MUSSTEN

Juden“ und die „Lösung der Judenfrage“ in den Niederlanden, in: Hermann Graml/. Angelika Königseder/Juliane Wetzel (Hrsg.),. Vorurteil und Rassenhaß.
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Tanja von Fransecky

SIE WOLLTEN MICH UMBRINGEN, DAZU

MUSSTEN SIE MICH ERST

HABEN Hilfe für verfolgte Juden in den deutsch besetzten Niederlanden 1940–1945

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Tanja von Fransecky Sie wollten mich umbringen, dazu mussten sie mich erst haben Hilfe für verfolgte Juden in den deutsch besetzten Niederlanden 1940–1945

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Tanja von Fransecky

SIE WOLLTEN MICH UMBRINGEN, DAZU

MUSSTEN SIE MICH ERST

HABEN Hilfe für verfolgte Juden in den deutsch besetzten Niederlanden 1940–1945

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INHALT

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Die nationalsozialistische Judenverfolgung in den Niederlanden 7 11 17 34 37 46 48

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Vor dem Einmarsch der Wehrmacht Das deutsche Besatzungsregime Instanzen und Maßnahmen der Judenverfolgung Kollaboration Widerstand und Repression Das Ende der Deportationen und die Befreiung Einige Widerstandsgruppen im Überblick

Fallstudien 70 87

107 124 161 178 203 229

248

267 293

Das Findelkind Willem Herfstink Ein Theater als Sammellager: Die Hollandsche Schouwburg in Amsterdam Mirjam Ohringer: „Ich bin erzogen worden mit Marx und Moses“ Die Fluchtroute der Westerweelgruppe durch Westeuropa Ivy Philips überlebte als Knecht im Achterhoek Dreharbeiten im Versteck über dem Varieté-Theater Alcazar Das Notversteck hinter Corrie ten Booms Schlafzimmer Das generationsübergreifende Rettungsprojekt der Familie Boogaard Das militante Trio aus Haarlem: Hannie Schaft, Truus und Freddie Oversteegen Anne Frank und ihre „Mitverstecker“ Die Flucht aus dem letzten Deportationszug nach Auschwitz

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Dimension der Rettung

304

Dank

305

Literatur

314

Abbildungen

316

Personenregister

320

Impressum

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Altarraum der liberalen Reformsynagoge, gegründet von den deutschen Migranten Walter Jacobsthal und Otto Frank in Amsterdam, 1934–1939

DIE NATIONALSOZIALISTISCHE JUDENVERFOLGUNG IN DEN NIEDERLANDEN

Vor dem Einmarsch der Wehrmacht

Seit 1796 besaß die jüdische Bevölkerung in den Niederlanden die vollen Bürgerrechte und hatte seither einen Prozess der Assimilation und Säku larisierung durchlaufen. Der Ende des 19. Jahrhunderts begründete moderne Zionismus, politisch organisiert im Nederlandse Zionistenbond und Paalei Zion, war unter den holländischen Juden nicht sehr verbreitet. Viele standen der Sozialdemokratie und dem Sozialismus nahe.1 Zwischen den alteingesessenen aschkenasischen und der wesentlich kleineren sephardischen Gemeinde gab es keine großen Berührungspunkte. Bei einer Gesamtbevölkerung von etwa neun Millionen Einwohnern gaben 1930 bei der Volkszählung rund 112.000 Personen an, der jüdischen Religion anzugehören.2 In Amsterdam existierte die mit Abstand größte jüdische Gemeinde in den Niederlanden. 1940 hatte sie 80.000 Mitglieder.3 Verglichen mit dem Bevölkerungsdurchschnitt war die jüdische Bevölkerung arm. Es gab jüdische Einrichtungen, wie Schulen, Sportvereine oder Wohlfahrtsorganisationen. Die Hälfte der niederländischen Juden arbeitete im Handel, ein Drittel im produzierenden Gewerbe, darunter in der Diamantenindustrie.

1 Vgl. Yehudi Lindeman / Hans de Vries, „Therefore Be Courageous, Too“. Jewish Resistance and Rescue in the Netherlands, in: Patrick Henry (Hrsg.), Jewish Resistance against the Nazis, Washington D.C. 2014, S. 193. 2 Vgl. Christoph Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden im Reichskommissariat der besetzten niederländischen Gebiete, in: Johannes Hürter / Jürgen Zarusky (Hrsg.), Besatzung, Kollaboration, Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 2008, S. 22.

3 Vgl. Gerhard Hirschfeld, Niederlande, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 138.

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Wie in etlichen Ländern Europas formierte sich in den Niederlanden eine faschistische Partei. Die Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) wurde 1931 von Anton Adriaan Mussert4 gegründet. Im Parteiprogramm der NSB hatte es 1937 eine Hinwendung zum rassistischen Antisemitismus gegeben. Konnte die NSB bei den Wahlen 1935 fast acht Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, so halbierte sich das Wahlergebnis bei der nächsten Wahl 1939.5

4 Von den deutschen Nationalsozialisten wurde dem 1894 in Werkendam geborenen Anton Mussert der funktionslose Titel des „Führers des niederländischen Volkes“ verliehen. In einem Hochverratsprozeß in Den Haag verurteilte ihn das Gericht 1946 wegen Landesverrrats zum Tode.

5 Vgl. Konrad Kwiet, Mussert, „MussertJuden“ und die „Lösung der Judenfrage“ in den Niederlanden, in: Hermann Graml/ Angelika Königseder/Juliane Wetzel (Hrsg.), Vorurteil und Rassenhaß. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S. 160.

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Die nationalsozialistische Judenverfolgung in den Niederlanden

Leeuwarden

GRONINGEN Groningen

FRIESLAND

Abschlussdeich

NORDSEE

Assen

NORDHOLLAND

Westerbork

DRENTHE

IJSSELMEER

Ijmuiden

Zwolle

Haarlem

Amsterdam

OVERIJSSEL

Leiden

Den Haag

Utrecht

(’s-Gravenhage)

UTRECHT

SÜDHOLLAND

Rotterdam

Amersfoort Barneveld

Apeldoorn

Enschede

GELDERLAND

NIEDERLANDE

Arnheim

Dordrecht

Rh ei n

Vught (Herzogenbusch)

aa s

SEELAND

M

NORDBRABANT

Middelburg

Eindhoven Venlo

Antwerpen

LIMBURG Schelde

DEUTSCHES REICH Düsseldorf

Mechelen

BELGIEN Brüssel

Köln

Maastricht 20

40

60

80

100

Aachen

M

aa

s

0

Lager

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Fluchtziel Niederlande

Seit 1933 flohen Juden aus Deutschland in die Niederlande. Nach dem im März 1938 erfolgten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich kamen österreichische Juden hinzu. Die niederländische Regierung riegelte daraufhin im Mai 1938 die niederländisch-deutsche Grenze ab. Nur Jüdinnen und Juden, die nachweisen konnten, dass ihnen bei einer Abschiebung Gefahr für Leib und Leben drohte, durften einreisen. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde einmalig etwa 4.000 jüdischen Flüchtlingen die Einreise gestattet. Etliche weitere Flüchtlinge passierten die „grüne Grenze“ ohne gültige Einreisedokumente. Im Dezember 1938 riegelte die niederländische Regierung die Grenze endgültig ab und begann, männliche Flüchtlinge in 25 verschiedenen Lagern zu internieren. Dies sollte sie vom Arbeitsmarkt fernhalten, die Assimilation verhindern und den Druck zum Auswandern in ein anderes Land aufrecht erhalten. Als Reaktion auf das Eintreffen jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland hatten niederländische Juden bereits 1933 verschiedene Hilfskomitees gegründet. Diese unterstützten jetzt die Internierungen, weil sie befürchteten, dass mit dem Ansteigen der Zahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich auch der Antisemitismus ansteigen würde. In Abstimmung mit der Regierung versuchten sie daher, die Emigration der Flüchtlinge in andere Länder voranzutreiben. Als die niederländische Regierung im Oktober 1939 schließlich das zentrale Flüchtlingslager Centraal Vluchtelingenkamp Westerbork in der Nähe des Dorfes Westerbork in der Provinz Drenthe errichtete, gaben jüdisch-niederländische Organisationen das Geld für den Lagerbau. Illegal eingereiste Flüchtlinge wurden von nun an hier interniert.

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Die nationalsozialistische Judenverfolgung in den Niederlanden

Das deutsche Besatzungsregime

Am 10. Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in die Niederlande ein. Die niederländische Königin Wilhelmina war zwei Tage zuvor mitsamt dem Kabinett ins Exil nach London geflüchtet, hatte aber die zurückbleibenden Staatsbeamten angewiesen, die Ordnung im Land aufrecht zu erhalten. Die niederländische Verwaltung blieb somit auf der Ebene der Generalsekretäre – vergleichbar mit den deutschen Staatssekretären – bestehen. Als der niederländische Oberbefehlshaber, General Henri Gerard Winkelman, und der Chef der 18. Armee, General Georg von Küchler, fünf Tage nach dem deutschen Einmarsch ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten, brach unter der jüdischen Bevölkerung Panik aus. Viele Juden und Jüdinnen versuchten mit dem Schiff nach England oder über Belgien nach Frankreich zu gelangen.6 Über 100 Personen begingen Selbstmord. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits etwa 750 deutsche jüdische Flüchtlinge im Lager Westerbork interniert.7 Nachdem zunächst General Alexander von Falkenhausen zum Militärbefehlshaber ernannt worden war übergab dieser am 29. Mai 1940 die Exekutive an den von Hitler zum Reichskommissar für die besetzten Niederlande ernannten Österreicher Arthur Seyß-Inquart. Seyß-Inquart entließ sogleich das Parlament und den Staatsrat und unterstellte die niederländische Zivilverwaltung seinen vier Generalkommissaren: Friedrich Wimmer (Verwaltung und Justiz), Hans Fischböck (Finanzen und Wirtschaft), Fritz Schmidt (Vertreter der NSDAP, zum Generalkommissar zbV – zur besonderen Verfügung – ernannt) und Hanns Albin Rauter (Generalkommissar für das Sicherheitswesen und Höherer SS- und Polizeiführer). Bis auf Fritz Schmidt waren alle gebürtige Österreicher. 6

Siehe etwa: Jenny Spritzer, Ich war Nr. 10291. Tatsachenbericht einer Schreiberin der politischen Abteilung aus dem Konzentrationslager Auschwitz, Darmstadt 1980, S. 10 ff.; Harry C. Schnur, Flucht aus Holland, in: Gerhard Schoenberner (Hrsg.), Wir haben es gesehen. Augenzeugenberichte über die Judenverfolgung im Dritten Reich, Wiesbaden 1981, S. 198 ff.

7 Vgl. Jacques Presser, Ashes in the wind. The destruction of Dutch Jewry, Detroit 1988, S. 407.