Paracetamol – ein Wolf im Schafspelz - BIOspektrum

Die Berater der Food and. Drug Administration der USA (FDA) gehen weiter: Sie empfehlen zusätzlich kleinere Ein- zeldosen. Allerdings werden die meisten.
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18.08.2009

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E D I TO R I A L

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„DER TRUGSCHLUSS: MANCH EINER GLAUBT, DASS EIN UNBEGRENZT VERFÜGBARES SCHMERZMITTEL AUCH GRENZENLOS HARMLOS IST.“

Kay Brune

Paracetamol – ein Wolf im Schafspelz ó In den USA sterben jährlich mehr als 400 Menschen, darunter viele Kinder, durch Paracetamol (Acetaminophen) [1]. In Deutschland sind es weniger, aber trotzdem zu viele. Alle Todesfälle wären vermeidbar, wenn auf Paracetamol verzichtet würde. Dieser Wirkstoff gehört nicht mehr in die rezeptfreie Schmerzmedikation! Leider gilt er trotzdem immer noch als harmlos und gut verträglich [2]. Der Wirkstoff wird weltweit tonnenweise konsumiert, obwohl er nur schwach und bei vielen Schmerzen gar nicht wirksam ist. Tritt Schmerzlinderung ein, kommt der Schmerz meist schnell zurück, und der Patient muss nachdosieren. Allerdings: Ab drei Gramm, das heißt sechs Tabletten pro Tag, wird es gefährlich. Acht Gramm können schon tödlich sein. Die langfristige Einnahme von Paracetamol führt außer zu Leberschäden (seit Langem bekannt) zu weiteren Problemen, die alle anderen rezeptfreien Analgetika auch haben: Der Blutdruck kann ansteigen, und das Risiko von Herzinfarkten, Magengeschwüren und Nierenschäden kann zunehmen (erst seit Kurzem bewiesen [2]). Warum also gilt Paracetamol als in jeder Hinsicht unbedenklich, und warum nimmt es eine solche Sonderstellung auch in vielen wissenschaftlichen Anweisungen als Mittel der ersten Wahl bei Kopf-, Rücken- und Rheumaschmerzen ein? Das Paradox lässt sich wohl nur historisch/psychologisch erklären: Im Vergleich zur früher üblichen Acetylsalicylsäure (ASS) sind Magenbeschwerden und Darmblutungen selten. Neue, bei niedriger, rezeptfreier Dosierung auch für den Magen-Darm-Trakt gut verträgliche Wirkstoffe (Diclofenac, Ibuprofen) sind erst seit Kurzem rezeptfrei erhältlich, noch dazu in kleinen Packungen und mit allerlei Warnhinweisen versehen. Da Paracetamol als nur schwach wirksam gilt, wird es bei stärkeren Schmerzen kaum je eingesetzt. Stärkere Schmerzen sind häufig mit schweren Krankheiten assoziiert. Es BIOspektrum | 05.09 | 15. Jahrgang

kommt also häufiger zu echten oder scheinbaren Nebenwirkungen (z. B. Blutungen), die man gerne dem Schmerzmittel anlastet – zu Recht oder zu Unrecht, keineswegs aber dem Paracetamol, das bei solchen Schmerzen gar nicht erst verwendet wird. Schwangere sollten gar keine Schmerzmittel verwenden. Wenn sie aber nicht ohne auskommen, gilt Paracetamol in niedriger Dosierung als noch am ehesten verträglich. Auch dieses wird häufig als Unbedenklichkeitsbescheinigung für Paracetamol interpretiert – zu Unrecht, die Leber kann trotzdem Schaden nehmen [3]. Und noch etwas: Bis vor Kurzem konnten Großpackungen von Paracetamol gekauft werden, nicht aber z. B. von Diclofenac oder Ibuprofen. Wen wundert’s, wenn manch ein Patient glaubte, dass ein unbegrenzt verfügbares Schmerzmittel auch grenzenlos harmlos ist. Nach dem Konzept „Hilft es nicht, schadet es wenig“ wird Paracetamol häufig als Erstes verwendet. Gefährlich wird es, wenn der unaufgeklärte Konsument zu höheren Dosen greift. Auf Drängen zahlreicher Fachleute (Epidemiologen, Pharmakologen, Toxikologen, Hepatologen) ist das Problem nunmehr auch den Aufsichtsbehörden bewusst geworden. Die Europäische Arzneimittelagentur EMEA hat kleinere Packungen empfohlen; dem hat sich auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM angeschlossen. Von nun an kann man in Deutschland nur noch Zehn-Gramm-Packungen rezeptfrei erwerben – leider immer noch gerade genug, um sich damit zu vergiften. Die Berater der Food and Drug Administration der USA (FDA) gehen weiter: Sie empfehlen zusätzlich kleinere Einzeldosen. Allerdings werden die meisten Patienten ihren Schmerz damit erst recht nicht los. Sie raten außerdem zu sogenannten Black-Box-Warnungen: Ähnlich wie auf Zigarettenpackungen wird auf die akute Lebensgefahr hingewiesen. Bei uns sind solche Warnungen bei Medikamenten allerdings nicht

möglich. Und schließlich riet das Beratergremium der FDA dazu, einige Schmerzmittel, die noch andere Wirkstoffe außer Paracetamol enthalten, ganz abzuschaffen. Dazu raten viele Pharmakologen europaweit seit Jahren – bisher ohne Erfolg. Wäre es nicht klüger, von Anfang an zu wirksameren Substanzen zu greifen, die zwar auch nicht nebenwirkungsfrei, aber wirksam und bei Überdosierung nicht tödlich sind? Leider ist Arzneimitteltherapie etwas, was sich jeder zutraut. Ingredienzen gibt es, soviel man möchte, in der Apotheke, beim Arzt, beim Nachbarn oder im Internet. Was rezeptfrei gekauft werden kann, muss ja harmlos sein, denken viele – zu Unrecht. ó

Kay Brune, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg

Literatur [1] www.webmd.com/pain-management/news/20090701/ fda-may-restrict-acetaminophen [2] Brune K, Hinz B, Otterness I (2009) Aspirin and acetaminophen: should they be available over the counter? Curr Rheumatol Rep. 11:36–40 [3] Wilkes JM, Clark LE, Herrera JL (2005) Acetaminophen overdose in pregnancy. South Med J 98:1118–1122

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Dr. h. c. Kay Brune Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie Friedrich-Alexander-Universität D-91054 Erlangen-Nürnberg Tel.: 09131-85-22292 Fax: 09131-85-26898 [email protected]