Narrative der Entgrenzung und Angst - Buch.de

Vor einer Gesundheitsdiktatur warnt Juli Zeh mit ihrem Theaterstück und späteren. Roman Corpus delicti. Die Verbindung von veränderten Arbeitsverhältnissen,. Leistungsdruck, Kreativwille und Körper stellen Theaterstücke wie z. B. Feli- citas Zellers X-Freunde dar. Den Übergang zwischen den Aspekten körperlicher und ...
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Corinna Schlicht/Christian Steltz (Hg.)

Narrative der Entgrenzung und Angst Narrative der Entgrenzung und Angst

Das globalisierte Subjekt im Spiegel der Medien

Schlicht/Steltz (Hg.) 

Im Rahmen des umfassenden Wandels, der sämtliche Bereiche des Lebens in liberalen Demokratien betrifft und dessen Ende kaum vorhersehbar erscheint, hat die Globalisierung verschiedene Diskurse der Angst hervorgebracht. Diese beziehen sich auf die Anforderungen und Veränderungen, denen sich das nachmoderne Subjekt ausgesetzt sieht, und finden sich in den jeweiligen Medien als Narrative der Angst und Entgrenzung. Literatur, Film und Theater ebenso wie die verschiedenen Pressemedien sind als Plattformen kultureller Selbstreflexion zu verstehen, die hinsichtlich der Angstnarrative untersucht werden. Um die komplexen diskursiven Wechselwirkungen angemessen in den Blick nehmen zu können, ist eine Differenzierung verschiedener Bereiche, in denen sich Redeweisen über Angst und Entgrenzung manifestiert haben, dringend erforderlich. Aus diesem Grund beschäftigt sich der vorliegende Sammelband mit vier zentralen Bereichen: Veränderung des sozialen Lebens, Arbeit und Ökonomie, kulturelle Identität sowie Körper- und Geschlechtsidentität.

ISBN 978-3-95605-042-8

9 783956 050428

UVRR Universitätsverlag Rhein-Ruhr Universitätsverlag Rhein-Ruhr

Corinna Schlicht/Christian Steltz (Hg.)

Narrative der Entgrenzung und Angst Das globalisierte Subjekt im Spiegel der Medien

Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.



Umschlaggestaltung UVRR / Mike Luthardt

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ISBN 978-3-95605-042-8 (Printausgabe)



ISBN 978-3-95605-043-5 (E-Book)

Satz UVRR

Druck und Bindung BELTZ, Bad Langensalza Printed in Germany

Inhalt Corinna Schlicht & Christian Steltz Einleitung ..................................................................................................... 5 Corinna Schlicht Entscheidungsschwäche als Problem männlicher Subjektkonstitution in den Textwelten Tilman Rammstedts ....................... 13 Sylvia Kokot (Natur-)Techniken. Narrative Konstrukte und Ambivalenzen im Diskursfeld um ADHS und Methylphenidat .......................................... 35 Sarah Maa ẞ Wer hat Angst vorm schwarzen Loch? (Re)Normalisierung und Lebenskunst in aktuellen Lifestylemagazinen ...................................... 55 Philip Reich Durch Kreativität zur Katastrophe? Das entgrenzte Subjekt in Moritz Rinkes Wir lieben und wissen nichts .................................................. 79 Melina Grundmann & Jacqueline Thör Macht Globalisierung krank? Isolation und Depression in Terézia Moras Romanen Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer ..................................................................................... 97 Christian Steltz „Ein Boot voll mit Leuten, siehst du es nicht?“ – Verdrängung als Überlebensstrategie des globalisierten Subjekts in Roland Schimmelpfennigs Der goldene Drache (2009) und Aki Kaurismäkis Le Havre (2011) ........................................................ 111 Mirijam Unnerstall Zeitgeschichte und die Last traumatischer Erinnerungen in Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens .......................................... 131

Andreas Schmid Repräsentation und Globalisierung. Postkoloniale Erzählstrategien in Hans Christoph Buchs Reise um die Welt in acht Nächten ............................................................... 153 Lydia Doliva Grenzerfahrungen in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen ................................................................................ 171 Hannah Speicher Von der lächerlichen Finsternis im Herzen der Berliner Republik. Wolfram Lotz’ Hörspiel- und Theatertext Die lächerliche Finsternis im Kontext neokolonialer Wirklichkeit(en) nach 1989 ....................................................................... 193 Thomas Emmrich Vom Simulacrum zur Septoästhetik. Sexualität und Weiblichkeit bei Ovid, Cixous und Roche .................................................. 211

Corinna Schlicht & Christian Steltz

Einleitung Nach den krisenhaften neunziger Jahren, die sich mit demographischen Herausforderungen der Nachwendezeit wie der Landflucht im Osten, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit oder der Fremdenfeindlichkeit in Ost und West auseinanderzusetzen hatten, werden die hegemonialen Machtverhältnisse nach dem Jahrtausendwechsel von der Krise der globalisierten Weltwirtschaft oder auch durch das Attentat auf das World Trade Center erschüttert. In nahezu allen Belangen herrschte nach dem allerorts proklamierten ‚Ende der Geschichte‘1 Unsicherheit; sämtliche Bereiche des Lebens in liberalen Demokratien befanden und befinden sich noch immer in einem umfassenden Wandel, dessen Ende kaum vorhersehbar erscheint. In diesem Zusammenhang hat die Globalisierung verschiedene Diskurse der Angst hervorgebracht, die sich auf die Anforderungen und Veränderungen beziehen, denen sich das nachmoderne Subjekt ausgesetzt sieht. Diese Diskurse finden sich in den jeweiligen Medien als Narrative der Angst und Entgrenzung. Literatur, Film und Theater ebenso wie die verschiedenen Pressemedien (im Print und TV-Sektor) sind als Plattformen kultureller Selbstreflexion zu verstehen, die es hinsichtlich dieser Narrative zu untersuchen gilt.2 Um die komplexen diskursiven Wechselwirkungen angemessen in den Blick nehmen zu können, ist eine Differenzierung verschiedener Bereiche, in denen sich Redeweisen über Angst und Entgrenzung manifestiert haben, dringend erforderlich. Aus diesem Grund ist der vorliegende Sammelband so aufgebaut, dass er vier zentrale Bereiche abdeckt. Im Zuge von Globalisierung und sogenannter New Economy verändert sich die soziale Schere, denn die sogenannte Mittelschicht verliert ihre Sicherheitsposition und wird ergriffen von den neuen Bedingungen. Das Prekariat3 wird zum Schlagwort auch für die Schicht der AkademikerInnen, die nicht mehr 1 2

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Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München: Kindler 1992. Nicht weniger ergiebig wäre eine Ausweitung der Untersuchung auf das Internet, das in Form von Medienauftritten althergebrachter Medien sowie neu aufgetretenen Formaten wie Blogs und den diversen, sogenannten sozialen Medien nicht unwesentlich an all diesen Diskursen partizipiert. Vgl. Robert Castel/Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York: Campus 2009.

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aufgrund ihres hohen (Aus-)Bildungsniveaus auf einen sicheren Platz auf dem Arbeitsmarkt rechnen können. Die Generation Praktikum4 erkennt sich zynisch als Auswuchs der Wirtschaft. Damit ist ein erstes Angstfeld angesprochen: das der Veränderung des sozialen Lebens. Etablierte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert das Konzept männlich-bürgerlicher Sozialisation damit, dass das Subjekt zwei Entscheidungen zu treffen hatte, nämlich die Wahl des Berufs und die Wahl der Ehefrau, um eine Familie zu gründen, sind im 21. Jahrhundert die Institutionen Ehe und Familie ebenso brüchig und unsicher wie die Arbeitsstelle. Unter dem Stichwort der Flexibilisierung 5 wird die Planung des privaten Umfeldes der beruflichen Orientierung untergeordnet. Denn Arbeitsmarkt und soziales Umfeld erwarten in einem zuvor nicht gekannten Maße, dass sich der Einzelne als besonders flexibel hervortut. Eine Folge sind die sogenannten JobNomaden. Neben dieser Flexibilität wird vom Subjekt erwartet, dass es kreativ ist. Genau betrachtet lässt sich hier eine Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätszwang6 erkennen, nach dem der Einzelne kreativ sein will und das auch soll. Somit wird das moderne Kreativsubjekt vor fundamentale Schwierigkeiten gestellt, denn: Wer sich andauernd etwas einfallen lassen muss, dem werden mittelfristig die Ideen ausgehen. Wer sich ständig selbst verwirklichen kann, der wird das Streben nach Selbstverwirklichung schon bald nicht mehr als positiven Antrieb empfinden. Die allgemeine Erwartungshaltung führt zu Formen der Erschöpfung, die z. B. am rasant anwachsenden Aufkommen von Depressionen und Burn-Out-Erkrankungen abzulesen sind. Das Kreativsubjekt und das erschöpfte Selbst7 gehen mit der Beschleunigung des gesellschaftlichen Lebens einher.8 Das verbreitete Vorkommen von konzentrations- und leistungssteigernden Betäubungsmitteln wie Ritalin oder Crystal Meth dokumentiert erstmalig, wie eine heranwachsende Generation Drogen als Mittel zur sozialen Assimilation und nicht etwa als Eskapismus begreift. Ähnlich ambivalent verhält es sich mit dem Bereich der Esoterik, die in den späten 60er Jahren als antikapitalistische Position in Mode kam. Heute hat der Kapitalismus auch dieses Feld im Sinne der Leistungsoptimierung für sich vereinnahmt, so sind Yoga- und Meditationskurse für ManagerInnen keine Seltenheit. 4 5 6 7 8

Vgl. Matthias Stolz: Generation Praktikum. In: Die Zeit, 31.03.2005. Vgl. Richard Sennet: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin-Verlag 1998. Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, 4. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2014. Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.

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Drei Beiträge widmen sich dem Aspekt der Veränderung des sozialen Lebens und setzen sich mit den Auswirkungen des sozialen, technologischen und kulturellen Wandels auseinander, indem sie die relevanten theoretischen Bezugspunkte wie die Forderungen nach Flexibilität und Kreativität fokussieren, die heute neben der körperlichen Selbstoptimierung als Imperative über der im Wandel begriffenen Arbeitswelt und dem zunehmend nach wirtschaftlichen Maßstäben organisierten, intellektuellen Prekariat schweben. Im ersten Beitrag der Sektion, der den Titel Entscheidungsschwäche als Problem männlicher Subjektkonstitution in den Textwelten Tilman Rammstedts trägt, betrachtet Corinna Schlicht Rammstedts Romane Der Kaiser von China und Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters vor dem Hintergrund von Alain Ehrenbergs Studie zur Depression. Hierbei verortet sie beide Erzähler in der Tradition romantischer Weltflucht, da die männlichen Figuren angesichts des gesellschaftlichen Drucks, ein Selbst auszubilden und der Vielzahl der diesem Zwang inhärenten Entscheidungen im Kontext von Familienkonflikt (Der Kaiser von China) und Bankenkrise (Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters), den Ausweg in den fiktionalen Raum wählen. Als Befund Rammstedts für das männliche Subjekt wertet Schlicht, dass das globalisierte Subjekt jedoch unrettbar in der Pathologie des eigenen Zauderns verstrickt ist, wobei sich die gesellschaftliche Forderung nach kreativem Selbstentwurf als Falle erweist. Danach eröffnet die Medienwissenschaftlerin Sylvia Kokot (Ruhr-Universität Bochum) unter dem Titel (Natur-)Techniken: Narrative Konstrukte und Ambivalenzen im Diskursfeld um ADHS und Methylphenidat einen Einblick in ihr laufendes Dissertationsprojekt. Anhand von drei Filmen zum Thema AD(H)S – neben den zwei Spielfilmen Johnny Hurricane (2009) und Keine Zeit für Träume (2014) wird die ZDF-Dokumentation Wo die wilden Kerle wohnen analysiert – zeichnet Kokot die Heterogenität möglicher Redeweisen über die Störung nach, die die Institution der Familie wie auch den technologischen Fortschritt sowie die Pharmaindustrie jeweils unterschiedlich stark in der Verantwortung sehen. Sarah Maaß (Universität Münster) reflektiert in ihrem Beitrag mit dem Titel Wer hat Angst vorm schwarzen Loch? (Re)Normalisierung und Lebenskunst in aktuellen Lifestylemagazinen das sogenannte Burn-out-Syndrom und die Volkskrankheit Depression, deren sprachliche Vergegenwärtigung als ‚schwarzes Loch‘ bereits den Charakter eines Kollektivsymbols habe. Maaß begreift Lifestyle-Magazine in diesem Zusammenhang als Teil des Interdiskurses, der einen erheblichen Anteil an der Funktionalisierung des ‚schwarzen Loches‘ hat, die auf eine Reproduktion der Arbeitskraft ausgerichtet ist, wie sie an vielen Beispielen veranschaulicht. Durch den Vergleich kann Maaß aufzeigen, dass Lifestyle-Magazine als Applikationsvorlagen ein arbeitsmarktbedingtes Telos

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verfolgen, das in der Employabilty des Subjekts besteht, weshalb Gesten der Arbeitsverweigerung wie Nichtstun und Faulheit in diesem ‚work harder‘-Konzept für die urbane Hipster-Elite auch verneint und diffamiert werden. Daran schließt sich der zweite Untersuchungsbereich an, nämlich das Feld Arbeit und Ökonomie, das von vielgestaltigen Transformationsprozessen gekennzeichnet ist. Neben der Wende zur New Economy, die Teile der Arbeitnehmer in Ich-AGs, in unabhängige Selbstunternehmer, verwandelt hat, sind in diesem Bereich die sozial- und arbeitspolitischen Reformbemühungen der rot-grünen Regierung, die in den Jahren 2002 und 2003 im Rahmen des Hartz II-Pakets als Teil der Agenda 2010 umgesetzt wurden, von hoher Bedeutung. Für das nachmoderne Individuum in westlichen Gesellschaften erwächst aus den Unwägbarkeiten in allen Lebensbereichen der Zwang, sich in einem steten Balanceakt zwischen den verschiedensten Extremen zurechtzufinden. Die hieraus resultierende Dynamik macht die Triebkraft unserer Leistungsgesellschaft aus, denn „[d]er Unsichere [...], getrieben von dem Verlangen nach Souveränität und Bestätigung, überschreitet sämtliche Limits der Selbstausbeutung“9  – so die Diagnose des Dramatikers und Romanciers John von Düffel. So steht das unternehmerische Selbst10 ökonomisch z. B. zwischen beruflicher Selbstverwirklichung mit finanziellem Erfolg und der Kehrseite der Selbsterfüllung, die sich mitunter als Depression oder Privat-Insolvenz, oft auch als beides zusammen, offenbart. Vor allem das Theater reflektiert die veränderten Arbeitsbedingungen, was sich u. a. an erfolgreich zur Inszenierung gebrachten Gegenwartsstücken wie z. B. Urs Widmers Top Dogs, Kathrin Rögglas draußen tobt die dunkelziffer oder Experten des Alltags – Das Theater von Rimini Protokoll zeigt. Der Beitrag von Philip Reich (Universität Regensburg) diskutiert genau diesen Zusammenhang. Unter dem Titel Durch Kreativität zur Katastrophe? Das entgrenzte Subjekt in Moritz Rinkes ‚Wir lieben und wissen nichts‘ werden anhand der einzelnen Figuren in Rinkes Stück die Auswirkungen globalisierter Arbeitsmarktbedingungen vorgeführt und diskutiert. An den Figuren des Stückes lassen sich – so Reichs Analysen – Entgrenzungsphänomene ablesen, die als Forderungen an das nachmoderne Subjekt herangetragen werden, wie beispielsweise jene nach räumlicher Flexibilität, nach Kreativität, wie Andreas Reckwitz konstatiert hat, rastlosem Arbeitswillen und jene das Berufs- über das Privatleben zu stellen, die allesamt aufzeigen, wie ökonomische Spielregeln das gesamte Leben dominieren. 9 10

John von Düffel: Auslaufmodell Ich. Oder die neuen Leiden des modernen Mannes. In: Ders.: Wasser und andere Welten, Köln: DuMont 2002, S. 84 – 97, hier S. 91. Vgl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.

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Jacqueline Thör und Melina Grundmann (Universität Duisburg-Essen) fragen in ihrem Beitrag: Macht Globalisierung krank? Isolation und Depression in Terézia Moras Romanen ‚Der einzige Mann auf dem Kontinent‘ und ‚Das Ungeheuer‘. Mora führt in ihren Romanen vor Augen, wie das globalisierte Subjekt auf dem Arbeitsmarkt aufgrund geänderter Kommunikationsformen (permanente Erreichbarkeit), hohem Stress (Flexibilisierungsgebot), kultureller Zerrissenheit in eine (suizidale) Depression verfällt. Die Romananalyse zeigt, wie die Angst, den Anforderungen des Arbeitsmarktes sowie des Beziehungspartners nicht zu genügen (Denormalisierungsangst), die Figuren antreibt. Eine dritte Erscheinungsform der Angst- und Entgrenzungsdiskurse führt auf das Feld kultureller Identität 11 und ist aus europäischer Perspektive mit den Sorgen vor Terror, Flüchtlingsströmen und der sogenannten ‚Islamisierung‘ verbunden. Letztere zeigt sich nicht zuletzt in rechtspopulistischen Phänomen wie der Pegida-Bewegung oder an den Wahlerfolgen von Parteien wie der AfD. Aber auch Kontroversen wie jene um Michel Houellebecqs 2015 veröffentlichten Roman Unterwerfung rühren von der Angst, dass Fukuyamas These, dass nach dem Zusammenbruch des ideologischen Machtdualismus der demokratische Westen im radikalen Islamismus einiger arabischer Staaten einen neuen Gegenspieler habe, zutreffend sein könnte und dass das Kräftemessen für den Liberalismus ein schlechtes Ende bringen könnte. Daneben gibt es auch zahlreiche literarische Texte, die nicht wie Houllebecqs Roman fiktive Angstszenarien durchspielen oder wie Navid Kermanis Reportage Einbruch der Wirklichkeit als nicht-fiktionales Zeugnis die tatsächliche Angst- und Leidenssituationen der Flüchtenden dokumentieren, sondern ihren kritischen Blick auf die Auswirkungen der entsprechenden Angstnarrative auf das Subjekt sowie die gesellschaftliche Debatte richten, was Texten wie beispielsweise Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen ein stark ausgeprägtes subversives Potential verleiht. Dem Untersuchungsfeld Kulturelle Identität widmen sich insgesamt vier Beiträge. Den Anfang macht Christian Steltz (Universität Regensburg) mit seinem Aufsatz ‚Ein Boot voll mit Leuten, siehst du es nicht?‘ – Verdrängung als Überlebensstrategie des globalisierten Subjekts in Roland Schimmelpfennigs ‚Der goldene Drache‘ (2009) und Aki Kaurismäkis ‚Le Havre‘ (2011). An dem Theaterstück und dem Film zeigt Steltz auf, wie eine in der Tradition Brechts stehende Verfremdung in der Gegenwartskultur auch heutzutage noch dazu geeignet ist, verdrängte Inhalte sichtbar zu machen und zur Diskussion zu stellen. Neben formalästhetischen Anleihen beim epischen Theater rücken die inhaltlichen Gemeinsamkeiten ins Zentrum von Steltz’ Überlegungen. Dazu gehören, dass beide Texte die tatsächlichen heutigen Entwicklungen wie die Angst vor so ge11

Vgl. Joana Breidenbach/Ina Zukrigl: Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München: Antje Kunstmann 1998.

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nannten Flüchtlingsströmen ankündigen und dass sie tabuisierte Phänomene wie Zwangsprostitution und illegale Immigration reflektieren. Mirijam Unnerstall (Universität Duisburg-Essen) analysiert in ihrem Beitrag Zeitgeschichte und die Last traumatischer Erinnerungen in Maja Haderlaps Roman ‚Engel des Vergessens‘ den Roman der Bachmann-Preisträgerin und verknüpft ihn mit dem aktuellen Flüchtlingsdiskurs. Haderlaps Roman wird von Unnerstall als Beitrag zur Umschreibung des kollektiven Gedächtnisses in Österreich interpretiert, der eine im allgemeinen Diskurs ausgegrenzte Perspektive einnimmt, nämlich die der slowenisch-österreichischen Partisanen im 2. Weltkrieg und ihrer Angehörigen. Der Erinnerungsroman und die darin aufgezeigte identitäre Problematik für ÖsterreicherInnen mit slowenischen Wurzeln lässt  – so führt der Aufsatz vor  – eine Analogie zu der aktuellen politischen Ausgrenzungsrhetorik in Österreich gegenüber den Menschen zu, die v. a. aus Syrien nach Europa fliehen. Andreas Schmid (Universität Regensburg) beschäftigt sich mit im Rahmen allgemeiner Globalisierungsprozesse im Wandel begriffener kultureller Identität. Sein Aufsatz Repräsentation und Globalisierung. Postkoloniale Erzählstrategien in Hans Christoph Buchs ‚Reise um die Welt in acht Nächten‘ nimmt Mbembes Überlegung zum Schwarzwerden der Welt zum Ausgangspunkt.12 Schmid zeigt narratologisch und gattungstheoretisch, wie Hans Christoph Buch in seinem Roman eine in den Abenteuer- und Kolonialromanen übliche eurozentrische Perspektive auf Afrika subvertiert und damit wohlmöglich bis heute gängige Stereotype über den Afrikaner und das Fremde durch Affirmation dekonstruiert. Der letzte Beitrag in diesem Feld widmet sich der aktuellen Flüchtlingskrise. Lydia Doliva (Universität Duisburg-Essen) unterzieht unter dem Titel Grenzerfahrungen in Jenny Erpenbecks Roman ‚Gehen, ging, gegangen‘ Erpenbecks Roman einem close reading und ordnet ihn dem Bereich der engagierten Literatur zu, weil der Roman nicht zuletzt über seine paratextuelle Rahmung die LeserInnen zur aktiven politischen Teilhabe auffordert. Einen vierten Bereich der veränderten Gegenwart bilden die Fragen nach Körper- und Geschlechtsidentität. Zum einen haben die Queer und Gender Studies zu einer Neuverhandlung normativer Geschlechterstrukturen geführt; die die moderne bürgerliche Welt ordnende heterosexuelle Matrix mit ihrer binären Geschlechterstruktur13 ebenso in Frage gestellt haben wie die ‚Hegemoniale Männlichkeit‘14. AutorInnen wie Tom Meineke, Elfriede Jelinek, Marlene 12 13 14

Vgl. Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, übers. v. Michael Bischoff, 2. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2014. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Vgl. Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1999.

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Streeruwitz, René Pollesch oder Tom Tykwer reflektieren die Performativität von Geschlechterstereotypen in ihren Werken. Zum anderen verknüpft sich mit dem Körper aber auch ein Trend des Körperkults, der Moden wie Schönheitsoperationen und Körpermodulationen (Tätowierungen etc.) ebenso umfasst wie den in den letzten Jahren boomenden Veganismus; Essays wie Tiere essen von Jonathan Safran Foer oder Karin Duves ‚Selbstversuch‘ Anständig essen finden sich zuhauf. Der Körper steht aber auch im Zentrum einer auf Gesundheitskult und Leistungswille setzende Bewegung der Selbstoptimierer; wiederum ist hier z. B. John von Düffel zu nennen mit seinem Text Ego. Vor einer Gesundheitsdiktatur warnt Juli Zeh mit ihrem Theaterstück und späteren Roman Corpus delicti. Die Verbindung von veränderten Arbeitsverhältnissen, Leistungsdruck, Kreativwille und Körper stellen Theaterstücke wie z. B. Felicitas Zellers X-Freunde dar. Den Übergang zwischen den Aspekten körperlicher und kultureller Identität bildet der Beitrag von Hannah Speicher (Universität Trier). Unter dem Titel Von der lächerlichen Finsternis im Herzen der Berliner Republik. Wolfram Lotz’ Hörspiel- und Theatertext ‚Die lächerliche Finsternis‘ im Kontext neokolonialer Wirklichkeit(en) nach 1989, analysiert Speicher die Inszenierung des Stücks am Wiener Burgtheater durch Dušan David Pařízek. Die intertextuellen Bezugnahmen von Lotz’ Hörspieltext auf Joseph Conrads Erzählung Heart of darkness und Francis Ford Coppolas Film Apocalypse Now! werden von Speicher fruchtbar gemacht, um die kritische Auseinandersetzung von Lotz mit den Globalisierungsängsten aufzuzeigen, die in der so genannten ersten Welt umgehen und die sich u. a. in Rassismen und Ausgrenzungsreflexen gegenüber dem ‚Anderen‘ äußern. Genau diese Reflexe werden von Lotz lächerlich gemacht. Die Inszenierung aber – so Speichers Fazit – bleibt bei dieser grotesken Verzerrung nicht stehen, sondern lässt sich durchaus als Beitrag engagierter Kunst verstehen. Damit geht Dušan David Pařízek über die eher resignative Vorlage von Lotz’ hinaus. Das Arbeitsfeld 4 Körper- und Geschlechtsidentität schließt mit einem Beitrag von Thomas Emmrich (Universität Frankfurt), der unter dem Titel Vom Simulacrum zur Septoästhetik. Sexualität und Weiblichkeit bei Ovid, Cixous und Roche den Bogen von Ovids Metamorphosen über Cixous’ Lachen der Medusa bis zu Charlotte Roches Skandalroman Feuchtgebiete spannt. Ausgehend vom Pygmalion-Mythos und Cixous’ écriture feminine fokussiert der Aufsatz Redeweisen über weibliches Begehren im Kontext des Schamdispositivs. Emmrich macht deutlich, wie sich Roche in ihrem Roman einer écriture feminine bedient, indem sie nicht nur tabubehaftete weibliche Sexualität benennt, sondern auch gegenwärtige Hygienekonventionen und Körperideale unterläuft.

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Der Band basiert bis auf die Aufsätze von Lydia Doliva und Mirijam Unnerstall auf Vorträgen, die im Rahmen der Tagung Narrative der Angst und Entgrenzung, die am 15. und 16. März 2016 an der Universität Duisburg-Essen stattfand, gehalten wurden. Die Tagung wurde dankenswerterweise von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördert und machte es den beiden Organisatoren möglich, eine Reihe von NachwuchswissenschaftlerInnen einzuladen, um aus unterschiedlichen Perspektiven die verschiedenen medialen Erscheinungsformen und Reflexionen von Angstdiskursen, die die Globalisierung hervorgebracht hat, zu diskutieren. Es ergab sich ein äußerst fruchtbarer Dialog zwischen den Vortragenden, die z. T. aus ihren aktuellen Forschungsvorhaben (Habilitation, Dissertation und Masterarbeit) heraus argumentieren konnten. Ihnen allen sei hierfür wie auch für die Bereitstellung der Beiträge sehr herzlich gedankt. Ebenfalls danken möchten wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Germanistikseminars aus Essen (unter der Leitung von Corinna Schlicht), die als Diskutanten die Tagung konstruktiv begleitet haben. Keine Tagung und kein Buch entsteht ohne Hilfe; daher möchten wir dem Dekanat der Fakultät für Geisteswissenschaften für die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur danken. Ganz explizit bedanken wir uns bei Katarina Bomm, Lydia Doliva und Maximilian Verstraelen, die die Veranstaltung engagiert und tatkräftig unterstützt haben. Lydia Doliva und Maximilian Verstraelen sei außerdem für ihre redaktionelle Mitarbeit gedankt. Corinna Schlicht und Christian Steltz Essen und Regensburg, im Januar 2017