heißt in Japan, auf wesentlich höherem Niveau als im gelobten Land Amerika! Gut, natürlich nach Berichten von Japanern. Wir wollen jedoch nicht vergessen, daß die bekannten Firmen Sony, Sanyo, Toshiba, Sharp, Panasonic, Toyota, Yasmac, Simozuma, Aiwa, Nissan, Yamaha, Fuji, Duwido, Subaru, Kirin, Mazda, Nakoya, Yamahana, Dakomo – welche noch?, die hier – Miramoto, Nikon, Kokuyo, Honda, Nisseki, Dolkyo, Seika, Yomo, Yushis, Komodaya, Takeuchi, Jaeil, Suzuki, Nichiryo, Asahi, Suntory, Maruishi, Ashikaru – welche noch, fragt ihr?, na die hier – Yamaha, Miyata, Mochuzuki, Namikara, Suntor, Kampai, Sumitomo, Taisou, Numano, Lernai, Towai, Nikka, Lotte, Scotiabank, Enishi, Jate, Meiji, Yukijirishi, Gliriko – welche noch, fragt ihr?, ach, fragt nicht!, ich sag’s schon, die hier – Lion, Seibu, Antititi, Jury, Kanebo, Jomo, Showa, Sekkuje, Zojirushi, Idemitsu, Miata, Canon, Minolta, Konika, Takefuji, Hino, Seikosha, Denon und viele andere, die mir nicht einfallen, und viele, [ 153 ]

viele andere, die ich einfach nicht kenne – daß die immerhin japanisch sind. Hier bin ich gezwungen, den gleichmäßigen, na ja, den relativ gleichmäßigen Erzählfluß zu unterbrechen, um etwas Wichtiges mitzuteilen. Hurra! Hurra! Ich beeile mich, Ihnen und mir eine Freude zu machen. Endlich habe ich, während ich am rauhen, aber recht belebten Meeresufer bei Wakkanai entlangspazierte, dann doch zwei klitzekleine Yenchen im Wert von zwei amerikanischen Cent gefunden. Nicht grad wer weiß was, aber es geht ja beileibe nicht um die Summe. Es geht ums Prinzip und um die Idee. Dadurch oder auf diesem Weg wurde in gewisser Hinsicht der Ruf der Japaner gerettet, möglicherweise doch einen Hang zu Liederlichkeit, Eckenkackerei oder schlicht Menschlichkeit zu haben – allerdings nur im Wert von zwei Yen und nur einmal in mehreren Monaten. In Amerika, England und Deutschland demonstriert man Menschlichkeit in einem Umfang von bis zu drei Dollar und mit einer Regelmäßigkeit von einem Mal pro Woche. Also eintausendfünfhundertmal mehr! Doch ich wiederhole, es geht ums Prinzip. Um sein Vorhandensein. In gewissem Sinne wurde dadurch auch mein Ruf eines habichtsäugigen Spähers und Fängers glücklicher Zufälle gerettet. Nun wenden wir uns mit leichtem Herzen und einem Gefühl der Befriedigung wieder unserer planmäßigen Erzählung zu. Sicher, die Ausstattung des Alltags mit modernen Erfindungen jeglicher Art ist zutiefst beeindruckend – die zahllosen Varianten und Modifikationen selbstöffnender, selbstschließender, selbstredender, selbsterzeugender, selbstvergehender und selbstvernichtender Geräte, die lautlosen Schnellzüge und die mehrstöckigen Autobahnkreuze, die speziell gezüchteten schwanzlosen Katzen, die Zwergpferde, Zwergelefanten, Zwergkamele und sogar Zwerghaie, die, dreißig Zentimeter lang, mit ihren eindeutigen Zügen und ihrer raubgierigen Silhouette komplett das Bild der widerwärtigen Naturwesen reproduzieren, die zeitweilig die Verbündeten unserer Japaner im Kampf gegen die Amerikaner in der Pearl-Harbor-Periode waren. Na gut, [ 154 ]

wir werden nicht von Unschönem und Quälendem und außerdem von bereits Überholtem, Übertroffenem und Abgebüßtem reden. Jawohl, und dann sausen überall noch winzige Autochen herum, deren Funktion ich nicht kenne, winzige Traktörchen, Maschinchen und Turbinchen, fast schon im Zimmerformat, schneiden, hacken, mähen, säen, biegen, blasen, packen und stapeln eifrig, rührend, exakt und effektiv alles, was auf dem absolut menschenleeren, endlosen Feld ihrer Aufmerksamkeit und Verantwortung unterliegt – ein wunderbares, faszinierendes, geradezu idyllisches Bild. Zahllose Klimaanlagen (und die Hitze hier wäre ohne sie einfach tödlich!) verbreiten überall Kühle und eine Trockenheit, die Haut und Kehle reizt. Bellende und Sie persönlich anspringende, überraschend zoomorph wirkende Viecherroboter, Menschenroboter und Monsterroboter versetzen Sie in Schreckensstarre oder in nahezu heilige Schauder. All die übrigen, anderen verblüffenden Scherze erwähne ich erst gar nicht. Im Hotelzimmer erscheint plötzlich, mitten während der Fernsehübertragung – die damit unterbrochen wird –, eine geradezu unirdisch lodernde Flammenschrift, die Sie in Verwirrung stürzt, weil Sie so etwas nicht gewohnt sind und ohnehin dauernd mit Scherereien und Katastrophen rechnen: Herr Sowieso, wir haben eine Nachricht für Sie! Mein Gott! Was für eine Nachricht?! – Wir haben eine Nachricht für Sie! – Wie denn? Was denn? Ich will aber nicht! – Und auf der Stelle wird per Laufzeile der Text des Ihnen zugesandten Faxes übermittelt. So geht das. Wohin rennst du da, wo versteckst du dich?! Ich glaube, unsere Jungs wären zum Teil unangenehm überrascht und würden das nicht mögen, wobei die Sache ja auch überraschen muß, wenn man nicht einiges gewohnt ist. Spaziert man beispielsweise mittags längs-entlang des Ochotskischen Meeresufers auf der einen Seite oder des Japanischen auf der anderen, also auf der nördlichsten, beharrlich zum dunstigen russischen Territorium herüberschauenden Landspitze Japans, umgeben von weichen grünen Hügeln, die von weitem fast wie der schim[ 155 ]

mernde Samtbezug des ersten Kaiserdiwans im ersten Empfangssaal des Ersten Kaiserhofes aussehen, umweht von frischem, elastischem Wind und begleitet von den frechen Rufen der herbeifliegenden Möwen, dann ... Doch das meine ich eigentlich gar nicht. Ich meine, daß man, wenn man mittags längs-entlang des Meeresufers spaziert, eine endlose schnurgerade Reihe von allen möglichen Toyotas, Nissans, Cherokees und anderen Jeeps sieht, eine Freude für jedes russische Auge. Sie warten auf ihre Besitzer, die Angler-Eremiten, die in Booten, übrigens nach dem letzten Schrei der Technik mechanisiert, um einer kläglichen und ungewissen Beute willen in See gestochen sind. Oder ein anderes Beispiel. Eine unerwartet schöne asphaltierte Straße mit einem deutlichen, in der Sonne glänzenden Mittelstreifen schlängelt sich leer und einsam durch die Felder, am Fluß, an Hainen und gemähten Wiesen entlang, bis sie nach zwei Stunden zu zwei nicht besonders großen Bauernhöfen hinführt. Und mit derselben Sauberkeit und Gepflegtheit führt sie weiter. Übrigens hört sie nach einer Stunde unerwartet auf, und ihr deutlicher Mittelstreifen endet geradewegs im dichten grünen Gras. Das Gras hier ist aufgrund der brütenden Hitze und der alles beherrschenden Feuchtigkeit wirklich unbeschreiblich dicht und beeindruckend grün. Aus dem Gras kommen irgendwelche dunklen, glänzenden Laufkäfer, Kakerlaken oder Ameisen auf den Asphalt gehüpft und verschwinden nach ein bißchen Rennerei wieder darin. Ringsum sind in einiger Entfernung malerisch verteilt die Kothäufchen von irgendwelchen freien einheimischen Tieren zu sehen. Nirgendwo Spuren weder unterbrochener noch wieder fortgesetzter Arbeit. Womöglich ist alles von eben jenem Gras überwachsen. Doch auf der parallel verlaufenden Landstraße kann man weit, weit fahren. Unbeschreiblich weit. Doch derartige Weiten für den Hin- und Herverlauf von Straßen gibt es im überbevölkerten Japan natürlich nur auf Hokkaido. Auf solchen Straßen sind Ausflüge zu Fuß oder per Rad hinreißend. Wie eine Woge rollt plötzlich ein Gefühl von Einsamkeit, Verlorenheit und undurchdringlicher Stille heran. Über Feldern und Heuwiesen [ 156 ]

schweben kleine Habichte und suchen sich genauso kleine Feldgeschöpfe als Opfer. Alle zusammen fiepen sie zart und füllen so die Luft mit Lauten des Lebens, der Beweglichkeit, der Unruhe, der Vernichtung und der Nichtvernichtung. Der Habicht ist, das muß gesagt sein, kein so vogelartig kleines Geschöpf, wie es von weit unten scheint. Er ist ein großer, auffallender Vogel. Ich habe ihn zum ersten Mal aus der Nähe betrachtet, als er, über mich hinwegfliegend, mit dem Flügel beinahe meinen noch rechtzeitig eingezogenen, tendenziell kahlen Kopf berührt hätte. In diesem Moment fiel mir etwas Sakramentales ein: Ich weiß, daß ich keine Maus bin, aber er weiß es womöglich oder sogar höchstwahrscheinlich nicht. Tatsächlich, seiner Zielstrebigkeit und Entschlossenheit nach zu urteilen, wußte er es nicht. Doch dieses Mal ging es gut. Ich zog den Kopf ein, und es ging gut. Die Außenfedern seiner Flügel waren meuchlerisch erhoben und flatterten im Wind. Übrigens ist es durchaus möglich, daß es ein Falke war. Wahrscheinlich waren es Falken. Ich kann sie nicht auseinanderhalten. Plötzlich legen sie allesamt mit einem Male fächergleich die Flügel zusammen und stoßen mit Gesang im Sturzflug auf ein kleines Gewimmel herab, das sie dort unten ausgemacht haben: Das Land, es gab uns stählern’ Flügelarme Und statt des Herzens einen Steinmotor! Gleich darauf ertönt ein die ganze friedliche Umgebung erfüllendes unerträgliches Geheul. Eine Katastrophe spielt sich ab! Eine Art örtliches existentiell-natürliches Hiroshima. Vom Epizentrum aus verbreiten sich rasch unsichtbare, aber deutlich spürbare Wellen und verebben in der Ferne. Ich stehe in einiger Entfernung da, ohne mich einzumischen – sollen sie selbst entscheiden, wie sie ohne meine nutzlose, unzurechnungsfähige Hilfe auskommen. Na ja, wohl nur mit der Hilfe Gottes. Ich werde auch das im Auge behalten. Ich schaukele weiter meines Wegs. Vor dem Fahrrad, direkt unterm Rad hervor, schießen wie um die Wette kleine Vögelchen hoch und tauchen gleich wieder im Gebüsch am Wegrand unter. Zur Ablösung schießen stürmisch genau gleiche hoch und denken, daß ich Dummerjan den Tausch nicht bemerke oder registriere. Aber [ 157 ]

ich bin nicht böse auf sie. Ich habe für meine täglichen Spazierfahrten speziell diesen Weg ausgewählt, mit den sich am Rand abwechselnden Hainen und Feldern, mit dem etwas drückenden Heugeruch mitten am ermüdend heißen, sirrenden Tag, mit den riesigen, schwerfälligen Haufenwolken, die in der Beleuchtung durch die untergehende Sonne zu riesigen, bedrohlichen Gewitterwolken werden. Mit den Bremsen. Mit den schrecklichen, riesigen, grausamen Bremsen. Mit den einfach unrussisch erbarmungslosen Bremsen. Natürlich sind das im Grunde genommen völlig normale Bremsen. Mit sich unerwartet eröffnenden und zu allen Seiten erstreckenden Weiten, bewachsen mit einer Art Beifuß. Bisweilen tauchen plötzlich mitten auf den Feldern und Saatflächen statt normaler Vogelscheuchen Stangen mit Masken aus dem No-Theater auf. Keine Ahnung, ob das eine magische und in ihrer archaischen Direktheit und Beständigkeit verwunderliche Tradition ist oder der eigenmächtige Trick eines neuzeitlichen Spaßvogels. Hier trifft man solche Typen in diversen Tätigkeitsbereichen. Ich schaukele weiter. Aufgrund der völligen Leere der Fahrbahn und im Gefühl einer ungekannten Freiheit und Losgelöstheit vollführe ich euphorisch allerlei Kringel und Kurven. Einige wenige Malewitsch-Bauern sehen von ferne, von der Mitte ihres Feldes aus, zu mir hin, wobei sie die Hand über die Augen halten: Wer ist das, und was tut er da? Ach, niemand und nichts. Es ist bloß so, daß die Straße verödet und die gewohnte Anspannung vom ungewohnten Linksverkehr verpufft ist. Aus irgendwelchen Gründen herrscht hier tatsächlich wie in allen ehemaligen britischen Kolonien auf englische Art Linksverkehr. Indessen stand Japan nie unter der Herrschaft Großbritanniens. Dabei ähneln die Japaner mit ihrem Hang zu privater oder persönlicher Verschlossenheit eher den Engländern als, sagen wir, den lässigen Amerikanern. Dozenten am RussischLehrstuhl einer hiesigen Universität erzählten zum Beispiel, daß sie während der fünfzehn Jahre langen Zeitspanne der Zusammenarbeit nicht für würdig befunden worden seien, die Gattin ihres Lehrstuhlleiters sowie seine drei Söhne zu Gesicht zu bekommen, die in dieser Zeit heranwuchsen, heirateten und der Teufel weiß [ 158 ]

wohin zogen. Ist das etwa denkbar in den trauten Gefilden russischer Büros, Kanzleien und Arbeitszimmer, wo alle sofort wie Verwandte miteinander umgehen? Oder wie ebenso intime, in entsprechend extremer Offenheit und Schamlosigkeit miteinander verbundene Feinde. Andererseits gewöhnen sich dieselben japanischen Lehrstühle leicht an die von Russen eingeführte Sitte des familiären Teetrinkens und der fast verwandtschaftlichen Fürsorge für die Studenten. Sie gewöhnen sich so sehr daran, daß sie bei der Abreise der russischen Professoren ein ungeheures Ungenügen verspüren, ja geradezu eine Schwermut, die in die fixe Idee übergeht, nach Moskau, nach Petersburg, in irgendein russisches Nest fahren zu müssen – nach Moskau!, nach Moskau! –, um dem verlockenden und irgendwie einlullenden Phänomen russischer Geistigkeit und Herzlichkeit nachzujagen. Aber das nur nebenbei. Ich schaukele weiter. Leere. Wundersame Leere. Und Birken. Ja, sogar heimatliche Birken. Und das Herz wird gleichsam rettend von einer ölhaltigen Nostalgieträne eingeschmiert, die nicht zuläßt, daß es in der verzehrenden Fremde endgültig einschrumpelt. Dies also meine täglichen natur-landschaftlich-psychotherapeutischen Übungen. Und man könnte sich in den Feldern und Weiten vollständig verlieren und vergessen, wenn der Blick in jede Richtung nicht an eine in der Ferne blauende, gewaltige Kette aufragender Berggipfel stoßen würde. Sicher, um einer noch stärkeren Analogie willen könnte man sich vorstellen, daß die fernen Bergrücken die stolzen und lockenden Rücken des Kaukasus wären, die beständig an Rußlands kulturellem, politischem und militärischem Horizont zu sehen sind. Doch das ginge nun wirklich zu weit. Gleich darauf sah ich eine sehr, sehr ergreifende Szene. Fast eine Erscheinung. In schwindelnder Höhe, von wo nur ein vereintes Wattesummen herdrang, schwebte hoch oben eine zarte, langgezogene herbstliche Kette von Hubschraubern vorüber, etwa dreißig Stück. Es war allerdings erst Ende August, noch etwas früh. Aber nein, ich konnte die Richtung ihres Flugs genau bestimmen – sie zogen gen Süden. Viel Glück, ihr freien Kinder der Lüfte! [ 159 ]

Ich blieb an einem klaren, nicht sehr tiefen kühlen Fluß stehen und schaute lange auf den Grund hinunter. Folgendes kam mir in den Sinn. In meiner fernen Kindheit und der ebenso fernen sowjetisch zurechtgeschliffenen Jugend wäre selbst dem kühnsten, wirrsten Kopf nicht der Gedanke gekommen, daß es irgendwann einmal möglich sein würde, an einem rauschenden japanischen Bach zu sitzen und sich die Füße zu kühlen, die vom langen Gehen auf der ebenfalls japanischen Erde brennen. Ach, könnte man nur dorthin fliegen, zurück in die blöde Kindheit und die ungläubige Jugend, wiederkehren als unsichtbarer Geist! Sich auf die Schulter von Sanjok setzen, der sich noch nicht auf die kalten Bahngleise geworfen hat, um mitten durchgerissen zu werden. Oder sich zum dicken Tolik runterbeugen, der noch nicht in der verfluchten Kanalröhre erstickt ist. Oder dem dämlichen Rothaarigen aus dem fremden fünfstöckigen Ziegel-Eckhaus, den unser Kröte noch nicht erstochen hat, zuwispern: Jungs! Schöpft Hoffnung und haltet aus! Alles geht in Erfüllung, selbst das Undenkbare. Haltet aus! In der Welt bahnen sich Umbrüche an. Und ein geheimnisvoller, bisher nicht einmal erahnter und weder von euch noch von den Weisesten der Weisen ersehnter geologisch-politischer Wandel von fast kosmischen Dimensionen wird alles verändern, und ihr werdet wahr und wahrhaftig in diesem Land Japan sein, das für euch bisher nicht einmal real existiert, das ihr nur vage dem Namen nach kennt! – Und zu mir neige ich mich voller Zärtlichkeit, zause mir das struppige Haar und murmele unter Tränen und mit einer Stimme, die vor lauter Aufregung und Wiedererkennen zittert: Glückspilz! Du bist es! Du weißt es noch nicht. Doch du wirst als erster von allen, die hier sitzen, deine bereits von Krampfadern und Gichtbeulen entstellten erhitzten Füße ins kühle japanische Wasser tauchen! – Er hört mich nicht. Hörst du? – Er antwortet nicht. Hörst du mich? Hörst du mich? Hööörst du miiich?! – [ 160 ]

Mein Gott, er hört mich nicht und antwortet nicht! Wie im Fall der gerade erst aufgeflogenen und der wiedergekehrten Toten, die eine ungestillte Sehnsucht danach hegen, mit ihren zeitweise zurückgelassenen, empfindungslosen irdischen Verwandten zu kommunizieren. Na, auch egal. Später wird er alles erleben, verstehen und sich an mich und meine Prophezeiungen erinnern. Leb wohl, mein Guter! Leb wohl bis zu unserem Wiedersehen in der fernen, unglaublichen und undenkbaren Zukunft! – wispere ich mit unhörbarem Beben und mit Tränen in der Stimme. Tja, wenn etwas Derartiges möglich wäre, würde der Wert all unserer späteren Erfahrungen ins Unermeßliche steigen. Vielleicht ist es ja gut, daß so etwas uns nicht gegeben ist, weil wir ein solches Glück nicht aushalten und nicht ertragen würden. Doch was ich hier nicht finden konnte, ist die Brennessel, die wir zu Zeiten meiner Kriegsjugend, die von ihr verbrannten zarten Kinderärmchen mit der bleichen schutzlosen Haut bis zum Ellbogen aufgekratzt, so daß es blutete und sich eitrige Blasen bildeten, in ganzen Garben für die Zubereitung einer schlichten Brennesselsuppe sammelten. Ich bemühte mich, meinen zeitweiligen Bekannten die Sache zu erklären, zeichnete die spezifische Kontur ihrer Blätter auf, erzählte von den schrecklichen Folgen des unachtsamen Kontakts mit ihr – nein, sie kennen sie nicht. Und vieles andere Charakteristische von uns kennen sie auch nicht. Sie wissen zum Beispiel nichts von einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. Vielleicht kommen Juden und Freimaurer bei ihnen nicht in so großer Anzahl vor wie bei uns, oder sie kommen überhaupt nicht vor. Vielleicht haben sie aber auch so viele eigene Verschwörungen, daß eine mehr oder weniger sie kaum verblüffen oder besonders erbittern könnte. Doch ich schaukelte durch all das Vertraute und dachte nicht an das Fehlen fehlender Kleinigkeiten oder das Vorhandensein fremdartiger Kleinigkeiten. Meine Seele schwebte im luftleeren Raum einer dem Verstande zugänglichen Trautheit (ja, genau das Nomen meine ich!). In meinem Gedächtnis tauchten zum Weinen unvergeßliche Texte und Melodien von Liedern auf, die ich seit meiner Kindheit kannte: [ 161 ]

Was singt die Wachtel aus dem Feld heraus? Sie singt, daß sich die Ernte heuer lohnt, Und daß im Nachbardorf, im Uferhaus, Ach, meine Liebste, meine Liebste wohnt. Ach, in die Schule gingen wir zu zweit, Fuhren zu zweit zum Pflügen, Säen fort, Und mein so trautes Feld ward seit der Zeit Mir ein noch trauterer, noch näh’rer Ort. Oder: Feld, oh Feld, du goldne Welle, Der Weizen wird prall, Der Roggen drall, Von ferne ein Lied. Das tut wohl. Jawohl. Und außerdem fiel mir noch etwas ganz anderes ein, das vielleicht nicht hierhergehört, aber offensichtlich irgendwie mit alledem verbunden ist, da es mir einfiel und zum Vorschein kam. Hier ist es: Madonna zog einmal durch Nippon, sie Saß auf ’nem kaum sichtbaren Hippony Ich sag nicht, wie, doch plötzlich hieß es, du da Verwechselt wurde sie mit einem Buddha Und später, in der Nähe der Stadt Adler Verwechselte man sie mit einem Adler Und zwar mit einem doppelköpfigen

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9. F O R T S E T Z U N G

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m Prinzip herrscht in Japan die Gerontokratie. Es ist allgemein bekannt, daß man dort Ältere traditionell als Menschen achtet und verehrt, die mehr wissen und sowohl in einfachen Gesprächen wie auch beim Treffen hochwichtiger, verantwortungsvoller staatlicher Entscheidungen mehr Rechte haben. Das sorgt natürlich für gewisse Probleme im gesellschaftlich-sozialen Leben und für einen allgemeinen Spannungspegel. Gut, wenn das Alter von Partnern der Verteilung ihrer gesellschaftlichen Rollen, Verpflichtungen und Kompetenzen entspricht. In Japan muß man sich, was man verdient, erst lange verdienen und erarbeiten. Zur gleichen Zeit dominiert im westlichen und besonders im amerikanischen Lebensmodell umgekehrt eine Art Altersrassismus – die Präsumtion des Vorrangs von Jugend, Energie und Gesundheit. Demnach erhält die Jugend, die nach genuinem Naturrecht über Gesundheit und Energie verfügt, dadurch auch quasi den sozialen Vorrang und wirkt wie eine dominierende ideologische Instanz. Der Markt für die allerunterschiedlichsten Mittel und Methoden, wie Alternde und Alte Junge und Ewigjunge imitieren können, boomt nur so. Das Altern ist das reale soziale und existentielle Problem der heutigen Gesellschaft. Mit dem Altern fängt man sofort nach der Jugend an. Für den Kampf dagegen und zur Unterstützung der sich Sträubenden werden Riesensummen ausgegeben. Für diese Bedürfnisse hat sich eine gewaltige, enorm gewachsene und in unermeßliche Dimensionen weiterwachsende Industrie entwickelt – von allen [ 163 ]

nur möglichen Verjüngungskuren bis hin zu Kosmetik, Ernährung und Chirurgie. Im Grunde ist das Altern zur Tragödie der Jugend geworden, die um ihre Flüchtigkeit und ihre morgige, schon heute deprimierende und schwächende Niederlage weiß. Der Kampf mit dem Alter beginnt in der Kindheit und endet nie. Höchstens, wenn man endgültig verloren hat. Und das Paradoxe ist, daß man gleich zu Beginn endgültig verloren hat. Denn wenn nur der Gedanke an eine mögliche endgültige Niederlage aufkommt, hat man auch schon verloren. Die einzige Methode, die dieses Mißverhältnis der Lebensalter aufzuheben scheint, ist Kompetenz, professionelle Kompetenz. Sie allein kann Jugend überwinden. Doch selbstverständlich nur in den Grenzen professioneller Tätigkeit und Aktivität. Daher auch die Fetischisierung der Arbeit. Natürlich existiert noch eine weitere, von Begeisterung und Verzweiflung erfüllte Methode – sich einfach am zuteil gewordenen Moment berauschen. Da sie in der realen Lebenspraxis ständig erhebliche seelische Anstrengungen erfordert, um nicht stumpf zu werden, führt sie zu ihrer logischabschließenden, kulminierenden narkotischen Anreicherung. Einer Anreicherung, die fortwährend eskaliert und letztlich wohl als einzige die Erfüllung des Moments bewirkt, der die Zeit verneint. Aber egal, in Bälde steht offenbar unsere Revanche bevor. Ach, wie ich sie herbeisehne – mit welcher Begeisterung, Wonne und Schadenfreude! Revanche für uns, die älteren und weisen Leute. Im Grunde ist doch die Expansion der Jugend und im besonderen der Heranwachsenden schlicht ein zufälliges Resultat bestimmter sozialhistorischer Bedingungen. Um der im gegenwärtigen gesellschaftlichen Leben vorherrschenden Mode zu widerstehen und trotzdem nicht beschuldigt zu werden, unentwegt zu nörgeln wie typische Alte, die das Interesse am Leben und die Verbindung mit ihm zu verlieren drohen, müssen wir bei der Beschreibung und beim Widerstand dagegen mit extrem guten Argumenten ausgerüstet und ebenfalls korrekt in der Terminologie sein. Was wir auch versuchen werden. Deswegen ist der folgende Teil meiner Erzählung ein wenig trocken und terminologisch überfrachtet. Doch das muß so sein. Das muß so sein, für alle von uns. Das muß so sein für die Wahrhaftigkeit [ 164 ]

des bevorstehenden Moments, dessen prägnante Definition seine triumphale Ankunft erleichtern und die Härte des Schlags für die Törichten und Nichtsahnenden mildern wird, die sich immer noch an ihrem jetzigen Triumph berauschen. Also, das heutige Phänomen der Jugendkultur ist ganz einfach das Resultat des Babybooms der Nachkriegszeit, als die durch Kriege und Revolutionen fast völlig ausgerottete Erwachsenengeneration eine irrsinnige Menge Kinderchen hervorbrachte. In dieser ungewöhnlich langen Friedensperiode in der Menschheitsgeschichte übertraf deren Anzahl die zur Hälfte abgeschlachteten, zur Hälfte einfach so vernichteten vorigen Generationen in einem ungeheuren Ausmaß. Mit der Zeit haben die Haie des Marktes und des Showbusineß entdeckt, daß diese armen, schlecht erzogenen heranwachsenden Okkupanten des Lebens eine gar nicht üble, sogar bemerkenswerte Käufermasse darstellen. Den armen Eltern, die an ihren neuen Kindern einen Narren gefressen hatten, war nichts zu schade für sie, um so mehr, als der Lebensstandard in vielen entwickelten Ländern der westlichen Welt steil anstieg. Übrigens standen auch die Ereignisse von 1968 in vielem mit der Überproduktion einer Jugend in Zusammenhang, die sich in einer Welt, wo die einflußreichen Posten und Positionen noch nicht ihr gehörten, beleidigt, betrogen und beschummelt fühlte. Jetzt gehören sie ihr. Und was ist daran gut?! Indessen nähert sich die Zeit ihres Triumphs dem Ende. Es ist schon zu sehen. Ich sehe es schon! Schon wächst die Zahl der Unsrigen. Die Welt altert rasch. In Bälde werden ältere, gediegene, ruhige, in Maßen konservative Leute die hauptsächliche Wählerund Käufermasse bilden. Natürlich steht ihr Konservatismus mit den netten, nostalgischen Erinnerungen an ihre Jugend in Zusammenhang. Und wie jeder Konservatismus verträgt er sich nach Geist und Prinzip ohne weiteres mit einem beliebigen gemäßigten Modernismus. Politiker und Markt können das nicht ignorieren. Und die Gerontokratie, wenn auch in völlig anderer Form und Bedeutung, kehrt als glückliche Rettung für den, der schon am Übermaß des hohlen, hysterischen Jugendenthusiasmus zu ersticken drohte, auf ihren angestammten Platz zurück. [ 165 ]

In Japan ist die Korrosion der traditionellen Altersrollenverteilung ebenfalls spürbar. Die Jüngeren empfinden sie langsam als beschwerlich und lassen deutliche Anzeichen von Unzufriedenheit erkennen. Mit einer gewissen Verspätung erobert die westliche Jugendkultur allmählich auch Japan. Daneben existiert ein uns wohlbekannter Minderwertigkeitskomplex gegenüber der westlichen Kultur und dem westlichen Schönheitstyp (Models und Mannequins sind bevorzugt europäisch). Übrigens wurde ich in Südkorea mit etwas Ähnlichem konfrontiert, ebenso wie mit der zu meiner Überraschung kompletten Unkenntnis des Englischen oder irgendeiner anderen europäischen Sprache selbst in Kreisen hyperprogressiver Intellektueller. Übrigens habe ich das schon erwähnt. Aber egal, die Jugend lernt allmählich Englisch wie eben alles, was weltweit und einhellig verbreitet ist und keine Grenzen kennt, ob das den Hütern der Sprache sowie überzeugender, manchmal auch rettender Traditionen nun gefällt oder nicht, selbst wenn sie so gemäßigt sind wie ich zum Beispiel. Unter Jungen und Progressiven ist es Mode, sich das Haar blond oder rot zu färben. Buchstäblich in allen Jugendsendungen im Fernsehen leuchten derartige grelle Mähnen. Bei den Sportarten dominieren hier unbestreitbar die angelsächsischen, Baseball und Golf, die die europäischen – Fußball und Billard – absolut überflügeln. Wie geopolitische Globalmystiker bemerken würden: Es handelt sich ja um eine Inselnation, da sind Denkart und Verhaltensweise atlantisch. Die Mentalität ist der angelsächsischen nahe. Und die ganze Geschichte Japans besteht ja auch aus Einfall, Invasion, Eroberung, Sieg, Unterwerfung, Vernichtung, Ausbeutung, Unterdrückung. Und zum Abschluß der Niederlage im Konflikt mit einem anderen, aber stärkeren atlantischen Räuber, mit Amerika. Obwohl – das wird sich noch herausstellen. Eben ging es um Globales, das nur schwer und nur von wenigen in seiner Fülle und Unverblümtheit erfaßt werden kann und aus den weiten Äonen großer historischer Zeitabschnitte herausgelöst wurde, inkongruent und inkompatibel mit der Dauer eines einfachen Menschenlebens auf dieser Welt. Aber wenn es um etwas Einfaches [ 166 ]

gehen soll, was gleich jedem auffällt, der zum ersten Mal hier ist – 90 Prozent der einheimischen Frauen laufen über den großen Onkel. Na gut, 85 oder 83. Nein, doch 90. Oder 92. Unwichtig. Bei den einheimischen Männern läßt sich Derartiges nicht beobachten. Aber die Frauen laufen so niedlich einwärts, daß das höchst rührend und charmant wirkt und außerdem noch das reizende Bild weiblicher Verschämtheit, Verschlossenheit und Bescheidenheit verstärkt. Im Gegensatz zum, sagen wir, leicht dreisten europäischen Ideal der geöffneten oder fast schon gespreizten dritten Position beim Ballett. (Nein, nein, das ist ausschließlich historisch-kulturell gemeint und nicht etwa im Sinne geschlechtlich-ideologischer Vorlieben.) Der Grund für diese nationale Eigenart ist völlig klar – während ihrer ganzen Geschichte und auch jetzt trugen und tragen japanische Frauen zu Hause und zu Festen auf der Straße enge Kimonos, in denen die Fortbewegung nur mit winzigen Trippelschrittchen und einwärts gedrehten Füßen möglich ist. Auf den Knien der jungen Mädchen sieht man dunkle Flecken, weil sie ständig darauf sitzen (versuchen Sie es mal auch nur für zwanzig Minuten). Stundenlang sitzen sie so, die Fußspitzen unter sich gezogen, die zarten, rührenden Fersen zu beiden Seiten abgelegt. In Japan siehst du ein, daß das berühmte, allen schon zum Hals heraushängende Lamento Puschkins über ein Paar schlanker Frauenbeine, von vielen geradezu als Handlungsanweisung und als Prinzip ästhetischer Subsumtion unter ein quasi unanfechtbares Ideal verstanden, auf der prinzipiell falschen, völlig aus der Luft gegriffenen Prämisse von Vorrang und hyperabsoluter Unerläßlichkeit gerader Beine wie generell der Dominanz der Geraden über alle übrigen geometrischen Achsen und Linien basiert. Das läßt sich nur mit der Verdorbenheit, ja Verzerrtheit des Sehens durch die langjährige, gewaltsam eingeführte und höchst zweifelhafte griechisch-römische Optik erklären. Aus unterschiedlichen Gründen, darunter die bereits beschriebenen, haben Japanerinnen wunderbar kleine, anziehende Füße. Traditionell, nach uralter Mode, die bereits in die Gene eingegangen ist, sind sie ein bißchen platt, weswegen sie nicht völlig winzigbabyklein wirken. Zur traditionellen Tracht gehören auch die berühmten [ 167 ]

Holzsandalen auf einer Plattform mit zwei hohen quergestellten Zwischenwänden unter der Sohle, so daß absolut unverständlich ist, wie man auf diesen fast hufartigen Konstrukten Halt finden kann. Zudem müssen sie kürzer als die Füße sein, damit die Ferse sich hinten über die Ränder senken kann. Bei den Geishas hat man diese Ferse mit einem geschälten Zwiebelchen verglichen und für überaus verführerisch gehalten. Dabei müssen die Ferse und natürlich der ganze Fuß immer entblößt sein, ohne Socke oder Strumpf, sogar im relativ kalten hiesigen Winter. Das Holzschühchen macht auf den Steinen tock-tock-tock. Die Ferse auf dem Schühchen schlappschlapp-schlapp. Wahnsinnig berückend! Unerträglich schlicht! Apropos, Geishas verkaufen im Gegensatz zu einer hartnäckigen traditionellen russischen Auffassung von ihrem Beruf durchaus nicht ihren Körper. Dafür gibt es spezielle Prostituierte. Geishas sind so etwas wie Entertainerinnen. Sie werden von Firmen oder reichen Konzernen auf Bankette eingeladen, um für Amüsement und Konversation zu sorgen. Sie singen ausgezeichnet, spielen Koto, tanzen und sind vor allem Meisterinnen der Gesprächsführung und jeder Art gehobener Abendunterhaltung. Es gilt als unanständig und unzulässig, wenn sie am Tisch ihrer Kunden in deren Gegenwart etwas verzehren, außer daß sie einmal am Wein oder an einem Erfrischungstrunk nippen. Sie essen später in der Küche, in aller Hast und ohne Förmlichkeit. Ihre Tätigkeit ähnelt derjenigen einer Frau, die einen Salon führt, ohne sich in einem bestimmten Beruf oder in der Ausübung einer Kunst etabliert zu haben. Sie sind sozusagen spezielle Gesellschafterinnen, Meisterinnen in der Sphäre ritueller Dienste für das festliche Amüsement. Im Privatleben sind Geishas sehr zurückgezogen. In der Regel haben sie permanente, langfristige Gönner, leben aber selbständig und unabhängig, der Typ der emanzipierten, hochqualifizierten Frau, vollkommen ungeeignet für Ehe und Familie. Und in der Regel gehen sie auch keine Ehe ein. Derartige Versuche und Erfahrungen sind zum größten Teil erfolglos. Sie sind nicht darauf vorbereitet und auch einfach nicht dafür prädestiniert. Geishas wohnen bis heute in speziellen Stadtvierteln, in denen sich das traditionelle Design und die Architektur [ 168 ]

der schönen zweistöckigen Holzgebäude in den engen menschenleeren Sträßchen bewahrt haben. Hier leben sie in abgeschlossener Gemeinschaft unter Kolleginnen und lauter sie bedienenden und ihnen beistehenden Haushälterinnen, Agentinnen, Friseurinnen, Schneiderinnen, Gehilfinnen, und was es sonst noch an derartigen Leuten gibt. Die Dienste einer Geisha sind durchaus nicht billig und gelten als Höchstmaß von Prestige und Luxus. Man kommt nur durch Empfehlung mit ihnen in Kontakt. Erwähnt ein Kunde die Bekanntschaft mit einer von ihnen oder einen Abend, den er in ihrer Gesellschaft verbracht hat, hebt das seinen Sozialstatus ganz außerordentlich. Zum Beispiel kostet es nach Preisverzeichnis hundert Dollar, sich bloß mit einer Geisha fotografieren zu lassen. Natürlich mit einer Geisha der niedrigsten Kategorie, die auch für Kontakte mit zufälligem Publikum offen ist. Nach dem Ende ihrer Karriere, die sie bis zum Alter von sechzig Jahren verfolgen, also bis zum üblichen Rentenalter – denn mit dem Alter wachsen Können und Charme einer Geisha nur, außerdem sind die Konsumenten ihrer Dienste in der Regel ältere und wohlhabende Männer, die sich für erotische Freuden mit anderen Professionellen weiblichen Geschlechts einlassen –, also, nach dem Ende ihrer Karriere machen sie in diesen Stadtteilen kleine Restaurants für einen ausgewählten Kundenstamm auf oder patronisieren junge Anfängerinnen. Sie leben still, zurückgezogen und vernünftig, doch ihr Ruhm, der Ruhm der Subtilsten und Gebildetsten, vergeht auch in Jahrhunderten nicht. Zu den einfachen alltäglichen Mädchen aus normalen Familien und mit normalen Aktivitäten zurückgekehrt, weisen wir darauf hin, daß auch ihre Hände, die sie sich beim Lachen zart vors rosa Mündchen halten, klein und auffallend proper sind. Sie halten sie sich übrigens bei jeder außergewöhnlich emotionalen Reaktion vor den Mund – Erstaunen, Freude, Traurigkeit, Erschrecken. Die Demonstration einer ähnlichen charakteristischen, spezifisch-allgemeinjapanischen Verschämtheit fiel mir einmal in der U-Bahn auf, bei einem Anlaß, der ganz klar nicht unter unsere Definition des Japanisch-Weibli[ 169 ]

chen fällt. Ein ziemlich großer und fülliger, sogar massiger junger Mann fläzte sich betrunken mit den Füßen auf der Ledersitzbank des Waggons. Okay, ihr kennt das Bild zur Genüge, Einzelheiten sind hier also unnötig. Unter den gleichmütigen Blicken seiner Umgebung sang er flotte japanische Lieder und fuchtelte mit einer Flasche herum. Doch bei jedem Hüsteln oder Gähnen hielt er sich rührend den übrigens ziemlich wohlgeformten Handrücken vor den Mund. Durch die Männerabteilungen der Badehäuser schlendern muskulöse Kerle, die sich mit Handtüchern bedecken, statt ihren Männerkram frei und dreist herumbaumeln zu lassen. Okay, es geht natürlich nicht um normale Bäder, wo ich keinen Fuß hineinsetzen würde. Von denen habe ich in meiner allgemeinkommunalen Sowjetkindheit mehr als genug gesehen! Besonders eins hat sich mir eingeprägt, das in ziemlicher Entfernung von unserem Haus lag und zu dem wir samstags mit der ganzen Familie in einer überfüllten, kläglich quietschenden Straßenbahn fahren mußten. Im wesentlichen erinnere ich mich an die gigantische, mit vorrevolutionären weißen, im Lauf der Zeit vergilbten Kacheln verkleidete kühle Eingangshalle mit ihren dröhnenden Echos. Nach links ging es durch eine niedrige, schmierige Tür von graugrünlicher sogenannter nichtschmutzender Farbe zur Männerabteilung, nach rechts zur Frauenabteilung. Genau in der Mitte des grenzenlosen Hallenraums residierte einsam eine nicht besonders große Gipsfigur des berühmten Grenzers Karazupa in schwerem Pelzmantel mit seinem Hund Indus I. Ich streichelte ihm gern über sein Fell aus Gipsrelief, das viele Male mit vielen Schichten eben jener nichtschmutzenden, hier allerdings braunen Farbe gestrichen worden war. Mit einem schüchternen und schwachen Fingerchen polkte ich verstohlen kleine Streifen der blätternden Farbschicht ab, da ich offenbar zum warmen, atmenden Fleisch vordringen wollte. Ich steckte meine Hand in den schrecklichen, hochrot aufgesperrten Rachen und zog sie gleich wieder zurück, wobei ich jedesmal vor Angst erstarrte, mich aber schnell wieder faßte. Wer dort war, vergißt das nie und läßt nicht zu, daß ich lüge oder es vergesse. Da seht ihr’s – man hat’s nicht zugelassen. [ 170 ]

Nein, im vorliegenden Fall spreche ich von speziellen heißen Quellen, von denen es in Japan aufgrund der außergewöhnlichen vulkanischen Aktivität eine beispiellose Menge gibt. Ihre mittlere Temperatur schwankt irgendwo in dem kleinen Bereich zwischen zweiundvierzig und fünfundvierzig Grad. In der Regel befinden sich die Hauptbecken, in guter Tradition geschmackvoll eingefaßt mit Steinen, Pflanzen und sogar Miniaturwasserfällen, direkt an der frischen Luft. In einer nicht zu kalten Nacht ist es ein unsagbarer Genuß, wenn man, bis über die Ohren ins heiße Wasser getaucht, in den nicht menschlichen, sich weit dem Blick eröffnenden und über und über mit Tränensternen besäten faszinierenden Himmelsraum schaut. Vom nahe liegenden Meer klingt das Plätschern und Rauschen des Wassers herüber. Wenn man sich etwas reckt, sieht man sogar die heranrollenden Wellen. Und an klaren Tagen kann man von den äußersten Punkten des japanischen Landes aus sogar die dunstige Silhouette russischer oder chinesischer Grenzgebiete erkennen. Indessen hat man keine Lust aufzustehen, selbst um einer so verführerischen Aussicht willen. Mag sein, daß gerade eine gewisse Angst davor, diese Gebiete zu sehen, einen regungslos und mit geschlossenen Augen liegenbleiben läßt, so daß der bereits nicht mehr fühlbare Körper sich im bereits nicht mehr fühlbaren Wasser auflöst. Liegen, liegen und den schweifenden Blick bisweilen auf den erwähnten, exakt dir gegenüber befindlichen beruhigenden Himmel richten. Allerdings ist die Situation, das muß man anmerken, höchst infarktfördernd. Denn vor dem Eintauchen in alle möglichen warmen, heißen und einfach unerträglich heißen Wasser ist natürlich vorgesehen, daß man zur eminenten Steigerung der gegenseitigen Geneigtheit ziemlich ausdauernd im Restaurant sitzt. Nach europäischen medizinischen Vorstellungen, an die meine Frau rückhaltlos glaubt, sind ein nervenaufreibend verbrachter Tag, eine reichliche Mahlzeit und im Anschluß ein heißes Bad der direkte Weg zu einem ausgedehnten Infarkt. Das zeigt sich besonders anschaulich-beweiskräftig in der Infarktstatistik leitender Angestellter, bei denen alle drei erforderlichen Komponenten intensiv und extensiv in hohem Grade [ 171 ]

vorkommen. Auf diesen Umstand hat mich meine Frau ebenfalls hingewiesen. Es geht darum, daß bei Streß das ganze Blut eine Rettungsaktion zur Beruhigung von Kopf und Seele startet. Eine reichliche Mahlzeit dagegen zieht es zur Durchführung eines intensiven Verdauungsprozesses ab. Bei einem heißen Bad verteilt es sich zudem subkutan auf der gesamten Oberfläche des erhitzten Körpers. Und es ist, notabene, immer ein und dasselbe Blut. Ein anderes ist uns nicht gegeben. Es reicht natürlich nicht für alles. In diesen Fällen macht das arme Herz eben schlapp und zerreißt. Indessen stößt Japanern in solchen Fällen nichts dergleichen zu. Später werde ich mich noch einmal bei den Besonderheiten der japanischen Physiologie aufhalten. In anderen Fällen bekommen sie einen Infarkt. Und auch nicht seltener als in den übrigen modernen und auf ihren Fortschritt stolzen Ländern. Aber im vorliegenden Fall nicht. Auch Europäern, die von ihren japanischen Gastgebern ins Bad begleitet werden, stößt nichts dergleichen zu. Das beruhigt und entspannt – es kann nichts passieren! Wir, vielmehr sie garantieren das. Überhaupt ist es in jeder Hinsicht besser, begleitet zu werden. In den Häfen in der Nähe Rußlands beispielsweise, wo Russen häufige Gäste sind, läßt man sie nicht mehr allein in derartige Etablissements. Man kann die Betreiber verstehen – die erwähnten Russen urinieren in die Becken. Nicht aus Bosheit oder Gemeinheit, nein, das ist einfach eine nationale Angewohnheit. Ich will hier nicht alle pauschal verurteilen, vor allem nicht die eigenen Leute, also die Jungs aus unserem Hof. Die wissen selber, wie und wo sie sich auf welche Weise benehmen müssen. Ich möchte bloß auch ihre Aufmerksamkeit auf derartigen Unfug lenken. Jungs, seid rücksichtsvoll! Betrunken und vom heißen Wasser benebelt, müssen unsere erwähnten Stammesgenossen direkt an Ort und Stelle kotzen, hieven sich mit Mühe auf geschwächten Beinen aus dem Becken, rutschen auf dem nassen Boden aus, fallen hin, zerschlagen sich die Fresse, schlitzen sich die Augenbrauen auf, brechen sich die Arme und überschwemmen den ganzen Raum mit riesigen Mengen ihres im Wasser kaum noch gerinnenden Blutes. Bei ihren wiederholten erfolglosen Versuchen aufzustehen krachen sie mit ihrem schweren, [ 172 ]

unförmigen Seemannskörper auf die zarten, kleinen Körper der Umstehenden und quetschen oder schlagen sie bisweilen tot, vor allem Kinder. Wenn sie es dann doch mit Ach und Krach zum Ausgang geschafft haben, stecken sie den Angestellten ein Riesentrinkgeld zu, sozusagen als Entschädigung für ihr abweichendes Verhalten und als Beweis für Großzügigkeit, Gutmütigkeit und Versöhnlichkeit der russischen Seele. Die Japaner, weder an Trinkgeld noch überhaupt an Derartiges gewöhnt, versuchen, das Geld den wie mächtige Stämme vor ihnen hin und her schwankenden und auf unsicheren knotigen Beinen stehenden Spendern zurückzugeben. Die verstehen das natürlich als Beleidigung und Mißachtung ihrer Person, ihrer Kameraden und des ganzen russischen Volks. Sie bestehen auf der Annahme. Laut und herausfordernd. Es entspinnt sich eine Art Balgerei. Die Polizei erscheint. Mit ihr zusammen trifft auch ein Beamter der Stadtverwaltung ein, der ein solides Russisch spricht und speziell dafür angestellt ist, die zahlreichen Konflikte mit den russischen Gästen zu schlichten – vom Diebstahl im Supermarkt bis zum unerklärlichen Umstürzen eines nicht gerade kleinen Grabsteins auf einem fernen Friedhof. Der Verwaltungsbeamte, ein schwerer Mann mit einer für Japaner ungewöhnlichen Gesichtsbehaarung in Form von Koteletten à la Nosdrjow, protzt mit seinen Russischkenntnissen, indem er Floskeln wie „das gibt noch was“ oder „das dicke Ende kommt noch“ gebraucht, und bricht in wildes Gelächter aus. Dann blickt er im nächsten Moment streng, sogar brutal drein und erklärt, die runden Backen mit den Koteletten aufgeblasen, den Russen auf russisch, was sie erwartet. Und sie erwartet oft etwas höchst Unangenehmes, Dunkles, Feuchtes, allerdings nicht ganz so Schmähliches und Brutales, wie ihnen ihr Verhalten in der Heimat eingebracht hätte. Ruhige Polizisten schaffen sie dorthin – ermüdet schon, erschlafft, ermattet, sogar irgendwie verwundert und halbwegs resigniert. Die Japaner kann man also verstehen. Doch ein kultivierter Russe, ein richtig kultivierter Russe erlaubt sich so etwas nicht. Jedenfalls bemüht er sich sehr. Indessen sind wir vor dem Angesicht überwältigender Leidenschaften und der energischen Natur alle [ 173 ]

schwach. So daß die dich begleitenden Freunde im Falle einer unerwarteten Blamage gleichsam als Garanten für deine Anständigkeit und für Nachsicht deinem Fehltritt gegenüber auftreten. Doch eine Blamage passiert anständigen Leuten in der Regel nicht, sie sitzen bloß stundenlang im Wasser und verlieren jedes Gefühl für Zeit und Raum und Pflichten. So habe auch ich, ermattet in Gesellschaft angenehmster Menschen, bei all meiner berühmten ekelhaften, aufdringlichen, enervierenden Genauigkeit und deutschen Pünktlichkeit den Flug von Sapporo nach Amsterdam und von dort nach Moskau verpaßt. Als schwache Entschuldigung kann höchstens gelten, daß ich meine Uhr und meine gewohnte Brille nicht dabei hatte und mich auf meine Begleiter verließ. Tja, und Begleiter ... Was sind Begleiter? Sie sind eben nur Begleiter. Der nächste Flug ging erst in einer Woche. Ich hatte also noch ganze sieben Tage am Ort meines psychisch abgeschlossenen, vollendeten Projekts in Form einer Besuchsreise zu verbringen, wo ich alles, was ich konnte, schon getan hatte. Was ich schreiben konnte, hatte ich geschrieben, was ich zeichnen konnte, gezeichnet, was ich notieren konnte, notiert, was ich nicht akzeptieren konnte, nicht akzeptiert. Und natürlich war ich, nachdem ich meine Energie bis zum letzten Kraftakt eingeteilt hatte, buchstäblich auf die halbe Stunde genau psychisch und moralisch ausgelaugt. Jetzt, bei diesem Textausschnitt hier bin ich noch voller Energie. Doch in dem Moment, den ich beschreibe, in dem betreffenden Moment erzählter Zeit, der mit dem letzten Moment von Abreise und Abschied zusammenfiel, also in jenem künftigen Moment realer Zeit, war ich ausgelaugt. Was blieb also zu tun? Ich war gezwungen, zeitweise so etwas wie neue kleine Gefühlssprößchen wachsen zu lassen, existentielle Fühler, um von neuem in die bereits überholte Wirklichkeit einzudringen. Und ich habe es geschafft. Wir knüpften erneut ans Alte an, indem wir die Präinfarktsituation mit einem kompletten neuen Durchgang – nervenaufreibendes Erlebnis, Mahlzeit, heißes Bad – und zwei Dritteln des alten Vorflugzeugdurchgangs, vielmehr des Durchgangs vor dem verpaßten Flugzeug – Mahlzeit, heißes Bad – verstärkten. Also nur ein einziges, aber außergewöhnliches Erlebnis, zwei Mahlzeiten [ 174 ]

und zwei heiße Bäder. Eine Kombination, ausreichend für zwei Infarkte vieler Menschen. Indessen ging es vorerst auf japanische Art gut. Warten wir das Ende des Textes ab. Immerhin wurde ich für meine Leiden in gewisser Weise dadurch entschädigt, daß wir nach dem Verpassen des Amsterdamer Flugzeugs in ein gemischtes Bad gingen. Es gibt getrennte Bäder für Männer und für Frauen, in denen ich bis dahin ausschließlich gewesen war. Und es gibt gemischte, wohin mich meine Bekannten jetzt zur Entspannung mitnahmen. Allerdings ist nichts so furchtbar Besonderes passiert. Genauso, wie die oben beschriebenen Männer ihre Scham mit Handtüchern bedeckten, erschienen die Frauen dort in die gleichen hyperlangen Handtücher beinahe von Körperlänge eingewickelt wie in einen Sari. Man konnte einige charakteristische Merkmale der japanischen Figur betrachten, aber sie sind in nicht geringerem Maße auch in der kompletten üblichen Frauenkluft sichtbar. Also werden wir uns nicht bei ihnen aufhalten. Sicher, die Kraft des modernen, international-neutralen Reklameund Fashion-Ideals, seine begradigende Ideenmacht, verändert buchstäblich vor den Augen der Leute das übliche Verhalten der Bewohnerinnen japanischer Städte. Buchstäblich vor den Augen der Leute begradigt und verlängert es auch Beine und Gestalt der Japanerinnen. Auf den Straßen Tokios habe ich wunderbar schlanke und verführerische junge Frauen gesehen. Okay, wenn sie den Mund aufmachen, piepsen sie auf die unglaublichste Art und Weise. Und die Sängerinnen singen alle wie unsere Anschelika Warum. Man möchte geradezu rufen: Armes Kätzchen! Doch dieses Phänomen der hohen infantilisierten Sprechweise ist wohl ebenfalls ein Phänomen der sozial-anthropologischen Repräsentanz des wahren Weiblichen in der traditionellen japanischen Gesellschaft. Viele von ihnen sprechen, wenn sie nach Hause kommen oder in Gesellschaft Gleichaltriger sind, mit normaler, in Maßen hoher Frauenstimme, während sie am Arbeitsplatz oder in jeder statusbestimmten gesellschaftlichen Situation leicht zum konventionellen Piepsen übergehen. Zur Bestätigung kann ich eine Fernsehsendung anführen, die ich hier gesehen habe [ 175 ]

und die den Beatles gewidmet war. Die Teilnehmer sangen eine Auswahl ihrer klassischen, berühmten Songs. Mehrere hintereinander auftretende Mädchen intonierten eine nach der anderen mit tiefer, sogar etwas heiserer Stimme die urvertrauten Melodien. Also können sie, wenn sie nur wollen und, fügen wir hinzu, wenn es erwünscht ist. Obwohl gerade in dieser Situation die tiefen, baßähnlichen Stimmen seltsam waren, da wenigstens ich die Beatles immer umgekehrt mit zarten, verwundbaren, fast androgynen hohen Falsettstimmen assoziiert habe. Doch bei ihnen ist es offenbar so üblich. Und natürlich fingen sie, sobald sie von der Bühne gekommen waren, auf der Stelle an, mit Produzenten, Fernsehleuten und den übrigen offiziellen Gestalten auf dieselbe übliche, unglaublich schrille Art zu zirpen. Übrigens piepsen die Engländerinnen genauso irrwitzig, sogar noch schriller, was offenbar ebenfalls mit bestimmten soziokulturellen Ursachen in Zusammenhang steht, die sich in der Tiefe einiger Jahrhunderte verlieren. Allerdings piepsen sie zu Hause, unterwegs und offensichtlich auch im Bett genauso. Bei Amerikanerinnen ist mir nichts dergleichen aufgefallen. Auch bei Deutschen ist mir nichts dergleichen aufgefallen. Bei Italienerinnen auch nicht. Und bei Holländerinnen auch nicht. Und wenn bei einigen doch, dann war das ihre persönliche und keineswegs eine allgemein-nationale Geschlechtereigenschaft. Mir ist auch bei Russinnen nichts dergleichen aufgefallen. Ganz im Gegenteil – viele haben mich mit tiefer, heiserer Säuferstimme angesprochen. Auch bei Frauen aus dem Baltikum und dem Mittleren Osten ist mir nichts dergleichen aufgefallen. In Lateinamerika, Afrika und Australien war ich nicht. Über die Frauen dieser Kontinente kann ich nichts sagen. Es wäre natürlich interessant, die ganze multikulturelle und multinationale moderne Welt von diesem Gesichtspunkt aus mit Bedacht und detailliert zu klassifizieren. Doch das ist ein Projekt der Zukunft. Erst einmal kehren wir in die Gegenwart zurück. Ein japanischer Künstler, der schon in New York, London und Paris gelebt hat, klagte, daß japanische junge Frauen im Vergleich zu ihren westlichen Altersgenossinnen wirklich sehr naiv seien. Ich fragte ihn, was er meine. Sie stellten pausenlos Fragen, schmollten, [ 176 ]

zerflössen in Tränen und seien unentschlossen, antwortete er. Sie verstünden alles wörtlich. Sie seien nicht ironisch und nicht reflektiert. Keine Ahnung, er blickt da eher durch. Meine Kenntnis japanischer Frauen ist nicht so detailliert. Nach seinen Worten werden sie erst nach dem Heiraten und der Geburt von Kindern erwachsen. Doch dafür werden sie es dann sofort und radikal. Dennoch, vielleicht ist dies auch die parteiische und übertriebene Ansicht eines Chauvinisten. Nach meinem relativ kurzen Aufenthalt hier schien mir aber, daß die vorliegende Charakteristik nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit entbehrte. Ich glaubte ihm. Um so mehr, als mir das auch von anderen Quellen bestätigt wurde. Sicher, Höhe und Timbre der Stimme sind äußerst trügerische Kriterien, besonders, wenn man von einer anderen kulturellen Tradition aus urteilt. Ein amüsantes Detail bemerkte übrigens ein bekannter japanischer Slawist. Er erzählte, er besuche während seiner Moskauaufenthalte immer mit gleichbleibendem Vergnügen das Maly Theater und das Künstlertheater. Ich wunderte mich kein bißchen über die Neigung dieses gebildeten Mannes zu russischen Dramen und zum russischen Theater, die die meisten Japaner teilen. Und nicht nur die Japaner – auf der ganzen Welt führen Theaterliebhaber und Intellektuelle ständig die Namen Tschechow, Stanislawski und Meierhold im Munde. Im vorliegenden Fall erfreute mich allerdings die Erklärung dieser so starken Zuneigung zur russischen Theaterschule ganz besonders. Sie sprechen mit diesen speziellen Stimmen wie bei uns in den Samuraifilmen und -stücken –, gestand der ehrliche Japaner. Und wirklich, die sogenannten Mahlzeitstimmen (wie wenn man feierlich verkündet: Es ist aufgetragen!) sind schon lange quasi zum Markenzeichen der unschuldigen Jünger hoher Theaterkunst geworden. Das Obengesagte betrifft übrigens generell alle Aspekte, Varianten und Praktiken der konventionellen, statusbestimmten sozialen oder kulturellen Sprechweise. Doch kehren wir zu unserem oder richtiger zu ihrem Japan zurück. Äußerst amüsant ist eine Mode oder Bewegung, die kürzlich in [ 177 ]

Japan aufgekommen ist und nur dort Zulauf hat – die der sogenannten Kogyaru, junger Mädchen. Sie, diese Mode, ist ausschließlich unter Schülerinnen der höheren Klassen verbreitet, die gerade erst der Pubertät entsprungen sind. Diesem qualvollen Alter, doch nicht seinem Bilde entsprungen, hüpfen sie gleich wieder in kurze Röckchen und auf unmäßig hohe Plateausohlen und färben sich die Haare intensiv hell. Irgendwo und irgendwie – ob sie sich nun bräunen oder einschmieren, weiß ich nicht – erwerben und erhalten sie sich, unabhängig von Jahreszeit und Wetter, eine gleichmäßig schokoladenartige, tiefbraune Hautfarbe (als stilistischer Hintergrund für die Bewegung gilt die Imitation afroamerikanischer Jugendmode). Gleichzeitig malen sie sich mit wasserleichenweißem Lippenstift den Mund an und schminken sich mit weißem Lidschatten die Augen. Dabei handelt es sich zweifellos um einen Protest oder eine Kampfansage an die Adresse des reichlich harten, autoritären japanischen Schulsystems (wovon ich noch Gelegenheit haben werde zu erzählen) und des analogen Systems familiärer Beziehungen. Womöglich oder sogar höchstwahrscheinlich verschwindet dieses Phänomen der Jugendmode in relativ kurzer Zeit wieder, und einem Reisenden, der sich demnächst hierher verirrt, tritt das Ganze auf völlig andere Weise und in der Darbietung anderer Charaktere in einer anderen Umgebung gegenüber. Es finden sich ganz andere junge Menschen, die von anderen Leidenschaften und Moden erfaßt sind und sich auf völlig neuem Weg, mit neuer Kleidung und in neuen Farben dem Publikum zeigen oder, sagen wir, sich exterieurisieren. Und du fragst sie: Wo sind denn hier bei euch Kogyaru? – Kogyaru? – Die sind hier früher rumgelaufen! – Wo? – Genau hier! – Genau hier? – Sie sehen sich befremdet um. Ja, klar, noch dazu rothaarig, mit Plateausohlen, jung. – Jung? Nein, hier sind bloß solide Leute in einem bestimmten Alter. So was kennen wir hier nicht. – [ 178 ]

Und nur schon völlig Altersschwache und Gebrechliche, die angestrengt die Stirn runzeln, erinnern sich noch dunkel. Aber ob das nun Plateausohlen, Rothaarige, Junge oder Kogyaru waren – nein, das wissen sie auch nicht mehr. Deshalb beeile ich mich, die Sache festzuhalten. Diese Mode besitzt einen ziemlich ausgeprägten posterotischen Charakter. Es gibt keine auch nur minimale analoge Variante für Jungen. Die Mädchen stehen in der Regel ohne die ansonsten in solchen Fällen erforderliche Begleitung von Boyfriends in kleinen separaten Gruppen Stunden um Stunden auf belebten und beliebten Straßen ihres Wohnorts herum, wie etwa im Viertel Shibuya in Tokio. Sicher, womöglich treffen sie sich, wenn ihnen ihre Hauptbeschäftigung ein bißchen Freizeit läßt, irgendwo abseits mit jemandem und vollziehen etwas natürlich-erotisch Sexuelles, sobald die Zeit gekommen und der Wunsch herangereift ist. Doch das ist nicht Teil von Verhaltenscodex und Lebensanschauung, steht nicht mit flammenden Lettern auf ihrem Banner. Im Gegenteil, an diesem Programmpunkt erblicken wir eine seltsam anmutende und einem Außenstehenden gleich auffallende kühle Kluft. Auf die Mädchen wies mich der bekannte russische Skribent Wladimir Georgijewitsch Sorokin hin, der damals schon recht lange in Japan lebte. Ich bin ihm dafür äußerst dankbar. Er machte mich auch auf die dunklen Flecke auf den Knien japanischer Mädchen aufmerksam. Ich erzählte ihm meinerseits die Geschichte der Bestattungszeremonie mit dem Silberhämmerchen und den knirschenden Knöchelchen, die oben verzeichnet ist, womit ich ihn zutiefst erfreute. Er ist imstande, so etwas zu schätzen und zu begreifen. Auch in diesem Fall verstand und schätzte er die Sache in vollem Umfang, womit er wiederum mich zutiefst erfreute. Wir beide versuchten, mit Hilfe eines gefälligen Vermittlers eine Befragung zweier Kogyaru durchzuführen. Es stellte sich heraus, daß sie nicht nur abends an beliebten Kreuzungen herumstanden, wie wir angenommen hatten, sondern den ganzen Tag über. Deshalb mußten sie sogar die Schule aufgeben, da sie sich weder zeitlich noch vom Zweck her mit der von ihnen gewählten Lebensart vereinbaren [ 179 ]

ließ. Was sie während ihres stundenlangen Stehens taten, konnten sie nicht richtig erklären. Sie konnten auch nicht richtig erklären, was für Ziele sie hatten, keine Musik nennen, die sie besonders mochten, sich auf keine Filme oder Fernsehsendungen besinnen. Also, der Fall war klar. In der Regel integrieren sich Jugendliche nach solchen Eskapaden ehrlich und gewissenhaft in die harte Routine des äußerst anstrengenden japanischen Lebens. Keine Ahnung, ob das auch mit der jetzigen Generation so sein wird – wir werden sehen. Beziehungsweise die Japaner werden sehen. Und wir, wenn es uns in fünf, sechs Jahren noch einmal hierher verschlägt, erfahren von ihnen die Resultate dieses schlichten, halbkindlichen Aufstands. Anderen, offeneren, radikaleren und sinnvolleren Widerstand gegen Regime und Gesellschaft, wie etwa, sagen wir, die 68er-Bewegung, habe ich nicht bemerkt. Und niemand hat sie je erwähnt. In Japan habe ich ein lange nicht gekanntes oder vielmehr schlicht von mir noch nie erlebtes Gefühl erlebt. Während ich U-Bahn fuhr, bemerkte ich etwas Seltsames, Ungewöhnliches in meiner körperlich-somatischen und dadurch in gewissem Maße auch sozialen Situation im Waggon. Erst nach einiger Zeit, als ich in meinem Innern herumgekramt hatte, um eine Erklärung für diese Situationsund Selbstwahrnehmung zu finden, begriff ich, daß ich über die Köpfe fast des ganzen Waggons schauen konnte – ein für mich unmöglicher, einfach undenkbarer Zustand in Moskau und in jeder anderen europäischen Hauptstadt, wo ich ewig auf der Höhe der Bäuche der langaufgeschossenen, gigantenähnlichen heutigen Bevölkerung des westlichen Teils der Welt herumkrebse. Doch das verstehe man bitte ebensowenig wie alles übrige hier Geschriebene und Beschriebene im Sinne nationaler oder geopolitischer Vorlieben in unserer multikulturellen Welt, die, nein, das soll jetzt schon ein Plural sein, also Welten, die ich feurig und mit ganzem Herzen und Verstand akzeptiere. Zumal heute langsam auch in Japan solche baumlangen neuen Japaner auftauchen, zu meinem kurzfristigen Glück vorerst nur vereinzelte Exemplare – Mörder meiner Empfin[ 180 ]

dung von körperlicher Würde. Übrigens empfand ich etwas Ähnliches mit überwältigend deprimierender Kraft, als ich direkt vom Flugzeug, wie der bekannte Ausdruck lautet, wie die Ratte vom Schiff auf einen Ball geriet. Das heißt, ich fand mich gleich nach meiner Ankunft aus Tokio in Amsterdam auf irgendeiner absurden holländischen Feier wieder. Von allen Seiten wurde ich, der ich kein bißchen mehr an derartige Maße und Volumina gewöhnt war, von riesigen weißlichen, plump gefügten, stumpfsinnig trampelnden gigantischen massigen Körpern umgeben, umringt, bedrängt und psychisch und moralisch vernichtet. In meinem Bewußtsein, getrübt durch den riesigen Zeitunterschied und elf Stunden Flug, schwoll das alles zu der geisterhaften Vision einer filmischen Zeitlupenaufnahme an, begleitet von dem lauten, dunklen Dröhnen zerfließender, ununterscheidbarer Stimmen. In eine Welt anderer Maße und Geschwindigkeiten geraten, fast zur Größe eines Punkts zusammengepreßt, vom eigenen Gewicht und vom Außendruck überlastet, schwanden mir die Sinne, ich wußte nichts mehr von mir und fiel in einen langen, dreitägigen, ununterbrochenen Schlaf. Als ich aufwachte, war die Wohnung leer, durchs Fenster ergoß sich bleiches, neutrales Tageslicht und drangen scheppernde Straßenbahngeräusche. Ich war geschwächt und erinnerte mich nur mit Mühe an das Vorgefallene. In meinem Kopf tönte es: Liebes, liebes Japan! Wo bist du? Ob du mich wohl irgendwann einmal aufs neue in deine gemütlichen Wohnzellen und in die Nachbarschaft mir gemäßer Menschenwesen aufnimmst? All das und ähnliches kann man verstehen und erklären. Doch manchmal, nach geraumer Zeit, passiert es plötzlich, daß du dich vergißt. Plötzlich meinst du auf den Straßen Tokios eine russische Intonation zu hören. Du schaust dich um, drehst dein alarmiertes kleines rundes Köpfchen – nein, bloß Einheimische. Oder es hört sich so an, als spräche, während du irgendwomit beschäftigt bist und mit halbem Ohr zuhörst, Nani Bregwadse im Fernsehen. Du schaust hin – nein, alles in Ordnung, das Übliche, so, wie’s hier eben ist. Oder du erblickst auf der Straße überraschend das bekannte Gesicht [ 181 ]

des Moskauer Poeten W. N. Leonowitsch oder des Künstlers A. A. Wolkow oder des weltberühmten Theaterregisseurs R. G. Wiktjuk. Oder die Person von Wjatscheslaw Nikolajewitsch Kurizyn wird dir vorgegaukelt – nun, das ist klar, dafür braucht niemand zusätzliche Erklärungen. Du schaust genauer hin – nein, alles einheimische Leutchen. Aber erstaunlich ähnlich! So ähnlich, daß du anfängst, dich mit den Fragen und Problemen möglicher Teleportation zu quälen. Oder mit dem viel schlimmeren, hypersubtilen Problem der gleichzeitigen Anwesenheit einer vollständigen, weder energetisch noch als Sinnträger irgendwie geschmälerten verdoppelten, verdreifachten oder sogar vervierfachten Persönlichkeit an unterschiedlichen, extrem weit voneinander entfernten geographischen Punkten der Erdoberfläche. Es heißt, daß hierzu viele Wundertäter östlicher wie westlicher Kirchen und Religionen fähig waren und sind. Allerdings habe ich an den obenerwähnten weltlichen Personen keine besondere Wundertätigkeit bemerken können, jedenfalls nicht zur Zeit unserer unmittelbaren Bekanntschaft. Oder du schaust dich zum Beispiel um, während du irgendwo in der Umgebung von Sapporo spazierengehst: Gräschen, Bäumchen, Moskauer Vorstadtblümchen – wo bin ich? Ruhig, ganz ruhig, du bist am richtigen Ort. Am momentanen Ort deines vorübergehenden, doch ziemlich dauerhaften Aufenthalts, in Japan. Denn die Konferenz japanischer Slawisten diskutiert mit solchem Eifer und solch selbstvergessener Leidenschaft das Werk von Sorokin und die russische Frauenprosa, daß du gleich kapierst – nein, du bist nicht in Rußland. Wär es nur auch in Moskau so! Ach nein, lieber nicht. Soll doch jeder seine unvergleichlichen und unnachahmlichen Nuancen und Eigenarten behalten. Es ist nun einmal eine Eigenart der russischen Literaturwissenschaft, daß man Sorokin nicht diskutiert. Und richtig so. Sollen sie das für ihr eigenes Kolorit behalten. Und in Japan sollen sie ihn fürs eigene Kolorit diskutieren. Er liegt ihnen wohl mehr, gefällt, gefiel und paßte ihnen besser. Und so hat alles seine Ordnung. Und dann gibt es völlig bizarre, bis heute unerklärliche, das heißt für mich bis heute ungeklärte Situationen. Zum Beispiel sah ich auf [ 182 ]

dem Weg zu dem sehr abgelegenen Örtchen Oya durchs Autofenster ein unscheinbares kleines Gebäude, an dessen Fassade ein Schild von recht imposanter Größe mit dem für uns alle, also für alle unsere Landsleute, so gut erkennbaren Profil hing. Nein, nein. Nicht Marx, nicht Lenin und nicht Stalin, was absolut erklärlich und bar jeder Rätselhaftigkeit, wenn auch von einer gewissen historischen Mehrdeutigkeit erfüllt gewesen wäre. Doch nein. Neben Schriftzeichen und dem offenbar in lateinischen Buchstaben wiederholten Namen des Gebäudebesitzers, Yamomoto oder so, prangte dort mit seiner etwas listigen Fuchs-Physiognomie Alexander Sergejewitsch Puschkin im Zylinder. Ja, ja, es war dieses Profil, das er selbst so oft skizziert, das er mit eigener fester, rascher Hand mit Hilfe eines kecken Pinsels und schwarzer Tusche auf die Seite eines von Millionen Puschkinisten minutiös erforschten altersvergilbten Manuskripts gezeichnet hat. Aber hier! Was mochte das bedeuten? Ich war so verdattert, daß ich nicht dazu kam, meine Mitreisenden danach zu fragen, denn die Erscheinung verschwand rasch hinter den Fenstern des davonbrausenden Autos. Und es brauste zu einem höchst bemerkenswerten Ort, selbst für ein insgesamt derart bemerkenswertes Land wie Japan. Er hieß übrigens und heißt bis heute, wie gesagt, Oya. Nicht alle Japaner waren dort. Von meinen Bekannten, bei denen ich mich anschließend erkundigte, um ein paar zusätzliche Einzelheiten und Details zu erfahren, war niemand da gewesen, aber alle hatten davon gehört. Und zwar unter verschiedenen Namen – Hoya, Ohoya oder einfach Ho. Vielleicht hat mein Ohr das grundsätzlich Gemeinsame hinter den Eigenarten der persönlichen Aussprache nicht erfaßt. Aber das ist auch unwichtig. Metaphorisch wird diese Örtlichkeit von Leuten, die sie kennen und umfassend würdigen, gar mit einem pompösen fernöstlichen Spezialnamen bezeichnet, wie etwa: unser chinesisches Paradies. Und tatsächlich, nach den Beteuerungen der Dagewesenen und auch nach meinem eigenen Eindruck erinnert sie sehr an die Landschaften der klassischen chinesischen Malerei, die, charakteristisch für das malerische Südchina, wo ich übrigens noch nicht war, in keiner Weise der üblichen japanischen Landschaft entsprechen. Auf einem [ 183 ]

eigentlich nicht besonders großen Fleckchen Erde sind elegant und picturesque (malerisch kann ich ja nicht schreiben, das gibt in keiner Weise das Spezifische des betreffenden, wie aus der Alltagsschönheit der ihn umgebenden Wirklichkeit herausgerissenen Ortes wieder) gigantische weiße Steine aufgehäuft. Ich würde sie Felsen nennen, wenn Wort und Bild bei uns nicht gleich die Assoziation von etwas Schroffem und Düsterem hervorrufen würden, wie dem Kaukasischen oder Skandinavischen. Nein, die Steine sind zwar gigantisch, aber irgendwie abgerundet, glattgewaschen, zärtlich, lächelnd, wie baumhohe Elefantenstoßzähne oder unermeßlich große Eier von irgendwelchen lieben und zum Lächeln aufgelegten Dinosauriern. Im unergründlichen warmen Weiß des Elfenbeins leuchtend, lehnen sie mit ihren geschmeidigen Körperseiten aneinander, unterschiedlich in der Höhe, und bilden riesige Senkungen, die mit fröhlicher, krauser Vegetation bewachsen sind. Wunderlich aufgetürmt, umrahmen sie in vielfältigen Konfigurationen halbgeschlossene intime Räume, die ein Bach durchfließt, über den leichte durchbrochene Brücken geschlagen sind. Hübsche kleine Holzhäuschen schmiegen sich oder rücken quasi in die Tiefe der vorwärtsstrebenden, alles verschlingenden Vegetation, wobei sie zum Weg hin eine streng geometrisch umrissene, unaufdringliche, eher dunkle Fassade mit Fenstern zur Schau stellen. Menschen sieht man irgendwie nicht besonders viele. Dafür zeigen sich auf den Kuppen der Steine und sogar im durchsichtigen Wasser des nicht tiefen, aber rasch fließenden Flusses wundersame Paradiesvögel mit langen Schwänzen von einer leuchtenden Farbenpracht, die wie ein Regenbogen schillert. Sie stoßen halbmenschliche Sprüche aus, die aller Wahrscheinlichkeit nach von der lokalen Bevölkerung, wenn sie zufällig, aber passenderweise hier gewesen wäre, leicht hätte entschlüsselt werden können. Doch es ist öde, öd und leer. Sogar verödet. Sogar ein wenig alarmierend. Du schaust dich sogar instinktiv in der Erwartung um, daß jemand unerwartet hinter deinem Rücken auftauchen könnte. Doch niemand. Öde. Nur die schreienden Vögel. Aus Unkenntnis nahm ich die langgezogenen, nicht schrillen Schreie einfach als Laute wahr, die der Wind beim Blasen in den Hohlkörper eines nicht [ 184 ]

allzu großen Holzblasinstruments erzeugt. Um sie herum, zum Himmel aufsteigend und sich kreuzend, sie wie Regenbögen oder Dunst in zahlreiche, sich reproduzierende, verdoppelnde Konturen hüllend, entstanden und zerflossen regenbogenfarbige Bilder, die in jäh aufklaffenden und sich augenblicklich wieder schließenden Falten des Raums, in deren Tiefe man deutlich ein verborgenes, geheimnisvolles Leben spüren konnte, erschienen und gleich wieder verschwanden. Die Brille mal abnehmend, mal erneut auf der sonnenverbrannten Nase aufpflanzend, schaute ich starr hin und versuchte, die ätherischen Ökumenen dieses geheimnisvollen Lebens zu erspähen. Majestätisch ihre Köpfchen wendend, folgten die Vögel allen meinen Bewegungen, absolut unbeeindruckt von der nahen Gegenwart eines Menschen und seiner aufmerksamen Musterung. Sie zogen glänzende Fischchen aus dem Wasser, schleuderten sie hoch empor, und die, bevor sie stracks in den bereitgehaltenen aufgesperrten Schnäbeln verschwanden, malten silbern das Zeichen Null in die Luft. Dabei schienen die Vögel sogar extra ihre Schwanz- und Flügelfedern zu spreizen, damit man sie noch aufmerksamer mustern konnte. Und wahrhaftig, ihrerseits lag darin eine bestimmte wohlwollende, aufklärerische, sogar didaktische Geste. Ach, könnte ich ihren Sinn erfassen und zum Besten nutzen! Auf den Flügelseiten und auf jeder entblößten Formfeder des Schwanzes entdeckte ich Schriftzeichen von außergewöhnlicher Gestalt. Auf meine späteren lächerlichen Versuche hin, sie auch nur annähernd mit dem Finger in der Luft und sogar mit dem Stift auf dem Papier nachzuzeichnen, bestimmten meine Bekannten sie als Zeichen für Norden, Höhe, Wasser und Stein. Das klingt nicht sehr überzeugend, aber auch nicht ganz unüberzeugend. Wenigstens irgend etwas! Allen gemeinsame oder sich ständig wiederholende Texte a priori auszusprechen oder vorab zu erraten erwies sich als unmöglich, weil jeder Vogel jedesmal besondere Zeichen seiner speziellen Zugehörigkeit und Mission aufwies. Irgendwie erinnerten sie mich an jenen Märtyrer-Schmetterling, der an einer anderen, nicht weniger wunderbaren und vieldeutigen, aber eher düsteren Örtlichkeit angetroffen worden war. Sie könnten ja verwandt sein, [ 185 ]

stellte ich mir vor. Ob sie wohl von derselben Hand geschickt waren, um der Welt im einzig möglichen, so seltenen rettenden Moment unirdische Mysterien oder Wahrheiten zu offenbaren? Übrigens hat die Welt sie wie immer nicht nur nicht verstanden, sondern nicht einmal bemerkt oder beachtet. Sind das Engel? – fragte ich die Einheimischen. Möglich, möglich –, murmelten sie unbestimmt zur Antwort, selber in diesem Punkt nicht besonders gut unterrichtet. Während ich auf diese Weise vor mich hinsann, erhoben sich die Vögel mit melodischem Geräusch in Gruppen von zehn bis etwa siebzehn und verließen die steinernen Gefilde, die ihnen bloß als kleiner Transitrastplatz dienten auf dem Weg ihres unaufhörlichen Reisens-Kreisens-Wiederkehrens von Norden hin nach Osten, Süden, Westen, Norden. Und das unaufhörlich. Als ich Japan bereits verließ, kam es mir an Bord des kühlen Flugzeugs plötzlich so vor, als sei etwas genauso Regenbogenartiges, in allen Farben Schillerndes am Fenster vorbeigehuscht. Womöglich ist er das auch gewesen, der Geist der zerklüfteten Inseln, die sich am riesigen, schon näher rückenden Kontinent namens Eurasien entlangziehen. Womöglich haben mich bloß die regenbogenfarbigen Refraktionen – oder wie sie nun heißen – vom Doppelglas der Flugzeugfenster in die Irre geführt. Wie auch immer, irgend etwas beunruhigte von neuem seltsam mein Herz und verließ es für lange Zeit nicht mehr. Es beunruhigte fortwährend mein Herz, aber irgendwo über dem Territorium von Ostsibirien, in der Gegend von Nowosibirsk, verließ es mich doch. Tja dann, verzeih! sagte ich zu all dem, als fühlte ich meine objektive, grenzenlose Schuld. Und so war es ja auch. Ich seufzte und fiel in einen eigenschaftslosen Schlaf direkt bis Amsterdam.

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10. F O R T S E T Z U N G

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anz allgemein war im Örtchen Oya alles ungewöhnlich schön und beinahe irreal. Besonders für unsere russischen Augen und für unseren Sehsinn, der auf ausgedehnte Räume und auf die flachen, fast unmerklichen und trägen Erhebungen von sich Dutzende von Kilometern hinziehenden, ermüdenden Hügeln eingerichtet ist. Im Innern jener zahnweißen Steine befindet sich seit unvordenklichen Zeiten ein uralter Felsentempel mit gigantischen Reliefs von Buddha und seinen Bodhisattva, die nach der Überzeugung von Kennern ständig ihren Platz wechseln, weshalb die obere Schicht des weichen, blättrigen, von Feuchtigkeit durchdrungenen uralten Steins leider, leider schon abbröckelt und abplatzt. In der Nähe des Tempels ist aus einem genauso monumentalen Felsen eine ebenfalls riesige Lokalgöttin von siebenundzwanzig Meter Höhe herausgemeißelt. Es scheint, als sei sie einfach durch die weichen und kuhlippenfeuchten Berührungen entstanden, mit denen der sanfte ehrfurchtsvolle Wind hier ständig über den warmen Stein weht. Im Innern der Steinauftürmungen sind von vielen Generationen hiesiger Steinmetze gigantische düstere Säle ausgehöhlt worden, deren Menge einfach unzählbar ist (jedenfalls für mich) und von denen jeder es an Größe mit dem Saal des Bolschoi-Theaters aufnehmen kann. In einem davon ist ein dämmriger, kalter katholischer Altar aufgestellt, und dort fand während meines Besuchs gerade eine Hochzeit nach diesem Ritus statt. Der Chor mit seinem „Ave Maria“ klang hinreißend, wie aus einer anderen Welt. Außerdem erinnerte [ 187 ]

das unglaubliche Relief dieser Antikonstrukte (in dem Sinne, daß sie nicht eingebaut, sondern herausgeschlagen waren wie Antiwelten) mit der Riesenmenge von allen möglichen Kuben, Quadern, quadratischen und länglichen Einbuchtungen und Vertiefungen von übrigens absolut übermenschlicher Größe an einen fleischgewordenen Traum des irrsinnigen Malewitsch mit seiner unirdischen kosmischen Architektonik. In einer dieser Grotten trat ich einmal mit einem Saxophonisten aus Tokio auf, und die unerwartete Kraft und Fülle meiner Stimme und die göttliche Akustik überwältigten mich. Doch es war kalt. Sogar irre kalt bei einer Außentemperatur von siebenunddreißig Grad. Die Zuschauer waren in Jacken und Wollpullover gehüllt. Eine dieser Sektionen war wie ein natürlicher Kühlschrank vollgepackt mit jahrelang dort lagernden Bergen von Räucherschinken, Kochschinken, Wurst und weiteren phantastischen und hyperfeinen Fleischprodukten, was die Möglichkeit eines dauerhaften Überlebens einer bedeutenden Anzahl von Widerständlern bei einer Belagerung während eines globalen militärischen Konflikts in diesen unterirdischen Räumen eröffnete. Was für ein globaler Konflikt? – Ein ganz normaler, wie er von Zeit zu Zeit stattfindet, auf daß der von Wohlstand und Friedlichkeit zersetzte, vielmals besungene Heroismus des Lebens nicht endgültig verschwinde. – Was meinst du? – Was ich meine? Etwas ganz Schlichtes. Das hier. – Alles lodert und kracht in sich zusammen. Der Feind hat schon das ganze Land erobert, wobei er die Gewässer problemlos mit moderner Verkehrstechnik überwunden hat, und rückt direkt gegen die Randgebiete Oyas vor. Die buchstäblich nur noch einige Zehntausend zählenden Japaner, der Rest der früheren zahlreichen Bevölkerung, sind hierher geströmt und in den Tiefen der Höhlen verschwunden. Die Sprengarbeiten, in aller Eile mit dem Ziel durchgeführt, die allzu breiten Eingangsöffnungen zu blockieren, die darüber hinaus mit höchst instabilen, obwohl gepanzerten Türen versperrt waren, verschütteten nicht nur alle Eingänge, sondern vernichteten auch das [ 188 ]

Ventilationssystem und natürlich die separate Beleuchtung, die bis dahin tadellos funktioniert hatte. Situationen von Krieg und diversen bewaffneten Konflikten sind voll von derartigen unvorhergesehenen Zwischenfällen und sogar noch größeren Ungereimtheiten, wie etwa der Vernichtung eigener Kampfeinheiten durch andere, ebenfalls eigene, dem Beschuß eigener Städte und Positionen, der Zerstörung lebenswichtiger Industrien und ganzer Wirtschaftszweige. Was soll’s. Lassen wir das jetzt lieber. Der schwankende, umherirrende Fackelschein, der schmutzige finstere Schatten wirft und die letzten Moleküle des lebensspendenden Sauerstoffs auffrißt, greift aus dem Dunkel nasse, eingefallene Gesichter heraus: Mir ist so schlecht. Ich ersticke! – Ach, Lieber, du schaffst es! – Ich kann nicht! Ich kann nicht! – Zu Hilfe! Zu Hiiiiiilfeeee! – tönt es durch die zahlreichen hallenden Winkel und echowerfenden Räume. Keine Antwort. Langsam wird der Mangel an Nahrung und Trinkwasser spürbar. Die Regenzeit ist noch weit, und durch unsichtbare verbliebene Öffnungen tropft spärliches, leicht verschmutztes Sickerwasser in die untergestellten Schüsseln und Kannen. Die einzige drinnen sprudelnde Quelle fließt nur ganz schwach und steht unter permanenter Spezialbewachung. Doch auch sie versiegt, versickert, ist außerstande, die vieltausendköpfige Menge der in den unbelüfteten Räumen Leidenden und Verschmachtenden zu versorgen. Nach einiger Zeit überfällt die Bewohner gleichzeitig mit den von irgendwoher zusammengeströmten, gleichsam dem Ruf des Unglücks und ihrer diabolischen Bestimmung folgenden Menschenfressertieren die furchtbare Epidemie einer unbekannten tödlichen Krankheit. Infolge des Fehlens jeglicher Medikamente bietet sich keine reale Möglichkeit, die Kranken, die im Fieber glühen und schon nicht mehr japanische, sondern kosmisch-unverständliche Worte lallen, zu heilen. Es wird beschlossen, sie in eine gesonderte Sektion zu schaffen. Nicht so schnell, leg ihn vorsichtig hin! – [ 189 ]

Man sieht hier nichts. – Langsam, taste dich vor. – Bei diesen Worten zog der Leutnant wie durch ein Wunder instinktiv den Kopf zurück, und ein kolossal riesiges, aufgeblähtes Wesen mit aufgerissenem Rachen, aus dem drei blutbefleckte ahlenspitze Zähne ragten, schoß an ihm vorbei. Übrigens und zum Glück konnte der Leutnant das im Dunkeln nicht genau erkennen, obwohl er es natürlich schlicht am ganzen zitternden Leib spürte. Was war das? Bestimmt schon ein Untier, kein tierisches Geschöpf mehr, sondern ein Ungeheuer, ein die allgemeine Pralaya ankündigender Dämon. Der Leutnant schöpfte mit Mühe Atem. Plötzlich tauchte direkt vor seinem Gesicht eine Fackel auf, die ihn buchstäblich blendete und ihm die Haut versengte. Eine Stimme kommandierte: Umdrehen! Beine auseinander! Hände an die Wand! – Wer bist du? – Ruhe! Befehl ausführen! – Der Leutnant folgte der Anweisung. Mit dem Hinterkopf spürte er durch das kurzgeschnittene Haar hindurch den harten und eiskalten Stahl des Waffenlaufs. Weiter! Die Beine weiter auseinander! – Die sind doch schon weit auseinander. – Ruhe! – Weiter kann ich nicht. – Ruhe! Wiederhol: Ich bin Leutnant Sato! – Ich bin Leutnant Sato ... – Der Leutnant wiederholte leichthin, ohne etwas zu empfinden, seinen so vertrauten, doch scheinbar schon in ätherische Schichten des Weltgebäudes entführten Namen. Leutnant Sato meldet sich zur Stelle ... Los, wiederhol! – Leutnant Sato meldet sich zur Stelle! – Insofern ich Leutnant Sato bin! Los! – Insofern ich Leutnant Sato bin! – Hinter seinem Rücken ertönte ein heiseres Kichern: Ich hab nur Spaß gemacht! – Der Leutnant drehte sich um und erkannte im zuckenden Flammenschein, der auf das Gesicht des Spaßvogels fiel, [ 190 ]

in ihm den Hauptmann Hashashi. Der Hauptmann hob bitter lachend die Pistole an seine Schläfe und drückte ab. Der Schuß war leise wie ein Fingerschnippen. Bloß ein paar Tropfen spritzten ins Gesicht des Leutnants. Der schlüpfrige Hauptinhalt quoll durch die Austrittsöffnung der Kugel aus dem Schädel. Der Hauptmann stürzte. Augenblicklich glitten einige rasche und große Wesen in diese Richtung. Der Leutnant wich langsam zurück, wobei er mit den Stiefeln auf winselndes Fleisch trat, und versuchte zu fliehen. Doch die Kräfte verließen ihn. Ringsum piepste und wuselte es. Der Leutnant sackte zu Boden, ohne noch etwas zu spüren oder sich um etwas zu scheren. Die Menge der Geschöpfe war unzählbar. Im Dunkeln fiel es ihnen leicht, in Gruppen über Menschen herzufallen und sie rasch bis auf die Knochen abzufressen, so daß selbst diejenigen, die in unmittelbarer Nähe waren, nicht schnell genug reagieren konnten. Später wuchsen die Dämonen derartig, daß sie allein über die Menschen herfielen, wobei sie mit ihren geschwächten und in der Finsternis desorientierten Opfern leicht fertigwurden. Die Augen der Dämonen wiederum brannten in unauslöschlichem Feuer, was der einzige Weg war, sie im Dunkeln zu erkennen und frühzeitig zu identifizieren, noch von ferne, bevor man sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Allerdings half das den völlig demoralisierten Bewohnern der unterirdischen Gewölbe wenig. Panisch stürzten sie in alle Himmelsrichtungen davon, doch leider, leider waren alle diese Himmelsrichtungen eng von kalten, gefühllosen Steinauftürmungen verstellt, die niemanden durchließen. Also blieb den Leuten nichts anderes übrig, als stumm zu sterben oder sich ihrerseits zu Häuflein zusammenzuschließen und nach allen Seiten zu verteidigen, in der Hoffnung, die Monster, wenn nicht umzubringen, so doch zu verscheuchen, die sich mit der Zeit derartig vollgefressen hatten, daß sie schon massigen, von einer unüberwindlichen jenseitigen Macht verschleppten Sumo-Ringern ähnelten und sich nur mit Mühe durch die engen seitlichen Schlupflöcher und Durchgänge aus Stein zwängen konnten, wo menschliche Wesen jetzt einzig noch [ 191 ]

Zuflucht fanden. Im zufällig aufglänzenden Widerschein einer Fakkel zeigte sich das riesige, wabbelnde und, wenn man sich so ausdrücken darf, leicht flüssige Massiv einer gewissen zoomorphen Masse, die, titanischen wippenden Würmern ähnlich, eine schwarze, fast lackiert schimmernde, mächtig-faltige und feucht-verfettete Haut besaß. Die Monster, ohne Eile und von vornherein von ihrer Überlegenheit und dem Fatalismus jedes einzelnen Menschen überzeugt, krochen zum Nächstbesten hin und begannen, unter dem bereits tödlichen Schweigen des völlig hypnotisierten Opfers und seiner Nachbarn, gemächlich kleine Happen von ihm abzunagen. Die Größe der Wesen übertraf nun die Größe eines ordentlichen Stiers, doch im Untergrund war das schwer zu erkennen. Erst später, im blendend hellen letzten Licht, als sich plötzlich alles öffnete und zu allen Seiten auseinanderglitt und von einem kolossalen, jähen, abschließenden Licht erleuchtet wurde, konnten die gigantischen weißen Skelette, im Nu vom rasch verbrennenden, fetten, ekelhaft stinkenden verglühenden Fleisch befreit, wenigstens irgendeine Vorstellung von ihrer realen finalen Größe geben. Der Leutnant fuhr sich mit der schwarzen, in der Dunkelheit unsichtbaren Hand über das ebenfalls schwarze, unkenntliche Gesicht und kam langsam wieder zu sich. Ihm fiel ein, was ihn eigentlich hergeführt hatte. Ja, er sollte den Hebel der Sprengvorrichtung umlegen, um die Steinlawine auszulösen, die die Kranken und Angesteckten von den noch nicht Angesteckten und wenigstens zu minimaler Lebenstätigkeit Fähigen trennen würde. Während er verschwunden war, hatten die abgezehrten, zu riesigen Stapeln aufeinandergelegten Halbtoten ihre letzten Kräfte zusammengerafft und begonnen, aus der Grotte irgendwie in die Räume ihres früheren gemeinsamen Aufenthalts mit den übrigen Brüdern im Unglück zurückzukriechen. Der Leutnant überwand seine ungeheure Müdigkeit und legte den Hebel der Vorrichtung um. Eine dumpfe Detonation ertönte. Die herabstürzenden Steine verschütteten die Begräbnisgrotte und zerschmetterten die schwach stöhnenden und wimmernden, halb herausgekrochenen Kranken gemeinsam mit den unter die Lawine geratenen und donnergleich brüllenden und krei[ 192 ]

schenden übertierartigen Ungeheuern. Die Verschüttung der Sektion sonderte alle Infizierten von den noch auf Rettung Hoffenden ab. Doch die Epidemie lebte heimlich schon in allen, und es gab keine Chance und keine Möglichkeit, Todkranke und bislang noch Gesunde auseinanderzuhalten oder voneinander zu unterscheiden. Um so mehr, als das erste Aufbrechen geschwollener Furunkel, die Eiter verspritzten, der die Luft infizierte und sich in Form von nicht spürbaren Tropfen auf der Haut der Umstehenden ablagerte, in ihre Poren drang und neue subkutane Wucherungsherde im Körper der noch nichtsahnenden Opfer erzeugte, im Dunkeln nicht zu sehen oder zu erkennen war. Wie auch immer, es war keine Unterscheidung möglich. Und sie war auch nicht mehr notwendig. Bald ertönte draußen ein ungeheuerliches, mächtiges, doch eher fühlbares als hörbares Dröhnen. Es wurde klar, daß die hier Lebenden und Eingesperrten nun kaum noch etwas von den anderen draußen unterschied. Mehr noch, sie hatten einen zweifelhaften Vorteil – sie würden sich ein wenig länger quälen. Dann ertönte ein zweites, noch mächtigeres und weniger gedämpftes Dröhnen, und alles erstrahlte in dem obenerwähnten finalen Licht. Ja. So war das. Nach endloser, unaufhörlicher, anästhesierender Praxis des Schreibens und Zeichnens bei Nacht und langem Schlaf in der allmählich und unnachgiebig heranwogenden deprimierenden Hitze bei Tag neigt man dazu, alles ein wenig (und eigentlich nicht nur ein wenig, sondern ganz erheblich) zu glätten und zu nivellieren und jede beliebige Ausgefallenheit in die appropriierte Routine eines schon nicht mehr unterscheidbaren Daseins zu integrieren. Dies erzeugt im Grunde auch die obenerwähnte allmählich aufkeimende Unmöglichkeit, über das hiesige Dasein und den eigenen Aufenthalt darin irgend etwas zu sagen oder was auch immer zu schreiben. Doch wir besitzen noch Kraft und den unzerstörbaren Wunsch, ja das geradezu jugendliche, ungestüme Verlangen, die Erzählung fortzusetzen. Weiterzuschreiben, worüber auch immer – egal! Trotz alledem. Wir fahren fort. [ 193 ]

... Die Unirdische Macht weiß, daß unirdische Unwissenheit der irrsinnige Feind des Volkes ist. Deshalb ist es notwendig, irrsinnige Verwaltungsorgane in irrsinnigen Sprachen zu schaffen. Die Unirdische Macht hofft, auf diesem Weg die irrsinnigen Völker des irrsinnigen Daghestan aus dem irrsinnigen Sumpf der unirdischen Unwissenheit und der irrsinnigen Ignoranz herauszuziehen, in den sie das irrsinnige Rußland gestürzt hat. Die Unirdische Regierung geht davon aus, daß im irrsinnigen Daghestan eine unirdische Autonomie eingeführt werden muß, wie sie schon die irrsinnige kirgisische und die irrsinnige tatarische unirdische Republik genießen. ... Jetzt, da der irrsinnige Feind der unirdischen Macht zerschmettert ist, wird die unirdische Bedeutung der irrsinnigen Autonomie, die irrsinnigerweise von der Unirdischen Regierung verliehen wurde, irrsinnig. Man sollte aber die irrsinnigen Umstände beachten. Während die irrsinnige Regierung und generell alle irrsinnigen Regierungen der irrsinnigen Welt dem irrsinnigen Volk nur in demjenigen irrsinnigen Fall unirdische Zugeständnisse machen oder diese oder jene irrsinnigen Reformen durchführen, wenn sie durch irrsinnige Umstände dazu gezwungen sind, gewährt dagegen die irrsinnige Unirdische Macht, die sich auf dem unirdischen Gipfel ihrer irrsinnigen Erfolge befindet, dem irrsinnigen Daghestan die unirdische Autonomie irrsinnig und freiwillig.

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11. F O R T S E T Z U N G

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ch fahre trotz allem fort. Und zwar mit der einfachen, unverbindlichen Bemerkung, daß wir Europäer für sie, die Einheimischen, Pferden ähneln, was allerdings weder in der japanischen Mythologie noch im Alltag die geringste negative Konnotation hat. Obwohl es den traditionellen japanischen Spruch gibt, daß ein Fremder sogar den hiesigen Teufeln und Dämonen Angst einjagt. Durchaus möglich, ich hatte bloß nicht die Gelegenheit, mich davon zu überzeugen. Daß sie Kindern Angst einjagen – davon konnte ich mich überzeugen. Eines Tages saß ich in einem unscheinbaren kleinen Restaurant, natürlich umgeben von lauter Bewohnern der umliegenden Häuser. Da sprang hinter einem Zaun ein noch ganz winziger rührender Kleiner mit kirschdunklen Mandelaugen hervor, sah mich, erstarrte für einen Moment vor Schreck und fing verzweifelt an zu heulen, während er wegstürzte, zurück hinter den Zaun, zu den Seinen, den Rettern, den Eltern. Es erhob sich ein allgemeiner Tumult, alle sprangen von ihren Plätzen auf und stießen mir unverständliche Worte mit unverständlichen Obertönen aus. Darin schwangen gefährliche Intonationen von Verzweiflung bis Drohung mit. Ich sprang auf und rannte weg. Ich rannte lange und kam erst in einer öden fernen Gegend wieder zu mir, die an einer Seite von hohen bewaldeten Hügeln und an der anderen von einem stillen freundlichen Flüßchen begrenzt wurde. Gleich erkannte ich den Ort meiner häufigen weiten Erholungsradausflüge am grünen Stadtrand in der Nähe meines Hauses [ 195 ]

wieder. Als ich zu Atem gekommen war, beruhigte ich mich und schaute mich voller Behagen um. Doch da sah ich zu meiner unangenehmen Überraschung, wie hinter einer kleinen grünen Anhöhe direkt am Flußufer einige lächelnde japanische Gesichter hervorschauten. Unter ihnen war auch das eines Kindes zu sehen. Offensichtlich hatte eine mäuschenstille Familie mit Verwandten und Bekannten beschlossen, sich am Sonntag auf der grünen Wiese am nicht allzu schnellen Fluß zu erholen, zu grillen, Wein zu trinken und zu plaudern. Angelockt von geräuschvollem, unbeherrschtem Atmen und dem dumpfen Trappeln dicker Füße auf dem dämpfenden Gras des ufernahen Raums, lugten sie heraus, aus Zerstreutheit noch Geräte des zuvor erfolgten Grillprozesses in den Händen – ein Messerchen, oder war es eine ellenlange Gabel mit zwei Zinken, oder mir kam das alles bloß so vor. Die Angst verdunkelte mir den Blick, und mit demselben dumpfen Trappeln, das sich nicht dem Hören offenbart, sondern nur durch die Vibration des Bodens von an ihn geschmiegten, mitbebenden Körpern zu spüren ist, stürmte ich nach Hause. Mein Gott, was sind wir manchmal schreckhaft! Lohnt sich das? Sowohl jetzt als auch vorhin ... Dort im Restaurant waren die treuherzigen Leute natürlich von den Tränen eines unschuldigen Kleinkinds alarmiert gewesen und hatten einfach, und zwar ohne jede intendierte Drohung, versucht, den Grund dafür herauszufinden. Ebenso lugten sie hier heraus, als sie Schritte hörten, um guten Tag zu sagen und Meinungen und Eindrücke über das schöne Wetter auszutauschen. Mein Gott, wie tief haben sich die beinahe panischen Ängste und Katastrophenerwartungen meiner Kindheit in mich hineingefressen, die übrigens damals so berechtigt waren und so häufig vom Leben bestätigt wurden! Aber hier und jetzt! Allerdings sollte man in seiner Wachsamkeit nie nachlassen – unser Selbsterhaltungstrieb ist klüger als wir. Bei uns, in unseren Wohnorten, könnte man so eine Reaktion von einem Kind erwarten, das zum Beispiel unter lauter Weißen plötzlich mit einem waschechten Schwarzafrikaner zusammenstößt. Ein Bekannter hat mir erzählt, daß ein Junge, der ihm in der U-Bahn in Osaka gegenübersaß, sich über ihn lustig machte, indem er sein [ 196 ]

unteres Augenlid herunterzog (so wie wir, wenn wir einen Asiaten darstellen, die Augenwinkel zur Seite ziehen). Ein anderer Bekannter erzählte mir, ebenfalls in Japan, eine wunderbare, geradezu filmreife Geschichte, die sich in seinem Beisein ereignet hatte, allerdings in der Moskauer Metro. Neben anderen Fahrgästen gab es in dem Waggon eine junge Frau Mama mit einem völlig unmöglichen Kind. Es brüllte, schnitt ekelhafte Grimassen, und wenn es etwas wollte, warf es sich auf den Boden und strampelte mit den Beinen. Dann sprang es auf und kletterte mit den Füßen auf den Sitz, und auf dem Weg dahin bespuckte es seine Sitznachbarn, distinguierte ältere Leute, die das Ganze nur mit Mühe ertrugen, und beschmutzte sie mit seinen dreckigen Schuhen. Auf deren völlig verständlichen Protest nebst Bitte, das Kind zur Ruhe zu bringen, antwortete die Frau Mama: Ich erziehe mein Kind eben japanisch. Wissen Sie, in Japan dürfen Kinder bis zu sieben Jahren alles anstellen, was sie wollen. Und keiner sagt etwas dazu! – beendete sie stolz ihre Tirade. Alle schluckten schweigend diese dem russischen Verstand unbegreifliche Darlegung unbegreiflicher Regeln zur Erziehung einer immer unverschämter werdenden und an gewissen Orten schon zur Gänze unverschämt gewordenen heranwachsenden Generation. In einer Ecke des Waggons stand nun ein großer, hagerer junger Mann, der träge Kaugummi kaute, sich nicht am Gespräch beteiligte und die allgemeine Nervosität im Waggon ignorierte. Als sich an der nächsten Station die Türen öffneten, nahm er unerwartet das Kaugummi aus dem Mund, machte einen Schritt in Richtung der jungen, in Erziehungsfragen so raffinierten Frau Mama, knetete es mit einer schroffen Bewegung des Daumens der rechten Hand ein paarmal durch und pappte es ihr direkt auf die Stirn. Ich wurde auch japanisch erzogen! – sagte er in das folgende allgemeine, nun schon völlig verdatterte Schweigen hinein laut und deutlich. Ich weiß nicht, ob der Typ wirklich japanisch erzogen worden war, ob ihm das nur so vorkam oder ob er sich das alles spontan ausgedacht hatte, auf jeden Fall sprang er, ohne sich nach [ 197 ]

seinen Komplizen und Kollegen in Sachen japanischer Erziehung umzudrehen, unter der allgemeinen Erstarrung durch die sich schon schließenden Waggontüren hinaus. So eine Geschichte war das. Natürlich, russische Kinderchen werden im Gegensatz zu der ein wenig steifen Künstlichkeit und Förmlichkeit japanischer familiärer und gesellschaftlicher Beziehungen in einer Atmosphäre, wie soll ich mich ausdrücken, um die russische Ethnie nicht zu verletzen, in einer Atmosphäre gesteigerter Emotionalität groß – mit Geschrei, Gezänk, Prügeleien und besoffenem Vollkotzen der Umgebung und von Gegenständen in der Nähe. Vieles, was jähzornige russische Kinderchen in Alltag und sozialem Kontext anrichten, fiele ihren japanischen Altersgenossen nicht im Traum ein. Bei uns auf dem Hof zum Beispiel kam Serjogas Vaters bei noch kühlem Vorfrühlingstauwetter nur in langen Unterhosen aus der Wohnung gewankt, kroch im Schnee herum und murmelte mit heiserer, besoffener, im übrigen auch aus gehöriger Entfernung ziemlich deutlicher Stimme: Serjoga, du Nuttenarsch, wo bist du? Komm her, ich hau dich tot. – Serjoga stand ziemlich wachsam ein Stück weiter weg, nicht gerade in Panik, aber auf der Hut, und wiederholte hin und wieder: Selber Nutte. – Tut mir leid, Serjoga. Von alledem fällt einem russischen Jungen eben so manches ein, was einem kleinen Japaner nicht einfallen würde. Da hat man mir zum Beispiel eine lehrreiche Geschichte erzählt, die in Moskau oder in einer Stadt des früheren Sowjetischen Baltikums passiert ist. Oder in noch einer anderen, aber auch sowjetischen. Ein alter Mann, Großvater, KGB-General im Ruhestand, lehnt in einer Art Liegestuhl, schwer gelähmt nach einem Schlaganfall. Ein fünfjähriges Kind, sein Enkel, die Labsal seiner letzten trüben Tage, fuchtelt mit einer selbstgebastelten Peitsche herum und schreit mit der harten Stimme eines Dresseurs: Gib Laut! – Und der Großvater, den gelähmten Mund verzogen, gibt tatsächlich ein Röcheln von sich, das bei entsprechend starkem Wunsch mit [ 198 ]

einem Löwengebrüll verglichen und als solches gedeutet werden kann. Ja, manchmal möchtest du den gar nicht so unwissenden Menschen aus dem fernen unwissenden Mittelalter zustimmen, die glaubten, der jämmerlichste, widerlichste, unseligste Zustand des Menschen sei, außer dem Tod natürlich, die Kindheit. Was nun in dem halbgetrübten Schlaganfallsbewußtsein des KGB-Alten herumgeisterte – Zellen, verzerrte Gesichter von Verhörten, Schreie und Stöhnen – keine Ahnung. Oder es geisterte gar nichts herum – eine gesegnete, auf äußere Ansprüche nicht mehr reagierende Leere und eine Art bereits jenseitiger Seelenruhe. Keine Ahnung. Und es ist auch nicht mehr rauszukriegen. Und auch unwichtig. Und auch nicht der Gegenstand unserer jetzigen Untersuchung. Ein anderes Mal mehr dazu. Jetzt geht es darum, daß sich hier niemand in den kühnsten Träumen ein derartiges Benehmen eines japanischen Kindes und generell eines Japaners einem Älteren gegenüber vorstellen kann. So etwas kann einfach nicht sein, weil es nicht sein kann. So etwas findet sich einfach nicht unter den Varianten vorstellbaren menschlichen Verhaltens. Also würde unseren Kleinen in ihrer spezifischen menschlichen Umgebung mit ihren spezifischen Verhaltensausprägungen eine japanische Erziehung wohl kaum gut bekommen. Ich kann sogar mit dem nötigen Verantwortungsgefühl versichern, daß sie ihnen schlecht bekommen würde. Obwohl auch hier zum Beispiel ein allerdings schon jugendlicher Japaner entrüstet erzählt hat, daß er in Moskau müde und kaputt mit seinem Gepäck im Bus saß, als eine unverschämte Oma ihn von seinem Platz verjagte und – was glaubt ihr?! – es sich selbst bequem machte. Verstehe das, wer will. Und noch ein Beispiel. In der U-Bahn in Sapporo hörte ich ein unaufhörliches melodisches Gebimmel, sah mich nach der Ursache um und erblickte schließlich winzige, an der Decke hängende Glöckchen mit bunten Reklamezetteln daran. Wäre das in der Moskauer Metro gewesen, hätte die Frau Mama mit ihrer überschüssigen Gesundheit der noch nicht verflossenen Jugend ein paar von diesen reizenden Glöckchen für sich zu Hause abgerissen. Hätte sie in [ 199 ]

freudig gehobener Stimmung in die Handtasche gestopft, ihr bösartiges Kind unter den Arm geklemmt und sich mit einem vor lauter Kräfteüberschuß leicht hüpfenden Gang nach Hause begeben. Die Glöckchen wären aller Wahrscheinlichkeit nach vor lauter Sorgen und Querelen in der Tasche verschollen, die am nächsten Tag ohnehin gegen eine zweite oder dritte, besser zur Kleidung passende ausgetauscht worden wäre. Und alles wäre in Vergessenheit geraten. Wir stellen außerdem fest, daß Hauswände, U-Bahn-Fenster und -Sitze, Zugwaggons und überhaupt alle Einrichtungen hier im Gegensatz zu unseren, den europäischen und den amerikanischen nicht vollgeschmiert sind, obwohl die Japaner außerordentliche Meister auf dem Gebiet der Kalligraphie sind. Vielleicht ist gerade deshalb nichts vollgeschmiert. Oder noch ein ähnliches Beispiel. Nach einer Pressemitteilung war irgend so ein Ding von der russischen zur japanischen Küste geschwommen. So ein Dingsbums, das auf japanisch Monno heißt, mit der Betonung auf dem letzten o, weshalb es sich mit einem russischen Wort reimt, das ein ebenso frei im Wasser schwimmendes Etwas von unbekannter Konsistenz und Funktion bezeichnet. Dieses Etwas hier, das von uns zur japanischen Küste geschwommen war, war ziemlich groß. Hundert Meter lang und fünfzehn Meter breit, ragte es nur zwei, drei Meter über der Wasseroberfläche empor und verbarg die gesamten restlichen sechsundzwanzig Meter in der Tiefe. Am ganzen Korpus des Etwas entlang, das aus reinem, verrostetem Stahl gefertigt war, stand in monumentalen Buchstaben: RAUCHEN VERBOTEN! FEUERGEFAHR! Die es fortwährend begleitenden Boote und Taucher konnten lediglich feststellen, was es nicht war – eindeutig kein U-Boot, kein Tanker oder sonst etwas Derartiges. Als schwieriger, ja schlicht unmöglich erwies es sich, zu definieren oder festzustellen, was es war. Auf eine Anfrage bei der russischen Regierung hin erhielt man die abgewogene und ruhige Antwort, man vermisse nichts, und die russischen Buchstaben hätten nichts zu bedeuten – die könne ja jeder aufmalen. Jeder Rabauke oder auch jeder gebildete Japaner, von denen es eine Menge gebe und unter ihnen viele, die Russisch könnten und also imstande seien, um des [ 200 ]

Vergnügens oder der Sprachpraxis willen etwas Derartiges zu bewerkstelligen. Später fanden sich natürlich beweiskräftigere Anzeichen für die russische Provenienz des betreffenden Objekts. Man stellte eindeutig fest, daß es tatsächlich etwas originär Russisches war, von dem jetzt niemand mehr weiß, was es ist oder war und wozu es gut sein sollte. Die russische Regierung antwortete ungerührt: Gut, es ist unseres. Und? Gut, anfangs haben wir’s nicht zugegeben, aber jetzt geben wir’s ja zu. Was wollt ihr denn noch? Vorher war es unseres, jetzt ist es eures, macht damit, was ihr wollt. Ihr seid doch fein raus. – Doch zum Glück sind bei uns natürlich nicht alle so schwerfällig und umständlich. Es gibt ja solche Meister ihres Fachs! Und nicht ohne Eleganz und witzige Ideen im Stile des berühmten Stolzes des russischen Volkes, des „Linkshänders“. Als es dem russischen Staat zum Beispiel kürzlich einfiel, eine Zusatzgebühr für den Import von Autos einzuführen, den der normale russische Bürger und Verbraucher natürlich für ungerecht hielt, was denken Sie, was da los war – daß man schmählich zu weinen und zu trauern anfing? Mitnichten. Kein bißchen. Das Genie atmet, wo es will, und vor allem, wo es nötig und erforderlich ist. Buchstäblich nach ein paar Tagen kam einem Profi oder einem Team von Profis die rettende Idee in den Sinn oder die Sinne, das heißt in den einen kollektiv-kommunalen, allgemeinmenschlichen und unbesiegbaren Sinn. Direkt im Abfertigungshafen wurde ein hinsichtlich der Genauigkeit von Plan und Ausführung idealer Schneidbrennprozeß organisiert, der das Auto in Längsrichtung in zwei Teile teilt – was sagen Sie dazu? Sauber, schlau, und es verstößt nicht gegen das Strafgesetz. Die zerschnittenen Wagen werden als Ersatzteile eingeführt, die mit keiner Zusatzgebühr belegt sind. Im Bestimmungshafen schweißen ebensolche Profis sie ideal exakt zu einem ganzen, lebensfähigen und kraftvollen Personenwagenorganismus zusammen, reinigen, polieren sie – bis alles lupenrein ist! Und so fährt, so rollt, besser sogar und schnittiger als vorher, die unenträtselbare russische Seele mit Pauken und Trompeten durch die unübersehbaren Weiten ihrer Heimat! Gib Antwort, meine Teure! Da ist die Antwort – sie steht vor dir. [ 201 ]

Halten wir fest, daß Japaner von einem Russen vor allem Einschlägiges erwarten – zum Beispiel, daß er hemmungslos säuft. Waghalsig säuft. Überall zu spät kommt und sich nicht an Vereinbarungen hält. Widersinnig groß, ungeniert und dreist ist. Und denken Sie nicht, daß Sie, wenn Sie eher klein sind, nichts außer entspannendem Tomatensaft trinken und sich verläßlich und höflich betragen, japanische Augen und Herzen erfreuen und beglükken. Mitnichten. Ganz im Gegenteil. Sie enttäuschen die normale Erwartung und halten den ehrlichen Japaner, der sich unangenehm überrascht und hintergangen fühlt, quasi zum Narren. Das ruft Unbehagen hervor. Klein und höflich kann er außerdem auch selber sein. Von Ihnen erwartet man, daß Sie russisch sind. Über einen Doktoranden aus einem Vorort von Moskau sagten die japanischen Kollegen ohne jede Mißbilligung, vielmehr mit einer Art Befriedigung angesichts von etwas Erwartetem und Bestätigtem: Ja, ja. Er ist schon morgens schwer betrunken. – Aha. – Wenn jemand vom asiatischen Wesen Rußlands spricht, es ideologisch und mit Nachdruck seinem westlichen Wesen gegenüberstellt und dabei noch irgendeinen speziellen russischen Buddhismus erwähnt, dann ist schwer zu verstehen, worauf das alles beruhen soll außer auf reinem Wunschdenken, glatter Willkür und leidenschaftlicher Opposition zum ersehnten und im Laufe vieler Jahrhunderte trotz aller Anstrengung unerreichten Westen. Man versteht nicht, was konkret gemeint ist. Man wird in Rußland kaum etwas finden, was dem Fernen Osten gleicht. Höchstens dem arabischen Orient. Und auch die Orthodoxe Kirche mit ihren permanenten jämmerlichen Versuchen, moderne Probleme mit uralten Mitteln zu lösen, ähnelt eher dem Islam als dem Buddhismus, Hinduismus, Katholizismus oder Protestantismus. Im übrigen: Jedem das Seine!*, wie die alten Römer sagten, wenn auch in einer anderen, altlateinischen Sprache. Nach ihnen sagten * Im Original deutsch.

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andere dasselbe in ihrer eigenen modernen Sprache, doch bereits in einem anderen, verrufenen und für jeden aufgeklärten Menschen inakzeptablen Sinn. Doch wir meinen das hier in dem guten, tiefen altrömischen Sinn. Wenn wir solche nationalen und kulturellen Diskrepanzen oder die komische, aber verzeihliche kindliche Unvorbereitetheit auf die schreckliche offene Welt beschreiben, möchten wir festhalten, daß Derartiges überall vorkommt. Japan erzieht sich selbst seit langem im Geiste der Weltoffenheit und Treue zu westeuropäischen Demokratie- und Toleranzmodellen und wurde auch von der Siegermacht schon lange in diesem Geist erzogen. Wenn auch nicht ohne einige Besonderheiten. Als wir zum Beispiel im Auto an einem teuren Restaurant vorbeifuhren, zeigten mir meine Betreuer: Das ist das Auto von einem Yakuza (so heißt die Mafia hier). – Welches? – Das da vorne. – Und woher wißt ihr das? – Solche Autos haben nur die. – Wie sich herausstellte, existiert ein spezielles Modell oder vielmehr die Variante eines Modells, die nur Mafiosi kaufen und benutzen. Einen von ihnen habe ich in dem oben beschriebenen heißen Quellbad gesehen. Dieselben Betreuer wiesen mich mit einem leichten, fast unmerklichen und keinerlei Aufmerksamkeit erregenden Nicken von der Seite und einem Flüstern auf ihn hin: Da, ein Yakuza. – Wo? – Da, der überall Tätowierte. – Ich drehte mich langsam nach und nach um und erblickte einen riesigen, einfach furchtbaren Menschen. Er machte einen nahezu schizophrenen Eindruck – sein ganzer Körper war über und über mit Tätowierungen bedeckt, mit einem dünnen, schmalen weißen Trennstreifen entlang der vertikalen Körperachse, der die psychedelische Bemalung in zwei voneinander isolierte Hälften teilte. Das ergab irgendwie den Eindruck zweier sich synchron bewegender, halbmen[ 203 ]

schenartiger gemusterter Organismen. Allerdings trug ich natürlich im dichten Wasserdampf, der in verschiedenen Hitzegraden aus den Becken aufstieg, meine Brille nicht, und näher heranzugehen und genau hinzuschauen konnte ich mich verständlicherweise nicht entschließen. Um ihn herum erstreckte sich ein, wie mir vorkam, von der übrigen Welt abgetrenntes, aus der normalen Umgebung sich waschender nackter Männer herausgerissenes Feld – wie er ins Wasser stieg, wie er an den leicht nach allen Seiten auseinanderstrebenden einfachen Besuchern vorbeiging, wie er die dichte, alles umschließende Luft zerschnitt. Oder schien mir das nur so? Er hielt sich nicht lange unter uns auf. Ich sah, wie er, schon hinter der Glastrennwand, im Umkleideraum ein riesiges Gewand um sich schlug, das seinen in zwei Teile gespaltenen Körper bedeckte. Und verschwand. Doch im Grunde leben hier absolut friedliche Menschen. Amüsant sind zum Beispiel die Zuhälter im strengen schwarzen Geschäftsanzug mit der obligatorischen schwarzen Krawatte abends an den Straßenecken des Viertels Susukino, wo es die höchste Anzahl Restaurants und Bordelle pro öffentlichen Quadratmeter in ganz Japan gibt. Sehr verbreitet ist die Prostitution unter Schülerinnen. Auf die Frage nach dem Grund ziehen sie eine niedliche kleine Grimasse und antworten schlicht: Um Kosmetik zu kaufen! – Um ein bißchen Geld fürs Kino zu verdienen. – Ich hatte Lust auf Eis. – Geben deine Eltern dir denn nichts? – Doch ... – Wie, darf man das etwa nicht? Doch! Man darf. Natürlich darf man. Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt. Ungefähr wie bei uns. Es gibt auch eine Menge jugendpornographischer Filme. Doch quasi aus Liebe zu Anstand und Moral sind alle Videos derartig mit den bekannten Computertricks wie Flimmern oder allen möglichen weißen Quadraten und Strichen retuschiert, daß man nicht mehr durchblickt, wer wann wo wen und womit. Natürlich errät ein erfahrener Mensch das auch so, doch dafür muß er sich nichts Derartiges anschauen. Ein erfahrener Mensch sieht alles glasklar, [ 204 ]

ohne sich von irgendwelchen Barrieren, egal welcher Dicke, Stärke oder Stabilität, beirren zu lassen. Er sieht durch Betonwände und Metallschlösser hindurch, nicht bloß durch leichte Kleidung und Computerverfremdungen. Doch wir schreiben nicht von diesen versierten und mit einem dermaßen scharfen Blick ausgestatteten Typen. Die brauchen das wegen ihrer Versiertheit auch nicht. Wir schreiben von einfachen Leuten. Wir schreiben von uns, auf deren Moral diese anspruchslose Schutztechnik ja gemünzt ist. Das japanische Fernsehen ist im Ganzen außerordentlich erotisiert. Vor allem betrifft das natürlich die Myriaden von Jugendsendungen, die unzählige Stunden auf allen Kanälen laufen. Sie sind erotisch und eben nicht sexuell ausgerichtet wie zum Beispiel die fast schon konsum-langweilige, biedere deutsche Wa(h)re Liebe mit ihren Vorführungen unzähliger brandneuer Erfindungen für erschöpfenden Sex und mit allerlei Popstars und Flaggschiffen dieser offenherzigen Angelegenheit. Nein, hier in Japan herrschen bislang noch Anmut und Keuschheit, und wegen unerlaubter offener Zurschaustellung von Lust, traditioneller Förmlichkeit und noch unbewältigter Tabus wird alles ohne die westliche Dreistigkeit und Kälte präsentiert. Obwohl sich natürlich alles in die erforderliche Richtung bewegt. Keiner weiß, wer das fordert, aber alles bewegt sich dorthin. Indessen wird mit ständigen Blicken in den Ausschnitt, begleitet von gespielt verschämtem jungfräulichem Kichern, mit einer unter dem Rock der Kandidatin aufgestellten Kamera, die ihr Höschen zeigt, bis sie mit einer nicht ganz leichten Denksportaufgabe zurechtgekommen ist, mit bescheidenen Bordellreportagen, wo bis zum Knie nackte, hinter eleganten Wandschirmen hervorgestreckte Frauenbeine und erotisches Stöhnen und Schreien vorgeführt werden – mit allen diesen Dingen wird die offenbar billige Sendezeit gefüllt, dabei gibt es keine Werbepausen, und das Ganze wird mit albernem Getue zum Schreien unprofessionell in Szene gesetzt. So etwas – und alles andere auch – wirkt extrem dilettantisch, was besonders ins Auge springt, wenn man kein Wort von der Sprache versteht und nur den Bildern folgt. Serien und Shows sind bodenlos schlecht. Unser Fernsehen, das halten wir stolz fest, ist im [ 205 ]

Vergleich dazu einfach der Gipfel der Vollkommenheit. Ja, es ist generell mit den besten der Welt vergleichbar. Und das italienischdeutsch-österreichisch-schweizerische und sonstige mitteleuropäische überragt das japanische noch um Haupteslänge. Das betrifft auch die zahllosen, parallel, hintereinander und kreuz und quer auf allen japanischen Kanälen laufenden kulinarischen Sendungen mit Direktübertragungen aus Küchen, Restaurants oder der zeitweiligen Zuflucht von Hobbyköchen und -gourmets auf der Straße. Allerdings werden da manchmal wirklich faszinierende Lebensmittel gezeigt – zum Beispiel ein gigantischer, die Arme regender Krake. Und dann derselbe, aber offenbar einen Monat später, getrocknet, wie die Wurzel eines alten und des Lebens müden gerodeten Baums. Kriechende glänzende Krabben und ganz unvorstellbare Wesen aus derselben Familie. Und natürlich geht es nicht ohne allerlei auf dem Trocknen oder im Becken sich regende und das Maul aufreißende, in Form, Farbe, Ausstattung und Größe variierende Fische. Also das, was man auf den zahlreichen Fischmärkten sehen kann, aber nur morgens bis gegen neun – danach ist alles verkauft, buchstäblich über die glitschigen, stinkenden Theken gezerrt von den eßlustigen und in dieser Hinsicht ganz außerordentlich kompetenten Japanern. Von der Präsentation zahlreicher enervierender dampfender Töpfe, zischender Pfannen oder von Brettern mit zurechtgelegtem Gemüse und einem riesigen, aufblitzenden, drauflossäbelnden Messer rede ich erst gar nicht. Und Gesichter. Gesichter. Gesichter. Sprechende, erklärende, lächelnde, kauende, an falsch zubereitetem Essen würgende, über phantastisch zubereitetes Essen vor Seligkeit strahlende Gesichter. Vor Überraschung verzogene Gesichter beim Anblick eines Wunders der Kochkunst. Mißtrauische Gesichter beim Probieren von bisher unbekannten Speisen. Kindergesichter, Gesichter von Erwachsenen, die die Wahrheit kennen und sie überprüfen, Greisengesichter, zweifelnde, weibliche, professionell interessierte Gesichter. Welche noch? Gesichter von Empfehlungen gebenden Kennern, Gesichter mit dem kolossalen Grinsen werbender Agenten und Autoren. Gesichter von zufällig Hereinschauenden, die sich in den Bildschirm recken. Und alles dampft, ballt sich, lodert, schimmert, [ 206 ]

dreht sich in der Pfanne, schiebt sich in die bildschirmfüllenden aufgesperrten Münder. Manchmal, sehr selten, gibt es etwas Amüsantes. Nein, nicht die zum Hals heraushängenden Burger-Wettessen oder das Reinstopfen von aus dem Leim gegangenen amerikanischen Mehlkörpern in ein Auto. Ein Beispiel: Man schickt einen Mann nur in Shorts in ein Zimmer voller riesiger Stechmücken. Er darf sie nicht auf seinem Körper totschlagen, sondern muß sie im Flug umbringen. Der vor lauter Kreisen, Sichdrehen und In-die-Luft-Schlagen halb wahnsinnige Sieger wird durch die Zahl der getöteten Seelen minus der abbekommenen Stiche ermittelt – witzig und originell. Doch abgesehen von diesem seltenen Highlight ist alles erstaunlich langweilig und amateurhaft. Nur hier lernt man den ganz normalen hohen Standard fast aller amerikanischen Produktionen zu schätzen. Japanisch synchronisierte amerikanische Spielfilme und europäische Dokumentarfilme (von denen ich natürlich kein Wort verstand) waren kraftvoll, spannend und sogar imstande, mich von meiner abendlich-nächtlichen Lieblingsbeschäftigung abzuhalten, dem Zeichnen. Ja, um auf die Schuljugenderotik des japanischen Fernsehens zurückzukommen. Was fällt mir noch ein? Das zum Beispiel: In einer rot-gedämpften Boudoir-Imitation zeigte eine schon erwachsene Dame kichernden Mädchen, die in gespieltem Schrecken runde Augen machen, schlichte Verführungspraktiken – Berühren der Knie, Kitzeln hinterm Öhrchen ... All das war von einem so kindlichen, aufrichtigen und verlegenen Lachen der Teilnehmerinnen begleitet, daß es sich verbot, sie der Teilhabe an und der Vorführung von geheimnisvollen lesbischen Beziehungen zu verdächtigen. Nein, das waren einfach erotische Jugendvergnügungen. Ich weise darauf hin, daß richtige, echte Prostituierte, die manchmal im Fernsehen gezeigt werden, genauso rührend kichern wie die Oberschülerinnen, kindlich niedliche Gesichter ziehen und sich verschämt abwenden, um bloß nicht mehr zu zeigen als ihre nackten Hüften und ihren Hintern. Im Fernsehen sah ich auch den brandneuen japanischen Film „Tokio Dekadenz“, der ganz eindeutig dem Vorbild der aktuellen europäischen Erotik- oder Porno-Art-Produktion folgt. Ich weiß [ 207 ]

nicht, wie hoch er in der internationalen Filmszene gehandelt wird. Vielleicht ist er völlig unbekannt. Womöglich ist er deshalb im Fernsehen aufgetaucht. Mich hat vor allem interessiert, wie die neuesten, für die direkte, unzensierte Rezeption zugelassenen Schockertrends des internationalen Films im Gewand hiesigen Materials auftreten. Neben zerstochenen Fixer-Venen, Spritzen und blutbefleckter Watte, zerschnittenen Handgelenken und verdrehten Augen bei Bekifften oder total Durchgeknallten gab es dort eine Menge Quasisex, quasilesbischen und ebenfalls nur quasihomosexuellen, Quasisadismus, Schreie und den übrigen in diesem Fall erforderlichen Horror. Doch alles ist in derselben diskreten, zurückhaltenden und unaufdringlichen Weise aufgenommen – von der Seite, von hinten, hinter einem Vorhang, in einer riesigen, alles verwischenden Entfernung. Alles ist ausgeblendet und gedämpft. Alles ist in eine Tiefe fortgerückt, die nicht schockiert. Der Heldin erscheinen dauernd ihre ehrlichen, anständigen Eltern, die in dem spekulativen ideologischen Phantomscharmützel eindeutig als Sieger über diese ganze Widerwärtigkeit hervorgehen. Das Werk endet in einer georgisch-fellinischen Groteske mit Wahnsinnigen, Clowns, Ballettänzerinnen und Kindern, unter denen unsere Heldin als eine halbe Giulietta Masina umherirrt und halb bitterlich, halb freudig weint. Sicher, in Japan existierte und existiert eine außerordentlich radikale Filmproduktion, es gibt bedeutende Filmschaffende, die wir von Retrospektiven und Festivals kennen. Doch in letzter Zeit taucht Japanisches auch in unseren Breiten deutlich seltener auf, während die Siegespalme den Chinesen, Iranern und Afrikanern überlassen wird. Und hier, in ihrer Heimat, dominiert im allgemeinen schon eine ganz anders geartete Produktion. Im Alltagsleben läuft natürlich alles wie gehabt – die Pärchen gehen spazieren, halten Händchen, scherzen, necken sich, aber mehr auch nicht. Ich habe das speziell beobachtet, man könnte auch sagen, böswillig gemustert, es ist ja immerhin interessant. In der Öffentlichkeit küßt man sich selten, offenbar nur die westlich progressivsten. Mein Gott, wovon rede ich? Was sind denn das für Ansprüche? [ 208 ]

Und auch noch von unserer unmaßgeblichen Seite aus! Wir wußten als Kinder und Jugendliche überhaupt nicht, was Küssen in der Öffentlichkeit ist! Bei der Kinovorführung geheimnisvoller ausländischer Kriegstrophäenfilme brach der ganze dunkle Saal in freudiges Gejohle aus, wenn die Lippen der Partnerin sich bescheiden den männlichen Lippen von irgendeinem Clark Gable näherten. Das war unser erster Unterricht in Erotik und ihrer möglichen Rolle in der Öffentlichkeit. Erst jetzt sind wir so unverschämt und progressiv und offen. Ich würde gerne die Leute von heute, die vor nichts Angst haben und sich vor niemandem schämen, in den harten, unmißverständlichen Zeiten unserer Kindheit sehen. Oder nicht, Serjoga? Du warst damals ja noch am Leben und studiertest unsere unwiderruflich sich gemeinsam mit dem ganzen Land vorwärtsbewegende Kindheit in all ihrem damaligen Reiz und Zauber. Jetzt bist du natürlich tot und kannst nicht vor dem Angesicht der heutigen Unverschämten und Unwissenden klar und deutlich auf meine Frage antworten. Doch damals lebtest du ja und konntest mir recht geben. Ja? Aha, du hast es getan. Danke, Freund. Hier nun, wie übrigens heutzutage fast schon überall und allenthalben, wird das Zusammenleben von Studentinnen und Studenten ohne Trauschein praktiziert. Man lebt als freies Paar zusammen. Trennt sich, findet sich wieder – das ist mittlerweile ganz normal. Sogar die ältere Generation hat sich daran gewöhnt. Doch öffentliche Manifestationen werden hier nach wie vor scharf zensiert, und zwar nicht etwa durch Gesetze zur Pornographie oder zur Verletzung von Anstand und Sitte, sondern durch allgemein akzeptierte und allgemein anerkannte Tabus und innere Verbote. Deswegen weckt die Geschichte eines russischen Jazzmusikers, der übrigens in Schweden lebt, eine Geschichte, erzählt in einem New Yorker Nachtklub, ernsthafte Zweifel an Realitätsgehalt und Authentizität ihres Gegenstands. Während er eines seiner Stücke kommentierte und seine Entstehungsgeschichte darlegte, berichtete er: Als ich einmal in der U-Bahn in Tokio auf einen späten Zug wartete, hörte ich ungewöhnliche Geräusche. – [ 209 ]

Wo war das? – In Tokio. Letztes Jahr. Also, ich ging den Geräuschen nach und entdeckte ein Pärchen, das auf dem Boden saß und, während es auf den Zug wartete, Liebe machte. – Wie, einfach so, ganz offen? – ertönte eine zweifelnde, mißtrauische Stimme. Ja, genau so. Ich kam näher, sie wandten mir einträchtig zwei runde Köpfe zu und sagten einträchtig: Hi! – Hi! – antwortete ich und ging weg. Und dieser Vorfall hat mich auf meine Komposition gebracht, die hin und wieder von quasierotischem Stöhnen oder Schluchzen unterbrochen wird. – Danach folgte das Stück, das aus gewöhnlichen Saxophonklängen bestand, unterbrochen von Schluchzgeräuschen aller Art, Saugen am Mundstück und beschleunigtem, gleichsam erotischem Atmen, was übrigens schon lange zum üblichen Repertoire der Ausdrucksmittel aller Saxophonisten der Welt gehört, und zwar ohne jeden Hinweis auf irgendwelche Begleitumstände. Alles ist auch so völlig plausibel und normal. Doch warum soll man nicht zur Steigerung von Reiz und Witz des Auftritts und zur Zerstreuung des gelangweilten Publikums auf etwas Derartiges verweisen, wenn es denn amüsant und diskret geschieht? Na schön. Bloß hat unser Jazzer offenbar Japan mit seiner Heimat Schweden verwechselt. Oder mit New York. Wahrscheinlich wäre so etwas heute auch schon in Moskau möglich. Nur nicht in Japan. Das ist weder gut noch schlecht – aber in Japan ist so etwas unmöglich. Vieles andere ist möglich – Harakiri zum Beispiel mit heraushängenden, wie exotische Blumen glänzenden Innereien, das Pochen von Silberhämmerchen auf den schlagzeugartig antwortenden Knochen eines noch kürzlich auf dieser Erde Weilenden – das ist möglich! Doch das von unserem Jazzmusiker Beschriebene ist nicht möglich. Noch nicht. Okay, es gibt merkliche Verschiebungen. Eine Bekannte von mir meinte, sie müsse schnell zu einer Sitzung seku hara. Seku hara? – fragte ich zurück. Ja, seku hara. – Und was ist das? – [ 210 ]

Es stellte sich heraus, daß es nichts Weltbewegendes war – bloß eine bequeme, im Hinblick auf die japanische Aussprache und Phonetik transformierte Variante des amerikanischen sexual harassment. Ja, an der Universität arbeitet diese Einrichtung nach amerikanischem Muster bereits, und beunruhigte Studentinnen wenden sich dorthin. Und man hört ihnen ernsthaft und ohne jede Zweideutigkeit zu, trifft eine Entscheidung und hilft ihnen sogar. Die Sache ist ins Rollen gekommen. Indessen zeigt sich immer wieder der Pferdefuß des, ich würde nicht sagen, früheren Großmacht-Chauvinismus, aber doch eines gewissen Gefühls nationaler Exklusivität. Ein (der Stimme nach) absolut nicht alter TV-Sportreporter, der den Spielverlauf auf einem internationalen Volleyballturnier kommentiert, reagiert mit Begeisterung auf jeden von den Japanerinnen gewonnenen Punkt, während sie schon lange hoffnungslos den letzten Satz und das ganze Spiel verlieren. In der Zusammenfassung wird gezeigt, wie die Japanerinnen pausenlos den Ball mit Wucht ins Feld der völlig hilflosen Gegnerinnen schmettern. Dann wird plötzlich mitgeteilt, daß sie 3:0 verloren haben. Aber das stört keinen. Im Endeffekt stellt sich heraus, daß in dieser Sportart ohnehin niemand stärker ist als die Japanerinnen. Im Fernsehen habe ich auch einen japanischen Trickfilm aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gesehen. Einen Film über einen zweiten Kibal-Knaben, das heißt einen Japan-Knaben. Das ist ein ganz properer, robuster, tadelloser Bursche. Energisch und entschlossen. Die schwarzen Brauen streng zusammengezogen, die Augen, groß und ausdrucksstark und rund, in unauslöschlichem Feuer brennend. All seine Sachen tadellos genäht und festgeschnallt. Er läuft geschwind – ach, er ist wunderbar. Er hat ebensolche tadellosen, blitzgescheiten und unbesiegbaren Kampfgenossen. Und außerdem hat er ebensolche elastischen, tadellosen, flinken, unversenkbaren, unabschießbaren und unsprengbaren Schiffe, Flugzeuge und Panzer. Und so besiegt unser Held ohne Zweifel und Tadel den Feind in allen Elementen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Ungezählte [ 211 ]

Truppen landen mit prallen weißen und wiederum runden Fallschirmen, und sobald sie ihre kräftigen Füßchen auf das Territorium des Feindes gesetzt haben, okkupieren sie es auf der Stelle, das arme, herrenlose, das der Feind nicht einmal menschlich verwalten kann. Tja, der Feind ist eben darum der Feind, weil er nichts richtig kann. Der Feind – das sind natürlich die blöden, ungelenken Amerikaner. Und da sind sie nun bei den Kapitulationsverhandlungen – ein langer, ungeschickter mit zuckenden knochigen Händen, bewachsen mit einigen wenigen langen, harten, stacheligen roten Haaren (erkennen Sie ihn?), der andere dickbäuchig, mit Hakennase und feuchten Lippen, der ekelhaft schwitzt, gigantische Tropfen, die mit einem Plopp auf den Tisch fallen und in kleinere Tropfen zerspringen, die ihrerseits in noch kleinere zerbersten und so weiter (erkennen Sie ihn? Aber sicher doch! Und wie!) –, da sind sie, diese jämmerlichen Gestalten, weichen aus und führen in die Irre und versuchen die ganze Zeit, für sich nicht allzu ehrenrührige, absolut unverdiente Kapitulationsbedingungen herauszuhandeln. Doch der Japan-Knabe ist streng, gerecht und unerbittlich. Ihm macht man nichts vor. Er zieht drohend und schön die Brauen zusammen, seine Augen sprühen Funken des Unmuts, und die Feinde stürzen schier verglüht zu Boden, um als kleines Häuflein ekelhafter Asche vorm Verhandlungstisch zu liegen. So wie der Knabe und seine Kampfgenossen, so sind auch ihre lieben, drallen Freunde, die Tiere, die sie begleiten. Ebenso vergnügt und nett sind auch die lieben und noch jugendlichen Eltern, die ihren Sohn nach dem gerechten Krieg begrüßen, auch sie zu allem bereit für die heilige große Heimat und den grenzenlos verehrten Kaiser. Allerdings ist bis heute unter älteren Leuten, in der alten, der Kriegs-, der Vorkriegs- und der direkten Nachkriegsgeneration, eine Idee verbreitet, die Einfluß besitzt und zu ihrer speziellen Zeit sogar von einer ihrerseits spezifischen wissenschaftlichen Forschung bestätigt wurde, und zwar, daß das Gehirn bei den Japanern anders aufgebaut ist als bei der gesamten restlichen Bevölkerung des Erdballs. Demnach ist es nicht in zwei antagonistische und inkongruente Halbku[ 212 ]

geln rechts und links aufgeteilt, sondern bildet eine Einheit, und alle seine so gewonnene einheitliche Kraft richtet es auf ein einheitliches Ziel zur Lösung einer einheitlichen wertvollen Aufgabe. Daher auch die Erfolge. Insofern sich für die japanischen Wissenschaftler aber dann die Perspektive ergab, ein normales wissenschaftliches Leben mit internationalen Kontakten zu führen, auf Konferenzen ins Ausland zu fahren, sich um Professorenstellen und Lehrstühle an Universitäten auf der ganzen Welt zu bewerben und internationale Stipendien und Projektgelder zu nutzen, gaben sie ihre festen Überzeugungen relativ schnell auf. Und man muß sagen, ohne große Verluste für sich selbst oder die Qualität der japanischen Wissenschaft. Doch unter der einfachen Bevölkerung sind derartige Ansichten bis heute lebendig. So glaubt man zum Beispiel, daß bei den Japanern der Darm zweimal länger ist als bei nichtjapanischen Menschen. Ich weiß nicht, was für Vorteile das bringt, aber allein die Tatsache der quantitativen Überlegenheit und des Unterschieds erfreut das Herz. Man glaubt, daß auch die japanische Leber und der Magen anders sind. In letzteren paßt auf einmal, was auch auf die ungeheure Länge des Darms verteilt Platz findet, nämlich das Volumen eines ganzen nicht gerade kleinen Hammels, natürlich schon transformiert und transfiguriert in eine lange, nichtblökende, wurstartige weiche Konsistenz. Infolge der besonderen Funktionsweise von Magen, Leber, Nieren, Bauchspeicheldrüse und anderen Drüsen der inneren Sekretion unterscheidet sich auch der Prozeß der Exkrementausscheidung bei den Japanern ganz ausgeprägt von dem unseren. Die obenerwähnte Länge des Darms und alles übrige bewirken, daß die verzehrte Nahrung zu unglaublichen 99,73 Prozent, also fast vollständig, aufgenommen wird. Abgesondert werden nur noch kleine, außerordentlich hart gepreßte, kieselähnliche Röllchen, die im Straßenbau, beim Aufschütten von Dämmen und so weiter genutzt werden. Aus demselben Grund ist die Harnausscheidung bei den Japanern wiederum gefährlicher, und zwar im Hinblick auf Unfälle. Ich rede von der Möglichkeit, der Umwelt oder in der Nähe befindlichen Lebewesen Schaden zuzufügen. Von der Konsistenz her erinnert japanischer Harn an ziemlich hoch konzen[ 213 ]

trierte, dampfende Schwefelsäure. Deshalb sind in Japan Pissoirs aus Metall absolut nicht zu gebrauchen – es gibt nur spezielle aus säurebeständigem Porzellan. Selbstverständlich ist das in unserer Kindheit so beliebte Spiel „Im Kreis“ hier nicht möglich. Ein ganz schlichtes Spiel. Ein paar Jungen sprechen einen Neuen an und umringen ihn, während sie ihm vorschlagen, aufmerksam in den Mittagshimmel zu schauen, um seine Sehschärfe zu testen – ob er bei Tag am hellen Firmament wenigstens einen Stern sehen kann. Der unschuldige Junge, den Lockenkopf in den Nacken gelegt, strengt seine Augen an, bis sie ihm wehtun, als er plötzlich spürt, wie die untere Hälfte seiner Kleidung rasch naß wird und bereits völlig durchnäßt ist. Er sieht schnell nach unten und entdeckt unter dem Grölen der auseinanderlaufenden Schlingel, daß er über und über vollgepißt ist. Selbstverständlich bestünde bei diesem Spiel in Japan die Gefahr ernsthafter Verletzungen und tiefer Verbrennungen. Die Besonderheit japanischer Natur und Physis und die damit verbundenen diversen Mythen und Phobien nahmen die Form einer durchaus realen Gefahr für die Volksgesundheit an, als während des katastrophalen Erdbebens in Kobo die Japaner auf das Angebot internationaler Organisationen, Blutspenden bereitzustellen, zweifelnd und argwöhnisch reagierten – denn das Blut der Japaner ist ja auch anders, und fremdes bringt ihm keine Hilfe, sondern ganz sicher Schaden und womöglich den Tod. Und dennoch, bei der ganzen ironischen Haltung gegenüber derartigen Ungereimtheiten – unserer fremd-europäischen Ansicht nach – muß ich eine gewisse Glaubwürdigkeit zwar nicht von all diesen Behauptungen, aber doch von einem Teil konstatieren und ehrlich zugeben. Nach den absolut korrekten Forschungen internationaler Wissenschaftler, die bestimmt nicht zu Bestätigung und Propagierung von was für Exklusivitäten dieser Art auch immer neigen, weiß man, daß die Sehschärfe der Japaner die Sehschärfe der Bewohner anderer Teile des Planeten um vieles übertrifft. Japaner unterscheiden um hundert- bis hundertfünfzigmal mehr Farb- und Abtönungsschattierungen. Ihr Gehör ist ebenfalls um [ 214 ]

einige Grade schärfer und feiner als unseres und läßt sie Klänge unterscheiden, die von Europäern einfach als Stille oder umgekehrt als Erschütterung der Luft durch unvorstellbare und ununterscheidbare Dezibel wahrgenommen werden. Der Geruchssinn der Japaner wiederum ist absolut vergleichbar mit dem hyperscharfen Geruchssinn feinfühligster Hunde, so daß sie deren Hilfe zum Beispiel beim Aufstöbern von Drogen oder tief in der Erde vergrabenen Panzersprengminen nicht benötigen. Gar nicht erst zu erwähnen brauche ich die taktile Empfindsamkeit der Bewohner dieser Inseln, die sie eine wunderbare Kunst der Erotik hat entwickeln lassen, wo der direkte, grobe Akt des Koitus nach Zeit und Bedeutung, die er in diesem höchst verfeinerten Prozeß spielt, äußerst marginal ist. Bisweilen ist er sogar ganz entbehrlich. Ich, nicht gerade beispielhaft für viele andere, habe das geschätzt. Besonderheiten und Details aus dem hiesigen Leben sowie Erklärungen zu TV-Sportübertragungen erfahre ich logischerweise von meinem russischen Bekannten, der von derartigen Kollisionen in Leben und Fernsehkommentar nicht ohne giftige Schadenfreude berichtet. Er weiß um die Überlegenheit einer Persönlichkeit und eines Intellekts, die vom Leben und von der Geschichte seiner Kultur und seiner Gewohnheiten in die Lage versetzt wurden, nicht hinter die Grenzen eines derartig offenen Mythologismus zurückzufallen. Er ist sozusagen voller objektiver Skepsis und Ironie. Übrigens stimmen wir nach Alter und dem Ort von Geburt und Kindheit überein, ich meine, seine realen und existentiellen Erfahrungen stimmen mit meinen Moskauer Hoferfahrungen überein. Ich sage: Es gab einen in unserem Hof, der hieß Kröte ... – Kröte? War das in der Nähe der Taganka? – Nein, am Danilow-Markt. – Komisch, bei uns gab’s auch einen Kröte. So einen Langen, Dünnen, der immer hustete. – Ja, er hustete immer. Und als der Graue ihn ... – Der Graue? Komisch. Bei uns gab’s auch einen Grauen. War das wirklich nicht an der Taganka? – [ 215 ]

Nein, am Danilow-Markt. – Natürlich begreife ich seine Kommentare zu den japanischen Exklusivitäten und Ansprüchen augenblicklich, und zwar mit dem gleichen Beigeschmack der selbstironischen, europäisch-intellektuellen Überlegenheit oder des Vorsprungs auf der Skala der Fortschrittlichkeit. Der japanische Jüngling, in dessen Beisein das geschieht, lächelt bescheiden und verlegen. Er spricht hervorragend Russisch. Er ist Student meines Professor-Bekannten. In der Verlegenheit des Jünglings ist die Betretenheit wegen des dämlich-begeisterten japanischen Fernsehkommentators und wegen der Begriffsstutzigkeit und Ignoranz der wilden, beschränkten Russen, die aus den Gefilden des sich ewig verfinsternden und nie aufhellenden Westens hergekommen sind, nur schwer von der allgemeinen Verschämtheit zu trennen, die für junge Japaner rein äußerlich in der Gegenwart von Älteren so charakteristisch ist, um so mehr eines Professors und eines Irgendwer aus Moskau. Außerdem leidet die japanische Gesellschaft ohnehin unter der Belastung und Anspannung durch bestimmte traditionelle Beziehungen zu älteren Lehrern, Sensei genannt, und älteren Kameraden, Sempai genannt, mit denen man sich auch keinen Unfug erlaubt, obwohl sie unter Umständen nur zwei Jahre älter oder einfach in einem höheren Semester sind. Eine von ihnen ausgesprochene Einladung, etwa ein Bier trinken zu gehen, muß hochgeschätzt und dankbar angenommen werden als gnädige Herablassung zu deiner elenden Kaste, wofür man alles stehen- und liegenlassen muß, auch absolut unaufschiebbare, dringende Dinge. Die von russischen Zugereisten eingeführte russische Kumpanei in den Beziehungen zwischen Studenten und Professoren wirkt höchst irritierend, aber auch verlockend und verdirbt die jungen Japaner meistens auf der Stelle. Übrigens, woher weiß man, wenn man durch den Flur der Universität geht, wo japanische und wo russische Professoren ein Seminar abhalten? Ganz einfach – vor dem Arbeitszimmer des japanischen Professors stehen, gelangweilt wie die Hunde in Erwartung ihres Herrchens vor dem Eingang eines Ladens, aufgereiht die Schuhe. Zum russischen Professor geht man mit Schuhen, insofern er selber unverschämterweise in Schuhen in [ 216 ]

sein Zimmer geht. Die Japaner ziehen, wie erwähnt und auf der ganzen Welt seit langer Zeit bekannt, vorm Betreten von fast jedem Raum immer die Schuhe aus. In der Toilette meines Hotelzimmers fand ich spezielle Toilettenschläppchen, wo vorne auf den Spitzen das Zeichen WC und je ein zierliches Figürchen abgebildet waren, ein männliches und ein weibliches. Das stimmt natürlich alles. Aber da hat mir doch ein Japaner gesagt, die Russen seien von allen Bewohnern des Westens den Japanern am ähnlichsten, weil sie zu Hause ebenfalls die Schuhe auszögen. Interessant. Darauf habe ich noch gar nicht geachtet. Gut, wenn ihm das aufgefallen ist, wird es wohl so sein. Na und? Wechseln wir doch mal die Rollen! Und alle Europäer ziehen zum Beispiel vor der Schwelle ihres Hauses pünktlich und penibel ihre Schuhe aus, während die übelriechenden Japaner auf schmutzigen Sohlen ins Haus trampeln und gleich in die Küche stürmen, wo sie mit ungewaschenen Händen nach einem harten, an den Rändern schon verschimmelten Stück Brot greifen, es gierig in den Mund stopfen, sich dabei verschlucken und mit Wasser aus dem Hahn nachtrinken, das sie in eine verrostete Blechdose haben laufen lassen. Ach, das ist lustig? Warum denn? Auch mir sind mehrfach unterschiedliche Varianten in den Sinn gekommen, wie meine Lebensweise zu verändern wäre, die von gewissen quasiobjektiven historischen Gesetzmäßigkeiten lange vor meiner Ankunft auf dieser Welt so starr programmiert wurde. Wie kann man die Kette der grausamen, deprimierenden Determination, ja des Verhängnisses nur zerreißen? Ich habe über diese Varianten intensiv nachgedacht. Einmal dachte ich, ich müßte meine Beschäftigung wechseln Und dachte zwar darüber nach Konnte aber nichts zustande bringen Danach dachte ich, es wäre schon lange an der Zeit, meinen Wohnort zu wechseln – Paris zum Beispiel, New York Auch London wäre nicht schlecht [ 217 ]

Ich dachte zwar darüber nach Konnte aber nichts zustande bringen Ich dachte, es wäre schon lange an der Zeit, meine materielle Lage und meinen Lebensstandard zu ändern Zeit, reich zu werden Sehr, sehr reich Wer hätte da etwas einzuwenden? Keiner Ich dachte zwar darüber nach Aber ich konnte nichts zustande bringen Ich dachte, es sei an der Zeit, auch meinen Namen zu wechseln Damit der ganze Blödsinn nicht unter meinem Namen passiert, sondern unter dem eines anderen Zum Beispiel Hans, Uatsrior, Nazianzin Zwar dachte ich darüber nach Aber ich brachte nichts Wirkliches zustande Danach dachte ich, es sei an der Zeit, diese leere menschliche Hülle zu wechseln Was ist denn schlechter am Insekt? Gar nichts! Einmal habe ich sogar so etwas erlebt Aber nicht bis zu Ende Obwohl ich diese Möglichkeit ernsthaft überdacht hatte Danach, und man wird mich verstehen, dachte ich daran Wie gleich der ganze eigene Aggregatzustand zu ändern wäre Mich also zum Beispiel in Dampf zu verwandeln, in Rauch, Fraktion, Steinkohleschicht, Graphit oder Diamant Ich dachte zwar darüber nach Brachte aber in dieser Hinsicht praktisch nichts zustande Danach dachte ich dann radikal Wenn es nun so ist, daß in mir überhaupt nichts zu ändern ist [ 218 ]

Dann sollte ich vielleicht eher die Umgebung ändern Ich dachte zwar darüber nach Versuchte sogar, etwas zustande zu bringen Aber es war so schlapp und ungereimt Daß es natürlich gar kein Resultat erbrachte Danach, einer bestimmten Konsequenz und Logik folgend Dachte ich, daß man das ganze nähere Weltall und zugleich das Chaos ändern müßte Ich dachte einfach darüber nach und begriff, daß sie einer vollständigen Veränderung unterliegen Ich dachte darüber nach und konnte es fast Aber im letzten Moment passierte etwas Unvorhergesehenes Und infolgedessen konnte ich es nicht Und erst danach dachte ich, wenn alles von jemandem geschaffen ist, wir werden ihn hier nicht beim Namen nennen Dann unterliegt dieser Jemand eben der Veränderung Um so mehr, als Derartiges schon mehr als einmal gelungen ist Ich dachte zwar darüber nach Doch dann dachte ich: Im Grunde glücken alle Veränderungen in ihrer spezifischen Vollendung durch den Akt des Denkens selbst So wie: He, denk mich! Denk mich verändert! Denk mich nach der Veränderung ewig während! Und dann denk mich nicht! Und genau das ist es dann ja auch

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12. F O R T S E T Z U N G

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en Großteil meiner Zeit in Japan verbrachte ich auf Hokkaido, einer Art japanischem Amerika. In dem Sinne, daß die Insel erst vor kurzem erschlossen wurde, ungefähr vor hundert Jahren. Und erschlossen wurde sie nach direktem progressivem amerikanischem Vorbild und unter Nutzung der in dem Moment buchstäblich allerjüngsten amerikanischen Erfahrung. Vom kaiserlichen Statthalter auf Hokkaido wurden viele amerikanische Ingenieure und Wissenschaftler eingeladen, die in nicht geringem Maße die Kultivierung dieses wilden Landes förderten – sie legten Wege an, gründeten Universitäten, entdeckten diverse Bodenschätze, vermittelten der Bevölkerung die notwendigsten Grundkenntnisse in europäischer Hygiene und wissenschaftlichem Denken. Keine Ahnung, inwieweit das für das damalige Japan von erster Dringlichkeit war, doch der kaiserliche Statthalter kannte sich da aus. Und auch der große Kaiser hatte nichts dagegen einzuwenden. Die amerikanischen Enthusiasten nun, vom Wohlwollen der Regierung und ihrem eigenen unverwüstlichen amerikanischen Optimismus dazu befähigt, legten Parks und Gärten an, rüsteten Industriebetriebe aus, erforschten unbekannte exotische vielhörnige Säuger und Raubtiere mit Doppel- oder Dreifachreihen kleiner rasiermesserscharfer Zähne. An vielen Orten von Hokkaido, dessen Bevölkerung mittlerweile auf 4,5 Millionen Einwohner angewachsen ist, sieht man Gedenktafeln mit langen europäischen Elchgesichtern, aber mit japanischen Inschriften und Texten, die indessen die europäischen Verdienste und [ 220 ]

Heldentaten in dem neuerschlossenen japanischen Land wiedergeben. Vor jener Zeit war das hügelige, rauhe Hokkaido von den Stämmen der Ainus besiedelt und gehörte nicht zu Japan. Wenn auf den zentralen Fernsehkanälen, sagen wir, der Wetterbericht gesendet wird, sagt man interessanterweise von den ursprünglichen Gebieten bis heute: Das Wetter in Japan wird morgen so und so … – Und dann: Auf Hokkaido wird das Wetter so und so. Im Vergleich zum übrigen traditionellen Japan ist hier die städtische Kultur eine relativ junge Erscheinung. Ein Gebäude, das gerade mal hundert Jahre alt ist, betrachtet man voller Verehrung und fachmännisch nickend und zeigt es Neuankömmlingen und Zugereisten, wobei man bei ihnen eine entsprechende Verehrung derartiger Altertümer voraussetzt. Und die Bevölkerungsdichte ist hier eine ganz andere – riesige menschenleere Territorien, überwuchert mit undurchdringlichen Wäldern und Unterholz und verbarrikadiert mit von Ort zu Ort verlaufenden hohen Hügeln oder auch sehr hohen Bergen. Und die Temperatur ist hier weniger beschwerlich. Und die Feuchtigkeit geringer. Obwohl ein offen daliegendes Stück Sandgebäck schon am Abend aufgequollen und pappig-feucht geworden ist. Dafür wird hier anders als im übrigen Japan alles ganz und gar durchgepustet. Die Insel ist an allen vier Seiten von verschiedenen Meeren und Ozeanen umgeben, von unterschiedlich lebenden und Unterschiedliches benötigenden Wassermassen und Elementarorganismen. Im Himmel über Hokkaido kann man wundersame Verflechtungen unterschiedlich orientierter Wolken in unterschiedlicher Höhe sehen, die sich in unterschiedlichem Tempo bewegen und unterschiedlich gefärbt und beleuchtet sind – eine Art himmlisch-kosmisches, kolossales und drohend aussehendes flammendes Ikebana. Es ist seltsam anzusehen, wie ein Gewitter, vielmehr mehrere Gewitter gleichzeitig von allen Seiten heranrücken. Als wären Wolken und Winde unterwegs zu einem Treffpunkt mitten in einem Abgrund oder in einem schwarzen Loch, das sie unaufhaltsam in sich hineinzieht. Und natürlich geraten die Interessen der Luftströme und [ 221 ]

Wasserräume manchmal in einen wechselseitigen Widerspruch und erzeugen zerstörerische Hurrikans und Taifune, die alles, was ihnen in den Weg kommt, fast völlig untauglich machen. Na ja, das leuchtet ein. Das ist normal. Dafür sind hier die Winter absolut ungewöhnlich mit Frost bis zu zwanzig Grad und irrsinnigen, wirklich irrsinnigen Mengen unirdischen, blendend schimmernden Schnees. In Sapporo, im Park der dortigen Universität, filmte der große Kurosawa die wichtigsten Episoden seines rührenden und beklemmenden „Idioten“. Gut, es ist seiner, aber letztlich ist er doch in Zusammenarbeit mit unserem nicht weniger großen, sogar größeren, aber leidenschaftlichen, bisweilen sogar blindwütigen Dostojewski entstanden. Die Einwohner der Stadt zeigen Ihnen unweigerlich die imposante Universitätsallee, die von den obenerwähnten energischen Amerikanern Anfang des Jahrhunderts angelegt wurde. Hier findet unter unaufhörlich fallendem und alles in Verwirrung stürzendem Schnee der Dialog zwischen dem außergewöhnlich ergreifenden japanischen Fürsten Myschkin und dem romantischen, ebenfalls japanischen Bösewicht Rogoshin statt. Die Handlung ist in das zeitgenössische Japan Kurosawas verlegt. Der Fim versinkt buchstäblich in einer ungeheuren Menge Schnee, weitaus reichhaltiger und weißer als in seiner primären ontologischen Heimat Rußland. Doch in Rußland ist er, der Schnee, der Idee und seiner primären Bedeutung nach weißer als irgendwo sonst und unterliegt keinerlei Veränderungen und keinerlei Konkurrenz. Na ja, das nur nebenbei. Sowohl der Film als auch Hokkaido versinken in diesem superidealen, ebenfalls fast keiner Beschädigung durch Zeit und Menschenwerk unterworfenen Schnee. Ein ideales superweißes himmlisches Nur-nicht-mehr-Rußland, sondern Japan. Genau hier habe ich den Großteil meiner Zeit verbracht, bloß im Sommer. Vom Schnee weiß ich nur aus dem Film und aus den Erzählungen erfahrener Augenzeugen, die nicht etwa vom Hörensagen Bescheid wissen, sondern von den langen Jahren her, die sie seit ihrer Geburt in Sibirien verbracht haben. Die Zeugen sagen unbeirrt: Hier gibt es unermeßlich viel mehr Schnee. Er fällt fast ununterbrochen, wobei [ 222 ]

riesige, träge, feuchte, schwere gemusterte Flocken zur Erde schweben. Er fällt genau drei Monate. Im Gegensatz zu unseren russischen kommunalen Gepflogenheiten wird der Schnee hier fast nicht geräumt. Er wird sogar überhaupt nicht geräumt. Blendend weiß schimmernd, wächst er allmählich an, türmt sich auf, bedeckt anfangs die Dächer der kleineren Bauten, dann die der höheren und macht erst bei den oberen Stockwerken der Hochhäuser halt. Die Passivität gegenüber seiner unaufhörlichen und sich jährlich wiederholenden Expansion erinnert an die Langmut der Inder angesichts der Herrschaft der heiligen Kühe, die die Frechheit besitzen, sich mitten im belebten Stadtverkehr lang hinzulegen. Übrigens wurde eine derartige Einstellung jedem irdischen Lebewesen gegenüber mit dem Buddhismus zusammen auch nach Japan gebracht, wo der Verzehr von Fleisch noch eine äußerst junge Tradition hat. Allerdings erstreckte sich das Verbot nicht auf Wasserbewohner, und Fisch war eine der Hauptnahrungsquellen, was den niedrigen Wuchs der japanischen Bevölkerung verursacht hat. Doch die Resultate des nach historischen Maßstäben nicht gerade lang andauernden Fleischverzehrs (aber, wie wir betonen möchten, in übermäßigen Mengen, wie alles, was die lieben eßlustigen Japaner verspeisen) zeigten sich schon nach einer Generation, und die heutige Jugend paßt nur noch mit Mühe durch die Türen, die für ihre kleingewachsenen Vorfahren gezimmert wurden. Der Gerechtigkeit halber muß man erwähnen, daß diese kleingewachsenen Vorfahren, unter denen bemerkenswert winzige und zerbrechliche gebeugte alte Frauchen zu finden sind, alle Weltrekorde hinsichtlich des Lebensalters gebrochen haben. Sie sind überall präsent, behende wie die Mäuschen und entschlossen wie die Pioniere. Die Anzahl derer, die hier mehr als hundert nicht gerade leichte Jahre verlebt haben, läßt diesbezüglich alle hochgelobten fortschrittlichen westlichen Demokratien weit hinter sich. Mal sehen, wie es weitergeht. Je länger ich aber im Land war und dieses Traktat schrieb, desto häufiger liefen mir auf den Straßen japanischer Städte außerordentlich großgewachsene Exemplare beider Geschlechter über den Weg. [ 223 ]

Ich konnte über das Tempo der stattgehabten Veränderungen und der Weiterentwicklung des anthropologischen Typs des Japaners direkt vor meinen Augen nur staunen. Und ich war offenbar selbst in einem solchen Ausmaß der Rasanz der Geschehnisse um mich herum unterworfen, daß meine Bekannten auf Hokkaido und in Tokio, und zwar ohne jede Überraschung, plötzlich feststellten, daß ich sie alle miteinander und jeden einzeln an japanische Freunde und Vertraute erinnerte. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Epoche hätte ich das für ein böses Omen oder ein Wunder gehalten, und ich würde es auch heute tun, wenn ich nicht das so hohe und mit nichts vergleichbare Tempo der Veränderung in unserer heutigen Welt kennen und in aller Deutlichkeit durchschauen würde. Auch Hokkaido wird nicht von den so häufigen und für das japanische Schicksal typischen Naturkatastrophen verschont. Es kommt vor, daß der Regen ganze Städte wegspült. Wenn man von den Wasserströmen auf der Straße nicht weggespült wird und Tage und Wochen eingesperrt zu Hause verbringt, so schläft man bei offenem Fenster beim gleichmäßigen Prasseln und Rauschen des Regens besonders gut. Man schläft fortwährend und ohne Unterbrechung ganze Tage, Nächte, Sonnenauf- und Sonnenuntergänge lang, die man wegen der ununterbrochen fallenden Wasserströme auch gar nicht betrachten könnte. Man schläft lange und tief. Man schläft, als wäre es für immer. Und man träumt natürlich vom Heimatland, von dem man in der Fremde immer träumt. Man träumt von irgendeinem Dörfchen, es könnte Jamischtschewo sein oder Sawedejewo. Du liegst angezogen da, eingemummelt in diverse feuchte, doch von deinem schwachen, zitternden Körper angewärmte Kleidungsstücke und Decken. Trotzdem schaudert es dich von Zeit zu Zeit wegen der durchdringenden feuchten Modrigkeit, die die Bretter deiner vorübergehenden baufälligen Sommer- oder vielmehr bereits Spätherbstbehausung ganz und gar durchdrungen hat. Dir oder vielmehr euch, der ganzen kleinen fünf-, sechsköpfigen Familie, ist es nicht gelungen, vor dem Einsetzen des öden, langen, kalten strömenden Herbstre[ 224 ]

gens von der Datscha wegzufahren. Und das ist ein Verhängnis. Ein richtiges Verhängnis. Besonders für einen Stadtbewohner, der sein Leben in einer komfortablen und gegen alle größeren Plagen der Natur abgeschirmten Großstadt zubringt. Das Geschehen draußen verstärkt die Verzweiflung und erzeugt die Vorstellung von endgültiger Ausweglosigkeit und buchstäblicher Katastrophe: Ihr steckt den ganzen Herbst, den ganzen Winter, das ganze Leben hier fest. Ihr werdet endgültig vergessen. In eure Wohnung ziehen irgendwelche seltsamen, aus dunklen Kellern hergelaufenen unheilvollen Wesen fast ohne Gesicht und Ausdruck. Eure Meldebescheinigung für die Hauptstadt wird annulliert. Deine Eltern werden wegen fast halbjährlicher Abwesenheit von der Arbeit zu fünfzehn Jahren Gefängnis oder noch mehr verurteilt. Und du irrst einsam, klein, arm, abgemagert und verlassen auf der von Regen und Unwettern aufgeweichten, grenzenlosen und abweisenden russischen Erde umher. Tatsächlich wird der Lehmboden einer durchschnittlichen mittelrussischen Gegend buchstäblich nach zwei, drei Tagen Sturzregen absolut untauglich, unpassierbar und unbefahrbar. Die Wege quellen auf wie Teig. Die zahlreichen Fahrrinnen in den kaum kenntlichen Wegen füllen sich mit trübgelbem Wasser, und dorthinein rutschen von den glitschigen Rändern unaufhaltsam kleine ebenso wie tonnenschwere Lastwagen. Von Personenwagen rede ich erst gar nicht – die wagen es nicht einmal, die Nase in einen für sie so verhängnisvollen Raum hinauszustrecken. Zur damaligen Zeit waren Luxusgegenstände wie Personenwagen im normalen Leben normaler Leute ohnehin nicht gerade häufig. Deshalb kann man auch darauf verzichten, hier davon zu sprechen. Die Buslinien vor Ort werden für die Zeit derartiger Katastrophen einfach eingestellt, bis der erste Frost kommt. Der befestigt dann die bucklige, unpassierbaren Bergausläufern ähnliche, doch schnell auf die eine oder andere Weise wieder befahrbare Straße. Düstere, unrasierte fluchende Kraftfahrer und ihre halb betrunkenen und schlaftrunkenen Begleiter schieben unter die Hinterräder des eingesunkenen, bis obenhin mit Schlamm bespritzten Wagens allerlei Zweige, Splitter von auf der Straße herumliegenden Bret[ 225 ]

tern, Lumpen. Das arme mechanische Geschöpf heult hysterisch auf und schleudert wütend das ganze Hilfsmaterial weit nach hinten, wobei es zufällig aufgetauchte Passanten oder achtlose Beteiligte des Geschehens rücksichtslos und schwer verwundet. Oder der Wagen stürzt, nachdem er sich glücklich ein paar Meter weiterbewegt hat, nun endgültig bis zum Kühler in eine andere kolossale, bis obenhin mit Schlamm gefüllte fatale Fahrrinne. Man rennt los, um den Traktoristen des Orts zu suchen, der seit zwei Wochen säuft und, wie sich gegen Abend herausstellt, auf seinem Traktor ins Nachbarstädtchen zu einem Saufkumpan oder noch weiter zu einem gewissen Weibsstück gerumpelt ist, von dem die Dörfler nicht gut reden. Es heißt, man habe gehört, im Nachbardorf gebe es auch einen Traktor nebst Traktoristen. Die halbe Nacht vergeht damit, dort hinzukommen, ihn zu finden, zu wecken, ihm, dem noch völlig Beduselten, zahlreiche zerknitterte Scheine unter die Nase zu halten, ihn fast zum Traktor hinzutragen und nach sinnlosem Herumirren mitten in der feuchten Nacht endlich zum Ort des Geschehens zurückzukehren. Der Traktorist, hochrot im Gesicht und schwer mit seiner Wein-und-Spirituosen-Fahne atmend, macht mit seinen gigantischen, unbiegsamen Fingern das Schleppseil fest, das bei der ersten Anspannung reißt. Der Traktorist flucht, klaubt mit seinen groben Fingern, die für eine solche Feinarbeit wie das Herausholen einer Zigarette aus der Packung und ihr Anzünden mit Streichhölzern ungeeignet sind, dann doch eine Zigarette heraus und steckt sie an. Danach verbindet er auf geheimnisvolle Weise wieder Auto und Traktor, und das Seil reißt wieder. Er befestigt es noch einmal, und es reißt noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Schließlich kriecht dieser seltsam zusammengeschusterte KombiOrganismus-Mechanismus von Traktor, Auto und bereits in Hysterie verfallenen Leuten röhrend, brummend, schreiend, schweigend und polternd den Abhang hoch, kippt zum Schrecken der wenigen Beobachter um und kracht wieder herunter, wobei er sich überschlägt und die Teilnehmer der Aktion unter sich begräbt. Bis zur halbwegs passablen Schotterstraße sind es etwa zehn Kilometer, doch die schafft fast niemand. Jedenfalls bewahren Ge[ 226 ]

dächtnis und Tradition der Einheimischen niemanden, der mitten in der Regensaison diese tote Zone überwunden hätte. Es ist ein Unglück, wenn der Regen eine oder zwei Wochen vor dem obligaten und genau berechneten Abreisetermin der ganzen Familie losströmt, die so schlau gewesen war, ausschließlich der billigen Unterkunft und Verpflegung wegen den ganzen Sommer so weit von Moskau weg zu verbringen. Vater, der nur für einige Tage herausgekommen ist, um die Operation des Abtransports der Familie durchzuführen, schaut fast stündlich besorgt zum bedeckten, sich nicht aufklärenden Himmel empor. In riesigen quatschenden Gummistiefeln geht er die ganzen zehn Kilometer des schon aufgequollenen Weges ab, mißt die Tiefe der Fahrrinnen und legt in Gedanken mögliche Stege für den Lastwagen, den er in seiner Firma schon zusammen mit dem unentbehrlichen georgischen Fahrer Mischa bestellt hat. Mischa ist ehemaliger Ringer und stolz darauf, daß er unter unglaublichen Schlammwetterbedingungen bei einem Tempo, bei dem anderen schon glatt das Steuer aus den Händen gerissen wird, es festhalten und über die gefährlichsten Wegstrecken hinwegschnellen kann. Doch das hier kann er wohl auch nicht schaffen. Vater nimmt mich mit zu Rekognoszierungstätigkeiten. Ich fühle eine unerhörte, einfach unerträgliche Verantwortung auf meinen zarten zehnjährigen Schultern lasten. Ich runzle die Stirn wie Vater und brumme des Ernstes und der Ordnung halber vor mich hin. Doch die Verantwortung hat mich schon längst zermalmt, und Vater behält seine schlimmsten Befürchtungen für sich. Wir kehren erst in der Dämmerung heim. Mutter sieht unseren leeren Gesichtern die fast hoffnungslose Situation an und versucht uns irgendwie zu beruhigen und abzulenken. Wir legen uns alle in die feuchten Betten, und Mutter beginnt uns beim Schein der Petroleumlampe unter allgemeinem tödlichen Schweigen „Verbrechen und Strafe“ vorzulesen. Sie liest gut und ausdrucksstark. Als sie müde wird, übergibt sie das Buch an die Schwester, die ebenfalls mit viel Betonung liest. Schon sind die Alte und ihre Gesellschafterin ermordet, schon ist der Held auf der Flucht, schon ist er an allem verzweifelt außer einzig an der bei irgendeiner sibirischen Zwischenstation zu ihm gestoßenen ar[ 227 ]

men, verkrüppelten, schwachen jungen Frau. Sie betet die ganze Zeit, er aber hastet mit automatenhaften Napoleonschritten wie ein Tier unter der niedrigen Decke der dunklen, feuchten Hütte immer wieder vom Fenster zum Ofen, der im Dämmer des unbeleuchteten Zimmers zu einem weißen Phantom verschwimmt. Das Ende ist unbekannt, aber unausweichlich. Als die Reihe zu lesen an mich kommt, schlafe ich schon und träume, daß unsere auch auf die Datscha herausgebrachte rote Katze es irgendwie geschafft hat, aus der dunklen Hütte zu schlüpfen, aber sofort mit dem Schwanz in der dicken gelben Pampe steckengeblieben ist und ihn nicht mehr herausziehen kann. Die Sache eilt, denn die Pampe wird hart. Ein Stallknecht von hier, Onkel Koljunja, kommt mit einer Axt und will den feststeckenden Teil des Schwanzes abhacken. Die Katze erschrickt, spannt alle ihr verbliebenen Kräfte an und beginnt, mit menschlicher Stimme zu sprechen. Alle erstarren vor Schreck und fangen auf der Stelle an, die Katze zu trösten und zu streicheln, die aus irgendwelchen Gründen schon auf dem großen Sofa in unserer Moskauer Wohnung sitzt und immer noch mit menschlicher Stimme heult: Aauuuu, es tut weeeeh! – Am Morgen dasselbe. Keine Hoffnung auf Aufklärung. Man könnte natürlich versuchen, bei eben jenem Stallknecht der Kolchose, Onkel Koljunja, einen Leiterwagen und ein unsinkbares Pferd zu organisieren. Das einzige Transportmittel, das unter diesen Umständen einsatzfähig ist. Man könnte sogar die unter diesen Umständen und mit diesen Akteuren schwer realisierbare Verkoppelung der Transportmittel und das Umladen unseres zahlreichen kleinteiligen Hausrats vom Leiterwagen auf den Lastwagen draußen auf der Schotterstraße in Angriff nehmen. Doch das Problem besteht darin … Im Grunde genommen gibt es viele Probleme. Eine unzählige Menge von Problemen. Nahezu unüberwindliche Probleme. Wenn wir ein für drei Monate gemietetes vollkommen leeres Haus auf dem Land beziehen, nehmen wir alles mit, wovon man glauben oder annehmen könnte, daß es im harten, wenig komfortablen Dorfleben für verwöhnte Stadtbewohner unentbehrlich ist – Petroleumkocher, [ 228 ]

Primuskocher, Klappbetten, Bettwäsche, Geschirr, Tassen, Messer, Gabeln und Löffel, Teekannen, Aluminiumkannen, Gläser zum Einkochen und Deckel dazu, Pfannen, Töpfe, Kleidung für heißes und für kaltes und regnerisches Wetter, Stiefel, Überschuhe, Schirme, Regenmäntel, feste Schuhe, Sandalen, Spielzeug, Medikamente, Wattejacken, Pullover, Wollsocken, ein Klistier, Verbandszeug, Medikamente, Grütze, Nudeln, Salz, Zucker, Streichhölzer, Seife – all das gibt es in der nächsten Umgebung nicht –, sogar Stühle und Schränke. Elektrischen Strom gibt es im Dorf nicht, deshalb nehmen wir den Kühlschrank nicht mit. Dafür nehmen wir Kanister mit Petroleum, Petroleumlampen und Kerzen mit. Außerdem Bücher, Unterrichtsmaterial, Fußbälle, Schläger, eine Hängematte, Kescher zum Fangen von Käfern und anderen Insekten, zahllose Bündel und alle möglichen Kleinigkeiten, an die man sich nicht einmal mehr erinnern kann. Das ergibt einen ganzen Pritschenwagen von der Autofabrik Gorki, brechend voll bis obenhin, mit einer Plane bedeckt, die bei den heftigen Stößen des Herbstwinds flügelartig unter den Seilen hervorflattert, mit denen sie verschnürt ist. Das klapprige Pferd von Onkel Koljunja ist nicht in der Lage, diese Last zu ziehen, noch dazu bei Regen, bei solchen Fahrrinnen und ohne Enthusiasmus. Ja, und noch ein großes Problem – unsere beiden eingeschrumpften achtzigjährigen Omas. Normalerweise passen sie zu zweit problemlos auf den freien Sitzplatz neben dem Fahrer, und durch die Windschutzscheibe sieht man dann ihre identischen eingeschrumpften, fast pionierartigen besorgten grauen Gesichtchen. In der Fahrerkabine gelangen sie bis zur Schotterstraße und warten dann still und ruhig auf uns, bis wir sie zu Fuß in einer halben Stunde eingeholt haben. Zusammen besteigen wir den kleinen halbvollen Bus, der uns bis zum nächsten Haltepunkt befördert, und von dort aus geht es mit der Vorortbahn nach Moskau. Vater fährt im Laster mit und hat bis zu unserer Ankunft zu Hause mit dem Fahrer bereits alles ausgeladen und einiges sogar schon auf den alten Platz gestellt. Wir stürmen in unser liebes Zimmer in der übervölkerten Kommunalwohnung, und unsere Augen füllen sich fast mit Tränen der Rührung beim Anblick des bekannten, stabilen, sinnvollen und [ 229 ]

tröstlichen Daseins. Es schleichen sich sogar rebellische Gedanken über die Fahrt auf die Datscha ein, als sei sie ein spezieller Haltbarkeitstest, um den Wert der so leicht zu zerstörenden rettenden Lebensroutine zu bestätigen. Und ein noch rebellischerer Gedanke – vielleicht sollte man im nächsten Sommer auf die Datscha verzichten. Doch während des Winters vergißt man das alles natürlich, und im nächsten Jahr wiederholt sich das Ganze im selben Umfang, in derselben Reihenfolge und sogar in den konkreten Details. Zwei, drei Stunden im Regen auf dem Leiterwagen durchgerüttelt zu werden geht eindeutig über die Kräfte der Omas. Sie sind sehr, sehr alt und hantieren den ganzen Tag über langsam im Haus herum. Manchmal schleichen sie auf den Vorplatz oder sitzen in der schwachen Abendsonne nebeneinander auf einem Baumstamm in der Nähe vom Haus. Wenn wir aus dem Wald zurückkommen, wo wir auf der Suche nach Pilzen, Nüssen, Beeren herumgestreift sind, begrüßen wir sie, und sie gehen mit uns ins Haus und stellen uns das Essen auf den Tisch. Koljunja ist generell unzuverlässig, und die Operation der Verkoppelung erfordert besondere Präzision, weil das Auto nur für einen Tag zur Verfügung steht, für den Sonntag. Bis Moskau braucht man immerhin fünf Stunden. Tja, so gibt es allerhand Probleme. Außerdem könnte Koljunja zu saufen anfangen und im letzten Moment absagen – ihm kann es ja egal sein! Oder ein Rad springt ab. Oder das Pferd hat plötzlich Durchfall gekriegt und liegt mit Fieber im Stall. Mit Gewalt bekommst du es ja nicht auf die Beine. Also scheint das Unternehmen mit Pferd, Leiterwagen und Umpakken völlig hoffnungslos zu sein. Das höchste der Gefühle ist es, wenn Koljunja zur nächsten Siedlung zockelt, um Brot für die wenigen Datschenbewohner zu holen, nachdem er vorab den kargen Lohn von ihnen eingesammelt hat, was denen, die ihn geschickt haben, eine gewisse Hoffnung im Herzen läßt, daß er am Abend oder am nächsten Tag wiederkommt, und das in nicht völlig degeneriertem Zustand und wenigstens mit irgendeinem Brot. Also sollte man lieber auf Natur und Wetter, das heißt auf eine Wetterbesserung, vertrauen. Vater und ich, wieder verzagt, gehen [ 230 ]

die ganze hoffnungslose Trasse ab und kommen schweigend unter dem schweigenden Blick der bereits alles verstehenden und im voraus wissenden Mutter nach Hause zurück und kriegen ein warmes Essen vorgesetzt. Doch plötzlich klärt es während der nächsten drei Tage schlagartig auf, und unabhängig von unseren schlimmsten Erwartungen und all den unerfüllbaren Ratschlägen der anderen bricht die Sonne durch und trocknet rettenderweise ein kleines bißchen den Weg, was ihn wenigstens irgendwie passierbar macht. Wir werden wieder fröhlich. Der Abreisetag ist nahe, und alles wird womöglich gutgehen. Entsprechend angezogen laufen wir zum letzten Mal in den Wald, um die letzten, aber durchaus nicht spärlichen Pilze zu sammeln. Der Fahrer Mischa kommt. Der Himmel zieht sich wieder ein klein wenig zu. Mischa ist nervös und hat es eilig. Mutter überredet ihn trotzdem, von den frisch gepflückten gebratenen Pilzen zu probieren. Wir essen nervös und hastig, und Mischa fährt mit den Alterchen ab und schafft es wirklich, vor einem schwer herabströmendem Regenguß durchzukommen, der sie und uns Fußgänger erst auf der rettenden Schotterstraße erwischt. Und alles endet gut. Und du wachst glücklich auf. Und hier hat der japanische Regen offenbar schon aufgehört. Und nichts und niemanden weggespült. Und das Leben geht in der Hitze und der irrsinnigen erstickenden hiesigen Feuchtigkeit geruhsam weiter. Allerdings halten die hin und wieder auf Hokkaido vorkommenden Erdbeben den gewohnten Gang des Lebens auf Jahre hinaus an. Am Morgen oder, was noch unangenehmer ist, mitten in der Nacht beginnt etwas Unerklärliches. Du fährst auf und schaffst es gerade noch, aus dem hinter dir einstürzenden Haus nach draußen zu springen. Unten, im Talkessel der Stadt, flammen wie ein abstoßendes, aber gleichzeitig freudespendendes, aufwühlendes und faszinierendes Feuerwerk zahlreiche Brandherde auf, die schnell zu einer einzigen wild brüllenden, doch von hier aus noch nicht hörbaren Brunst anwachsen. Du hast noch etwas mehr als zwanzig Minuten. Das Epizentrum des Erdbebens liegt im Meer, etwa fünfzig Kilometer von hier. Die ihm folgende gigantische Welle, zweiunddreißig [ 231 ]

bis vierunddreißig Meter hoch, wird genau nach diesen zwanzig Minuten hier sein. Doch eine Flucht hätte kein Ziel und auch keinen Zweck. Du trittst etwas zur Seite und siehst einfach schicksalsergeben zu, wie sich dir die fürchterliche Wand grauenhaft heulenden Wassers langsam und majestätisch wie auf Stelzen nähert und, indem sie buchstäblich alles Benachbarte und Lebende abschneidet, mit ihrem Rand in einem Abstand von etwa anderthalb Metern an dir vorbeirauscht. Das sich dahinter ausbreitende Wasser füllt Talkessel und Senkungen, wobei es dir an der Stelle, wo du auf der Anhöhe zu stehen kamst, gerade mal die Fußknöchel bedeckt. Du machst ein paar schwache, unsichere Schritte auf die Grenze zu, wo der frohlokkende Tod vorüberging, und siehst eine Schlucht, einen Abgrund ins Nichts, ins Dunkel, woraus nur noch unklares Dröhnen und Schmatzen dringt. Langsam, fast auf allen Vieren, taumelst du von der Stelle weg, wo das Leben dem unverwechselbaren Tod begegnet ist, und gehst in eine unbekannte Richtung davon. Beim nächsten Mal, wenn du nach einem oder zwei Monaten in diese Gegend zurückkehrst – da herrscht ringsum erneut ein sorgloses, an nichts zurückdenkendes und bereits wieder in alle Richtungen kolossal angewachsenes Leben. Darin liegen seine Rettung und seine Größe – in der Unkenntnis der eigenen Zerbrechlichkeit und Unverbindlichkeit. Im Grunde ist alles an diesem Leben erhaben – es selbst, sein destruktives Element, die Energie, mit der beständig neue Opfer und neues Material bereitgestellt werden, sei es für die strafende Hand des himmlischen oder sonst irgendeines Zorns oder einfach für ein endloses, Jahrhunderte währendes, gleichgültiges Atmen, Gähnen, Niesen, also etwas durchaus Physisch-Inexpressives. So versiegt zum Glück nun schon, wie oben angekündigt, jede Kraft, der Außenwelt noch von irgendwelchen Dingen aus dem inneren Japan zu erzählen außer von seinem totalen Untergang oder Desaster und seinem anschließenden restlosen Verschwinden vom Erdball und aus unserem Gesichtskreis. Man müßte noch tiefer in es eindringen, in sein tiefstes Inneres, wie in ein Schweigen. Vielleicht existiert dort noch etwas, hat sich erhalten. Und erst aus dem letzten [ 232 ]

Schweigen heraus könnte man dann, sich mit einem letzten irrationalen Aufbäumen hinaufkatapultierend wie ein Fisch, unseren Moskauern und Beljajewo-Leuten etwas Endgültiges und Unverzichtbares zuschreien, was sie in jedem Fall wissen müssen: Hier kennt uns keiner! – Hier haben sie ein eigenes Leben! – Hier haben sie überhaupt nur ganz eigene Sachen! – Und wirklich, hier gibt es nicht nur ferne und völlig andere historische Voraussetzungen und kulturelle Gewohnheiten, sondern rein geographisch ist alles sehr, sehr weit weg. Stellt euch mal vor, wo das ist. Für die liegt Rußland wiederum in der Nähe, wie Sachalin zum Beispiel oder notfalls Wladiwostok. Moskau kennen natürlich manche. Aber es ist irgendwo da hinten. Sie fragen: Ist Moskau weiter weg als Leningrad? – In welche Richtung weiter weg? Von wo aus weiter weg? Für wen weiter weg? Für mich ist alles nah. – Trotzdem, weiter oder näher? – Ach, ich weiß es selbst nicht. – Ja, sie haben ihre eigenen Probleme. Mir kommt ein Gespräch in den Sinn, das allerdings in Südkorea stattfand, aber trotzdem. Ich, ein koreanischer und ein litauischer Künstler saßen im Café, entspannt vom Wetter und einer gerade erfolgreich eröffneten Gemeinschaftsausstellung. Wir saßen dort nett und lange. Der Koreaner war so gerührt von den Erzählungen über das schöne, unabhängige Litauen, daß er träumerisch meinte: Ich wäre sehr gerne einmal in eurem wunderbaren Litauen. – Kein Problem –, antwortete der Litauer engagiert. Überhaupt keins –, bestätigte ich. Der Satzwechsel fand natürlich in einem Behelfsenglisch statt. Komm hin. Ich lade dich ein –, fuhr der Litauer fort. Nein, da ist Krieg, bei euch –, sagte der Koreaner zweifelnd. Aber nein. Krieg ist in Jugoslawien, nicht bei uns. – Das Gespräch fand im Herbst 1996 statt, in dem so fernen, fast schon unvorstellbaren Jahr. Sag ich doch, in der Gegend da –, schloß der Koreaner. [ 233 ]

Und daran ist nichts Seltsames. In Amerika hat man mich zum Beispiel gefragt: Rußland, ist das in Moskau? – Sicher, sicher. – Und Georgien, ist das auch in Moskau? – Nein, nein, das ist schon nicht mehr in Moskau. – In Kaliningrad wiederum weigerte man sich rundheraus, von einer meiner Bekannten ein kleines Päckchen in die Schweiz anzunehmen, weil man glaubte, sie habe etwas verwechselt. Daß es Schweden gibt, wußten sie, es liegt nicht weit weg, nicht gerade um die Ecke, aber irgendwo in Skandinavien. Dann gab es noch andere Länder, die sie genau kannten – Finnland, Deutschland, Italien, Frankreich, England und einige andere. Doch die Schweiz existierte nicht für sie. Die herbeigerufene Filialleiterin konnte in keiner Weise behilflich sein und mochte auch nicht an die Schweiz glauben. Irgendwelche Nachschlagewerke waren nicht zur Hand. Man mußte bei den höchsten leitenden Stellen anrufen, wo jemand dann doch von der Existenz der Schweiz wußte und sie bestätigte. Mit beleidigt zusammengekniffenen Lippen nahmen die Postangestellten schließlich das Päckchen entgegen und murmelten: Na, wir wissen ja nicht … Und tatsächlich, sie wußten es eben nicht. Und machten auch danach keine besonderen Anstalten, es zu wissen. Daher wirkt es einfach wie ein Wunder, daß man hier unsere Literatur kennt. Natürlich, Tolstoi, Dostojewski und Tschechow sind reale Popgrößen der japanischen Hochkultur. Aber ich rede vom aktuellen Stand der Dinge in der Literatur. Sie kennen ihn. Und nicht nur ihn. Sie erwähnen zum Beispiel die Namen Kurjochin und Grebenschtschikow, staunen über Kabakov und Infante. Gut, es geht natürlich um Slawisten-Spezialisten. Aber trotzdem. Bei uns an der Moskauer Universität zum Beispiel kennt man bis heute solche und ähnliche Namen nicht. Für sich genommen, einzeln, im Privatleben, kennt man sie möglicherweise. Aber in der Eigenschaft eines verehrten russischen Hochschul- und Kulturfunktionärs – nein, da nicht. Verantwortungsvoll und feierlich will man nichts von ihnen [ 234 ]

wissen. Aber was soll’s. Ich bin ins Plaudern geraten. Lieber erzähle ich zum Beispiel noch von etwas echt Japanischem. Ich halte fest, daß eigentlich fast alles, was wir als authentisch japanisch schätzen, im wesentlichen aus China hierhergekommen ist – Karate, Judo, der Buddhismus und seine vielfältigen Zen-Spielarten. Auch das Sumo-Ringen kam anscheinend aus der Mongolei über China hierher. Und ebenso andere Kulturgüter, die sich, wenn man ein wenig in der Geschichte herumstöbert, unweigerlich als Varianten chinesischer bildender Kunst oder lyrischer Stilmittel im Verein mit dem Schriftsystem erweisen. Doch natürlich nicht ohne eigene originelle Beiträge und manchmal sogar radikale Verbesserungen. So erfanden die Japaner zum Beispiel auf den Spuren des chinesischen Wedelfächers den eigentlichen Klappfächer. Eine, wie wir festhalten, bedeutende Erfindung, die sogar als selbständiges, speziell anzumeldendes Patent angesehen werden kann. Allerdings kämpfen die Japaner nicht besonders um die Priorität im Bereich von Entdeckungen und Erfindungen und leiden nicht am Stellvertreterkomplex. Nicht wie in unseren ruhmreichen, zähflüssigen Sowjetzeiten, als meine Schulfreunde witzelten: Einsteins Relativitätstheorie, begründet von dem großen russischen Gelehrten Odnokamuschkin. Oder es gibt da noch diese reizende Geschichte zu dem Thema, die mir ein lieber georgischer Bekannter erzählt hat. Er war im Haus eines wohlhabenden Deutschen zu Gast. Frühmorgens wacht er mit dickem Kopf auf, weil er zu viel gesoffen und zu wenig geschlafen hat, und geht mit saurem Gesicht nach unten. Da steht schon sein Gastgeber, blitzblank, frisch geduscht, frisch rasiert, in weißem Hemd, duftend und vom hellen, durch das riesige klare Fenster fallenden Morgensonnenlicht übergossen. In den Händen hält er eine Geige. Eine weiße Serviette auf die Schulter unter die Violine geschoben, neigt er ihr seine zarte rundliche Wange zu und entlockt ihr unübertrefflich durchdringende Töne. Auf dem Notenständer vor ihm atmen gleichsam im sanften Wind, der durch die angelehnte Verandatür dringt, die sich leicht hebenden Noten von Bachs großer Chaconne. Ein unfeiner und undankbarer Neid erfaßt den im Grunde [ 235 ]

gutmütig und freundlich veranlagten Georgier. Ha, er hat sein Leben lang den leidenschaftlichen Wunsch gehabt, ein Instrument spielen zu lernen! Er hat nicht einmal gewagt, an ein so aristokratisches wie die Geige zu denken – aber wenigstens irgendeins! Doch nein, es hat nicht geklappt. Nicht geklappt! Nicht geklappt! Nicht geklappt! Vom Saufen brummt der Schädel, alle Glieder tun ihm weh. Das Leben scheint mißlungen und mißglückt. Und er bekommt Lust, den vollgefressenen Bourgeois auf raffinierte Weise zurechtzustutzen. Am selben Tag, ein wenig später, sitzen sie im Auto des Deutschen, und mein Bekannter beginnt mit heimtückisch sanfter Stimme: Wissen Sie, die Armenier sagen, daß Bach gar kein Deutscher war, sondern Armenier. – Keine Reaktion. Der Georgier nimmt an, sein Deutsch oder Englisch (in welcher Sprache haben sie sich wohl verständigt?) wäre nicht gut genug oder nicht ohne weiteres verständlich, und er wiederholt, bereits mit Nachdruck und Betonung: Wissen Sie, die Armenier, die sagen, daß Bach überhaupt kein Deutscher war, sondern ein hundertprozentiger Armenier! – Wieder keine Reaktion. Schon leicht gereizt und hartnäckig, ja mit einer nachgerade garstigen Stimme schreit er nun fast: Sie verstehen wohl nicht! Sie verstehen wohl nicht! Die Armenier sagen, daß euer Bach überhaupt nicht euer Bach ist! Er ist kein Deutscher! Er ist Armenier! – Das ist deren Problem! – erwidert der Deutsche ungerührt. Wahrscheinlich ist es bei den Japanern genauso. Nachdem sie notwendige und hinreichende Veränderungen durchgeführt haben, geben sie sich völlig zufrieden mit den Dingen ringsum, unabhängig davon, wann und wo sie hervorgebracht wurden. Als Beispiel dafür kann auch der erst jetzt bekannt gewordene und an die Öffentlichkeit getretene Zweig einer Kampfsportschule gelten, eine spezielle Karateschule, die derzeit auf Okinawa verbreitet ist. Lange hatte niemand auch nur von ihr gehört. Ihre Adepten und Schüler verbargen sich hinter dem Schleier vollständiger An[ 236 ]

onymität. Doch jetzt ist sie zum Vorschein gekommen, wurde von speziellen Beamten einer speziellen Kriminalbehörde auf ihre Gefahrlosigkeit für die Staatsordnung und das Wohlergehen und moralische Befinden seiner Bürger hin überprüft. Einige diesbezüglich vorhandene ernste Zweifel und sogar Vorbehalte konnten, wenn auch unter Schwierigkeiten, ausgeräumt werden. Ihre Besonderheit besteht nun darin, daß die Kämpfer dieser Schule ihren Gegner nur mit dem Atem besiegen, allein mit dem Atem und ausschließlich mit dem Atem, aber einem machtvollen und unabwendbaren. Ja, nicht mit plumpen katzenartigen Hampeleien von Armen und Beinen, nicht mit wilden, unästhetischen Schreien, die für andere Schulen typisch sind und die die zahlreichen Zuschauer der kitschigen Filme mit Bruce Lee und Jackie Chan so lieben. Nein, diese Leute räumen einen Gegner in vollkommener Stille und Reglosigkeit aus dem Weg, absolut unmerklich für ihre Umgebung wie auch für den Besiegten selbst, der sich plötzlich in tödlichem Koma auf der Erde wiederfindet. Es geht also hauptsächlich um eine lang andauernde und durchdachte Kumulation und Konzentration des Atmens, des berühmten hinduistischen Pranas. Sicher, die Quellen dieses Vermögens liegen in den bekannten Askese- und Yogapraktiken des alten Indien und ihren tibetischen Abwandlungen. Seit alters und bis heute existieren in den vor fremden Blicken verborgenen Klöstern des tibetischen Hochgebirges, wo geistig hochentwickelte Lamas auf Levitation spezialisiert sind, Methoden und Technologien der Kumulation des Pranas und der Fähigkeit, es durch einen einmaligen Impuls nach außen in die nötige Richtung zu schleudern, um den reaktiven Effekt der Levitation oder, sagen wir, einen direkten Effekt zu erzielen, etwa die Ausschaltung eines wilden tollwütigen Tiers. Anfänger nun fangen mit dem einfachsten an – sie nehmen die Lotusposition ein und verharren darin, verstopfen dabei alle Öffnungen des menschlichen Organismus und versenken sich in undurchdringliches Schweigen. Mit der linken Ferse verstopfen sie den hinteren Ausgang, mit der linken Hand das linke Ohr und das linke Nasenloch, das rechte Nasenloch und das rechte Ohr entsprechend mit der rechten Hand. So vergehen Jahre. Die anschließenden [ 237 ]

Etappen beinhalten das Erlernen und allmähliche Beherrschen der Fähigkeit, die Poren der gesamten Hautoberfläche und andere mikroskopische Kanäle des Energieabflusses zu verschließen, sogar so winzigkleine wie die inneren Kapillaren der Haare. Und das geschieht natürlich unter ungeheurer ununterbrochener Konzentration der Aufmerksamkeit auf die zentrale Stelle des Pranasitzes – eines Punkts etwas unterhalb der Bauchmitte. Damit vergehen ebenfalls Jahre. Klar, hier muß man sofort an die byzantinischen Hesychasten denken, die tatsächlich, in Übereinstimmung mit der allgemeinen, weltweiten esoterischen Praxis, den Sitz des erhabenen Lichts genau an diesem Punkt verortet und ihr ganzes Leben in seiner Betrachtung und in Entrücktheit verbracht haben. Nach langjährigem Training beherrschen die fortgeschrittenen Insassen tibetischer Klöster die wundersame Fähigkeit, über den Spalten und Klüften der wilden Gebirge zu schweben, über den hoch aufragenden Eiskappen der Gipfel und über ihrer früheren kleinen Heimat, dem Kloster, wo, verborgen vor Menschenblicken, ihr Leben verstrichen ist, ein geheimes und gesammeltes Asketenleben. Sie tauchen unerwartet an den unerwartetsten Orten und zu den unwahrscheinlichsten Zeiten auf. Von der ununterbrochenen Anspannung wird ihr gesamtes vegetatives Gefäßsystem direkt an die Oberfläche der Haut gedrückt, was ihr ein magisches Marmormuster verleiht. Auf diese Weise ermittelt man auch die Wissenden und Eingeweihten, die sogenannten Marmorhäute. Zuverlässigere Informationen über sie gibt es nicht. Praktisch niemandem, nicht einmal den penibelsten Forschern, ist es gelungen, weiter als bis zum oben Dargelegten vorzudringen, da es den Adepten dieser Lehre, die ein so unglaubliches Können entwickelt haben, keine Schwierigkeiten bereitet, die Absichten und kümmerlichen Finten der normalen Bewohner entlegener Ebenen zu durchschauen. Aufgrund ihrer Fähigkeit, das Prana zu konzentrieren und es mit einer blitzartigen Anstrengung wie ein Bündel in Richtung Gegner zu stoßen, sind die Mitglieder der von uns beschriebenen Karateschule imstande, alles und jeden auf der Welt zu besiegen, an jedem beliebigen Ort, ohne sich auch nur vom Fleck zu rühren. Gut, [ 238 ]

vielleicht geraten sie im Moment der Energieabgabe durch den reaktiven Rückstoß in ein leichtes Schwingen oder Schwanken. Bei alledem erinnern sie an ein geplantes und von amerikanischen Strategen heißersehntes, aber in nächster, absehbarer Zeit wohl kaum realisierbares Raketenabwehrsystem. Das einzig echte und nicht imitierte Erzeugnis der japanischen Seele war das mächtige, erhabene Samuraiwesen, das heute beinahe völlig ausgemerzt, wie vom Erdboden verschluckt, nicht mehr aufzufinden ist, es sei denn, es tritt in gewissen Ausbrüchen von sportlichem Patriotismus zutage. Vorbild für die heutige Jugend ist durchaus nicht der legendäre Mishima (der mit seiner romantischen Predigt und seinem schwarzprächtigen Selbstmord auch damals keinen besonderen Einfluß auf die Köpfe der Jugend besaß), es sind die üblichen Verdächtigen – John Lennon, Madonna, Sharon Stone, Mike Tyson, Bill Gates und so weiter. Ich werde sie nicht alle aufzählen – wir kennen sie aus unserem eigenen schlichten Leben zur Genüge. Also, so sonderbar und traurig das auch ist, Japan kann in seinem innersten Wesen relativ schnell erfaßt werden und überläßt Illusionen und Hoffnungen auf etwas Unbegreifliches den Tiefen und Räumen des großen China. Für eine klarere und, äh, anschaulichere Erläuterung dieses Gedankens erlaube ich mir wieder, ein eigenes kleines Gedichtchen zu präsentieren: Da ich nun meist japan’sche Speisen esse Und sie mit den chinesischen vergleich’ In den japanischen den Sinn ich leicht ermesse In den chinesischen – versucht man auch den Streich Ihn zu vergleichen mit der Artvi Iele – Ist er noch eingehüllt in derart viele Neben- und Hintersinne Daß man anfängt, die Wahrheit jeder direkten Aussage über ihn anzuzweifeln.

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Aber das Samuraiwesen ist, frappierend genug, verschwunden. Ja, ja, wie vom Erdboden verschluckt. Es hat sich nur noch in Filmen von Kurosawa und ähnlichen Regisseuren erhalten. Andererseits, warum sollte das überraschen? Offenbar ist der konkrete Äon der japanischen Samuraikultur zu Ende gegangen. Etwas Ähnliches passiert jetzt in Rußland, wo ebenfalls der große Äon der russischen Kultur zu Ende gegangen ist, es aber dennoch die Illusion seiner Fortsetzung oder Wiedergeburt gibt, die dann wieder Pseudomorphosen der großmächtigen und räumlich unüberschaubaren russischen Staatlichkeit, der Imperialität und der orthodoxen Religion erzeugt. Doch besonders überraschen muß das nicht. Wer weiß denn jetzt noch, was ein Kummetbügel ist? Ich weiß nicht einmal, ob ich das Wort richtig ausgesprochen, vielmehr richtig geschrieben habe. Und außerdem weiß ich nicht, was für ein konkreter Gegenstand damit gemeint ist. Irgendein Zubehör für Pferde. Dabei standen noch buchstäblich vor einem halben Jahrhundert 90 Prozent der Erdbevölkerung in ihrem Alltag und ihrer Arbeitstätigkeit in enger Verbindung mit dem Pferd. Im Verlauf von Jahrtausenden ist das Bild des Pferdes so unverrückbar in Alltagskultur und Mythen des Menschen eingegangen, daß es schien, als könnte keine Macht es dem menschlichen Bewußtsein wieder entziehen. Und doch entschwand es. Das Herrliche, Erhabene und unwiderstehlich Anziehende entschwand. Entschwand und hinterließ nur eine schwache nostalgische Spur. Warum soll dann das Verschwinden des noch jungen Samuraiwesens oder der berüchtigten russischen, nach historischen Maßstäben noch nicht lange bestehenden, scheinbar so wehrhaften Religiösität überraschen? Nein, es ist heute nicht mehr das Wahre, weder bei denen noch bei uns. Nicht so wie damals, als der Kusin meiner Frau als Kind in China über die verschlungenen Pfade des unübersehbaren Gartens kurvte, in dem außergewöhnliche, duftende südchinesische Blumen blühten, und schrie: Ich bin nicht Kolja! Ich bin nicht Kolja! Ich bin Mashuda-san! – Und wirklich, er war Mashuda-san, ein kleiner Japaner, der Sohn von Mashuda-san dem Älteren. [ 240 ]

Das erfordert eine Erklärung. Meine Frau ist in China geboren, und entsprechend hatte der kleine Bin-nicht-Kolja, sondern Mashuda-san, der Sohn der Schwester ihres Vaters, also ihr Vetter oder Kusin, zwei Namen, einen russischen und einen japanischen. Einen japanischen deshalb, weil China zu der Zeit gerade einer recht barbarischen und grausamen japanischen Okkupation unterworfen war. Allerdings war Mashuda-san der Ältere, Mashuda Yamomoto, den Erinnerungen meiner Frau nach ein friedlicher und recht sympathischer Ingenieur, der mit ihrem Vater in einer englischen Firma zusammenarbeitete. Den Vater meiner Frau wiederum hatte es aus allseits bekannten und mittlerweile völlig entschuldbaren Gründen im Zusammenhang mit der weißen Emigration nach China verschlagen. Früher mußte man das verschweigen. Jetzt kann man offen darüber sprechen, sogar mit einem gewissen Anflug historischen Stolzes. Zur Zeit der denkwürdigen tragischen Ereignisse im Oktober 1917 in Petersburg war er Schüler einer Kadettenanstalt. Er durchschaute zwar nicht gerade alle politischen und ideologischen Feinheiten des Geschehens, aber da er die reale Gefahr für seinen ganzen Stand und für sich selbst erkannte und einfach körperlich spürte, beschloß er, sich nach Süden durchzuschlagen, zu seinem Vater nach Taschkent. Sein Vater war General Burow, der Mitstreiter des berühmten Generals Skobeljew bei der Eroberung von Turkestan und nach dessen Tod sein Nachfolger auf dem Posten des Generalgouverneurs des Turkestaner Militärbezirks (oder wie man das im Zarismus nannte). Ich war in Taschkent und habe mir die Palastresidenz meines Verwandten angeschaut, die später natürlich zum Pionierpalast wurde. Ein Prachtgebäude in verschlungenem und betörendem Jugendstil. Und ich war auch von ihm betört und einfach deprimiert über die verlorene Perspektive, sein Erbe und Besitzer zu werden. Ich stellte mir vor, wie ich als Gatte der einzigen geliebten Tochter des Generalgouverneurs das sengende und gleißende Taschkent besuche und mich für längere Zeit in dem Palast niederlasse. Ich schwelge in Genüssen. Der Gouverneur steckt von morgens bis abends bis zum Hals in seiner verantwortungsvollen Gouverneurstätigkeit. Seine Frau und seine Tochter, also meine [ 241 ]

Frau, widmen sich mit ganzem Herzen einer edlen karitativen Tätigkeit, indem sie den Kindern der Einheimischen die Anfangsgründe der Hygiene und richtigen Ernährung beibringen. Von Enthusiasmus erfüllt, sind sie fast ständig abwesend. Morgens werfen sie mir Schlaftrunkenem voller Eifer und feierlichem Engagement durch die halb geöffnete Tür meines hellen, hohen Schlafzimmers eine Kußhand zu und flattern wie die Schmetterlinge in den offenen gleißenden Raum hinaus. Ich stehe am späten Vormittag alleine auf und schlendere in der schon siedenden Luft im Schatten ausladender Bäume durch den prachtvollen Garten. Von ferne ertönen schrill die Rufe der schon seit langer Zeit hier angesiedelten Fasane. Der usbekische Gärtner in buntem Kittel und mit rundem Käppchen, dem ich begegne, verbeugt sich und hebt sein immer lächelndes Gesicht ein Stück. In seiner Hand blitzt ein riesiges fürchterliches Messer. Salam aleikum! – Er lächelt noch breiter. Salam aleikum! – antworte ich mechanisch und nachlässig. Im hintersten Winkel des Gartens, den ich wegen seiner völligen Verwilderung so liebe, gibt es plötzlich unerwarteten Betrieb. Eine Gruppe mürrischer russischer Soldaten, abkommandiert zu Renovierungsarbeiten, streicht den abgeblätterten Zaun. Hallo, Leute! – begrüße ich sie hemdsärmelig munter. Wir wünschen Gesundheit, Euer Hochwohlgeboren –, antworten sie, die groben roten Gesichter mir zugewandt, alle durcheinander. Wie geht’s, wie steht’s? – fahre ich im selben Ton fort. Danke, Euer Hochwohlgeboren. – Na, dann macht mal schön weiter! – Ich drehe mich um, gehe in einem weiten Bogen zum Haus zurück und nehme auf der Veranda an einem runden Marmortisch Platz, der mit einem Spitzentischtuch bedeckt ist. Augenblicklich serviert mir ein frisches junges Stubenmädchen in weißer Schürze mit ihren rundlichen Händchen auf einem glänzenden Tablett den Morgenkaffee mit Sahne. Ich esse morgens nichts. Ich trinke nur Kaffee und ein Glas Orangensaft. Obwohl ich erst vor kurzem angekommen bin, weiß sie das schon. [ 242 ]

Ich sehe sie durchdringend und prüfend an. Sie errötet und geht, in Verwirrung geraten, eilig davon, wobei sie den Saum ihres langen raschelnden Kleides rafft. Jaaaa … – Ich strecke mich, bis es trocken in allen Gelenken knackt. Doch da kommt mir jäh der erschreckende Gedanke, daß, wenn alles in der wunderbaren, köstlichen Weise erhalten geblieben wäre, in der ich es mir hier vorstelle und beschreibe, ich nie und nimmer der Mann der Tochter des Generalgouverneurs hätte sein können. Meine Rolle hätte wohl nur darin bestanden, für meine paar mickrigen Groschen in meinem kurz bemessenen Urlaub nach schwerer Arbeit in einer Gießerei oder nach ödem Hocken in dem niedrigen staubigen Kämmerchen eines stumpfsinnigen Büros aus irgendeinem Grund nach Taschkent zu fahren und, durchgedreht von der Hitze und der prallen Sonne, an der Außenseite des Zauns entlangzuspazieren und mir in Gedanken das dortige geheimnisvolle Leben auszumalen: Jetzt stehen wohl der Gatte von der jungen einzigen Tochter des Generalgouverneurs auf. Ja, genau, jetzt stehen Seine Gnaden auf. Und strecken sich – man hört grad, wie die zarten weißen Knöchelchen knacken. Gehen auf die Veranda raus und blinzeln. Klar, für die feinen Hauptstadtaugen aus dem Norden ist die Sonne ganz schön hell, o ja. Hu, wie hell! Mich verbrennt sie ja schon, und ich bin grob und gewöhnlich, aber Seine Gnaden erst, du lieber Himmel, die werden schlimm gequält, behüte Gott! Seine Gnaden gehen in den Garten raus und schlendern über Ihre Lieblingswege und hören dem Schreien von den fremdländischen Pfauen zu – das ist mir mal was Kurioses! Ein unverständiger, unvernünftiger Vogel. Und unnütz in der Wirtschaft. Da fängt er grade an zu schreien. Da, eben, widerlich gekrischen hat er. Und da kommen der junge Gatte schon an den Zaun, da, wo ich stehe, bloß sind Seine Gnaden auf der inneren schattigen Rückseite … Was soll’s. Wozu sich das Herz schwer machen. Besser geh ich wohl für mich alleine weiter. – Nach der Großen Chinesischen Demokratischen Volksrevolution wurden die imperialistischen Konzessionen natürlich aufgeho[ 243 ]

ben, und die Konzessionsarbeiter zerstreuten sich in alle Winde. Deshalb habe ich Verwandte in Japan. In Tokio besuchte ich Yamomotos Tochter Natascha, von ihren japanischen Verwandten eher Kazuko genannt, woran sie auch mehr gewöhnt war, und ihren freundlichen Mann Machi, einen Physiker mit erlesenen Manieren und akzentfreiem Englisch. Natascha spricht für jemanden, der fast nie Russen begegnet ist, unsere Sprache ganz ordentlich und hat eine natürliche Vorliebe, ja geradezu eine Leidenschaft für die russische Küche, die ihre Mutter an sie weitergegeben hat, die sich in der Familie des lieben, sanften Mashuda-san natürlich nach allem Russischen sehnte. Ihre ganze Sehnsucht und seelische Unbehaustheit fand einen Ausweg in den Raffinessen und Variationen des russischkulinarischen Themas. Offenbar überkam dieses Gefühl bei meinem Anblick auch Natascha, denn gleich nach meiner Rückkehr von Tokio nach Hokkaido, fast vom nächsten Tag an, begannen riesige Lastwagen für Spezialtransporte vor meiner Tür zu halten und stattliche Kisten mit russischem Essen auszuladen, das Natascha-Kazuko für mich gekocht hatte und mir nun regelmäßig schickte. Da gab es Kohlsuppe, „Fleschpassteten“, „Kolpassteten“, „Nuspassteten“, „Kolrulade“, „Fleschnudel“, „Nudel mit Gemuse“, „Gullasch“, „Oberschinenmus“. Auf jedem schmucken Behälter war in gebrochenem Russisch präzise der Name des Inhalts verzeichnet. Ich heulte fast vor Rührung und wegen meiner eigenen Gemeinheit, die sich in seltenen, unzureichenden Anrufen in Tokio mit allzu kargen Dankesworten ausdrückte. Aber was kann man mit sich machen? Ich bin eben ein Ekelpaket! Es waren so viele Lebensmittel, daß ich sie nicht bewältigen konnte und alle Nachbarn damit bewirtete, was mir eine außergewöhnliche Popularität im ganzen Kreis einbrachte. Aus irgendwelchen Gründen war es mir peinlich, die tatsächliche Lage der Dinge darzustellen, und so schwatzte ich irgendwas daher von meiner Frau, die sich vorübergehend in Tokio aufhalte und sich Sorgen um meine Gesundheit mache: Und da schickt sie mir nun diese Gargantua-Pakete. – Das ist gut –, konstatierten die Nachbarn. [ 244 ]

Ich lächelte schuldbewußt, breitete die Arme aus und wiederholte: Da schickt sie sie nun. – Das ist sehr gut –, wiederholten sie. Danach probierten sie von den russischen Köstlichkeiten, zogen tief die Luft ein und gaben ein tiefes, heiseres: Oooch! – von sich, beeindruckt von der Treue und Unermüdlichkeit russischer Frauen. Ja, ein weiteres originär japanisches Produkt und Gut ist der Shintoismus. Übrigens ist dieser Typus religiöser Praxis und Verehrung allem Fremden und Fremdartigen gegenüber dermaßen tolerant, ich würde sogar sagen, er ist dermaßen zahnlos, daß er in seinen Tempeln seelenruhig ein Plätzchen für einen Buddha-Altar zur Verfügung stellt und sich auch mit jeder anderen Glaubensrichtung verträgt. Heutzutage äußert er sich und besteht vorwiegend oder sogar ausschließlich und einzig in rituellen Alltagsbräuchen wie etwa der Weihe einer neuen Firma, bei der deren Leitung und die höheren Angestellten in korrekten Anzügen nebeneinander auf niedrigen langen Bänkchen im Tempel sitzen wie die Kinder im Kindergarten, nebeneinander aufstehen, einträchtig etwas in die Hand nehmen und einträchtig wieder zurückgeben, sich einträchtig verneigen und dann zu einem Luxusbankett gehen. Auch Autos werden geweiht. Uns Orthodoxe kann man damit natürlich nicht überraschen. Bei uns gibt es so etwas zur Genüge. Kennen Sie noch den Witz? Nein? Ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Eine Zeitungsmeldung: Heute weihte der Patriarch die neuerbaute Synagoge. – Nicht witzig? Dann lassen wir’s. Ich mußte damals lachen. Übrigens feiern diese Firmenangehörigen und auch alle anderen Japaner ihre Hochzeit nach katholischem Brauch (die Hochzeitskleider und die Kirchenlieder sind einfach zu schön, um darauf zu verzichten). Begräbnisse dagegen spielen sich auf buddhistische Weise mit dem schon erwähnten leichten melodischen Pochen der kleinen Hämmerchen auf den trockenen, brüchigen Knochen der ehemaligen Verwandten und Freunde ab. Doch warum ehemalig? Verwandte sind immer Verwandte! Sie sind auch im Himmel Verwandte! Sie sind Verwandte auch mit zerschlagenen Knochen, [ 245 ]

verbranntem Fleisch und ausgerissenen Gelenken und Innereien, auch als Verschwundene und Niewiederaufgetauchte, als Ertrunkene und in den Bergen von einer irrsinnigen Schneelawine Begrabene, als Vergessene und Verschollene – sie sind immer Verwandte! Sie nehmen uns immer in allen möglichen Himmeln in Empfang! Sie sind nach den unterschiedlichsten Überzeugungen vieler Religionen selbst dann, wenn sie uns dort, im Himmel oder unter der Erde, nicht erkennen und uns nirgendwo mehr in Empfang nehmen, da sie in völlig anderen Welten und Kreisen geistiger und sittlicher Verfeinerung weilen, trotzdem für immer und ewig ontologisch unsere Verwandten! Und Tempel gibt es hier! Die allerunterschiedlichsten. So gibt es einen Tempel für das Seelenheil zerbrochener Nadeln. Das heißt, es ist unwürdig, eine Nadel ohne ein Ritual für ihre Miniaturseele wegzuwerfen, die, unklar wie, in dem fast immateriellen, inexistenten Körperchen Platz gefunden hatte. Und der Tempel wird durchaus besucht und genutzt. Man bringt die Nadeln her und läßt gegen ein geringes Entgelt eine rituelle Handlung für ihr Seelenheil vollziehen. Sie werden dort jahrhundertelang gelagert, und niemand, merkt euch das (das sage ich unseren, meinen Leuten, obwohl ich sie nicht direkt gotteslästerlicher Handlungen verdächtige, aber für alle Fälle, zur Warnung), niemand stiehlt sie und liefert sie gegen Bezahlung in der Altmetallsammlung ab, von der ich nicht einmal weiß, ob es sie hier gibt. Vom Tempel für kaputte Puppen rede ich erst gar nicht. Hat doch der allerchristlichste Daniil Andrejew in seinem komplizerten System der unterschiedlich wert- und würdevollen Welten auch eine gefunden, wo unsere Lieblingsspielsachen und literarischen Helden residieren und uns, den dann schon ehrlich Entschlafenen und Körperlosen, auf gleicher Ebene begegnen. Für das Seelenheil der Puppen wird mit einem Ritual komplizierterer und teurerer Kategorie gesorgt. Immerhin sind es Puppen und nicht irgendwelche Nadeln! In einem gewissen Tempel nimmt man sich sogar der Seelen jener verstorbenen Jungendlichen an, die zu Lebzeiten nicht die Freuden [ 246 ]

fleischlicher Liebe kennengelernt haben, und tröstet sie. Dazu werden hochgeehrte Prostituierte angeheuert. Sie kommen in den Tempel und trösten mit speziellen Ritualtänzen und süßen Gesängen die Seelen der liebesunerfahrenen Jugendlichen. Zu derartigen Dingen hat man hier traditionell eine andere Einstellung. Auf dem Territorium eines Tempels werden bei seiner Gründung direkt am Zaun Reihen von Marktständen, Restaurants, normale Bordelle und Bordelle mit Jungen für die buddhistischen Mönche errichtet – ein buddhistischer Mönch soll doch nicht in wilder Aufruhr sonstwohin rennen! Auch an eine andere, durchaus übliche Umgebung und Ausstattung von Tempeln muß man sich visuell und habituell gewöhnen. In einem uralten Kloster in Nara leben zahllose dreist gewordene Damhirsche, die hier seit dreizehn Jahrhunderten niemand auch nur versucht hat zu erschrecken, geschweige denn zu töten. Lässig überqueren sie belebte Straßen und würdigen die kreischend bremsenden neuesten Limousinenmodelle keines Blickes. Menschen dagegen folgen sie hartnäckig und nachdrücklich und fordern, indem sie sie hin und wieder mit dem Geweih in den Rücken stoßen, das ihnen zustehende Futter. Ich nun war auch hier, wie im Fall des kriminellen Raben, auf unjapanische Art brutal und grausam. Und das ist nachvollziehbar, denn ich bin ja kein Japaner. So war ich also auf russische Art grausam. Doch indem ich die hiesigen Gebräuche, Traditionen und Besonderheiten berücksichtigte, versuchte ich es ein wenig verstohlener und diskreter, als ich es mir in meiner Heimat hätte erlauben können, und überzog das Geschöpf mit Flüchen. Und, glauben Sie mir, es verstand mich. Ja, Tiere sind immer und überall verständig. Natürlich hätte ich es prügeln oder treten können. Aber das tat ich nicht. Und ich schlug es auch nicht tot, um es in den Kofferraum meines am Straßenrand abgestellten Autos zu stopfen, wie das einige von uns manchmal tun. Nein. Ich sagte einfach alles, was ich sagen mußte, wenngleich im Flüsterton. Doch deutlich. So deutlich, daß sie mich alle in Ruhe ließen. Und ich ging in den nahe gelegenen Tempel. Dort gab es neben tausendundeiner Skulptur der Göttin Kanon in einer zentralen Säule ein Nasenloch Buddhas, eine originalgroße [ 247 ]

Kopie von dem Gesicht seiner gigantischen Statue, die irgendwo in der Nähe steht. Wer da durchkriechen kann, ist gerettet. Und sie kriechen durch. Vor meinen Augen ist ein Typ mit unglaublicher Figur, der aussah, als würde er nicht nur in dem Nasenloch oder einem Nadelöhr, sondern auch in einer einfachen Tür steckenbleiben, tatsächlich durchgekrochen. Offenbar geht es doch nicht um die physische, sondern um die seelische Größe. Ich mit meinen moderaten Maßen wäre um nichts in der Welt durchgekommen. Ich hätte angefangen zu brüllen. Wäre vor Angst an einem Herzinfarkt gestorben. Und er kam durch. Hier ist eben alles anders. Allerdings müsste ich meiner Religionszugehörigkeit nach durch das Nasenloch des hypergeduldigen Christus kriechen, wenn so etwas zu Art und Ordnung der rustikalen religiösen und nationalen Bräuche gehören würde. Doch zum Glück ist Derartiges in unseren geistigen und geographischen Gefilden unüblich. Wir sind davongekommen. Gott hatte Erbarmen. Hier funktioniert auch ein etwas anderer ikonographischer und physiognomischer Kanon bei der Ausprägung des Heiligen, der Heiligen und der Symbole ihrer Verehrung. Eine bis auf die abenteuerlichen Holzknochen abgemagerte ältliche Dame, die in unserem Pantheon würdig wäre, eine durch Fasten abgezehrte Klosterschwester oder Paraskewa Pjatniza darzustellen, erweist sich hier als siegreiche, streitbare jungfräuliche Amazone. Ein Gutaussehender mit feistem, zufriedenem Gesicht stellt einen gewaltigen Giftschlangenbändiger und Drachentöter vor. Und der Schreckliche da mit der Grimasse, mit wild zusammengezogenen Brauen – ein wahrer Zornund Rachedämon – ist ein Heiler und Tröster. Man versteht es nicht. Die ganze Lebenserfahrung geht den Bach runter. Und natürlich freut es den Blick eines jeden Neonazis, wie es nebenbei das Herz des Antifaschisten erbeben läßt, eine so unangemessene und unproportionale Anzahl von unbekümmert an verschiedenen Sächelchen, Amuletten und Souvenirs aufgehängten und angebrachten Hakenkreuzen zu entdecken – dem alten indischen Sonnenzeichen. Ich weiß noch, wie junge deutsche Studenten und Doktoranden, streng nach demokratischen und antifaschistischen [ 248 ]

Prinzipien erzogen und Anhänger alles Progressiven und Linken, sich nur mit Mühe an das damals in unserem Moskauer Künstlerkreis verbreitete Interesse an nationalsozialistischer Ästhetik, Symbolik und Metaphysik gewöhnen konnten. Wie sie einmütig zusammenschraken und sich sogar aneinander drängten, als sie an der Wand meines Hauses mein Hitlerbestienporträt antdeckten. Egal, sie wurden älter, solider, verschafften sich Stellen und Lehrstühle. Faßten selber eine Vorliebe für derartige Themen, für die Problematik totalitärer Regimes und ihrer Äußerungs- und Erscheinungsformen. Schrieben Arbeiten zur vergleichenden Analyse sowjetischer und faschistischer Ästhetik. Und es ist ja auch Zeit verstrichen, was die üblichen zweidimensionalen, damals übrigens völlig entschuldbaren Haltungen dieser Problematik gegenüber verändert hat. Alles ist kompliziert, ist mehrdimensional geworden, ist sich selbst fast in den Rücken gefallen, hat sich selbst fast in den Bauch gebissen und sich sogar selbst fast abgeschafft. Und so ist es immer. So ist es auch in unserer Zeit. Nach Abschluß dieses Teils kann ich einfach nicht umhin, noch etwas anzumerken, was für unsere normale Denkart und Erfahrung angenehm faßlich und verständlich ist. Es bezieht sich auf die obenerwähnten Firmenangehörigen. Sie sind in der Regel ganz außerordentlich aktiv im Verteilen und Entgegennehmen von Bestechungsgeldern. Zur Zeit meines Aufenthalts hier brach gerade ein Skandal um den größten Wirtschaftsprüfer Japans aus. Er hatte nur zweimal in seinem Leben von irgendwelchen Konzernen Bestechungsgelder angenommen – einmal 1.350.000 $, das andere Mal 990.000 $. Aber es ist schön, daß hier im Kleinen nicht gestohlen wird. In den Geschäften wird man nicht hereingelegt und nicht geneppt. Direkt hysterisch rennen sie dir schreiend hinterher, um liegengelassenes Wechselgeld zurückzugeben. Ich habe in einer Zweimillionenmetropole im Erdgeschoß eines gemütlichen zweistöckigen Hauses gewohnt und beim Weggehen nicht nur ständig vergessen, die Tür zu versperren, sondern auch, das Riesenfenster zuzumachen, [ 249 ]

das die ganze Außenwand meiner bescheidenen Wohnung einnahm. Und nichts geschah. Nicht ein Mal habe ich beim Nachhausekommen auch nur die geringste Spur irgendwelcher kriminellen Anschläge entdeckt. Was noch? Gut, in den Restaurants tut man dir keinen ranzigen Fisch ins Sushi, da kannst du zu 99,99 Prozent sicher sein. In der Massenanfertigung und -anlieferung natürlich schon. Das ist ja quasi kein Betrug mehr, sondern ein Geschäft. Obwohl ein kriminelles. Hier fehlen die persönliche Beziehung und das buchstäbliche Täuschen eines vor dir stehenden, dir hoffnungs- und vertrauensvoll ins Gesicht sehenden bescheidenen Menschen. Die Ethik persönlicher Beziehungen ist in Japan hoch entwickelt. Sie ist hierarchisiert und wird ziemlich genau befolgt. Doch natürlich sind auch hier die Dinge nicht so einfach. Gar nicht so einfach, doch man muß ein Ende finden. Die Zeit meines Aufenthalts in Japan kann in gewissen relativen Einheiten bereits durchaus einem spezifischen, in gewissen anderen relativen, aber mit den ersten konvertierbaren Einheiten meßbaren Schweigen gleichgesetzt werden. Ergo, der Rest ist Schweigen.

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13. F O R T S E T Z U N G

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a war ich allerdings etwas voreilig. Noch kein Schweigen. Das heißt, zwar Schweigen, aber nur vorübergehend, nicht endgültig. Das endgültige, totale Schweigen kommt etwas später, nachher. Erst einmal bleiben wir noch ein bißchen hier. Ich habe noch nicht von dem schüchternen Jüngling zu Ende erzählt. Nein, ich bringe es nicht fertig, ihn nicht zu Ende zu erzählen. Zunächst möchte ich auf seine Schlankheit und Feingliedrigkeit hinweisen. Ganz Japan läßt sich quasi in zwei prinzipiell unterschiedliche ethnische Typen einteilen. Der eine ist der stämmige mongolische, mit massigen Armen und Beinen und Gesichtszügen, aber niedlich und uns vom Aussehen zahlreicher unserer Stammesgenossen her so vertraut, daß man manchmal vor der Ähnlichkeit von Einheimischen mit ihren unbekannten Anverwandten und Doppelgängern in den endlosen Weiten Rußlands direkt erschrickt. Eine Bekannte von mir, heute international renommierte westliche Spezialistin für das Werk Andrej Belyjs und den ganzen Symbolismus, eine hundertprozentige Tatarin, nannte das wüstes Tatarenfleisch (den Ausdruck überlassen wir dem Gewissen der Andrej-Belyj-Spezialistin). Die anderen sind dagegen zart, feingliedrig, sogar zerbrechlich. Besonders bezaubernd sind solche Mädchen, wenn sie während irgendwelcher einheimischen Feste im Kimono auf der Straße auftauchen und mit ganz raschen Schrittchen auf ihren klappernden Holzhüfchen dahertrippeln. Also, unser Jüngling gehört zu den Schlanken und Feingliedrigen. Doch das ist nicht das Wunderbare an ihm. Als er sich auf den jährlichen Wettbe[ 251 ]

werb von Russischlernenden vorbereitete, verfaßte er einen Text, in dem er mit unglaublicher, für sein Alter und seine Generation einfach ungehöriger Ehrlichkeit beschrieb, wie sehr ihn der Tod von Dmitri Sergejewitsch Lichatschow erschüttert habe. Mit imponierendem Gefühl und Ausdruck beschrieb er weiter, wie er aus diesem Grund seine schlechten Gewohnheiten aufgegeben und sich vorgenommen hatte, nur noch Gutes zu tun. Und zwar nicht nur seinen Freunden und Angehörigen, sondern buchstäblich allen, allen Menschen, die ihm auf seinem Lebensweg begegneten. Und das waren keine leeren Worte. Auf der Vorbereitungsrunde der Wettbewerbsteilnehmer an der Universität Sapporo, wo ich zufällig anwesend war, fragte ein Professor ihn tatsächlich, was ihn so verändert habe. Er wußte noch, wie der Jüngling zwei Jahre zuvor herumgegammelt hatte und aufsässig gewesen war. Ja –, antwortete der Jüngling, – ich habe getrunken und geraucht, und ich war Feuer und Flamme für Glücksspiele. Doch als ich zwei Romane von Dostojewski gelesen und vom Tod Lichatschows erfahren hatte, war ich so erschüttert, daß ich beschloß, meine Weltanschauung zu hinterfragen. Und das hatte er auch getan. Jetzt sagen Sie mal, können Sie in den Weiten unseres unermeßlichen Rußlands und unserer ehemaligen UdSSR viele solcher romantischen Dostojewski-Jünglinge finden?! Okay, vielleicht finden Sie einen. Okay, zwei. Okay, drei. Oder mehr. Oder weniger. Aber das ist Japan! Ich weiß nicht, vielleicht sind es hier auch nur wenige. Vielleicht auch viele. Vielleicht eine ungeheure Anzahl. Ich habe ja nur vom Leben einiger ganz weniger etwas erfahren und Ihnen berichtet. Erinnern wir uns zum Beispiel an den Jugendlichen, der die alte Frau mit dem Hammer totschlug. Dostojewski gelesen hat er wohl nicht. Aber das ist zu unserer Zeit auch nicht unbedingt notwendig. Auf indirekte Weise, über Ältere und die Umgebung, über das Dostojewski-Fieber, das breit in die allgemein verfügbare Kultur eingegangen und eingedrungen ist, hat sich der Roman so oder anders zweifellos auf Methode wie auf ideologische Begründung und sprachliche Fixierung des Mordes ausgewirkt. [ 252 ]

Ja, die Japaner sind äußerst emotional und erregbar. Sehr emotional reagieren sie zum Beispiel auf eine Niederlage. Vor den Augen der Fernsehzuschauer zerdrücken sie nicht eine spärliche Männerträne, sondern vergießen offen wahre Ströme von Tränen. Und das sind nicht die Mädchen einer Volleyballmannschaft, die verloren hat, obwohl die auch Ströme von Tränen weinen, sondern hünenhafte, fleischige Männer, deren Baseballmannschaft eine Niederlage erlitten hat. Wieder möchte man direkt rufen: Arme Kätzchen! Die Leitung einer Firma, die sich schuldig gemacht, etwa Unterschlagungen begangen hat, bittet mit geschwollenen, nassen und schon blutunterlaufenen Augen, während sie eine Stunde lang mit gesenkten Köpfen dasteht, die Betrogenen, Beraubten und Ruinierten öffentlich um Verzeihung. Eine solche Zeremonie habe ich im Fernsehen gesehen. Die Manager eines großen Milchkonzerns, der Hunderttausende im ganzen Land vergiftet hatte, baten, die Gesichter in salziger Flüssigkeit gebadet, mit einer langen, tiefen Verbeugung und einem fünf- bis zehnminütigen Schweigen um Verzeihung. Jungs, was wollt ihr? Das war doch sogar bei uns ein offenes Geheimnis, in unserem schäbigen Nachkriegshinterhof. Das wußten doch sogar wir – ich, Sanjok, Serjoga, Tolik –, die Neusiedler des staubigen, verwahrlosten Moskauer Brachlands, wenn wir sagenhafte Samurais spielten. Muß ich euch etwa erklären, wie echte, reinblütige Japaner in solchen Fällen dem Ehren- und Sühnekodex gemäß handeln? Mit Harakiri! Eine saubere, konkrete, von Schuld freisprechende, Verzeihung schenkende, alles sühnende, männliche und schöne Methode. Ich schaue hin – und wirklich, in den Händen der fünf blitzen kurze Samuraischwerter auf. Mit einem raschen Satz springen sie auf den Tisch und setzen sich korrekt hin, um in der erforderlichen rituellen Pose auf der vorab ausgebreiteten roten Unterlage zu verharren. (Jungs –, wispere ich meinen Leuten mit einem Beben in der Stimme zu, – jetzt guckt euch an, wie das in Wirklichkeit vor sich geht!) Ein Moment – und genau an der vorgeschriebenen Stelle, die vorab durch das Öffnen der unteren Knöpfe der blütenweißen Hemden extra entblößt worden ist, was bis dahin unter den langen schwarzen offiziellen Krawatten verborgen war, [ 253 ]

führen sie mühelos die dünne Klinge ein und schieben sie zur Seite und nach oben, wodurch sie das vorgeschriebene zeremonielle Muster nachzeichnen. Das Blut durchtränkt ohne Eile allmählich die weißen Hemden und fällt in großen, formvollendeten Tropfen nieder, wobei sein Rot auf dem ja ebenfalls roten Tuch der Unterlage nicht zu sehen ist. Hinter jedem der fünf stehen zwei Assistenten, ganz in Schwarz gekleidet und mit schwarzen Masken, in denen nur ein Schlitz für die Augen gelassen wurde. Jeweils einer von ihnen hält mit beiden Händen, ein klein wenig, also auf die Höhe des Gürtels, angehoben, ein diesmal langes Samuraischwert bereit, um mit einer raschen, unmerklichen Bewegung den Kopf seines Herrn abzutrennen, das Protokoll zum Abschluß zu bringen und die unnötigen und nicht mehr schönen Qualen zu beenden. Ich erstarre – aaah! Öffne die Augen – nein, nichts. Alle stehen, dieselben verweinten Gesichter gesenkt, noch immer da und bitten um Verzeihung. Nun sind sie damit fertig. Und verzeihen sich selbst und gehen auseinander. Allerdings leiden Japaner tatsächlich sehr unter peinlichen Situationen, in die sie geraten, und tragen das dem Schuldigen lange nach. Vielleicht verbirgt sich gerade hier das letzte Bollwerk des strengen und verletzlichen Samuraiwesens. Die Beziehungen zwischen Menschen erfahren aufgrund einer äußerlich unmerklichen, gleichsam von außen nicht wahrnehmbaren, aber offenbar mitten ins Herz treffenden und nicht mehr zu verzeihenden Beleidigung einen jähen Wandel. Die japanische Gesellschaft ist noch nicht endgültig zerfressen von Zynismus und Relativität dieser sich schnell verändernden Welt. In Europa ist es doch so: Heute hast du einen Konflikt mit jemandem, und wo ist er morgen? Wo bist du? Wo ist X? Wo ist und was bedeutet der Konflikt plus Beleidigung? Alles ist über Hunderte von Kilometern zerstreut und von Tausenden anderer verwickelter Begegnungen und Bekanntschaften verwischt. Doch in Japan herrscht vorerst noch eine relative sichtbare Stabilität, in der traditionelle Normen und Tabus sich erhalten haben. Jedenfalls mit mehr Klarheit und innerer Notwendigkeit als in fortschrittlichen Ländern, zu denen Japan bei uns aus irgendeinem Grund vorbehaltlos gezählt wird. Was falsch ist. Allein, wie lange noch? [ 254 ]

Und was wollen sie da mit Dostojewski? Wozu brauchen sie ihn? Irgendwie ist er vorerst unaufhebbar existent in ihrem Leben. Obwohl unkenntlich und unerkannt, ging er auf Dauer in ihre alltäglichen Verhältnisse ein. Vor diesem Hintergrund klingt die Geschichte aus dem Leben eines enorm berühmten russischen Popsängers amüsant, die mir von einem Bekannten erzählt wurde, der sie wiederum von dem Schlagzeuger aus der Gruppe des Sängers hatte. Sein Name ist … Nein, in unserer Zeit, wo es Praxis ist, einen für jedes Wort zur Wiederherstellung der verletzten Würde vor den Kadi zu zerren und dem Ärmsten, der sich verplappert hat, für diese im Grunde wertlose Würde irrsinnige Dollarsummen aus der Tasche zu ziehen, werde ich mich hüten. Ich bekomme ja bis heute Schüttelfrost und schwere Schwächeanfälle, wenn ich auch nur einen normalen Hausmeister oder Klempner sehe, ganz zu schweigen von einem Richter. Nein, ich werde mich vorsehen. Okay, wenn ihr darauf besteht, der erste Buchstabe seines Nachnamens ist ein A, der zweite ein N, der dritte ein T, der vierte … Nein, nein, weiter sage ich nichts. Weiter ist es gefährlich. Und der erste Buchstabe ist überhaupt kein A. Und da ist auch kein N und kein T. Ich habe mich versprochen. Es ist ein ganz, ganz anderer Name, als ihr gedacht habt. Die Anfangsbuchstaben sind völlig anders – K, I, P. Nein, nein, das sind sie auch nicht. Es sind ganz, ganz andere Buchstaben. Ich erinnere mich nicht einmal an sie, ja ich habe sie nie gewußt. Und es geht gar nicht um einen konkreten Namen, sondern um das soziokulturelle Phänomen an sich und um die schöne Situation. Also, auf einer Tournee klingelt nachts im Hotelzimmer des erwähnten Schlagzeugers, der den Sänger als Mitglied einer kleinen Band begleitet, das Telefon. Am Apparat ist unser Held: Hör mal, hast du Dostojewski gelesen? – Ja, hab ich –, erwidert der Schlagzeuger verschlafen und verständnislos. Und „Verbrechen ...“ – Es folgt eine Pause. – Und Dingsbums, wie war das noch ... Ich guck mal nach. Ah ja, Strafe. Und „Verbrechen und Strafe“? – [ 255 ]

Ja, hab ich auch gelesen –, antwortet der Schlagzeuger, der den Grund für diesen ungehörig späten Anruf nicht begreift, verärgert. Ich les das gerade. Sag mal – was für ’ne Kacke! – Kein Wort mehr und keins weniger. Genau das hat er gesagt. Immerhin – er liest ihn. Und mitten in der Nacht. Und offenbar ist er betroffen, so daß er seinen schlafenden Kumpel aufstört. Wenn wir also den Japanern hinterherhinken, dann nur ein kleines bißchen. Jungs, haltet euch tapfer! Es kommt also vor, daß selbst die Bewohner entfernter japanischer Inseln von etwas mitten ins Herz getroffen werden, was Tausende von Kilometern von ihnen entfernt geschaffen wurde und in einem für sie ja eher ungewöhnlichen und irritierenden Gewand daherkommt. Doch, es gibt solche empfindsamen und alles feinfühlig aufnehmenden japanischen Naturen wie unseren eleganten Jüngling. Dabei wachsen sie lange Jahre in einem außerordentlich unsanften, sogar einfach grausam autoritäten Schulsystem auf, wo zahllose Versammlungen, Vorschriften und Instruktionen und endlose Unterrichtsstunden und Aufgaben zur Praxis gehören, begleitet von den Grausamkeiten und Quälereien durch die Schülerschaft selbst. Für diese wechselseitig destruktive kindliche und jugendliche Grausamkeit in der Schule gibt es sogar einen Fachbegriff, aber ich habe ihn vergessen. Gott sei Dank. Für das eigene seelische Gleichgewicht ist das gesünder. Sich an all das zu erinnern und es überhaupt zu wissen ist höchst unangenehm. Allerorten sind Fälle bekannt, wo Schüler einen Klassenkameraden in den Tod getrieben haben. Japan hat eine irrsinnig hohe Selbstmordrate unter Jugendlichen im Vergleich zu allen kultivierten und nicht kultivierten Ländern der Welt. In den priviligiertesten Schulen stehen die Lehrer in den Pausen auf den Treppen zwischen den Stockwerken, um zu verhindern, daß sich Kinder verschiedener Altersgruppen mischen, damit die Älteren den Jüngeren keine Gewalt antun. Und das ist keine Übertreibung, sondern die nüchterne Prosa des normalen Schullebens. Der Druck der ungeschriebenen Gesetze und der gesellschaftlichen Meinung ist ungeheuer hoch. Die Methoden wie[ 256 ]

derum, Außenseiter der Norm zu unterwerfen, sind schlicht und auf der ganzen Welt bekannt, nur werden sie hier unglaublich methodisch, zielstrebig und effektiv eingesetzt – Folter, Quälereien, Prügel, Einschmieren mit frischer Scheiße. Als, sagen wir, freundliche Warnung kann man (nein, man muß!) den anderen zum Beispiel erst einmal auf der Toilette einsperren, seine Sachen zerreißen, ihn anspucken. Nicht selten weigern sich Kinder, weiter zur Schule zu gehen. Zu Hause wälzen sie sich verzweifelt zu den Füßen ihrer Eltern und flehen sie an, sie aus der Klasse zu nehmen. Es gibt Kinder, die dermaßen erniedrigt, ja von ihrer Umgebung vernichtet sind, daß sie mit ihren zehn bis vierzehn Jahren unaufhörlich, tagelang mit farbloser, erstorbener Stimme wiederholen: Ich kann nicht mit den Menschen leben! Die werden mich nie mögen! – Denken Sie an die fünf oder sechs Jugendlichen, die genaue Zahl kann ich nicht mehr nennen, von denen ich am Anfang der Erzählung berichtet habe, die umgebracht haben, wen sie nur konnten – Familienangehörige, Nachbarn, Fremde, Kinder, Alte, Frauen. Die häufigste und glaubwürdigste Erklärung für dieses Phänomen besteht eben in der Grausamkeit des Schullebens, im Austritt der angehäuften destruktiven Energie und der erfahrenen Erniedrigung dieser gequälten, verhärteten Wesen. Mord ist das direkteste und einfachste Mittel, diese schwarze Energie nach außen zu richten, ist ein instinktiver Ausbruch der Selbsterhaltung. Gebe Gott, daß wir nie in einen solchen Zustand geraten – obwohl die Schule ja nirgendwo ein Zuckerschlecken ist. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Doch der Unterschied besteht offenbar in der kritischen Masse angehäufter Kränkungen und Erniedrigungen. Überall sitzen neben Mördern, Vergewaltigern und anderen Bestien unschuldige Opfer der Rechtsprechung im Gefängnis. Aber wenn das nach dem Beispiel des Konzentrationslagers die Form von Norm, Gesetz und Schicksal annimmt, dann macht sich der normale irdische Horror unter uns breit. Interessant ist, daß für Kinder aus Familien, die eine geraume Zeit im Ausland gelebt haben, sogar eigene Schulen existieren, um [ 257 ]

sie allmählich in die Gesellschaft einzugliedern und nicht gleich dem barbarischen Kinderkollektiv zum Fraße vorzuwerfen. Gut, barbarisch ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber im allgemeinen ist es schon eine üble Sache! Eine feindselige Einstellung Rückkehrern gegenüber hat sich auch in der Erwachsenenwelt erhalten. Eine Doktorandin sagte zu mir: Wie haben drei intelligente Doktoranden. Und dann noch zwei von diesen Blödmännern, die im Ausland waren. – Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das noch ein Atavismus aus der nicht allzu fernen Zeit der Abschottung des Landes, als jeder, der fortgewesen war, sogar jemand, der durch unglückliche Umstände zu lange auf dem Meer geblieben war, bei der Rückkehr augenblicklich und unumkehrbar unter Verdacht geriet. Gleich nach der Ankunft in der ersehnten Heimat wurde er hinter Gitter gebracht. Also wie ein verseuchter, gefährlicher Mensch isoliert. Entsprechend behandelte man Kranke während einer Epidemie wie verseuchte, unrettbar verlorene Dämonen. Man versuchte sie irgendwo abzusondern, auszusiedeln, zu isolieren. Oder die ganze Bevölkerung brach selber auf und wanderte zu neuen Siedlungsplätzen in die unbekannte Ferne. Die Tochter eines russischen Russischdozenten, der eine befristete Stelle an der hiesigen Universität antrat, wurde vor ihrem Eintritt in den neuen Schulalltag von einer anderen russischen Schülerin, die schon geraume Zeit in Japan lebte, glücklicherweise vorgewarnt. Die Warnung bezog sich auf ein höchst bedeutendes und ernsthaftes Problem – die Reißverschlüsse an den Beinen der Sporthosen mußten unbedingt offen und nicht etwa zugezogen und die Hosenbeine selbst ein kleines bißchen aufgekrempelt und keinesfalls ganz heruntergelassen sein. Sonst passierte etwas nicht Wiedergutzumachendes. Wie es schon anderen passiert war, und zwar mehrfach. Das elfjährige Mädchen befolgte den klugen Rat genau. Über die nichtoffiziellen mündlichen Kanäle der Kinder kam die Nachricht durch, daß das von der Schulgemeinschaft mit Anerkennung und Respekt aufgenommen worden war: Die Neue ist geil! – [ 258 ]

Die kennt sich aus! – Oder aus heiterem Himmel ein neuer Trend für das gesamte schulische Japan: Wie sich herausstellt, muß man jetzt dicke weiße Wollkniestrümpfe tragen, die wie Nylonstrümpfe in einer ganz bestimmten Art bis auf die Schuhe heruntergerollt werden. Paßt bloß auf und vertut euch nicht, sonst geht es schlimm aus! Einfach gräßlich, was dann passiert! Vergeßt nicht – unbedingt Kniestrümpfe, unbedingt weiße, unbedingt aus Wolle, unbedingt auf diese und nicht auf eine andere Art. Unbedingt bis auf die Turnschuhe runtergerollt, wobei sie die dicken Beinchen bis ganz obenhin entblößen, so weit das die extremen Miniröckchen erlauben. Überhaupt ist die Schulkleidung hier eine fast militärische Uniform, obligatorisch und schwer. In dicken, stickigen Jacketts scheppen sich die Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die Ärmsten, durch die gleißende Sommerhitze. Aber niemand beklagt sich. Wer beklagt sich auch als erster? Niemand. Allerdings, und das hat mich immer frappiert, denkt sich ja irgend jemand als erster solche Sachen über Kniestrümpfe und Trainingshosenbeine aus und über alles andere auf der Welt auch. Vorher gab es so etwas ja nicht! Und irgend jemand, eins von diesen bescheidenen und gehorsamen heranwachsenden Mädchen, muß also die Grenzen allgemeiner Verbindlichkeit und fast schicksalhafter Zwangsläufigkeit überschritten haben. Nein, offensichtlich werden solche Innovationen doch von großen, gewappneten Geistern und Göttern in unsere Welt gesetzt. Anders geht es einfach nicht! Weit und breit ist kein realer menschlicher Weg zu erblicken, auf dem etwas Derartiges in die streng bewachte, gegen destruktive Invasionen abgeschirmte menschliche Gesellschaft eindringen könnte. Ja, und natürlich entwickeln sich die Jugendlichen zu ebenso autoritären und dem Autoritarismus unterworfenen erwachsenen Exemplaren der einheimischen Flora und Fauna. In der Zeitung einer Firma aus Sapporo wird zum Beispiel das Porträt eines ihrer Stoß- und Bestarbeiter mit der Mitteilung abgedruckt, daß er für seine ruhmreiche Stoßarbeit zum Nutzen der Firma mit einer einwöchigen Urlaubsreise, sagen wir, in die Schweiz belohnt werde. Auf der Rückseite desselben Blättchens ist, schon kleiner, das Porträt [ 259 ]

eines anderen Mitarbeiters abgebildet, der der Firma gewisse Unannehmlichkeiten eingebracht hat, worüber in absolut offiziellem Ton berichtet wird. Für jeden Menschen hier existiert ein Familienstammbuch, in dem alle seine Vorfahren bis in irgendein unbekanntes Glied im 17. Jahrhundert eingetragen sind. Die Bücher werden im Rathaus aufbewahrt, und, anders als bei uns, kann man sie dort keinesfalls fälschen. Na ja, vielleicht kann man es doch, aber nicht so richtig. Du wirst nicht im Handumdrehen Aristokrat, Baron oder, sagen wir, Graf Woronzow oder sonst ein Mitglied der wiedererstandenen anmutigen und würdevollen Adelsversammlung im postsowjetischen Rußland. Ich habe übrigens nichts dagegen. Sollen sie. Sollen sie Aristokraten sein – ist ja auch eine Beschäftigung. Sonst ist’s ja langweilig auf dieser Erde, meine Herren. Alles ist besser, als unter schmutzigen und stinkenden Torbögen Schnaps zu saufen oder sich mit einer rostigen Mehrwegspritze kollektiv die Venen zu zerstechen. Sollen sie sich wenigstens damit ablenken, ich habe nichts dagegen. Aber hier ist alles krasser. Noch. Zum Beispiel hat es hier eine Kaste Unberührbarer gegeben – sie haben Leder gegerbt, Tieren das Fell abgezogen. Man kennt das. Ihnen war nicht erlaubt, mit Angehörigen anderer Stände zu verkehren oder die Ehe zu schließen. Man untersagte ihnen, den Beruf zu wechseln oder Eigentum zu erwerben. Und dieses diskriminierende Faktum der Familiengeschichte ist, im Stammbuch fixiert, bis heute untilgbar und hat auch jetzt noch einen extrem negativen Einfluß, wenn man eine Ehe eingehen, Beamter werden, bei einer angesehenen Firma arbeiten oder sich in einer respektablen Stadtgemeinde oder Wohnungskooperative niederlassen will. Deswegen ist auch die Existenz eines unehelichen Kindes nicht etwa wegen finanzieller Schwierigkeiten der alleinerziehenden Mutter ein Problem – nein, der Lebensstandard im Land ist hoch genug. Aber im Familienstammbuch fehlt der Name des Vaters – und der könnte ja plötzlich auftauchen. Aus einer unerwünschten Ecke. Oder irgendwelche Ansprüche stellen. All das schüfe wiederum Probleme mit dem Eigentumsrecht, beim Erwerb [ 260 ]

von Immobilien, beim Heiraten oder bei der Suche nach einer gutbezahlten, angesehenen Stelle. Und hier soll man leben! – Ich bin ja bloß vorübergehend hier. – Aha, bloß vorübergehend, und dann auch noch kritisieren. – Nein, nein, das mache ich gar nicht, ich sammle einfach wie ein Naturforscher objektive Daten, die praktisch nichts bedeuten. – Soso, das bedeutet also alles nichts. Aber uns bedeutet das sehr viel, einfach ungeheuer viel! – Genau darum geht es mir doch. – Ach was, darum geht es dir – darum geht es dir gar nicht. Darum geht es dir überhaupt nicht. Dir geht es sogar um etwas ganz, ganz anderes! – Okay, dann entschuldigt. – Nein, tun wir nicht. – Na dann eben nicht. – Oh nein, wir verzeihen dir zwar, aber auf eine ganz bestimmte Weise, als würden wir dir nicht verzeihen und andererseits dann wieder doch. Und damit beweisen wir unsere reale und sonstige Überlegenheit. – Okay, ihr habt’s bewiesen. – Haben wir auch. – Vertragen wir uns wieder? – Wir haben uns doch gar nicht gestritten. – Dann ist ja alles bestens. – Dann ist ja alles bestens. – Selbstverständlich ist ein solcher Dialog mit den rituell höflichen, formell verschlossenen und ständig lächelnden Japanern völlig unmöglich – das alles ist eine Abrechnung mit mir selbst und meinem angekränkelten Gewissen. So leb denn wohl, Japan, das ich während meines kurzen Aufenthalts liebgewonnen habe. Leb wohl, auf nahe und alltägliche Weise, erhaben und unirdisch – leb ewig wohl. Ich fahre fort in eine Gegend, wo Politiker und einfache Leute unterschiedliche, bisweilen fürchterliche und unerträgliche Dinge sagen, aber in [ 261 ]

einer bekannten, verständlichen und beinahe leicht verträglichen Sprache. Wo auch ich ihnen und über sie alles sagen kann, was ich will. Okay, nicht gerade alles, aber einiges. Immerhin. Und sie verstehen mich. Sie verstehen sogar das, was ich nicht sagen kann und deshalb nicht gesagt habe. Und verstehen es richtig. Und bestrafen mich dafür drakonisch. Aber auch auf unsere, auf vertraute Art. Und zu guter Letzt teile ich noch eine schlichte Wahrheit mit, die sich mir aufgrund meines wundersamen unaufhörlichen Schreibens eröffnet hat. Trotz des angekündigten und vielfach mit höchst bemerkenswerten Beispielen bekräftigten Gesetzes des Versiegens der Energie beim Hinschreiben und Aufschreiben ist diese während meines Aufenthalts im Lande des Ewigen Standes Der Großmächtigen Sonne Im Zentrum Des Himmels nicht versiegt. So ist das in jedem Ausland. Und in Japan ganz besonders. Doch wie schon lange und allseits bekannt, schreibe ich überhaupt nicht über Japan. Denn generell ist jede fremde und geheimnisvolle Gegend einfach der bequemste Raum für das Entfalten eigener Phantasien. Und eine solche führe ich zum Abschluß an. Die japanische Zerbrechlichkeit Da kam mir also ein Gedanke über die Japaner – Sie essen mit Stäbchen Irgendwelche Kräuter Wie Heuhüpfer mit ihren Beinchen in trockenen Pflanzen herumtasten Da kam mir wieder ein Gedanke über die Japaner – Sie laufen unter Schirmen Um diesmal über nassen Steinen in der Luft Mit ihren Füßchen herumzuhasten Von Japan her, da kam mir ein Gedanke – Dickbeinige russische Mädchen [ 262 ]

Stiefeln übers trockene Gras Stampfen wie weiße indische Elefanten So kam mir ein Gedanke über Japan – Besser kein Gedanke über Japan! Die Lebenszeit, sie reicht nicht aus Aber hier etwas nicht über Japan – Die Körper zerbrechlicher amerikanischer Matrosen In den, ähnlich wie der Rand des Fuji, spitz zulaufenden Zähnen nimmermüder Haie – Erinnern sich die Japaner daran? Und es kam mir aus der Sicht eines Japaners ein Gedanke über alles andere: Was ist das, das Andere? Und zusammen mit dem Japanischen ist es trotzdem weniger Als alles Über die Japaner kommt mir nämlich häufig der Gedanke Daß man hören kann Wie ihre Einfälle gleich Heuhüpferbeinchen Leicht in den Windungen ihres trockenen Gehirns herumtasten Als mir zum ersten Mal als Kind Gedanken über Japan kamen Erschütterte ein Katzenhusten die trockenen Wände meiner kleinen Brust Und ein entzündeter roter Ball schoß in meinen Kopf: Japan! Gedanken über die Japaner kamen, kommen, kommen nicht – Wie sie, ohne über Schleim zu verfügen Fremdes einhüllen – Offenbar knackend mit trockener statischer Elektrizität [ 263 ]

Mir kam ein Gedanke über mich – Bin ich vielleicht ein Japaner? Und ich spürte die Trockenheit in den knackenden Gelenken Und das Knistern der anliegenden Haut Mir kam ein Gedanke über die Japaner – Sind sie überhaupt Japaner? Sind sie nicht glatte Ufersteine am Ozean der Welt? Sind sie nicht leichte weiße Fäden eines bebenden Gespinsts Das leicht die mürben gelben Herbstblätter umwindet Und wieder kam mir ein Gedanke über die Japaner – Denkt man sie sich nur so Oder sind sie so Daß man sie sich genauso denkt Und es kam mir ein Gedanke über die Japaner – Hüllt nicht die Trockenheit des europäischen Denkens Trocken, wie sie ist, ihr äußeres Verhalten ein Und macht sie vergleichbar mit dem einzigen bekannten Sinnbild der Trockenheit und Zerbrechlichkeit Den Heuhüpfern Und mir kam noch ein Gedanke über die Japaner Und über die Chinesen Wie über Heuhüpfer und Zikaden Über die kräftigen und klingenden Beine letzterer Und über die trockenen und eleganten Klammerbeinchen ersterer Gibt’s das denn – kam mir ein Gedanke über die Japaner – Daß sie wirklich nicht töten? Daß sie wirklich keinen töten? O doch! O doch! Und wie sie töten! Und sie stehlen auch, und wie! [ 264 ]

Der Mensch ist nirgendwo endgültig von der Art der Heuhüpfer Doch gleichzeitig kam mir ein Gedanke über die Japaner – Auch unter ihnen gibt es grobe, dicke und fleischige Doch auch in ihnen und in ihren Seelen Gedeihen die zarten, wogenden Trockenen und leuchtend bunten Grashälmchen sonderbarer Empfindungen Und was für ein Gedanke mir noch über die Japaner kam – Daß sie überlegt haben, wie sie Japaner sein sollen Und offenbar ist es für sie am praktischsten, so Japaner zu sein Wie sie es sind Und mir kam noch ein Gedanke über die Japaner – Raben schreien im Kaiserpalast Irgendein ständiges schweifendes Rascheln Tröpfelregen besichtigt die historischen Sehenswürdigkeiten ringsum Und mir kam noch ein Gedanke nicht über die Japaner – Ewig raunt das unzufriedene Gewissen In den russischen schleimumhüllten Seelen Ist da nicht eine Erinnerung an eine beabsichtigte und nicht verwirklichte Melodische und veredelte japanische Trockenheit Und mir kam noch ein Gedanke über die Japaner – Das Leben zerbricht wie ein trockener Grashalm Und sie schwingen sich gewandt auf einen anderen Oder auch nicht Und ebenso kam mir ein Gedanke über die Japaner – Goldene Karpfen, die in Teichen schwimmen [ 265 ]

Besitzen innerlich eine extreme Strenge und Trockenheit des Entschlusses Und damit sind sie nun doch Japaner Indessen kam mir ein Gedanke über die Japaner Daß es außerdem noch Deutsche gibt Amerikaner und Russen Doch die sind keineswegs Japaner Mir kam noch ein Gedanke, eine Idee über die Japaner Und mir kam in den Sinn, daß sie gar keine Japaner sind Sondern etwas Naturförmiges Was mit den Gelenken knackt Doch wie ein flacher Stein daliegt Und wie glasklares Wasser drunterfließt Und es kam mir ein Gedanke über die Japaner in der Terminologie des Weltuntergangs Daß, wenn er naht, sie keine Japaner mehr sein werden Sondern gewisse Leute, das Gesicht dem Weltuntergang zugewandt Worauf sie strenggenommen schon immer vorbereitet waren

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ANMERKUNGEN

S. 7

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Beljajewo: Außenbezirk Moskaus. Patriarchenteiche: im Zentrum Moskaus, an der Malaja Bronnaja uliza, zu Sowjetzeiten „Pionierteiche“. S. 8 Hokusai, Katsushika (1760–1849), Maler und Meister des Farbholzschnitts. S. 12 Schabolowka, Chawskaja, Tulskaja: Straßen im Danilow-Viertel in Moskau. S. 13 Kaiser Hirohito (geb. 1901) regierte von 1926 bis zu seinem Tode 1989. S. 42 Lew Rubinstein, geb. 1947, einer der Begründer der konzeptualistischen Moskauer Dichtung, Verfasser serieller Texte. S. 69 Schwarzer Rabe ... Sehr populäres Kosaken-Volkslied aus dem 19. Jahrhundert (Sage meiner liebsten Mutter, daß ich für die Heimat fiel!). Der schwarze Rabe steht für den Tod. In der Stalin-Zeit wurden die geschlossenen schwarzen Lieferwagen zum Abtransport von Verhafteten ebenfalls „Raben“ genannt. S. 70 Pandavas und Kauravas, Fürstenfamilien im indischen Epos Mahabharata (niedergeschrieben wohl in der Zeit zwischen 400 v. und 400 n. Chr., auf viel älterer Fassung basierend), das als Kern hinduistischer Überlieferungen gilt. S. 77 Der Text des sehr populären Liedes stammt von Michail Wassiljewitsch Issakowski (1900–73) und wurde in den Nachkriegsjahren verfaßt. S. 88 Max Otto von Stirlitz, Held der Spionageromane von Julian S. Semjonow (1931–93) und ihrer äußerst populären Verfilmung 17 Augenblicke des Frühlings, UdSSR 1972 (zwölfteilige Fernsehserie). Von der Figur existieren ungemein viele Witze, die das Heldenbild des KGB-Agenten verspotten. S. 92 Baba Jaga, die Hexenfigur russischer Märchen. S. 99 Bashô, 1644–94, berühmter Haiku-Dichter. S. 103 Pjotr Nikolajewitsch Wrangel, 1878–1928, General der Weißen im russischen Bürgerkrieg. S. 134 Pawel Petrowitsch Baschow, 1879–1950, Schriftsteller, Herausgeber von Volksmärchen. S. 136 Die Schneekönigin stammt von Hans Christian Andersen, Die Herrin des Kupferbergs ist ein Märchen von Pawel Baschow. Der Zauberer (!) der

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S. 144 S. 148 S. 157

S. 162 S. 170

S. 173 S. 175 S. 181 S. 182 S. 200 S. 201

S. 211

S. 218

S. 234

S. 235

Smaragdenstadt (1939) ist eine freie Bearbeitung des Märchens The Wizard of Oz (1900) von Lyman Frank Baum durch Alexander Wolkow. Raoul Dufy, französischer Maler und Grafiker, 1877–1953. Sensei (japan.): Ehrende Anrede für Akademiker, auch allgemein Lehrer; siehe auch S. 216. Verballhorntes Zitat des ungemein populären Fliegermarsches von Pawel German (1931). Im Original heißt es: Wir sind geboren, Märchen wahr zu machen, Durch Raum und Himmel brummt unser Rotor, Die Klugheit gab uns stählern’ Flügelarme Und statt des Herzens heiß einen Motor! Was singt die Wachtel aus dem Feld heraus? Sowjetisches Lied. Nikita Fjodorowitsch Karazupa, 1910–1994: Äußerst erfolgreicher Angehöriger der Grenztruppen, der Hunderte von Grenzverletzern („Spionen“) festnahm bzw. erschoß. Wurde zu einer Figur in der Kinderliteratur. Nosdrjow, Figur aus Nikolai Gogols Toten Seelen (1842) mit besonders großen, dichten Koteletten. Anschelika Warum, ukrainisch-russische Popsängerin und Schauspielerin. Nani Bregwadse, georgische Sängerin. Wjatscheslaw Nikolajewitsch Kurizyn, Kritiker und Literat. Auf das endbetonte Monno reimt sich cmblm, gesprochen gowno, das russische Wort für Scheiße. Tatsächlich hat der berühmte Schmied Linkshänder in Nikolaj Semjonowitsch Leskows (1831–1895) Erzählung Der stählerne Floh von 1881 dem englischen Miniaturfloh Hufeisen angepaßt, das mechanische Spielzeug konnte daraufhin aber nicht mehr tanzen. Die Erzählung gilt als Kritik an der selbstverschuldeten Rückständigkeit der bornierten russischen Gesellschaft. Propagandistische Bürgerkriegserzählung von Arkadi Petrowitsch Gaidar (1904–41): Das Märchen von dem Kriegsgeheimnis, dem Kibal-Knaben und seinem Ehrenwort. Uatsrior, die Schöpferfigur in der Weltrose von Daniil Andrejew (siehe S. 246). Grigori Nazianzin (um 330 bis um 390), byzantinischer Kirchenvater, Bischof, Verfasser theologischer Schriften und autobiographischer Lyrik. Sergej Anatoljewitsch Kurjochin, 1954–96, Musiker, Komponist, Arrangeur, Musikperformer („Pop-Mechanik“). Boris Grebenschtschikow, geb. 1953, Musiker, Sänger, Komponist, Texter, Gründer der legendären Gruppe „Aquarium“. Ilya Kabakov, geb. 1933, Maler, Installationskünstler. Francisco Infante-Arana, geb 1943, Autor graphischer Serien, kinetischer Objekte. Odnokamuschkin ist eine verballhornende russische Übersetzung des Wortes „Einstein“.

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S. 246 Daniil Leonidowitsch Andrejew, 1906–59, Schriftsteller, Mystiker, Dichter. In seinem Hauptwerk Rosa Mira, Die Weltrose, findet sich der erwähnte Weltentwurf. S. 248 Paraskewa Pjatniza, Heilige und Märtyrerin der Orthodoxen Kirche, lebte im 3. Jahrhundert in Ikonion (heute Konya, Türkei). S. 252 Dmitri Sergejewitsch Lichatschow, 1906–99, einflußreicher Philologe und Slawist.

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INHALTSVERZEICHNIS

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Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

1. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

2. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

3. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

4. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

5. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

6. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 7. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 8. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 9. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 10. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 11. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 12. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 13. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

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