Pokemon und Tamagochis - LWL

Und wer hätte solche Träume nicht schon vor den Pokemon .... wieder zurückzugeben, ihnen den gefährlichen Blick auf die digitale Herstellbarkeit ... bedroht ist, dass die Erwachsenen keine Geheimnisse mehr vor den Kleinen haben,.
48KB Größe 92 Downloads 381 Ansichten
Pokemon und Tamagochis

61

Armin Nassehi

Pokemon und Tamagochis Die Globalisierung unserer Kinderzimmer *) Vor einiger Zeit wurde in unseren Kinderzimmern ein Überlebenskampf geführt. Tamagochis, kleine elektronische Lebewesen mit regelmäßig zu befriedigenden Bedürfnissen und der permanenten Drohung, bei Ausbleiben der Bedürfnisbefriedigung, den Geist aufzugeben, hat eine ganze Generation von Kindern zu Höchstleistungen veranlasst. Jungen und Mädchen, die man sonst kaum dazu bekommen hatte, freiwillig Hand anzulegen, wenn es um die Pflege von Haushalt, Haustier und Hausflur ging, haben sich nun rührend um die Bedürfnisse jener Wesen gekümmert – stets im Angesicht ihres Ablebens. Nun, es hat alles nichts genützt. Die niedlichen kleinen Elektroniktiere scheinen ausgestorben zu sein. Nachdem nun die Tamagochis den Weg alles Irdischen, zumindest alles irdischen Elektronikmülls gegangen und inzwischen im ewigen Recycling ökologisch korrekter Zirkulation verschwunden sind, beginnen nun neue Wesen unsere Kinderzimmer zu bevölkern: Pocket Monster, kurz: Pokemon, die über eine erstaunliche ökologische Bandbreite verfügen. Sie sind sowohl als Abziehbildchen als auch als Zeichentrickfiguren, sowohl als Aufdruck auf T-Shirts als auch auf Kinoleinwänden, sowohl auf Internet-Homepages als auch als Fernsehfiguren, sowohl als Game-BoyFiguren als auch als Gegenstand gelehrter Vorträge lebensfähig und beweisen damit eine ungeheure Flexibilität. Die kurioseste ökologische Nische, in der ich sie bis jetzt auftreiben konnte, war in Form von Nudeln in einer allzu süßen, das soll wohl bedeuten: kindgerechten Tomatensauce, die in Dosen einer berüchtigten KetchupBrauerei vertrieben wird. I. In Deutschland wurden die ersten Exemplare dieser Spezies im September 1999 als Zeichentrickfiguren in einer Serie eines privaten Fernsehsenders gesehen, im Oktober des gleichen Jahres dann als Spielfigur auf Nintendo-Gameboys und im April 2000 als Kinofilm. Begonnen hat die ganze Geschichte in Japan. Ein junger Mann mit Namen Satoshi Tajiri hat die Gestalten Mitte der 90er Jahre entwickelt. Er stammt aus Machido, einem westlichen Tokioter Vorort, der in seiner Kindheit und Jugend noch nicht städtisch geprägt war und also von allerlei heimischem Getier in Reisfeldern und Wäldern bevölkert wurde. Tajiri galt, so seine Selbstauskunft in einem Interview des amerikanischen TIME-magazin, als leidenschaftlicher Beobachter und Sammler von Insekten, v.a. von Käfern, wurde von seinen Freunden Dr. Bug gerufen und erlebte die nachfolgende Urbanisierung seiner Heimatregion als Verlust. Die Käfer verschwanden mit den Reisfeldern und Wäldern, das Leben verlagerte sich immer mehr vom Bildschirm des wirklichen Lebens auf das Leben im Bildschirm. Fernsehen und Video-Spiele wurden nun die bevorzugte Spielwiese, an der Leidenschaft für die possierlichen Tierchen änderte das aber nichts. Satoshi Tajiri entwickelte sich zu einem kenntnisreichen Experten für Videospiele, gewann im Alter von 16 Jahren einen Designwettbewerb für Videospiele und entwickelte schließlich jene Figuren, die uns nun als Pokemon bekannt sind, insekten- und käferähnliche Wesen mit Mitteilungen LJA WL 149/2001

phantastischen Fähigkeiten, die Tajiri unmittelbar den Objekten seiner kindlichen Begierde, jenen Käfern seiner suburbanen Vergangenheit nachempfunden haben will. Und weil der junge Entwickler nach kooperativen Spielformen ____________________________ *) Vortrag in der Kunsthalle Baden-Baden am 20. September 2000; ausgestrahlt in der Tele-Akademie des SWR und in 3Sat im März 2001; gekürzte Fassung am 1. September 2001 in der FAZ Ausschau halten wollte, hielt er den Game-Boy von Nintendo für das entscheidende ökologische Umfeld, weil sich diese Geräte mit Hilfe von Kabeln verbinden lassen und so kooperatives Spielen möglich machen. Er bot das Programm und das Konzept der Firma Nintendo an, die den Game-Boy schon fast vom Markt nehmen wollte. Nintendo brachte im Frühjahr 1996 die ersten beiden Pokemon-Editionen auf den Markt, und seitdem boomt die Sache, seit 1998 auch in der Vereinigten Staaten, wo die Pokemon enorme Hysterie auf beiden Seiten auslösten: bei den Nutzern ebenso wie bei den Gegnern, die in den kleinen Monstern Teufelswerk sahen, das der Bibel widerspreche – in den USA zwar kein seltenes Argument von konservativen Kulturkritikern, aber zumindest ein Zeichen dafür, dass die Pokemon auf dem richtigen Weg sind, auf dem richtigen Weg zumindest, ein Welterfolg zu werden. Und das Konzept wurde ein Welterfolg, ein Selbstläufer, ein globaler Untermieter unserer Kinderzimmer. Der Begriff des global players bekommt damit eine ganz neue Bedeutung: Sie spielen alle das Selbe, ob in Tokio oder Osaka, in München oder London, in Washington oder Los Angeles. Und sie spielen nicht nur auf dem Gameboy, sie sind Fernsehstars, Filmhelden und sogar, man glaubt es nicht, Helden von Büchern. Nach dem enormen Erfolg der Figuren gefragt, antwortet der heutige Pokemon-Chefdesigner Ken Sugimori im Interview einer deutschen Illustrierten: „Ich wollte, dass die Pokemon aussehen, als könnten ihnen die Kinder hinter der nächsten Ecke begegnen. Lebendig, nicht künstlich wie in amerikanischen Comics. Außerdem sollte man ihnen ansehen, was ihre Stärken sind. Pikachu zum Beispiel verteilt Stromstöße. Deswegen hat er einen Schwanz, der aussieht wie ein Blitz. Und er sollte strahlen wie Licht. Deswegen ist er gelb. Das verstehen Kinder sofort.“ Und in der Tat: Sie begegnen Kindern ja tatsächlich hinter jeder Ecke, und diese verstehen sie auch sofort. Es scheinen also wirklich ganz lebendige Wesen zu sein. II. Das ist eine schöne Geschichte, nicht wahr? Vor allem schön inszeniert und präsentiert! Man darf Mythen und Legenden aber nicht danach beurteilen, ob sie wahr sind oder nicht. Wer soll das schon entscheiden. Das gelingt uns zumeist nicht einmal mit der eigenen Lebensgeschichte, bei der wir ja meist dabei sind. Interessanter ist vielmehr, ob ein Mythos seine eigene Erzählung überlebt. Ganze Kulturen und Gesellschaften – auch die unsere christlich-abendländische – ist bisweilen auf solche Geschichten aufgebaut, auf Erzählungen eines Ursprungs, und die Erzählung ist nur dann wahr, wenn sie weitererzählt wird. Deshalb ist die Verkündigung des Evangeliums viel wichtiger als seine historische Wahrheit, die Erzählung einer plausiblen Lebensgeschichte viel wichtiger als ihre tatsächliche Plausibilität und die Anschlussfähigkeit eines Mythos viel wichtiger als sein objektiver Inhalt. Das gleiche gilt auch für alltags- und trivialkulturelle Phänomene, die niemals für sich

Mitteilungen LJA WL 149/2001

Pokemon und Tamagochis

63

stehen, keinen „objektiven“ Bedeutungsgehalt haben, sondern nur dadurch existieren, dass sie erzählt werden, dass man sie wahrnimmt und weiterträgt, dass sie sich sichtbar machen, dass sie präsentiert und repräsentiert werden. Auch sie tragen stets einen Mythos in sich, einen Kern, der sich nur erzählerisch zeigt, nicht von selbst. Der Mythos der Pokemon scheint darin zu bestehen, dass hier Fabelwesen, die es eigentlich nicht gibt, die Kindern aber hinter jeder Ecke begegnen, dass also solche Fabelwesen nicht nur als das Ergebnis einer geradezu unglaublichen MerchandisingMaschine erscheinen, sondern tatsächlich als Ergebnisse einer Geschichte, die immer weiter erzählt wird, die Kinder sich aneignen und von der sie sich fesseln lassen. Und Kinder scheinen diese Geschichte gerne zu hören, sonst wäre die MerchandisingMaschine längst trockengelaufen. Was soll man nun davon halten? Die üblichen Verdächtigen sind schnell ausgemacht: einerseits eine Kulturindustrie, deren Vermarktungsstrategie vor nichts und niemandem zurückschreckt und die bei Kindern ganz offensichtlich Bedürfnisse befriedigt, die es ohne ihr Angebot nicht gäbe; andererseits Massenmedien, deren Botschaft nicht einmal mehr das Medium ist, sondern nur der schnelle Durchlauf von vermeintlich immer wieder Neuem. Es liegt nahe, zunächst diese Verdächtigen dingfest zu machen und einem peinlichen Verhör zu unterziehen. Was dabei herauskommt, haben wir aber immer schon gewusst: Es ist die Bestätigung unseres gewohnten Affekts gegen den Kommerz und die Vermarktung sowie unseres bildungsbürgerlichen Affekts, der genau weiss, was gut ist für unsere Kinder und ihre bevorstehende Bildungs- und Lebenskarriere. Im übrigen sind dies natürlich auch jene Verdächtigen, die zu benennen Sie sicher von einem Soziologen erwarten. Und der Soziologe hätte ja auch Recht: Sowohl Vermarktungsstrategie als auch Bildungsferne, sowohl der brutale Primat des Kommerzes als auch die Ferne zum Kanon unserer gewohnten Literalität lassen sich am Phänomen der Pokemon nur allzu gut bestätigen. Wenn wir uns aber damit zufrieden geben, unsere lieben Kleinen – und wir – seien nur Opfer einer gewaltigen Verdummungs- und Verblödungsmaschinerie, geben wir womöglich manchen Marktstrategien und auch Befürchtungen vorschnell Recht. Es scheint mir zu einfach zu sein, die Abnehmer kommerzieller Angebote – welcher Art auch immer – für willenlose Objekte zu halten, die auf den Reiz des Angebotes nur wie Pawlowsche Hunde „Kaufen, Kaufen“ bellen können. Beschränkt man sich darauf, dann geht womöglich der Blick für die viel subtilere Frage verloren, warum eine solche Merchandising-Welle überhaupt funktionieren konnte. Vielleicht muß man die eher kultursoziologische Frage stellen, was den Bedeutungsgehalt der PokemonGeschichten so anschlussfähig, so erzählenswert macht. Es geht also um die Frage, warum es jenen Wesen, die nun wirklich nicht so lebendig sind, dass man sie hinter jeder Ecke erwarten könnte, gelingt, doch hinter jeder Ecke zu erscheinen. Als Kultursoziologe, der sich für die Phänomene und ihre praktische Entfaltung interessiert, muß man auch den Spaß ernst nehmen, auch das Unseriöse seriös beobachten, auch das womöglich Gedankenlose einem Gedanken aussetzen. Man muß also ganz ernsthaft und zunächst unter Zurückstellung kommerzkritischer und bildungsbürgerlicher Ressentiments fragen: Was finden Kinder eigentlich an den Pokemon? Und noch spannender ist die Frage: Warum sind wir so ratlos darüber, dass wir gelehrte Vortragsveranstaltungen darüber abhalten müssen? III. Ich möchte zunächst kurz erläutern, worum es bei den Pokemon eigentlich geht. Mitteilungen LJA WL 149/2001

64

Armin Nassehi

Pokemon sind in der Tat zumeist Insekten nachempfundene Wesen. Es gibt in den ersten beiden Editionen 151 verschiedene Pokemon, die sich v.a. dadurch unterscheiden, dass sie spezielle Kampftechniken haben, die sie gegeneinander einsetzen können. So gibt es etwa Elektro-Pokemon, die mit Elektroschocks arbeiten, Feuer-, Gift-, Eis- oder Wasser-Pokemon, aber auch Psycho-Pokemon, die mit telekinetischen Kräften kämpfen können. Die Pokemon sind aber letztlich nicht die Hauptpersonen des Spiels, sondern ihre Trainer, die gegen andere Trainer antreten, indem sie ihre Pokemon gegeneinander kämpfen lassen. Held der Geschichte ist Ash Ketchum, ein zehnjähriger Junge aus dem Dorf Alabastia, der übrigens in den japanischen Editionen Satoshi heißt, wie der Erfinder der ganzen Pokemon-Idee. Ash möchte der beste Pokemon-Meister werden und nimmt an der Pokemon-Liga teil, in der verschiedene Trainer miteinander kämpfen, indem sie ihre Pokemon aufeinander hetzen. Ein guter Trainer wird man durch Detailwissen über die spezifischen kämpferischen und charakterlichen Fähigkeiten der Pokemon, um entsprechend entscheiden zu können, wer taktisch und strategisch am besten gegen wen einzusetzen ist. Jeder Pokemon-Trainer kann pro Spiel sechs Pokemon einsetzen, und es gibt immer einen klaren Sieger. Hauptkonkurrent von Ash ist Gary, ein gleichaltriger Junge aus dem selben Dorf, der ebenfalls in der Pokemon-Liga reüssieren will und sich spannende Duelle mit Ash liefert. Die Pokemon werden in kleinen Kugeln mitgeführt und durch Knopfdruck in den Kampf geschickt. Sie sind übrigens wandelbare Wesen, die ihre Fähigkeiten und ihre Gestalt im Laufe der Kämpfe verändern und letztlich nicht nur von den Trainern eingesetzt, sondern auch miterschaffen werden. Es treten neben Ash und Gary noch eine Reihe weiterer Akteure auf, von denen ich nur das Team Rocket erwähnen möchte, eine Bande von Finsterlingen, deren Ziel darin besteht, die ehrlichen, fairen und letztlich freundschaftlichen Wettkämpfe zu stören und die Herrschaft über die Pokemon zu erlangen. Sie werden meist als ebenso böse wie dumm dargestellt. Auch sie setzen Pokemon zum Kampf ein, um ihre finsteren Ziele zu erreichen. Pokemon-Kämpfe kommen also nicht nur im sportlichen Wettkampf vor, sondern auch im „richtigen Leben“, wo sich die Geschichte bisweilen nicht entscheiden kann, ob die Pokemon nur als mechanische Werkzeuge oder auch als eine Art Partner behandelt werden. Diese Konstellation ist letztlich die Grundlage sowohl für die Kinofilme als auch für die täglichen Zeichentrickserien im Fernsehen, die inzwischen auch in Buchform erhältlichen Geschichten sowie natürlich für die Nintendo-Spiele, die ja der Ausgangspunkt der ganzen Sache waren. Die Game-Boy-Spiele sind so aufgebaut, dass der Spieler in die Rolle von Ash schlüpft und gegen Gary antreten muss. Der tiefere Sinn des Spiels besteht auch hier darin, die vom Computer in den Kampf geschickten Pokemon mit der Auswahl eigener Pokemon zu parieren und so Punkte zu machen. Dabei muss der Spieler die Charaktere und Fähigkeiten der Pokemon kennen. Durch Siege lassen sich dann die unterlegenen Pokemon gewinnen, und zu wahrer Meisterschaft hat es derjenige gebracht, der alle Pokemon gewinnen konnte. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass das Marketing in das Spiel selbst eingebaut ist, denn die einzelnen Editionen enthalten nie alle Pokemon, die man fangen und sammeln könnte. Man muss also mit Besitzern anderer Editionen über ein Verbindungskabel tauschen, oder es müssen mehrere Editionen her, die zu kaufen man sich als Eltern dann nur schwer widersetzen kann. In dem Slogan „Schnapp’ sie Dir alle!“ ist also sowohl die Logik des Spiels als auch die des Marketings eingebaut. IV. Mitteilungen LJA WL 149/2001

Pokemon und Tamagochis

65

So weit eine kurze Charakterisierung der Pokemon-Idee. Die Grundidee ist simpel, und sie ist konventioneller, als die ganze Sache zunächst den Anschein hat. Es handelt sich letztlich um eine Heldengeschichte. Vor allem die Kino- und Fernsehfilme triefen geradezu vor heroischem Pathos. Es wird zum einen der Wille zur Selbstvervollkommnung vor allem von Ash beschworen, für den die Entwicklung zu einem guten Trainer so etwas wie eine Bewährungsprobe ist, ein Symbol für Persönlichkeitsbildung, individuelle Stärke und Selbstbehauptung. Zum anderen wird an Freundschaft und Solidarität appelliert, an Fairneß und, wenn man so will, Zivilität. Ash als erzähltes Ich, als Held der Geschichte, als Identifikationsfigur für die Kinder ist gewissermaßen der selbstkontrollierte, vernünftige, man muß auch sagen: männliche Charakter, der sich klaren Regeln unterwirft und sie individuell umsetzen soll. All das wird mit einem Pathos vorgetragen, das eher an das bürgerliche Individuum des Westens erinnert als an das, was man im ersten Moment mit Japan verbindet. Satoshi Tajiri interpretiert seine Figuren denn auch interessanterweise gerade nicht japanisch. Er meint, in Japan liege das Interesse mehr auf den Pokemon, die Spieler träten eher in den Hintergrund, sie seien gewissermaßen Partner, selbst als Konkurrenten noch Teile eines Spiels. Er spricht in dem schon erwähnten TIME-Interview – unter Hinweis auf japanische Kampfsportarten – von einem spezifischen „Japanese concept of respect“. Die Individuen treten sozusagen hinter das Spiel zurück, Hauptpersonen sind die Pokemon, die ja auch nicht (in erster Linie) als individuelle Personen, sondern als Kämpfer mit hoher Kampfleistung, aber ansonsten geringem Verhaltensrepertoire auftreten. In den USA dagegen, und das gilt ganz offenkundig auch für Europa, treten die Pokemon nur in Kombination mit Ash bzw. anderen Trainern auf. Sie sind hier nur Mittel zum Zweck, wenn man so will: Werkzeuge zur Arbeit an der individuellen Selbstvervollkommnung. Tajiri meint, die Amerikaner hätten sein Konzept besser verstanden als die Japaner. Er sagt: „The Japanese focus on Pikachu, but what I think is important is the human aspect – you need Ash.“ Der menschliche Aspekt, von dem hier die Rede ist, ist exakt der, auf den das Pathos der Fernsehserie und der Filme sowie der Spielanleitungen zugeschnitten ist: Sei ein Held, wähle Dich selbst, vervollkommne Dich, sei stark, lerne aus Niederlagen, lass Dich nicht unterkriegen, gib nicht auf usw. Man kann all das vielleicht zusammenfassen in dem Appell: Behalte die Kontrolle!, was in doppeltem Sinne gilt: die Kontrolle über Dich selbst, indem Du einen langen Atem hast und die Befriedigung Deiner Wünsche in die Zukunft verlagerst, und die Kontrolle über die Pokemon, die Du instrumentell einsetzen sollst, mit vernünftigen Gründen und rationaler Kenntnishaftigkeit. Sie sehen, es sind dies all die Schlüsseltugenden dessen, was man das bürgerliche Subjekt des Westens nennen kann, das heroische Ich, das, wie Sigmund Freud formuliert hatte, Herr im eigenen Haus sein will, sich aus freien Stücken den Regeln der Welt unterwirft, ein Individuum, das seine Individualität ganz in den Dienst einer Sache stellt, und zwar einer Sache, die nicht nur dem gegenwärtigen Kontext angehört, sondern auf die zukünftige Lebensgeschichte zielt. Der Held der Geschichte ist ein bürgerlicher Held, ein braver Held, ein männlicher Held. Er ist ein konventioneller Held, nichts anderes, immerhin aber: ein Held. Die ganze Ästhetik der Geschichte ist eine Ästhetik des Sports. Dazu gehört der Aspekt des Trainings und des Wettkampfes, des Siegens und Verlierens, dazu gehört die Tatsache, dass in den filmischen und Fernsehinszenierungen die Arena der PokemonLiga eine zentrale Rolle spielt, eine Arena, in der die anderen als amorphe Masse vorkommen, als Publikum. Und dazu gehört auch der filmische und TV-Erzähler, der das Geschehen im Stile einer Sportreportage kommentiert. Sport ist ein kanalisiertes, Mitteilungen LJA WL 149/2001

66

Armin Nassehi

ein ritualisiertes Abenteuer, das überschüssige Energie, Aggressionen, den Willen zur Macht und die Selbstexponierung nicht beliebig steigerbar macht, sondern im Gegenteil kanalisiert, begrenzt. Sport ist letztlich die einzige gesellschaftlich legitimierte Form des Wettbewerbs, in dem man den anderen unterwerfen darf. Sport ist der einzig legitime Stoff, aus dem man Sieger macht. Und ein Sieger muss zumindest ein Held sein oder wenigstens potentieller Held. All das ist natürlich attraktiv. Wer hätte als Jugendlicher – und wirklich nur als Jugendlicher? – nicht gerne selbst in einer Arena den entscheidenden Punkt gemacht. Wer hätte nicht gerne selbst Gerd Müllers Tor zur Weltmeisterschaft 1974 geschossen oder das von Andreas Brehme 1990? Und wer hätte solche Träume nicht schon vor den Pokemon gekannt? Was ich bis jetzt zu zeigen versucht habe, macht das ganze Pokemon-Fieber letztlich noch rätselhafter, denn diese konventionelle Konstellation, dieser Appell an Bürgerlichkeit, das ganze falsche Pathos autonomer Unterwerfung unter Regeln, die ganze sublimierte Abenteuerlust ist doch alles andere als so originell, dass man damit die geradezu überbordende Attraktivität des Phänomens für Kinder erklären könnte. Es ist letztlich eine der vielen einfach gestrickten Selbstbehauptungsgeschichten mit dem falschen Pathos von Alltagshelden, die wir im Alltag ja selten sind und die nicht nur in den Kinderprogrammen vorkommen. Also doch nur die kluge MarketingStrategie zur repressiven Befriedigung nicht vorhandener Bedürfnisse? Im übrigen sind weder die Zeichentrickfilme noch die Spiele ästhetisch wirklich gut gemacht. Sie dürften nicht einmal technisch auf dem neuesten Stand der Möglichkeiten sein, aber auch dies tut ihrer Attraktivität offensichtlich keinen Abbruch. V. Vielleicht hilft ja ein Blick auf die Pokemon selbst weiter. Die Pokemon sind zunächst nichts anderes als Werkzeuge der Helden, willige Instrumente, halb lebendige, halb mechanische Wesen. Aber es scheinen diese Wesen zu sein, die die Attraktivität des Ganzen ausmachen. Ich habe bereits erwähnt, dass die Pokemon sich vor allem durch verschiedene Kampftechniken unterscheiden, die sie gegeneinander einsetzen, bzw. die von den Trainern gegeneinander eingesetzt werden. Aber nicht das ist das Entscheidende, sondern ihre, wenn man so will, Reduktion auf Information. Letztlich spielen die Trainer, also: unsere Kinder, mit genetischen Informationen, mit einer Art Bauplan, der bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten festlegt und die Kampfwesen charakterisiert. Man kann die wesentlichen genetischen Codierungen der Pokemon auf den Pokemon-Karten, auf den Game-boys sowie auf zahlreichen Internet-Seiten besichtigen. Was sich die Trainer zu merken haben, ist letztlich diese Information, also die Reduktion dieser Wesen auf ihre kampfrelevanten Grundkomponenten. Der Zugang zu den Pokemon läuft nur in zweiter Linie über ihr Aussehen oder sonstige Attraktoren – eine Ausnahme ist Pikachu, der wohl nur aus werbetechnischen Gründen immer zusammen mit Ash dargestellt wird. Pikachu ist das einzige Pokemon, das ähnliche Züge annimmt wie andere Zeichentrickfiguren, die an Niedlichkeit oder Kindlichkeit appellieren. Man wird durch Pikachus Sprache eher an die Teletubbies erinnert als an Monster und Kampfmaschinen. Alle anderen Pokemon bleiben letztlich frei von einer anthropoiden, menschenähnlichen Identität, sondern sind bloße Funktionen ihrer genetischen Kanpfcodierungen. Sie gerinnen zu bloßer Information, und die Kunst der Trainer besteht darin, diese Information lesen zu lernen und mit ihr zu operieren. Anders als die meisten Helden klassischer Comics sind die Mitteilungen LJA WL 149/2001

Pokemon und Tamagochis

67

Pokemon keine Parabeln auf menschliche Situationen, keine Gleichnisse, in denen wir die bürgerliche Botschaft zu lernen haben, ein pflichtmäßiges Leben zu führen – das war ja die weltweite Botschaft der Donald-Duck- und Mickey-Mouse-Figuren Walt Disneys, die Tugenden amerikanischer suburbs zu transportieren, und das mit dem unbestechlichen Charme, auch noch die offenkundigen Versager sympathisch darzustellen. Solche Analogien findet man – zumindest auf den ersten Blick – bei den Pokemon nicht. Sie sind nicht einmal auf irgendeine Erscheinungsform festgelegt. Sie sind also völlig kontingente Wesen, d.h. sie könnten immer auch anders sein. Sie sind nicht nur konstruierte Wesen, sondern sie sind auch Wesen, denen man unmittelbar ansieht, dass sie konstruiert sind, die auf die Prinzipien ihrer Konstruktion, ihren Bauplan, ihre genetische Information reduzierbar sind. Vielleicht könnte sich darin das Besondere der Pokemon zeigen und auch das, was sie für Kinder derzeit so attraktiv macht. Ich möchte die These vertreten, dass die Pokemon, von ihren Machern sicher ungewollt, nicht intendiert und ebensowenig begriffen, einen Zug der gegenwärtigen Kultur auf erstaunlich beeindruckende Weise repräsentieren, der sie tatsächlich als etwas Besonderes erscheinen lässt. Man könnte diese Tendenz als Digitalisierung der Kultur bezeichnen, als Reduktion von prallen Formen des Lebens auf einen Satz von Informationen und eben nicht analogen, sondern digitalen Formen. Digitalisierung meint so etwas wie die Sichtbarmachung von Konstruktionsprinzipien, die Offenlegung von Kontingenzen, die Beleuchtung dessen, was wir bis vor kurzem noch als den dunklen Abgrund unserer Existenz, bisweilen als Natur oder etwas schöner noch Schicksal genannt haben. Das Klonen und die Herstellung von analogen Lebewesen durch Kontrolle ihrer digitalen Informationen, das könnte der Traum des 21. Jahrhunderts werden, der exakt das sichtbar machen will, was wir bis vor kurzem einem allmächtigen Gott und bis heute einer noch mächtigeren Natur zurechnen: die Zufälligkeit unserer jeweiligen Existenz – und dann werden sogar die Werkzeuge der Menschen, die Pokemon, zu Parabeln, zu Parabeln einer Kultur der Digitalisierung. Im ersten Pokemon-Film geht es exakt darum. Ein Team von Forschern findet eine versteinerte Augenbraue des legendären Urzeit-Pokemon Mew und kann seine DNS isolieren. Es gelingt den Forschern, daraus eine genetische Kopie des Urzeit-Wesens zu klonen. Das Ergebnis ist Mewtu, das, wie sich herausstellen sollte, mächtigste Pokemon, das je gesehen wurde. Eine Schlüsselszene ist das Erwachen des Klons, das sich seiner bewusst wird. Als ihm erklärt wurde, dass es ein Klon des legendären Mew sei, fragt das neue Wesen verwirrt: „Warum? Warum habt Ihr das gemacht?“ Die Antwort der Forscher ist klar: um zu beweisen, dass es geht und um in Experimenten zu schauen, was das Geschöpf alles kann. Aber Mewtu fühlte sich nicht wie ein wissenschaftliches Experiment. Es erlebte sich als ein lebendes, fühlendes Wesen. Es wurde dann wütend und aggressiv und prophezeite: „Euch wird ich’s zeigen, wozu ich fähig bin!“ Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Mit weiteren PokemonKlonen versucht Mewtu Herrschaft an sich zu reißen, zu zerstören, sich zu rächen. Sie haben wahrscheinlich schon erraten, wer die Welt retten wird, Ash natürlich, der sich einerseits als genialer Pokemon-Trainer herausstellt, andererseits aber auch als jemand, der dem unglücklichen Klon am Ende zeigen kann, dass nicht die digitale Herkunft das Entscheidende ist, sondern das analoge Leben, also das, was man daraus macht. Dass Ash bei der Sache fast ums Leben kommt, versteht sich fast von selbst, ebenso, dass sich am Ende alles zum Guten wendet. Interessanter ist die

Mitteilungen LJA WL 149/2001

68

Armin Nassehi

Tatsache, dass die Geschichte fast unmerklich auf die kulturellen Folgen der Digitalisierung aufmerksam macht. VI. Ich habe vor einiger Zeit einmal versucht, die Konsequenzen herauszuarbeiten, die die Möglichkeit des Klonens von Menschen oder auch nur der digitalen, also genetischen Herstellung bestimmter menschlicher Merkmale, für unser kulturelles Selbstverständnis hätte. Mich interessierten dabei nicht moralische oder technische Fragen, sondern die Frage, welche Folgen es für einen Menschen hätte, wenn er wüsste, dass sein So-Sein, seine Existenz, womöglich: sein Leiden an der Welt nicht Ergebnis eines unerforschlichen göttlichen Ratschlusses oder einer zufälligen und blinden Natur ist, sondern das Ergebnis menschlicher Entscheidungen. Es wird uns jetzt erst deutlich, wie wichtig die Unverfügbarkeit über die Grundlagen unserer Existenz ist, wie wichtig es ist, die Bedingung unserer eigenen Möglichkeit nicht selbst bestimmen zu können. Andernfalls ließe sich Scheitern, Unglück, Unrecht usw. nicht aushalten. Die Beleuchtung des dunklen, unsagbaren Abgrundes unserer Existenz, schlicht die Tatsache, dass wir nicht dabei sind, wenn unsere je individuelle genetische Disposition entsteht, scheint so etwas wie die Bedingung für menschliches Selbstbewusstsein zu sein. Das Radikale und Unausweichliche an diesem Problem besteht übrigens darin, dass nicht nur das Klonen oder genetische Manipulieren selbst in diesen Strudel gerät, sondern auch das Nichts-Tun. Schon die bloße bio-technische Möglichkeit verändert unser Selbstverhältnis, selbst wenn es völlig naiv ist, zu glauben, dass unser soziales Leben von unserer individuellen genetischen Disposition determiniert würde. Aber trotzdem: Warum sollte ein mit natürlichem Genom ausgestatteter Mensch seinen Eltern nicht vorwerfen, sich auf jenen biologischen Zufall verlassen zu haben, der zu jener individuellen Person geführt hat, die sich da beklagt? Diese Frage nach seiner bio-technischen Herkunft hat Mewtu gestellt. Dies ist keineswegs eine Überinterpretation. Der erste Pokemon-Film ist eine – und ich behaupte noch einmal: von seinen Machern wahrscheinlich kaum intendierte – treffende Repräsentation dieser Widersprüche, in die unsere Kultur der Totalkontrolle, der Digitalisierung, des Klonens von Lebewesen geraten wird, und vielleicht macht das die Attraktivität der ganzen Sache aus. Charakteristisch für das PokemonPhänomen scheint mir zu sein, dass es zweierlei verbindet: einerseits die geradezu traditionell bürgerliche Botschaft des autarken, des autonomen, des pflichtbewussten, des an sich arbeitenden Subjekts, das sich selbst vervollkommnen muß und letztlich ein instrumentelles Verhältnis zur Welt hat – die Welt dieser Botschaft ist die Welt von Ash, in der die Pokemon letztlich nur als Instrumente vorkommen und in der ein distanziertes Verhältnis zu halb lebendigen, halb mechanischen Wesen besteht, ein Kontrollverhältnis. Die Welt von Ash ist eine Kontrollwelt. Es geht alles darum, die Kontrolle zu behalten, Ordnung, Eindeutigkeit und vor allem eine stabile Identität zu erreichen. Und es ist eine Welt, die Kinder zur Identifikation einlädt, zur Identifikation mit einem Helden, der sie auch sein könnten. Es ist eine analoge Welt, eine Welt, in der man leben kann. Andererseits präsentiert die Pokemon-Welt eine geradezu phantastische, geradezu beliebige Welt der Konstruktionen, der instabilen Identität, wenn man so will: der postmodernen Dekonstruktion. Es ist eine digitale Welt, eine Welt, die permanent im Fluß ist. Der Charme der Geschichte besteht darin, beides zu verbinden, die Kontrollwelt und die stabile Identität vor dem Hintergrund einer Welt zu formulieren, in der sich nichts mehr den Bedingungen einer festen, einer stabilen Identität fügt. Verbunden werden Mitteilungen LJA WL 149/2001

Pokemon und Tamagochis

69

die beiden Welten dadurch, dass die einfache Botschaft, ein identitätsstabiler Held zu sein, vor dem Hintergrund einer Welt verkündet wird, in der das womöglich bald bedroht ist. Ich weiß nicht, ob es vielleicht die Konfrontation dieser beiden Welten ist, die auf den japanischen Ursprung der Pokemon hinweisen. Die Faszination Japans aus der Perspektive des Westens ist es ja gerade, eine viel geschmeidigere, darin aber auch viel regelhaftigere Form der Individualität zu pflegen, eine Individualität, die sprachlich bisweilen völlig zurücktritt. Manche Soziologen sehen im japanischen Typus des Individuums eher ein Kontextuum, das hinter strengen Kommunikationsregeln am liebsten verschwindet. Sicher ist dies eine allzu vereinheitlichende Charakterisierung, aber sie verweist zumindest auf eine kulturelle Tradition, die eben nicht auf jenem liberalprotestantischem und katholisch-gegenreformatorischem Persönlichkeitsideal subjektiver Einheit und Widerspruchslosigkeit der europäischen und nordamerikanischen Moderne aufbaut, sondern eher auf einer Kultur, die immer wieder in der Lage war, unterschiedliche Kontexte und Traditionen zu integrieren. Ich hatte ja oben schon Satoshi Tajiris Bemerkung erwähnt, in Japan spielten eher die Pokemon als Ash, bzw. dort Satoshi die Hauptrolle, also eher die an konkreten Kontexten orientierten Wesen und weniger der menschliche Held. Vielleicht repräsentieren ja die in den Pokemon-Episoden auftretenden zwei Welten auch so etwas wie einen Generationen-Konflikt einer inzwischen globalisierten jungen japanischen Generation und ihrer massenkulturellen Repräsentation. Wenn es einen Grundzug der modernen, und zwar der global modernen Kultur gibt, dann ist es in der Tat jener Zug zur Digitalisierung von Traditionen, die Entbettung des zuvor Selbstverständlichen und die Konstruktion neuer Welten, die sich immer weniger der kulturellen Hegemonie des europäischen Bildungsbürgertums fügen. Vielleicht wird deshalb das 21. Jahrhundert nicht mehr das Jahrhundert Europas und Amerikas sein, sondern das Jahrhundert Ostasiens. Und selbst wenn das nur eine Projektion des Westens ist, so kommt sie nicht zufällig zustande. VI. Ich habe am Anfang angekündigt, dass ich mich dem Phänomen der Pokemon nähern will, indem ich auch das Spaßige ernst nehme, auch das womöglich Unseriöse seriös betrachte, auch das Gedankenlose einem Gedanken aussetze. Und für mich ist dabei herausgekommen, dass die Pokemon-Hysterie womöglich damit zu erklären ist, dass sie nicht nur eine beliebige Geschichte erzählt, sondern eine Geschichte, deren Bedeutungsgehalt bis in Grundprobleme gegenwärtigen Kulturwandels vorstößt. Ich meine nicht, dass es eine Überinterpretation ist, in den Pokemon durchaus auch so etwas wie eine Parabel auf die Digitalisierung unseres Kulturverständnisses zu sehen, auf die Widersprüche und Brüche, die uns erwarten, wenn wir über so etwas wie kulturelle Informationstechniken das moderne Modell der instrumentellen Vernunft auf die Spitze treiben. Ich gebe zu, dass ich erstaunt bin, was hinter den Pokemon steckt. Und den schönsten Clou aus der Film-Geschichte habe ich Ihnen noch vorenthalten. Nach dem guten Ausgang der Geschichte, gewissermaßen nach der Wiederherstellung der Ordnung beschließt das (all)mächtige Pokemon Mewtu, den beteiligten Menschen die Gabe der Unwissenheit wieder zurückzugeben, ihnen den gefährlichen Blick auf die digitale Herstellbarkeit selbstbewusster Lebewesen zu ersparen. Mewtu lässt die Beteiligten die ganze Sache vergessen, versetzt sie wieder in den paradiesischen Zustand der Nicht-Erkenntnis und Mitteilungen LJA WL 149/2001

70

Armin Nassehi

lässt sie neu beginnen und mit ihren kleinen Freuden der Pokemon-Wettkämpfe weitermachen. Die Geschichte nimmt biblische Ausmaße an. Und bizarr ist geradezu, dass wir all dies von einem Pokemon lernen, das dann doch ein menschliches, zumindest ein selbstbewusstes Wesen ist. Mich würde schon interessieren, ob die Autoren der Geschichte diese Dimension selbst gesehen haben, oder ob es eher der Zugzwang der Geschichte war, der ihnen das in die Feder diktiert hat. Man sieht: Es ist schon erstaunlich, was man zu lesen bekommt, wenn man Pokemon wirklich liest. Und so setzt sich erneut die kultursoziologische Erkenntnis durch, dass man über den massenkulturellen Geschmack, über jene Formen, die vielleicht gerade nicht museums- und vortragsfähig sind, manchmal mehr über die Verfassung einer Kultur erfährt als über jene üblichen Gegenstände, die wir in bildungsbürgerlicher Absicht der Kultur zurechnen. Es ist vielleicht manchmal ein intellektuelles Selbstmissverständnis, kulturelles Wissen und – wenn man so will – das, was unsere Zeit auf den Begriff bringt, nur in den sekundären Reflexionen von Intellektuellen und Kulturfunktionären auffinden zu können. Wir müssten öfter unsere eigene Kultur mit den Augen eines Ethnologen zu lesen versuchen, der eine ihm unbekannte Stammeskultur erforscht. Dann sieht man in den Pokemon nicht nur das Merchandising-Spektakel, das es in erster Linie sicher ist. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Offen bleibt zunächst die Frage, warum diese Geschichte ausgerechnet Kinder und Jugendliche anspricht. Ich muß gestehen, dass ich darauf keine plausible Erklärung habe. Man kann nur empirisch sehen, dass es so ist, denn sonst – ich bleibe dabei – kann noch die subtilste Marketing-Strategie keinen Erfolg haben. Vielleicht unterschätzt man auch bisweilen Kinder und Jugendliche. Sie scheinen durchaus ein Gespür dafür zu haben, wie sich die Selbstwidersprüche einer kulturellen zeigen. Vielleicht ist ja überhaupt der pädagogische und erwachsene Blick auf Kindheit und Jugendlichkeit nichts anderes als eine Projektion, eine Projektion, die vergessen hat, wie antinomisch, widersprüchlich, schmerzhaft und bisweilen ausweglos sich eigene Kindheiten und Jugendlichkeiten dargestellt haben. In der individuellen Erinnerung wie in der pädagogischen Zurichtung von Kindheit und Jugendlichkeit scheinen wir immer noch davon auszugehen, Kinder und Jugendliche vor der Welt schützen zu müssen. Sicher erinnern Sie sich an Neil Postmans inzwischen über 20 Jahre alte berühmte These vom Verschwinden der Kindheit, einer Kindheit, die v.a. dadurch bedroht ist, dass die Erwachsenen keine Geheimnisse mehr vor den Kleinen haben, dass diesen die Erwachsenenwelt zu vertraut wird, dass sie keinen Schonraum mehr haben, in dem sie sich in kindgerechten Welten aufhalten können. Es wird aber inzwischen immer unklarer, was kindgerechte Welten eigentlich sind. Ich plädiere nicht dafür, Kinder nicht vor einer Welt zu schützen, die sie überfordert und traumatisiert, aber etwas mehr Aufmerksamkeit hätten kindliche und jugendliche Lebenswelten schon verdient. Und wenn man genauer hinsieht, wird man auch feststellen, dass sich diese Lebenswelten verändert haben – sowohl familiär als auch schulisch, sowohl was ihre Wahrnehmung der sozialen Welt und ihrer Probleme angeht als auch ihr Zugang zu Massenmedien. Hier gilt es, bisweilen genauer hinzusehen und nicht immer schon zu wissen, dass bestimmte Formen der bildungsbürgerlich zugeschnittenen Norm der Erinnerung an die Bücher und Geschichten der eigenen Kindheit die besten für die Kinder sind. Die Pokemon sind sicher auch ein Zeichen dafür, wie sich die Lebenswelten von Kindern und

Mitteilungen LJA WL 149/2001

Pokemon und Tamagochis

71

Jugendlichen verändert haben. Meine Beobachtung bei den lieben Kleinen ist jedenfalls, dass sie mit all den elektronischen und auch gedruckten Medien wie auch mit den Geschichten viel distanzierter und professioneller umgehen, als dies manche Erwachsene tun, die mit den neuen Medien noch operieren wie Leseanfänger in der bayerischen Staatsbibliothek. Nimmt man Postmans These wirklich ernst, dann muß man sie heute bisweilen umkehren. Kinder und Jugendliche beginnen inzwischen immer mehr Geheimnisse vor den Erwachsenen zu haben. Dazu gehört sicher auch die Dechiffrierung etwa der Pokemon. Nicht ein Verschwinden der Kindheit würde das bedeuten, sondern ein Verschwinden des Erwachsenseins. Und die weit verbreitete Infantilität des massenkulturellen Geschmacks scheint diese These doch eher zu nähren, oder? VII. Bleiben am Ende dann doch noch einige kritische Sätze zu der perfiden Marketingund Merchandising-Strategie von Nintendo und all den Firmen im Umkreis der Geschichte zu sagen. Es spricht vieles dafür, dass sich die ganze Pokemon-Lawine gar keiner vorgängigen Strategie verdankt. Die Firma scheint eine Art Trittbrettfahrer ihres eigenen Erfolges zu sein – das aber dann mit einer Macht, die man kaum je gesehen hat. Offenbar hat Nintendo nicht im geringsten mit diesem Erfolg der Pokemon gerechnet. Es ist der Konzernstrategie aber dann gelungen, das Letzte aus der Begeisterung für die Pokemon herauszuholen. Was wir derzeit auf dem Kulturmarkt beobachten, ist selbst ein Teil jener Kultur der Digitalisierung. Alles wird instrumentell in eine Art genetischen Code zerlegt, dessen DNA aus Chromosomen der Marktgängigkeit besteht. Nichts wird da irgendeinem Zufall überlassen, und nichts hat noch den Charme kultureller Ursprünglichkeit und Unberührtheit. Authentizität, eigentliche Bedeutung und ästhetische Wahrheit wurden zerlegt in einen Code, der es der Kulturindustrie erlaubt, zielgruppengerechte Versatzstücke sowohl weltweit als auch angepasst an bestimmte regionale Bedürfnisse zu produzieren. Dass auch hier mit „genetischen“ Manipulationen gearbeitet wird, kann man etwa am Musikmarkt schön beobachten. Für mich ist das eindrucksvollste Beispiel einer solchen Strategie das, was man in Deutschland derzeit Volksmusik oder volkstümliche Musik nennt – ein Kunstprodukt aus allerlei Zutaten, deren Konstruktivität und kulturindustrieller Produktcharakter so sichtbar ist, dass man ihre Stars fast für Pokemon halten möchte. Kommerz, das ist heute nicht mehr nur das Überstülpen der ökonomischen Logik über die Kultur, sondern die Sache selbst. Aber wer das kritisiert – und wer sollte das nicht kritisieren? –, muss sich fragen lassen, was die Alternative ist: Die Rückkehr zur bürgerlichen Eindeutigkeit der Hochkultur? Das akademische Dekretieren verbindlicher Kriterien? Oder der gute Geschmack? Vielleicht aber auch nur die Frage, ob sich damit leben lässt oder nicht, und das wird in unserer Zeit immer mehr eine Frage von unten und nicht von oben. Das Gleiche gilt für die Frage, was wir unseren Kindern zumuten dürfen und was nicht. All das macht das Leben nicht leichter, aber, ich glaube, das wussten wir schon.

Armin Nassehi Prof. Dr., Institut für Soziologie der Universität München Mitteilungen LJA WL 149/2001