Mit Beiträgen von Micha Brumlik • Eva Illouz • Omri ... - Kulturaustausch

Quellen: R eligion swissen schaftlicher Medien- und Informa tion sdien st e.V .... helfen, die ..... Not – wenn sie verdammt werden – werde ich ihnen zur Seite.
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Eine Beilage von 

Israel

Deutschland Mit Beiträgen von Micha Brumlik • Eva Illouz • Omri Boehm • Andres Veiel • Lizzie Doron • Carlo Strenger

2015

1940

1948

David Ben-Gurion ruft den Staat Israel aus

1949

Israel wird in die Vereinten Nationen aufgenommen 1950

1950

(West-)Jerusalem wird Hauptstadt Israels

1951

Regierungserklärung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer mit dem Bekenntnis zur Schuld des deutschen Volkes am Holocaust

1952

Unterzeichnung des deutschisraelischen Wiedergutmachungsabkommens

1955

Die israelische Regierung erlaubt eine moderate Handhabung der deutschen Sprache in kulturellen Institutionen

1957

Ein geheimes Gespräch zwischen dem stellvertretenden Generaldirektor des Verteidigungsministeriums, Shimon Peres, und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß markiert den Beginn deutscher Rüstungshilfen an Israel

1959

Gründung der Bibliothek „Germania Judaica“ in Köln, der größten Sammlung zur Geschichte des deutschsprachigen Judentums 1960

1960

In Israel eröffnet die erste Volkswagen-Werkstatt Der deutsche Bundeskanzler Adenauer und der israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion treffen sich in New York, um über die militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Staaten zu beraten 2

Chronik – 1948 bis heute

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1965

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Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der BRD

1999

Gründung der israelischdeutschen Handelskammer in Tel Aviv

2000

1967

Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und Ägypten, Jordanien und Syrien 1970

1971

Abkommen über die Gemeinschaftsproduktion von deutschen und israelischen Filmen

1972

Anschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft in München durch ein palästinensisches Kommando

1973

Willy Brandt besucht als erster Bundeskanzler Israel Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und Ägypten und Syrien

1975

Yitzhak Rabin besucht als erster Ministerpräsident die BRD Erste deutsch-israelische Städtepartnerschaft zwischen Andernach und Dimona 1980

1982

Beginn des Libanon-Krieges zwischen Israel und Syrien sowie der PLO.

1983

Der Bann der deutschen Sprache in den staatlichen Medien Israels wird aufgehoben. Das Fernsehen strahlt den Film „Geschwister Oppermann“ in Originalfassung aus

1987

Erstes Freundschaftsspiel der Fußball-Nationalmannschaften von Israel und Deutschland in Tel Aviv Beginn der ersten IntifadaAufstände der Palästinenser gegen die israelische Armee

Editorial

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1990

Deutschland, Israel

Eröffnung der israelischen Botschaft in Berlin

2000

Der deutsche Bundespräsident Johannes Rau spricht als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor dem israelischen Parlament

Als vor 50 Jahren Rolf Pauls, der erste deutsche Botschafter in Israel, in Tel Aviv eintraf, erwarteten ihn wütende Demonstranten. Alles, was aus Deutschland, dem Land der Täter, kam, war geächtet. Heute dreht sich auf den Straßen von Tel Aviv niemand mehr um, wenn er Deutsch hört. Für junge Israelis wiederum ist Berlin eine Stadt mit immenser Anziehungskraft geworden. „Normale Beziehungen“ also? – So wird man nach der Shoah wohl nie nennen können, was Deutschland und Israel verbindet. Denn Israel ist ein verwundbares Land. Im andauernden Konflikt mit Palästina zeigt sich – wie unsere Autoren Eva Illouz und Omri Boehm schreiben – wie entscheidend die Fragen nach Täter und Opfer, nach Schuld und Unschuld für das eigene Selbstverständnis sind. So herzlich sich Deutsche und Israelis heute begegnen: Jeder bringt die eigene Geschichte mit. Wichtig für eine friedliche Zukunft wird bleiben, sich die der anderen anzuhören.

2001

In Wittenberg wird „Conact“ eröffnet, das Koordinierungszentrum für den deutschisraelischen Jugendaustausch

2005

Zum 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager hält Außenminister Joschka Fischer eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York 2010

2010

Am 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz spricht Israels Staatspräsident Shimon Peres vor dem Bundestag

2011

In Bayreuth spielt das israelische Kammerorchester als erstes israelisches Orchester in Deutschland die Musik von Richard Wagner

2014

Shimon Peres überreicht Angela Merkel den höchsten israelischen Staatsorden „Itur Nesi Medinat Israel“ für ihre Verdienste um die deutsch-israelische Freundschaft

Quellen: Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V.; The Central Bureau of Statistics Israel

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80

Millionen

Menschen leben in Deutschland, von ihnen sind 46 Millionen Christen, 4 Millionen Muslime, 2,5 Millionen Menschen anderer Konfessionen und 100.000 Juden. 27,5 Millionen Menschen sind keiner Religion angehörig

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Millionen

Menschen leben in Israel, davon sind 6 Millionen Juden und ungefähr 300.000 Atheisten. Von den 1,7 Millionen Arabern im Land sind 1,4 Millionen Muslime, 160.000 Christen und 140.000 Drusen

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Autoren – Biographien

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02 Mati Shemoelof hat als Autor bisher vor allem Lyrik veröffentlicht. Geboren 1972 in Haifa, lebt er seit 2013 in Berlin. 2015 erschienen die Kurzgeschichten „Remnants of the Cursed Book‟ in Israel.

Lizzie Doron, geboren 1953 in Tel Aviv, studierte Linguistik, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihre autobiographisch gefärbten Romane über die Überlebenden des Holocaust sind in Israel Schullektüre. Mit ihrem letzten Buch „Who the fuck is Kafka“ hat sie sich einem anderen Thema zugewendet, dem andauernden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Andres Veiel wurde 1959 in Stuttgart geboren. Nach einem Psychologie-Studium wurde er Regisseur. Bekannt wurde der Dokumentarfilmer und Dramatiker mit dem Film „Black Box BRD“ über die RAF. Nach Israel, wo er mit „Balagan“ einen seiner ersten Filme drehte, kehrt er immer wieder zurück. Zurzeit dreht Veiel einen Film über Joseph Beuys.

Chronik – 1948 bis heute

Von Ali Ghandtschi stammen die Bilder aus Deutschland und Israel in dieser Ausgabe. Er wurde 1969 in Teheran geboren. Seit 1995 arbeitet er als freier Fotograf in Berlin und ist Festivalfotograf der Berlinale und des Internationalen Literaturfestivals. 2015 erschien sein Buch „Mein Israel. Juden und Palästinenser erzählen“.

03

Editorial

04 Micha Brumlik, 1947 als Sohn jüdischer Flüchtlinge in der Schweiz geboren, ist Senior Advisor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Zuvor war er Professor am Institut für Erziehungswissenschaften in Frankfurt/Main.

Anna Pazos, geboren 1991 in Barcelona, lebt als Freie Journalistin in Jerusalem. Sie schreibt für El Pais und The Jerusalem Post und ist Mitherausgeberin des online Literaturmagazins Els de dalt. Eva illouz wurde 1961 in Fes, Marokko, geboren und wuchs in Frankreich auf. Sie studierte in Paris, Jerusalem und Pennsylvania. Seit 2006 ist sie Professorin für Soziologie und Anthropologie in Jerusalem. Bekannt wurde sie mit ihren Untersuchungen zur modernen Soziologie der Emotionen, der Konsumgesellschaft und der Medienkultur. Gerade erschien ihr Essayband „Israel“. Omri Boehm, geboren 1979 in Gilon in Israel, ist Professor an der „New School for Social Research“ in New York, wo er unter anderem Kant, Descartes und Spinoza lehrt. Er ist israelischer Jude und deutscher Staatsangehöriger und hat in Heidelberg und München gelebt. Zuletzt erschien „Kant’s Critique of Spinoza“. Er schreibt unter anderem für die israelische Haaretz und für Die Zeit.

Gadi Goldberg, geboren 1972 in Tel Aviv, hat Deutsch gelernt, um Hegel lesen zu können. Er studierte Philosophie und Literatur. Seit 13 Jahren lebt er in Deutschland und übersetzt ins Hebräische, etwa den Briefwechsel von Hannah Arendt und Gershom Scholem. Seit 2011 leitet Goldberg zusammen mit Anne Birkenhauer die Deutsch-Hebräische Übersetzerwerkstatt, die abwechselnd in Deutschland und Israel stattfindet. Anne Birkenhauer, geboren 1961 in Essen, hat das Hebräische „übers Ohr“ gelernt, als sie nach dem Abitur zum Freiwilligendienst nach Israel ging. Sie studierte Judaistik und Germanistik. Für die Übersetzung von David Grossmans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Seit 1986 lebt und arbeitet sie in Jerusalem.

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Carlo Strenger, 1958 in Basel geboren, ist Professor für Psychologie an der Universität Tel Aviv und praktiziert als Psychoanalytiker. Er schreibt regelmäßig für den britischen Guardian, sein Blog bei der israelischen Zeitung Haaretz heißt „strenger than fiction“. 2011 erschien „Israel. Einführung in ein schwieriges Land“ und zuletzt „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit.“

Fotos von links oben nach rechts unten: Kfir Harbi (1); Ali Ghandtschi (2,3,8); Susanne Schleyer/ ullstein bild (4,6); privat (5,7,9)

Biographien

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Erinnern und leben Wie sich Deutsche und Israelis heute begegnen – nicht nur an Gedenktagen Von Micha Brumlik

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„Man muss den Feind als Menschen wahrnehmen“ Die Autorin Lizzie Doron und der Filmemacher Andres Veiel diskutieren über das Verhältnis von Deutschen, Palästinensern und Israelis Ein Gespräch

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Kollektive Schuld, kollektive Opfer Die Israelis stecken in der Opferrolle fest. Das hindert sie daran, die Verantwortung für ihre eigenen Gewalttaten zu übernehmen Von Eva Illouz und Omri Boehm

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In Berlin treffen sich auch die Mizrachim – israelische Juden mit arabischen Wurzeln Von Mati Shemoelof

In Deutschland lebt es sich billiger als in Israel. Die Gründe, herzukommen, sind aber meist ganz andere Von Carlo Strenger

Das Herz eines Arabers

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„Ein Buch kann helfen, die Sensibilität zu bewahren“

Auswandern in die Normalität

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Zahlen und Fakten

Die Übersetzer Anne Birkenhauer und Gadi Goldberg sprechen über die Herausforderungen des Übersetzens ins Hebräische und ins Deutsche Ein Gespräch

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Ruhe bewahren, weiterarbeiten! Warum sich deutsche Forscher in Israel wohlfühlen. Über das Weizmann-Institut in Tel Aviv Von Anna Pazos

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Essay – Einleitung

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Erinnern und leben Was Deutsche und Israelis aneinander interessiert Text Micha Brumlik

I

n seiner großen Rede in der Berliner Philharmonie am 12. Mai 2015 anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel setzte sich der israelische Präsident Reuven Rivlin mit einer bestimmten Gestalt deutsch-jüdischer Tradition auseinander: mit der Geschichte von Moses Mendelssohn und seinen Nachkommen, zumal seinem Enkel, dem 1809 geborenen und 1816 getauften Felix Mendelssohn-Bartholdy, dessen Werk in der NS-Zeit, wenn überhaupt, so nur von jüdischen Musikern im Rahmen des Jüdischen Kulturbundes aufgeführt werden durfte; ganz zu schweigen davon, dass der NS-Staat regimetreue Musiker wie Carl Orff dafür gewinnen wollte, Mendelssohns Hauptwerke „arisch“ umzukomponieren. „Genau in jenen Tagen“ – Rivlin spielte auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie auf die NS-Zeit an – „gelangte das Werk Felix Mendelssohns nach Eretz Israel. Im realen Jerusalem spielte man den ‚Sommernachtstraum‘ ohne Furcht. In Eretz Israel wurde er nicht [...] boykottiert. Und die Kinder aus dem warmen Land im Nahen Osten sangen ‚Oh wie ist es kalt geworden‘, den ‚Wintergesang‘ und die ‚Lilie des Sharon‘ von Hoffmann von Fallersleben sowie die ‚Wasserfahrt‘ und den ‚Friedenssegen‘ von Heinrich Heine.“ Dass der von Präsident Rivlin erwähnte Dichter der deutschen Nationalhymne, Hoffmann von Fallersleben, antisemitische Gedichte verfasst hatte, überging der Präsident ebenso taktvoll wie den Umstand, dass die Werke Felix Mendelssohn-Bartholdys in Israel zwar aufgeführt werden, jedoch in 6

Israels größten Städten, Tel Aviv, Haifa und Jerusalem, keine Straße nach ihm benannt ist. Dass der israelische Präsident überhaupt die Familie Mendelssohn ansprach, scheint zu belegen, dass es im deutsch-israelischen Kulturaustausch um weitaus mehr und anderes geht als schlicht um den Kulturaustausch zwischen zwei wie auch immer befreundeten Staaten. Tatsächlich nimmt der israelische Staat in dieser Konstellation die Rolle des Repräsentanten des ganzen jüdischen Volkes wahr – ungeachtet des Umstandes, dass eine jüdische Kultur auch anderswo, in der Diaspora, namentlich in den USA, bedeutende eigene Werke geschaffen hat. Zudem ist nicht zu verkennen, dass gerade diejenigen israelischen Autoren, die in Deutschland besonders beliebt und anerkannt sind, in Israel – jedenfalls vom dort regierenden politischen Lager – eher abgelehnt werden. So David Grossman, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels im Jahre 2010, gegen dessen Nominierung für den Israel-Preis des Jahres 2014 Premierminister Netanjahu zunächst ein Veto wegen Grossmans angeblichem Antizionismus einlegte – das er kurz darauf wieder zurückzog, was aber an Grossmans Boykott der Preisvergabe nicht mehr änderte. In der Iranfrage aber sind beide, Grossman und Netanjahu, bei allen sonstigen Differenzen einer Meinung. Ähnliches gilt für Amos Oz, dessen jüngster Roman „Judas“ seit Wochen auf deutschen Bestsellerlisten rangiert. Oz erhielt bereits eine Fülle bedeutender literarischer Preise in Deutschland. Korrespondiert die Beliebtheit keineswegs nur dieser israelischen Autoren umgekehrt auch mit einer Beliebtheit

deutscher Autoren unter dem heutigen israelischen Lesepublikum? Bekannt wurde auf jeden Fall der nach vielen englischen Übersetzungen dann auch in Israel publizierte, von Hans Fallada verfasste Roman „Jeder stirbt für sich allein“, der aber alles andere als neuere deutsche Kultur darstellt. Die 2010 unter dem Titel „Levad be Berlin“ (Allein in Berlin) publizierte und in Israel oft verkaufte Übersetzung provozierte bald heftige Konflikte: So hielt etwa 2011 der bekannte Publizist Tom Segev dem aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanzierten Goethe-Institut vor, mit Hilfe dieses Romans eine massive Umdeutung der bisherigen deutschen Vergangenheitspolitik zu betreiben. In jedem Fall lässt sich eine Asymmetrie der Wahrnehmung – mindestens im Bereich der Literatur – nicht leugnen. Ganz anders im Bereich der allgemeinen Wahrnehmung kulturellen Lebens: Hier ist nicht zu verkennen, dass die Zuneigung der Deutschen zur Kultur des Staates Israel einem nicht unerheblichen Tourismus zum Trotz deutlich geringer ist als die Faszination einer jüngeren Elite israelischer Kulturschaffender für Deutschland, sofern man – was alles andere als selbstverständlich ist – Deutschland mit Berlin gleichsetzen darf. So bekannte der israelische Schriftsteller und Übersetzer Assaf Gavron im April 2015 bei einem Treffen jüngerer deutscher und israelischer Autoren im Jüdischen Museum in Berlin: „Hitlers Reichshauptstadt ist heute die einzige Stadt neben New York, in der man als Jude frei und sichtbar leben kann“ und das dem Umstand zum Trotz, dass es auch und gerade in Berlin mehrfach zu antisemitischen Vorfällen und Übergriffen kam – nicht zuletzt anlässlich der stets im Juli stattfindenden, von Ajatollah Khomeini inspirierten Al-QudsDemonstration, bei der die Zerstörung des Staates Israel gefordert wird. Es war 2001, als Amos Oz’ Tocher und Co-Autorin Fanya Oz-Salzberger, die nicht nur auf die hohe Anziehungskraft Berlins für Israelis hingewiesen hat, sondern auch die These vertrat, dass die moderne jüdische, das heißt israelische, Kultur mindestens zum Teil noch vor der Staatsgründung in Berlin vorbereitet wurde. Jahre später fasste sie die Nähe Berlins zu Israel als eine Nähe eher kosmopolitischer Städte auf: „Berlin steht in einem ganz besonderen Dialog mit Tel Aviv, Jerusalem, auch mit Haifa. Die Städte kommunizieren miteinander in einer Sprache der Kunst, der Literatur, der Architektur und in den letzten Jahren immer mehr über die Sprache des Kinos. Das ist wichtig und eine völlig andere Art, als wenn Israel mit Deutschland, DeutschDeutschland Israel

land mit Israel oder Juden zu Deutschen sprechen würden. Städte ermöglichen es den jungen Leuten, miteinander ins Gespräch zu kommen, von Berlin nach Tel Aviv, von Jerusalem nach Berlin.“ Tatsächlich dürften in Berlin weitaus mehr als die gesicherte Zahl von 15.000 Israelis leben – und zwar deshalb, weil nicht wenige dieser vor allem jüngeren Israelis von ihren Eltern, die als Kinder oder Jugendliche aus heutigen EU-Staaten nach Israel eingewandert sind, EU-Pässe geerbt haben und mithin bei der Einreise gar nicht als Israelis registriert werden. Deutsch-israelischer Kulturaustausch stellt sich somit als ein Alltagsphänomen in einer zunehmend globalisierten Welt dar, als eine Begegnung, die mehr und anderes ist als die wechselseitige, stets diplomatisch gerahmte Präsentation hochkultureller Produkte. Hier verschmelzen Formen einer internationalen Jugendkultur mit einer speziell Deutschland und Israel miteinander verbindenden Gedenkkultur. Die institutionellen Formen dieser DeutschBegegnung sind vielfältig: Sei es das „West-Eastern Divan Orisraelischer chestra“ aus jungen israelischen Kulturausund arabischen MusikerInnen, tausch ist eine das für eine friedliche Lösung Begegnung, des „Nahostkonflikts“ eintritt; die mehr ist sei es der Umstand, dass junge Israelis sich in Berlin – ganz im als eine Geiste von Reuven Rivlins Rede, diplomatisch aber in umgekehrter Richtung – gerahmte wieder dem Judentum zuwenPräsentation den; sei es, dass sich in Berlin vor kurzem eine Vereinigung „Ha Gimnasia“ gegründet hat, der es – ähnlich wie im Berlin der Jahrhundertwende und der 1920er-Jahre um die Pflege eines literarisch und wissenschaftlich anspruchsvollen Hebräisch geht. Während Tel Aviv für jüngere Deutsche den Inbegriff einer vibrierend liberalen, mediterranen Metropole darstellt, erscheint Berlin jungen Israelis als metropolitanes Paradox: als ein Ort der Begegnung, der genau deshalb, weil er bereits in seiner Stadtlandschaft die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden bewahrt, Möglichkeiten und Wege nicht nur einer erneuerten jüdischen Kultur, sondern auch eines erneuerten Zusammenfindens von Deutschen und Juden eröffnet.  7

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Zeitstrahl – Editorial

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Zeitstrahl – Editorial

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Berlin Warschauer Brücke

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Gespräch – trauma

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Andres Veiel drehte 1993 zum ersten Mal in Israel – einen Film über ein israelischpalästinesisches Theaterkollektiv

„Man muss den Feind als Menschen wahrnehmen“

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Lizzie Doron hat mit „Who the fuck is Kafka“ ein Buch über eine palästinensischisraelische Freundschaft geschrieben

Andres Veiel: Ihr Buch über Ihre Freundschaft mit einem Palästinenser hat mich sehr berührt. Ich bin kein so ein emotionaler Mensch, aber Sie haben es geschafft, mich innerlich aufzuwühlen. Lizzie Doron: Danke. AV: Es werden viele Themen angesprochen, von denen ich sagen kann: Ja, das kenne ich. Als ich 1993 nach Israel kam, habe ich den Film „Balagan“ gedreht ... LD: „Balagan“ ist ein traditionelles jüdisches Wort für „Chaos“. AV: Ja. Und so empfand ich es auch, es war eine Art Dreieckskonstellation: Ich bin ja sozusagen der Sohn eines Täters. Mein Vater war als Soldat im Krieg, mein Großvater als General,

und ich kam nach Israel, um das Theaterkollektiv Akko zu treffen und einen Film über sie zu machen. Ich saß in ihrem Stück „Arbeit macht frei“. Khaled, ein palästinensischer Schauspieler mit israelischem Pass, erklärte, wie das Vernichtungslager Treblinka funktionierte. Er sagte dem israelischen Publikum: „Heute ist ein besonderer Tag, denn wir haben einen Gast aus Deutschland – und wie Sie alle wissen, sind die Deutschen Spezialisten für die Vernichtung von Menschen. Wenn Sie also irgendwelche Fragen zur Tötung von Menschen haben, zögern sie bitte nicht, sich an diesen Herrn da zu wenden.“ Alle Augen richteten sich auf mich, als er mit einem Stock auf mich zeigte, und ich fühlte mich wie ... LD: ... Sie waren darauf nicht vorbereitet? AV: Nein, überhaupt nicht. Ich war völlig geschockt, ich schwieg, und er sagte: „Sehen Sie, so gehen die Deut-

„Den Finger in die Wunde zu legen ist das Einzige, was man machen kann“ Fotos: Ali Ghandtschi

Die Autorin Lizzie Doron und der Regisseur Andres Veiel denken über die Beziehung zwischen Israelis, Palästinensern und Deutschen nach. Ein Gespräch

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| schen mit der Vergangenheit um. Sie schweigen.“ In dem Moment stand ein israelischer Zuschauer auf und sagte zu Khaled: „Du Scheiß-Palästinenser, wenn wir mit Deutschland abrechnen, dann ist das unsere Sache. Wie könnt Ihr es wagen, euch mit dem Holocaust zu befassen, das geht euch nichts an! Geh nach Hause und friss Scheiße.“ In dem Moment wurde mir klar, dass ich für etwas benutzt wurde, von dem ich keine Ahnung hatte. Es wirkte wie ein Reich der Erinnerung und des Schmerzes, in dem jeder seine eigene Agenda verfolgt.

Der Holocaust wurde zur einzigen Gemeinsamkeit aller Israelis Lizzie Doron

LD: So viel Zorn! Wir sind sehr aggressiv. AV: Ja, Zorn. Auch ich war wütend und fühlte mich missbraucht. Eine andere israelische Schauspielerin, die in meinem Film mitspielte, sagte, wenn ich mit ihr über den Holocaust sprechen wollte: „Aus dir spricht nur dein kleiner deutscher Schuldkomplex. Wir machen da nicht mit.“ Ich entgegnete: „Das ist mein Film und ich muss ihn machen. Es tut mir leid, wenn mein Schuldkomplex für euch eine Nummer zu groß ist.“ LD: Sie haben wirklich die Wurzeln dieses Chaos erfasst. Es besteht nicht nur aus einer Schicht, es ist der Kern des Lebens in Israel: die Frage, wie man sich an den Holocaust erinnern soll. Ich habe drei Bücher über meine eigene Geschichte geschrieben. Man liebt sie in Israel! Weil ich darin das Narrativ vom Leid der Juden fortführe. Dann wurde mir klar, dass wir nichts anderes mehr sehen. Wir umarmen 12

Gespräch – trauma

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die Vergangenheit mit all ihren Albträumen. Der Holocaust wurde zur einzigen Gemeinsamkeit aller Israelis und hat uns oft Entschuldigungen für unser Verhalten geliefert. Ich hatte das Gefühl, weglaufen zu müssen. Aber ich habe für mich eine Lösung gefunden. Ich befasse mich mit dem Einfluss, den die Vergangenheit auf die Zukunft hat, und ich spreche über die Besatzung Palästinas, über Menschenrechte für alle in Israel. Deshalb lädt man mich nicht mehr zu offiziellen Gedenkzeremonien ein. Sie haben mich rausgeworfen. Leute, die auf diese Art mit der Vergangenheit umgehen, sind in den Augen vieler Israelis Verräter. So ähnlich wie die Palästinenser. AV: Dies ist der Kernpunkt Ihres Buches, und deshalb möchte ich Sie fragen, warum es bislang nicht in Israel veröffentlicht wurde? LD: Zunächst bin ich in Israel eine Art Chronistin unserer Katastrophen. Etwas anderes möchte man nicht von mir lesen. Erst recht kein Buch über meine Freundschaft mit einem Palästinenser. Wenn man sein Image ruiniert, kauft auch niemand mehr die Bücher, die man zuvor geschrieben hat – eine schwierige Situation für einen Verlag. Die zweite Frage ist die Sicherheit: Wie kann man mich schützen? Es ist politisch nicht korrekt, die Geschichte der Palästinenser zu erzählen, weil sie so viele Israelis umgebracht haben. Das dritte Argument ist, dass mein palästinensischer Freund Nadim mich inständig gebeten hat, das Buch nicht

Es tut mir leid, wenn mein Schuldkomplex für euch eine Nummer zu groß ist Andres Veiel

Am Ende wurde uns klar, dass wir vor unseren eigenen Leuten am meisten Angst haben Lizzie Doron

in Israel zu veröffentlichen, aus Angst, jemand könne ihn erkennen und seine Identität preisgeben. AV: Obwohl sein Name anonym bleibt und Sie alle Details verändert haben? LD: Ja, ich habe viele Details verändert, aber er sagte trotzdem, er würde Albträume bekommen. Er wollte die Geschichte, das Projekt und alles, was damit zu tun hat, außerhalb seines Lebensbereiches schieben. Er wollte nicht einmal das Buch lesen. Lassen Sie mich etwas erzählen, das nicht im Buch beschrieben, aber zum tieferen Verständnis wichtig ist. Nachdem der Prozess für die Aufenthaltserlaubnis von Nadims Frau in Israel beendet war, hat die Familie meinen Anwalt und mich heimlich zum Abendessen in ihrem Haus eingeladen. Nadim holte uns nachts in Westjerusalem ab, er bat uns, ohne unsere iPhones zu kommen, weil wir hebräische Tastaturen haben. Wir durften nicht einmal im Auto sprechen, für den Fall, dass wir auf dem Weg zu ihm nach Hause seinen Nachbarn begegnen würden. Zu Hause schloss er alle Türen und Fenster, und wir mussten uns im Flüsterton unterhalten. Das wunderbare Essen blieb uns im Halse stecken. Wir schauten ständig heimlich auf die Uhr und wünschten uns, dass der Abend bald vorbei wäre. Es fühlte sich wirklich an wie im Untergrund. Sie können sich vorstellen, wie das für mich war, als eine Jüdin aus der zweiten Generation. Vor meinem geistigen Auge sah ich Juden im Dritten Reich in ihren Verstecken. Ich bekam

Atembeklemmungen. Das war das letzte Mal, dass wir Nadim in seinem Zuhause besuchten. Alle Feinde sind immer bei einem und obendrein die gesamte Geschichte. AV: Ich traf einmal ein paar Leute in Tel Aviv, die mir sagten: „Wir werden dich nicht fragen, wo deine Eltern und Großeltern während des Zweiten Weltkriegs waren“, und ich sagte: „Ich frage euch nicht, ob ihr euren Armeedienst in den Autonomiegebieten abgeleistet habt“. Es war eine Art Abkommen. Es dauerte vier Stunden, dann haben wir es gebrochen. Es war unmöglich, nicht darüber zu sprechen. LD: Das stimmt, es ist unmöglich. AV: Für mich ist der Kern Ihres Buches der Satz von Camus über Sisyphus, den man sich als einen glücklichen Menschen vorzustellen habe. Wir müssen den Stein jeden Tag von Neuem auf den Berg rollen. Das Einzige, was man tun kann, ist, es wieder und wieder zu versuchen. Als ich Ihr Buch las, hatte ich den Eindruck, dass Sie und Ihr palästinensischer Freund es mögen, den Stein hinaufzurollen. Trotz aller Gefahren und des Misstrauens. Deutschland Israel

Der Produktionsleiter sagte, er könne Kinder dazu bringen, Steine zu werfen Andres Veiel

LD: Als wir mit dem Projekt anfingen, war ich überzeugt, dass ich am Ende von Palästinensern umgebracht werden würde. Und als Nadim einmal zu mir nach Tel Aviv kam, sagte er: „Die israelischen Soldaten und deine Nachbarn, die werden mich töten.“ Am Ende wurde uns klar, dass wir vor unseren eigenen Leuten am meisten Angst hatten. Ich dachte, die Ultraorthodoxen würden mich töten, er hatte Angst vor der Hamas und anderen Palästinensern. Später fand ich heraus, dass auch einige meiner besten Freunde meine

Feinde sind, und in seinem Fall war der Feind seine eigene Familie. Wir erfuhren die unlogische Situation des Nahen Ostens am eigenen Leib. Wir hatten also gar kein Problem mit der jeweiligen Gegenseite! Im Gegenteil – ich bekam eine Menge Unterstützung von vielen Palästinensern. AV: Wo? Hier in Deutschland? LD: Sogar in Jerusalem! Sie waren so dankbar, dass ich die Geschichte aus palästinensischer Sicht erzählt habe. AV: Es gibt ein Schicksalsdreieck zwischen Deutschen, Israelis und Palästinensern. Es war für mich von Anfang an eine große Herausforderung, mit einem Palästinenser – Khaled – zu drehen. Der palästinensische Produktionsleiter sagte mir, er habe Verbindungen und er könne ein paar Kinder dazu bringen, Steine zu werfen, und dann würde die Armee anrücken und ich bekäme, was ich wollte. So sähe die Wirklichkeit aus, das seien Dinge, die jeden Tag genau so passieren. Ich sagte, das wolle ich nicht, ich wolle Khaled begleiten und die palästinensischen Gebiete durch seine Augen sehen. Ich sei nicht an Nachrichtenma13

terial interessiert. Nachdem ich den Film in Israel gezeigt hatte, bekam ich die Reaktion: „Wie kannst du ScheißDeutscher es wagen, hier einzugreifen? Das geht dich nichts an, das ist unsere Wunde. Wie kannst du es wagen, den Palästinakonflikt mit dem Holocaust auf eine Stufe zu stellen?“ Ich sagte: „Nein! Ich stelle einen Vergleich an, und wenn man etwas vergleicht, sieht man die Unterschiede, und es gibt sehr viele Unterschiede.“ Man muss präzise sein und den Finger in die Wunde legen, das ist das Einzige, was man machen kann. LD: Inzwischen gibt es verschiedene nicht staatliche Organisationen, in denen Menschen versuchen, einen kreativen Weg zum Frieden zu gehen, wie die „Krieger für den Frieden“. Natürlich sind dies Minderheiten, aber sie bringen andere Fragen zur Sprache, nicht so riesige Themenkomplexe wie etwa die Grenzverläufe. Nehmen Sie den Gedenktag für die gefallenen israelischen Soldaten. Ich war an dem Tag meist auf dem Friedhof, auf dem meine Freunde liegen, die ich 1973 im Jom-Kippur-Krieg verloren habe. Ich verlor damals sieben meiner besten Freunde am gleichen Tag. In diesem Jahr ging ich zum ersten Mal zu der gemeinsamen Gedenkzeremonie von Palästinensern und Israelis. Das war eine riesige Veränderung. Ich verbrachte diesen Tag mit einer palästinensischen Familie aus einem kleinen Dorf. Der Familienvater war von einem jüdischen Siedler getötet worden. Er beschloss eines Tages, einen Palästinenser um-

Wir erleben den Krieg immer wieder, so dass unsere Wunden nicht heilen Lizzie Doron

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Gespräch – trauma

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zubringen, und erschoss einen Taxifahrer. Dessen Familie wollte deshalb jahrelang alle Juden umbringen. Aber letztes Jahr wurde ihnen bewusst, dass etwas schiefläuft. Sie traten den „Kriegern für den Frieden“ bei und kamen zum Gedenktag nach Tel Aviv. AV: Und sie werden nicht als Kollaborateure bedroht? LD: Doch. AV: Wie kann man sie beschützen? LD: Gar nicht. Es sind tapfere Leute. Ich selbst bin eine sehr ängstliche Frau. In meinem Haus habe ich zwei Schutzräume, für alle Fälle. Ich war oft darin, erst vergangenen Sommer wieder. Ich denke, der Hauptunterschied zwischen Deutschen der zweiten und dritten Generation und uns ist, dass wir den Krieg immer wieder erleben, sodass unsere Wunden nicht heilen können. Unsere gesamte Nation leidet an einer posttraumatischen Störung, weil wir ständig mit unseren Erinnerungen konfrontiert sind, angefangen bei Auschwitz bis hin zu Gaza. AV: Für mich ist die eigentliche Krankheit eine Krise der Empathie. Wer Empathie erzeugen will, scheitert, weil sie eine Bedrohung darstellt. LD: Es geht darum, den Feind als Menschen wahrzunehmen. Wissen Sie, was mich wirklich antreibt? Ich möchte eigentlich Empathie in Israel bekommen, aber damit ich die nötige Energie dafür auf bringen kann, brauche ich Empathie von außen, vielleicht gerade die Hilfe der Deutschen. Ich glaube, dass sie den Preis des Krieges verstehen, was es die Menschen kostet, in einer Ideologie gefangen zu sein, in Träumen von Heldentum und Eroberung. AV: Ich spüre diese Brüche selbst in mir, aufgrund meiner eigenen Geschichte und der meines Vaters und Großvaters. Und dieses Beschädigtsein durch die Vergangenheit spiegelt sich auf seltsame Art im Terrorismus in Israel wider, selbst wenn man diese beiden Dinge natürlich nicht gleichsetzen kann. Vielleicht fühle ich mich deshalb gewissermaßen zu Hause in Israel. Wenn ich mich in den israelischen Kontext begebe, ist das für mich so, als würde ich mich einer Spannung

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Zeitstrahl – Editorial

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von 380 Volt aussetzen. Wenn ich Filme in Israel zeige, dann immer mit der Absicht, eine harsche, fundamentale und manchmal aggressive Debatte zu führen. Nach allen meinen Filmen waren die Leute wütend und haben mich manchmal sogar angeschrien. Ein Beispiel: Als ich „Black Box BRD“, meinen Film über die RAF, das zweite Mal in Israel zeigte, war das kurz nach dem 11. September, und Terrorismus war ein großes Thema. Die einen sagten, Mörder müssen gestoppt werden, war-

Sie sagte, ich sei so deutsch, denn ich sei so entspannt Andres Veiel

um sollten wir also Empathie für einen Mörder entwickeln? Er muss getötet werden. Andere hielten dagegen, dieses Denken sei der Grund, warum es Terrorismus gebe. Es war eine der besten Debatten über „Black Box BRD“. Ich habe aber auch ganz andere Erfahrungen gemacht: Auf einer meiner ersten Reisen nach Tel Aviv traf ich eine Schauspielerin und sie sagte, ich sei so deutsch, denn ich sei so entspannt. Sie erzählte mir, dass sie sich jedes Mal, wenn sie in ein Café geht, überlegt, wo sie sich am besten hinsetzt. Der beste Platz sei einer, von dem aus man den Blick auf die Tür hat, damit man sehen kann, wer hereinkommt. Mir hingegen sei so etwas egal, ich würde mich einfach hinsetzen. LD: Aber sie hat unrecht. Der beste Platz ist in der Nähe der Toilette. Dann kann man sich, wenn ein Terrorist hereinkommt, ins WC flüchten. Ich sitze immer in der Nähe der Toilette, selbst wenn es da stinkt, weil das im Falle eines Terrorangriffs der Notausgang ist. Ich mache das überall so.– Aus dem Englischen von Caroline Härdter. Protokolliert von Friederike Biron

Fotos: Ali Ghandtschi (links), ullstein bild - Jürgen Bauer (rechts)

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Tel Aviv Shlomo-Lahat-Promenade

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Essay – identität

| Früher brauchte der Antisemitismus keine Gründe. Er begleitet das jüdische Volk seit unserer Geburt vor 4000 Jahren ** Wenn wir das nächste Mal unter einem Boykott, einer Verurteilung, einem UN-Bericht zu leiden haben, gebt nicht uns die Schuld ** Es geht nicht um die Einsätze der israelischen Armee. Es geht nicht um die Siedlungen. Es geht darum, dass wir jüdisch sind. ** Deshalb werden wir auch weiterhin das tun, was gut für die Juden ist, und nicht versuchen, das zu tun, was der Welt gefällt

Kollektive Schuld, kollektive Opfer Israel macht mit dem Holocaust Identitätspolitik – und steht sich damit selbst im Weg

Wie diese Zeilen deutlich machen, steht Naftali Bennett für jene Teile der jüdischen Bevölkerung, die eine metaphysischmessianische Vorstellung von der jüdischen Geschichte haben, in der der Zionismus auf die Erlösung von einer vom Antisemitismus beherrschten Vergangenheit zielt. Die Konsequenz dieser metaphysisch-messianischen Weltsicht, die in Israel auch außerhalb der religiösen Zionistenbewegung um sich greift, ist eine Unfähigkeit, Schuld zu empfinden oder öffentlich zu bekennen. Verantwortung wird im Hinblick auf das Ziel übernommen, nicht im Hinblick auf diejenigen, die auf dem Altar dieses Ziels geopfert wurden. Bennetts brillan-

S

chuld schreibt, wie Scham, die moralische Ordnung in die hintersten Winkel unserer Seele ein. Sie ist eine Übersetzung von Moral und Gesellschaft in eine rousseausche „innere Stimme“ des Gewissens, die zu uns spricht. Gleichzeitig ist Schuld auch ein öffentliches Gefühl, das theatralisch in Gerichtsverhandlungen und Akten des Verzichts in Szene gesetzt wird. Im Unterschied zur Verantwortung, die stets in die Zukunft blickt und eine Forderung stellt – man übernimmt Verantwortung oder tut es eben nicht –, blickt die Schuld zurück und beschreibt einen Zustand: Man ist schuldig oder ist es eben nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte die Schuld ihren Charakter und drohte, zu einer kollektiven Größe zu werden: Länder, Völker, ganze Geschichten konnten vor Gericht gestellt werden. Aus soziologischer Perspektive ist es allerdings nicht ohne Ironie, dass sich in Bekundungen moralischer Kol- Die Schuldfrage lektivschuld dieselbe Art von ist eine der Zusammenhalt widerspiegelt, grundlegenden die den Nazismus überhaupt erst möglich machte. Nur eine Grup- Trennlinien pe, die das Individuum durch die zwischen Linken Nation hindurch begreift, konn- und Rechten in te sich sich selbst gegenüber eine Israel moralische Schuld als Kollektiv inszenieren. Der Philosoph Karl Jaspers wies 1946 in seiner 16

Schrift „Die Schuldfrage“ darauf hin, dass die Behauptung „Die Deutschen sind schuld an Auschwitz“ dieselbe formale Struktur aufweist wie die Behauptung „Die Juden sind schuld, dass Jesus gekreuzigt wurde“. Eine Nation kann politisch verantwortlich sein. Aber „Kollektivschuld eines Volkes oder einer Gruppe innerhalb der Völker kann es – außer der politischen Haftung – nicht geben, weder als verbrecherische noch als moralische noch als metaphysische Schuld.“ Es ist dieser Kollektivschuld-Fehlschluss, betont Jaspers, der von den „Nationalsozialisten in der bösesten Weise angewendet und durch ihre Propaganda den Köpfen eingehämmert“ wurde. Eines der Probleme mit einer kollektiv verstandenen Schuld ist, dass sie sich in eine leere Worthülse zu verwandeln droht, ein rhetorisches Lippenbekenntnis, das der Übernahme von Verantwortung durch den Einzelnen vielfach im Wege steht. Hannah Arendt beklagte bereits 1963 die leere theatralische Orchestrierung der Schuld durch „Deutschlands Jugend“: „Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben ‚erhebende Gefühle‘ und wird gern gesehen.“ Interessanterweise ist die Schuldfrage vielleicht eine der grundlegendsten Trennlinien zwischen der Linken und der Rechten in Israel. In einem Facebook-Eintrag vom 12. Juli 2015 schrieb Naftali Bennett, der Vorsitzende der Partei „Jüdisches Heim“, deren Programm in der Stärkung von Israels jüdischem Charakter (als ob der Staat aus der Perspektive der 20 Prozent Araber in Israel nicht bereits zu jüdisch wäre) und der Annexion der besetzten Gebiete besteht:

Quellen: Botschaft des Staates Israel in Berlin; CIA World Factbook

Text Eva Illouz und Omri Boehm

1955

reiste die erste deutsche Jugendgruppe nach Israel. Seither besuchten rund 700.000 deutsche und israelische Jugendliche das jeweils andere Land

te Werbekampagne bei den diesjährigen Parlamentswahlen bestand darin, sich über einen Typ Mensch zu mokieren, der sich ständig entschuldigt. In einem denkwürdigen Video ist der militante Parteichef der „Jüdischen Heimat“ als Hipster verkleidet mit einem Mops in den Straßen von Tel Aviv unterwegs und entschuldigt sich obsessiv bei allen: bei der Kellnerin, die ihm Kaffee übers Hemd schüttet, bei einem Verkehrsrowdy, der ihm hinten reinfährt, bei einer Frau, die ihm vor der Nase ein Leihfahrrad wegschnappt. Auf diese Weise wird eine klare Linie gezogen zwischen dem dekadenten, feminin-schwulen, espressoschlürfenden Einwohner von Tel Aviv – eine Abwandlung des typischen schwachen, neurotischen Diasporajuden, mit der der Zionismus antisemitische Karikaturen beerbt – und dem Typ Linken, der angesichts von Israels Politik Schuldgefühle empfindet. Bennetts Kampagne gab denen, die sich nicht entschuldigen, ihren Stolz zurück – wie der zitierte Facebook-Eintrag stellte sie eine Verbindung zwischen Entschuldigen und Antisemitismus her. Wenn sich die Werbung, die politische wie die kommerzielle, solcher Werte bedient, die ihrem Zielpublikum lieb und teuer sind, dann können wir sagen, dass Bennett einem tiefsitzenden Gefühl in der israelischen Psyche zum Ausdruck verhalf, nämlich dem Wunsch, Schuld und erst recht die kollektive Inszenierung von Schuld um jeden Preis zu vermeiden. Israels Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen oder Schuld zu empfinden, hat vielerlei Formen. Die vielleicht entscheidendste ist die Weigerung, Verantwortung für die

29,3

Jahre

beträgt das Durchschnittsalter der israelischen Bevölkerung, das Durchschnittsalter der Deutschen liegt bei 46,3 Jahren

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Essay – identität

Vertreibung und Aussiedlung von Arabern aus ihrem eigenen Land zu übernehmen, die sich auf einen moralischen Anspruch beruft: Die Juden hatten ein Recht auf ein Land, ergo sind sie weder schuldig an der massiven Vernichtung palästinensischen Lebens noch dafür verantwortlich. Ein Beispiel für diese Einstellung lässt sich in Ari Shavits Bestseller „Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels“ finden. Der Höhepunkt des Buches, ein Kapitel über die arabische Stadt Lydda, enthält eindringliche Beschreibungen von Kriegsverbrechen, die von israelischen Soldaten und Kommandeuren begangen wurden und die zur „Nakba“ (arabisch für „Katastrophe“) führten – der massenhaften Vertreibung von Palästinensern aus Gebieten, die im Laufe des Unabhängigkeitskrieges von Israel eingenommen wurden. „Am Abend findet der Exodus von Tausenden von palästinensischen Arabern aus Lydda statt: In langer Reihe ziehen sie aus der Stadt aus, marschieren in Richtung Süden, schwenken dann nach Osten ab und verschwinden schließlich hinter dem Horizont. Die Zionisten haben Lydda ausgelöscht. Die Stadt ist unsere Blackbox. Lydda birgt das düstere Geheimnis des Zionismus. Wollte sich der Zionismus durchsetzen, durfte er nicht zulassen, dass es Lydda gab.“ Bis heute hat die israelische Gesellschaft eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Nakba größtenteils unterdrückt. Darüber nachzudenken, dass europäische jüdische Holocaust-Überlebende gewaltsam Hunderttausende Palästinenser vertrieben – und sich schuldig daran zu fühlen –, hätte uns in unserer Opferrolle beirrt. Tatsächlich ist das Gedenken an die Nakba in Israel unter bestimmten Umständen immer noch illegal (man ist versucht zu sagen: Sich schuldig zu fühlen ist illegal). Auf den zweiten Blick aber lässt Shavits Schilderung der Nakba eine durchgängige und leider allzu vertraute Ablehnung von Schuld im israelischen Diskurs erkennen. Denn er weist die politische Bedeutung – die Verantwortung –, die mit diesen Verbrechen doch eigentlich verbunden sein sollte, ohne weiteres von der Hand: „In der Not – wenn sie verdammt werden – werde ich ihnen zur Seite stehen“, wobei mit „ihnen“ die für Lydda verantwortlichen israelischen Kriegsverbrecher gemeint sind. „Denn ich weiß, wenn sie nicht gewesen wären, wäre der Staat Israel nicht geboren worden. Sie haben die schmutzige Arbeit erledigt, die es meinem Volk, mir selbst, meiner Tochter und meinen Söhnen ermöglicht, zu leben.“ Allem Anschein zum Trotz haben wir es hier nicht mit einem mutigen Eingeständnis von Israels existentieller Tragödie zu tun; der beabsichtigte Effekt solcher Verkündungen ist der, die Auswirkung der Tragödie auf das israelische Bewusstsein zu neutralisieren – und als scheinheilige „politische Korrektheit“ abzutun. In Avi Shavits Buch ist die schuldgeplagte linke Tel Aviver Elite nicht nur ebenso lächerlich wie in Bennetts stramm rechter Wahlkampagne, sondern von einem Hang zur Dekonstruktion „besessen“, der eine echte Gefahr für die Existenz Israels darstellt. Doch liegt hier ein grundsätzlicher Fehler vor. Israel, das sich hinter einer Geschichte der Judenverfolgungen verschanzt, ist in einer moralischen Selbstgerechtigkeit ge18

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fangen, die ihm die Einsicht verwehrt, dass es gleichermaßen einen berechtigten Anspruch auf seine Existenz haben und für das von ihm angerichtete Unheil verantwortlich sein kann. Erfolgreich hat es die Tatsache verdrängt, dass Staatlichkeit nie der Ausdruck einer Opferrolle, sondern immer ein Ausdruck politischer Macht ist. Gerade weil das Land zu dieser Einsicht nicht in der Lage war, hat sich die Leugnung seiner Verantwortung wie ein Krebsgeschwür in den Strukturen der israelischen Politik ausgebreitet: Festnahmen ohne Anklage und Prozess (Administrativhaft), die Zerstörung von Wohnhäusern, die illegale Beschlagnahmung palästinensischen Lands, die Verletzung des Völkerrechts – all dies sind lediglich Beispiele für eine politische Macht, die über ihre eigene Gewalt hinwegsieht, weil sie von ihrer Opferrolle überzeugt ist. Weil sie sich selbst als Opfer verstehen, meinen viele Israelis, sie seien berechtigt, jede beliebige Maßnahme ergreifen zu können, um ihr Überleben zu sichern. Dass dieses Selbstbild als Opfer inzwischen nur noch politische Arglist bemäntelt, wird hinlänglich durch Weil sie sich die – Holocaust-Überlebenden selbst als Opfer wohlvertraute – Tatsache bewiesen, dass echte Opfer sich sehr verstehen, wohl schuldig fühlen können meinen viele und dies auch tun. Es ist allein Israelis, jede die theatralische kollektive InMaßnahme szenierung einer Opferrolle – ein Spiegelbild der deutschen ergreifen zu theatralischen kollektiven Inkönnen, um ihr szenierung von Schuld –, die es Überleben zu den Israelis ermöglicht hat, die sichern Erfahrung von Schuld und Verantwortung von sich zu weisen. Je gewalttätiger Israel wird, je mehr sich die Israelis auf die Inszenierung einer kollektiven Opferrolle zurückziehen, desto mehr werden sie den Dialog mit der deutschen Kollektivschuld suchen. Während des letzten Kriegs in Gaza verstieg sich Yakov Hadas-Handelsman, der israelische Botschafter in Deutschland, zu der Behauptung: „In Berlin werden heute Juden verfolgt wie 1938.“ Das war nicht einfach nur ein unbedachter falscher Zungenschlag. In einem nicht öffentlichen Gespräch mit israelischen Journalisten bestätigte Adi Farjon, die Pressesprecherin der Botschaft, es sei offizielle Politik der israelischen Botschaft, das deutsche Schuldgefühl wachzuhalten. Siebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und fünfzig Jahre nach der offiziellen Aufnahme der israelischdeutschen Beziehungen rufen wir nicht dazu auf, das Verhältnis zwischen beiden Ländern zu normalisieren oder mit der Vergangenheit abzuschließen. Ganz im Gegenteil plädieren wir dafür, es sich nicht länger in der negativen Symbiose zwischen Israelis und Deutschen bequem zu machen – sondern die kollektive Opferrolle und die Kollektivschuld durch eine echte Verantwortung für unsere Vergangenheit und unsere Zukunft zu ersetzen. –Aus dem Englischen von Michael Adrian

Berlin Friedrichshain Deutschland Israel

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Vor Ort – Berlin

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Das Herz eines Arabers

U-Bahn-Station Kottbusser Tor. Mutter steuerte auf den türkischen Fleischverkäufer zu und fragte ihn auf Arabisch nach Rindf leisch. „Woher kommen Sie?“, erkundigte sich der Verkäufer auf Arabisch. „Ich bin in Bagdad geboren“, erklärte Mutter und fügte noch einige irakische Worte hinzu. Mutter und der Verkäufer unterhielten sich fließend, sie bekam erstklassiges Fleisch, das Gericht gelang hervorragend. Meine Mutter hat mir die Liebe zur irakischen Sprache und Kultur vermittelt, so dass ich an der arabischen Kultur teilhaben kann. Gleichberechtigt neben ihr steht meine Liebe zur jüdischen Tradition; so studiere ich in Berlin beispielsweise mit Freundinnen und Freunden den Babylonischen Talmud. Faisal ist einer meiner neuen Freunde. Er ist in Jordanien geboren, doch seine Eltern sind palästinensische Flüchtlinge aus dem Krieg von 1948, den die Zionisten den „Unabhängigkeitskrieg“ genannt haben. Wir haben den ganzen vergangenen Sommer hindurch im Volkspark Hasenheide Fußball gespielt, Juden, Araber und Deutsche. Manchmal war das Spiel wirklich so, wie man es sich vielleicht vorstellt: der Nahe Osten gegen Europa. Unsere WhatsApp-Gruppe nannten wir FC Imren, nach dem Lokal, in dem wir die Abende meistens beendeten. Im letzten Winter saß ich mit Faisal in einem Café in der Graefestraße.

Wie Israelis arabischer Herkunft in der deutschen Hauptstadt ihre Wurzeln pflegen

A

Berlin-

Kreuzberg, „Istanbuler“ Supermarkt Viele Mizrachim – israelische Juden mit arabischen Wurzeln – lassen sich in Kreuzberg nieder

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ls ich das erste Mal zu meinem syrischen Friseur in der Eisenbahn-Straße in Kreuzberg ging, empfing er mich spontan mit dem Gruß „Asalam aleikum“. Daran erkannte ich, dass er mich für einen Araber hielt. Ich setzte mich in den weichen Sessel, und der Friseur umhüllte meinen Hals mit weißem Papier, bevor er mir den schwarzen synthetischen Umhang umlegte. „Woher kommen Sie?“, erkundigte er sich auf Arabisch, zückte seine scharfe Schere und begann, meine silbergrauen Locken zu kürzen. „Ich bin aus Israel, doch meine Mutter ist in Bagdad geboren, mein Großvater väterlicherseits im Iran, und die Mutter meiner Mutter stammt aus Syrien“, antwortete ich ihm ebenfalls auf Arabisch. Wir fanden heraus, dass wir beide Vorfahren in der syrischen Stadt Chalap (Aleppo) haben. Er kann wegen der syrischen Revolution und dem daraus entstandenen Chaos nicht dorthin zurückkehren, und mir war es niemals vergönnt, nach Aleppo zu fahren und mich auf den Gräbern meiner Vorfahren niederzuwerfen. Die meisten Israelis in Berlin sind nach Europa zurückgekehrte europäische Juden. Dass auch arabische Juden

in Berlin leben, ist weniger bekannt. Ich bin einer von ihnen. Ich bin ein Jude, dessen Familie aus arabischen Ländern nach Israel eingewandert ist. Als in Berlin lebender jüdisch-arabischer Künstler, der seine Bücher auf Hebräisch schreibt, möchte ich mich in Europa nicht völlig assimilieren; im Gegenteil, es ist mir wichtig, meine jüdisch-arabische Identität zum Ausdruck zu bringen und mir meine Wurzeln zu erhalten. Meine zum Teil arabische Identität verwirrt die meisten europäischen Deutschen - und die Einwanderer aus arabischen Ländern ebenfalls. Wie lässt sich das vereinbaren: Du bist in Israel geboren, und deine jüdischen Eltern haben sich während deiner Kindheit auf Arabisch unterhalten? Meine aus Bagdad stammende Mutter hat mich einmal in meiner Berliner Wohnung besucht. Ich wohne dort zusammen mit meiner deutschen Freundin. Zu Ehren eines Kennenlerntreffens unserer beiden Elternpaare beschloss Mutter, Makluba zu kochen, ein Gericht, in dem Reis, Auberginen und Fleisch in einem Topf übereinandergeschichtet werden. Ich fuhr mit Mutter zum „Istanbuler“ Supermarkt neben der

Foto: picture-alliance / Wolfgang Steinberg

Text Mati Shemoelof

Ausgerechnet in Berlin erschufen wir in unserer Vorstellung eine andere arabische Welt

Plötzlich tauchte ein Freund von Faisal auf, Schakur aus dem Libanon. Israel und Libanon sind zwar Nachbarstaaten, doch Israelis dürfen das Land nicht besuchen. Von meiner Wohnung in Haifa aus kann man an klaren Tagen hinter den Felsen von Rosch Hanikra die libanesische Küste erkennen. „Das ist Mati, ein Israeli, doch er hat das Herz eines Arabers“, stellte Faisal mich seinem Freund auf Arabisch vor, und ich hätte stolzer nicht sein können. Ausgerechnet in Berlin haben die arabischen Juden die Freiheit, ihre Schwestern und Brüder aus der arabischen Welt kennenzulernen, wobei wir uns natürlich der Spannung nicht entziehen können, die fortbesteht, weil sich die Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten noch nicht normalisiert haben. Während einem meiner ersten Besuche im Café Kotti lernte ich Hassan kennen, der aus dem iranischen Maschhad stammt, der Stadt, in der meine Großeltern mütterlicherseits lebten und aus der sie vertrieben wurden. „Anussei Maschhad“, die „Gezwungenen von Maschhad“, werden die Juden aus dieser Stadt genannt, die sich weigerten, zum Islam überzutreten, und in den 1930er Jahren nach Israel flohen. Hassan kann nicht nach Maschhad zurück, weil er politisch aktiv war und vom iranischen Regime verfolgt wurde; sein Bruder ist vom dortigen Regime ermordet worden. Wir waren uns zufällig in einem Café begegnet, und nun saßen wir nebeneinander und ich erzählte ihm, dass auch ich nicht nach Maschhad, Bagdad oder Aleppo zurückehren könne. Ausgerechnet in Berlin war es uns für einen Augenblick vergönnt, in unserer Vorstellung einen anderen Nahen Osten und eine andere arabische Welt zu erschaffen. Wir konnten uns ohne trennende Mauern kennenlernen. Ich bin kein Romantiker, doch in der dynamischen Begegnung mit der arabischen Welt geschieht etwas, das uns von innen mit dem Ort verbindet, der in Israel, wo die nahöstlichen Kulturen beharrlich abgewiesen werden, verlorengegangen ist.–Aus dem

Impressum Herausgeber Institut für Auslandsbeziehungen Ronald Grätz, Generalsekretär des ifa Chefredakteurin Jenny Friedrich-Freksa Art-Direktion Christine Rampl Redaktion Friederike Biron mitarbeit Timo Berger, Fabian Ebeling, Rosa Gosch, Johannes von Plato, Aljoscha Prange, Julia Rutz, Kai Schnier Redaktionsassistenz Teresa Wittenbecher Schlussredaktion Mara Hofacker Anschrift der Redaktion KULTURAUSTAUSCH Institut für Auslandsbeziehungen Linienstraße 139/140, D-10115 Berlin Anschrift des Herausgebers Institut für Auslandsbeziehungen Charlottenplatz 17, D-70173 Stuttgart VERLAG ConBrio Verlagsgesellschaft mbH Brunnstraße 23 93053 Regensburg Telefon: (0941) 94593-0 Fax: (09543) 94593-50 LITHOGRAFIE Kartenhaus Kollektiv, Regensburg DRUCKEREI Aumüller Druck, Regensburg Eine Publikation im Rahmen der Maßnahmen des Auswärtigen Amtes zum 50. Jubiläum der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel www.kulturaustausch.de

Hebräischen von Helene Seidler Deutschland Israel

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Zeitstrahl – Editorial

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Zeitstrahl – Editorial

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Tel Aviv Shlomo-Lahat-Promenade

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Gespräch – Übersetzen

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Zeitstrahl – Editorial

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„Ein Buch kann helfen, die Sensibilität zu bewahren“ Wie Anne Birkenhauer und Gadi Goldberg ins Deutsche und ins Hebräische übersetzen. Ein Gespräch Fotos Markus van Offern

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Vom Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen scheint vor dem Hintergrund der Shoah immer ein Wagnis zu sein. Was ist das Schwierigste? Anne Birkenhauer: Die Geschichte holt uns immer wieder ein, auch wenn man gar nicht daran denkt. Ich hatte im Übersetzerkollegium in Straelen vor einigen Jahren eine sehr denkwürdige Erfahrung mit meiner Freundin und Kollegin Rachel Bar-Haim. Ihre Eltern waren rechtzeitig nach Israel ausgewandert, aber entferntere Verwandte von ihr sind umgekommen. Alles war eigentlich immer entspannt, wenn wir zusammen gearbeitet haben. Einmal ging sie in den Schreibwarenladen gegenüber, um Briefumschläge zu kaufen. Sie ging in den Laden, sah den Verkäufer an und ging wieder hinaus, weil sie das Wort für Briefumschläge vergessen hatte. Das hat sie zweimal gemacht. Beim dritten Mal lief sie aus dem Laden und brach in Tränen aus, weil sie verstand: Es war das Wort „Umschlag“, das sie nicht über die Lippen brachte. Wegen dem „Umschlagplatz“, von dem aus im Warschauer Ghetto die Juden ins KZ deportiert wurden. Sie konnte es hundert Mal unbehelligt schreiben, aber sie konnte es plötzlich in einem deutschen Laden nicht aussprechen. Das

sind Momente… auf so etwas muss man gefasst sein. Die Kontamination von Wörtern, die unerträglichen Assoziationen, welche Halbwertzeit haben sie? Reicht sie bis in die heute junge, sogenannte dritte Generation? Gadi Goldberg: Ich glaube schon, dass ich eine Abschwächung merke, dass die Leute offener sind und bereit, andere Facetten zu sehen. Etwa auch, die fremde Sprache zu lernen. AB: Ja, ich habe auch das Gefühl, dass Deutsch wieder eine legitime Sprache ist. Man kann sie im Bus in Israel sprechen, ohne dass man angeguckt wird. Es ist sogar eine sehr begehrte Sprache, gerade für die junge Generation. Für alle Künstler und diejenigen, die hinaus in die Welt wollen, ist Deutsch eine Kultursprache. GG: Aber noch unbedeutend im Vergleich zu französischer und englischer Literatur. Für mich liegt die Schwierigkeit nicht so sehr in der Übersetzung an sich. Ich habe kein Problem, mich mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen, tue das auch ziemlich oft, weil ich viele Sachbücher übersetze. Schwierig ist aber, dem israelischen Publikum die neuere deutsche Literatur zu vermitteln, die eben nichts damit zu tun hat. In den letzten Jahren ist das zwar immer leichter geworden,

Gadi Goldberg übersetzt Literatur und Philosophie ins Hebräische, zurzeit Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Anne Birkenhauer übersetzt Lyrik und Prosa ins Deutsche. Gerade arbeitet sie am neuen Buch von David Grossman.

denn viele lernen Deutschland anders kennen. Aber es ist nach wie vor nicht sehr erfolgversprechend, in Israel mit deutschen Büchern an Verlage heranzutreten. Sie fragen, warum ist das für das israelische Publikum interessant? Das hat doch nichts mit Juden oder dem Holocaust zu tun. AB: Aber da tut sich etwas. Es wächst auch ein wirkliches Interesse daran, was Deutschland heute ist und wie junge Deutsche leben. Ich habe den Eindruck, dass es keine Halbwertszeit gibt und dass das Trauma der Shoah in der Tiefe in der dritten Generation enorm weiterwirkt. Vielleicht weil man sich in sicherer Distanz dazu wähnt – und Deutschland Israel

dann doch immer wieder überrascht ist von den seelischen Reaktionen sie sind nur weniger an der Oberfläche. GG: Als ich vor 14 Jahren nach Deutschland kam, hat man mich gefragt: „Was hast du dort zu suchen?“ Wenn ich heutzutage zu Besuch in Israel bin, wollen alle wissen, wie es in Berlin ist. Auf der anderen Seite merke ich, dass alle Israelis, die jetzt in Berlin leben, immer auf der Hut sind, ob jemand etwas Antisemitisches sagt. AB: Die Sensibilität für Sprache bei Israelis und Juden überhaupt ist genauso groß wie früher. Auch dass man manchmal aus bestimmten Formulierungen, die für einen deutschen Mut-

tersprachler völlig normal sind, Dinge heraushört, weil man diese Last im Nacken sitzen hat. Plötzlich kommen einem auch bei ganz „unschuldigen“ Wörtern die entsetzlichsten Assoziationen. Nach der Staatsgründung war die deutsche Sprache in Israel geächtet. War das Deutsche als Muttersprache vieler Einwanderer ganz aus dem Hebräischen verbannt? AB: Es gibt sehr viele Lehnübersetzungen wie zum Beispiel „Kindergarten“. Aber ich weiß nicht, ob die Leute wissen, dass diese Begriffe direkte Übersetzungen aus dem Deutschen sind. Und man sagt zum Beispiel „Wischer“ 25

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Wenn ein Buch vor zehn Jahren übersetzt wurde, ist die Sprache nicht mehr aktuell Gadi Goldberg

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Gespräch – Übersetzen

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für den Scheibenwischer, „Schalter“ für den Lichtschalter. Die alten Stromtechniker der Staatsgründergeneration sagten auch noch „Lüsterklemme“. Das ist schon sehr komisch, wenn ein alter jemenitischer Jude auf der Leiter steht und auf Hebräisch sagt: „Die ‚Lüsterklemme‘ ist kaputt“. Ist die deutsche Grammatik sehr viel komplizierter? GG: Es ist einfach eine komplett andere Sprachfamilie. Man kann es nicht vergleichen … AB: Was mich am Hebräischen besonders fasziniert, ist, dass es eine semitische Sprache ist, die auf Wurzeln aus drei Konsonanten beruht. Eine Wurzel trägt einen Urkern von Bedeutung, den man durch verschiedene Wortbildungsmuster „jagen“ kann. Das heißt, aus einer Wurzel kann man Dutzende von Wörtern ableiten – die vielleicht gar nicht existieren, die aber jeder versteht. Es gibt etwa eine grammatische Form dafür, dass etwas ess-bar oder les-bar ist. Mich hat einmal ein Bekannter besucht mit einem schönen hellblauen Nicki, der so aussah wie mit Lenor gewaschen, und ich sagte, bist du aber heute „streichelbar“. Er hat sehr gelacht. Das Wort gibt es nicht, aber ich brauchte es in der Situation und konnte es bilden. Sie beide haben die Heimat getauscht und leben in den Ländern Ihrer Autoren. Wie hilfreich ist das für die Arbeit? GG: Sehr – wenn die Autoren noch leben. Man kann nachfragen, wie etwas gemeint ist. Manchmal gibt es aber auch Autoren, die sich nicht so gut erklären können. Man fragt und versteht noch weniger. Aber grundsätzlich empfehle ich jedem Übersetzer, dem es möglich ist, sich mit dem Autor zu treffen. AB: Absolut. Ich treffe mich mit allen – auch die, die nicht wollen, traktiere ich so lange, bis sie es tun. Ich empfinde es als ein großes Geschenk. Es gibt Kollegen, die sich nicht gern mit dem Autor treffen, weil sie ihre Autonomie als Übersetzer nicht verlieren möchten. Für sie spricht der fertige Text für sich und bei Zweideutigkeiten entscheiden sie lieber selbst. Ich kann eine Anekdote von Aharon Appelfeld erzählen,

von dem ich mehrere Bücher übersetzt habe … GG: … Aharon spricht auch ein bisschen Deutsch, oder? AB: Ja, es ist wieder zurückgekommen, aus seiner Kindheit. Wir hatten interessante Diskussionen. Seine Figuren aus der Vorkriegszeit benutzen bisweilen auf Hebräisch Wörter, die ihren Weg über das Jiddische in die deutsche Sprache gefunden haben. Da schreibt er etwa „ganavim“, auf Hebräisch so eine Art „Diebe“, und ich habe das mit Ganoven übersetzt. Denn es sind eben nicht einfach Diebe; „Ganoven“ hat einen anderen Beigeschmack. Er sagte aber, ich müsse die Ganoven streichen. Das sei ein jiddisches Wort, und das Deutsche habe nur die negativen Wörter aus dem Jiddischen übernommen. Damit kollaboriere er nicht. Ich habe versucht, mit ihm zu diskutieren, und erklärt, dann würden seine Bücher quasi in judenreinem Deutsch erscheinen; ich müsste damit so viele Konnotationen aufgeben! Er sagte: Pech gehabt. Diese pejorativen jiddischen Wörter gehörten nicht in seinen Roman. In solchen Situationen denkt man sich, hättest du den Autor mal lieber nicht gefragt (lacht). Aber ich respektiere das natürlich. Amos Oz sagt, die Dynamik der hebräischen Sprache sei „wie ein Vulkan“, sie habe sich im Laufe seines Lebens, er ist 75, in einer Weise verändert wie sonst europäische Sprachen in 400 Jahren … GG: Das moderne gesprochene Hebräisch ist ziemlich neu. Es gibt Hebräisch-Muttersprachler ja noch nicht sehr lange. Daher verändert sich alles sehr schnell. Wenn ein Buch vor zehn Jahren übersetzt worden ist, ist die Sprache schon nicht mehr aktuell. Im Deutschen dauert das vielleicht dreißig oder vierzig Jahre. AB: Faszinierend ist außerdem, dass sich das Hebräische im Exil über Jahrhunderte als Kultsprache gehalten hat, weil man immer die Thora gelesen und den Talmud studiert hat. Dadurch haben diese Sprachschichten keine Patina angesetzt. Es entstand keine Distanz zu ihnen; das Hebräische blieb im sakralen Kontext eine lebendige Spra-

che. Es gab ja früher auch noch keine nicht religiösen Juden. Während der „Wiederbelebung“ der Sprache Ende des 19. Jahrhunderts wurde dann auf die verschiedenen Sprachschichten zurückgegriffen. Man hat sich genommen, was man brauchte. Ein Teil des heutigen Wortschatzes ist also biblisch. Schwierig wird es beim Übersetzen, wenn man einen modernen Satz eines modernen Autors hat, der einen modernen Gedanken ausdrückt und Wörter beinhaltet, die aus biblischen oder talmudischen Schichten kommen und ihren Echoraum mitbringen. Machen es diese Eigenschaften einfacher, einen Autor wie Kant zu übersetzen, wie Sie es tun, Herr Goldberg? GG: Ja. Die meisten lesen Kant ja zusammen mit einem Dozenten an der Uni. Deshalb erlaube ich mir, auch von der mittelalterlichen und talmudischen Sprache etwas zu nehmen, und vertraue darauf, dass die Lehrer verstehen, woher es kommt. Das Hebräische hat so viele Schichten, man kann sich einfach nehmen, was man gerade braucht. Und es hört sich nicht seltsam an, wenn ich zwei Begriffe in einem Satz verwende, die mehr als tausend Jahre in ihrem Ursprung auseinander liegen. Wie viel Interpretation ist da zwangsläufig dabei? GG: Ich versuche im Vorwort darauf hinzuweisen, dass ich mir an diesen und jenen Stellen etwas mehr oder weniger Raum für Interpretation genommen habe. Und wenn ich Kant übersetze, dann ist das mein Kant, so wie ich ihn verstanden habe. Es kann bisweilen frustrierend sein, wenn man verschiedene Facetten sieht, die man nicht alle hinüberretten kann. Aber man entwickelt Techniken, indem man zum Beispiel an einer Stelle etwas hineinbringt, weil man es an einer anderen Stelle ein wenig verloren hat. Sie übersetzen seit Jahrzehnten, Frau Birkenhauer, welches ist Ihr wichtigstes Buch gewesen? AB: Eigentlich immer das, an dem ich gerade arbeite. Aber David Grossmans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ war enorm wichtig und hat mich ziemlich mitgenommen. Deutschland Israel

Ein Roman, der von einer verzweifelten israelischen Mutter erzählt, deren Sohn als Soldat an der Front ist … AB: Ich hatte Sorge, die Übersetzung anzunehmen. Grossman hatte mich gebeten, das Buch vorab zu lesen. Und ich wusste nicht, ob ich, wenn ich es übersetzen würde, weiter in Israel leben könnte. Ich hatte den Eindruck, es hebelt die Abwehrmechanismen, die man im Alltag so entwickelt, völlig aus. Ich wusste nicht, ob meine Haut danach nicht zu dünn sein würde. Und sie ist tatsächlich sehr viel dünner geworden. GG: Es ist überhaupt sehr schwierig, in Israel zu leben. Nicht nur kulturell, sondern auch politisch. Ich weiß nicht, wie du das schaffst. Und es wird immer schwieriger. AB: Das stimmt. Gerade in den letzten Jahren hat sich der öffentliche Diskurs sehr verändert. Er ist sehr gewalttägig geworden, vor allem in den neuen Medien. Das schlägt auch auf die klassischen Medien zurück, die Art, wie man wegen seiner Meinung angegriffen wird. Die Gesellschaft ist sehr viel stärker in Lager aufgespalten. Diese Polarisierung spüren wir besonders seit den letzten Wahlen. GG: Es ist wichtig zu sehen, dass das von oben kommt. Es sind nicht nur Twitter und Facebook. Es sind eben die Kulturministerin und der Premierminister. Auch der Umgang auf der Straße ist aggressiver geworden. Kann Literatur in einer solchen Lage Politisches bewirken? GG: Vor einiger Zeit ist meine Neuübersetzung von „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque herausgekommen, ich habe viel dazu recherchiert. Dieses Buch wurde bei seinem Erscheinen millionenfach verkauft und von allen gelesen – vier Jahre später ist Hitler an die Macht gekommen. Welches Buch kann wirklich etwas bewirken? AB: Ich glaube, sie kann denjenigen, die sie lesen, helfen, ihre Sensibilität zu bewahren. Und die Gegenwelt, an die man sich halten muss, fester zu etablieren. David Grossman bringt dieses Motiv immer wieder in seinen Reden:

Mich besuchte einmal ein Bekannter und ich sagte: Bist du aber heute „streichelbar“ Anne Birkenhauer

Dass er in der Literatur frei ist, zwischenmenschliche und gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. GG: Es ist, als hätte man ein weiteres Leben. Es ist interessant, dass das Wort Leben im Hebräischen immer Plural ist. Wer ein Buch liest, macht Erfahrungen, die er selbst nie gemacht hätte. Es hilft, die Urteilskraft zu schärfen. Aber politisch, fürchte ich, können die Bücher nichts bewirken. AB: Nein. Das müssen die Leute schon selbst tun. –Das Gespräch führte Friederike Biron im Europäischen Übersetzer-kollegium in Straelen.

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Vor Ort – Tel Aviv

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Tel Aviv,

WeizmannInstitut Das Weizmann-Institut für Naturwissenschaften ist eine der profiliertesten israelischen Wissenschaftseinrichtungen – der Turm des Teilchenbeschleunigers ist sein Wahrzeichen

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wie der Hadassa Medical School, die auf einem Hügel westlich von Jerusalem thront, wird die deutsch-israelische Zusammenarbeit gepflegt. „Die große Vielfalt an Menschen führt hier zu einer sehr offenen Atmosphäre“, sagt Sandra Völs. Die 25-Jährige aus Dessau-Roßlau promoviert hier in Tumorimmunologie. Als sie 2012 zum ersten Mal nach Israel kam, war das Land ein Hotspot der regenerativen Medizin. „Die wissenschaftliche Qualität ist genau so hoch wie in Deutschland. Was mich aber noch mehr überzeugt hat zu bleiben, war die Mentalität der Menschen“, erzählt Völs. „Hier sind die Leute zugänglicher und freundlicher. Das wirkt sich auch positiv auf die Arbeit im Labor aus.“ Das Gelände der Hadassa Medical School liegt in Ein Karem, einem alten arabischen Dorf, das 1948 während des ersten arabisch-israelischen Krieges entvölkert wurde und jetzt eine jüdische Siedlung ist. Mit einem Blick über die geschichtsträchtigen Hügel der heiligen Stadt bekräftigt Völs, wie wenig die sozialen und politischen Spannungen im wissenschaftlichen Leben Israels spürbar seien. Nur ab und zu erreichen sie die neutralen Orte der Wissenschaft: Während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 trafen Raketen, die von der Hamas im Gaza-Streifen abgefeuert worden waren, den Campus des WeizmannInstituts. Doch der Schock hielt nicht lange an, wie Paul erzählt: „Nach einer Weile haben wir uns an die Sirenen gewöhnt und das getan, was israelische Wissenschaftler in diesen Situationen tun: Ruhe bewahren, tief durchatmen und weiterarbeiten.“ – Aus dem Englischen von Karola Klatt

In Deutschland lebt man billiger als in Israel. Die Gründe, herzukommen, sind aber meist ganz andere Text Carlo Strenger

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Foto: Weizmann-Institut

Text Anna Pazos

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uf den Gängen des Weizmann-Instituts hört man ein ständiges Sprachgemisch aus Hebräisch und Deutsch. „Wir sind hier alle Deutsche!“, sagt Franziska Paul lachend. Die 28-jährige Berlinerin war schon in Kenia, Singapur und England, bevor es sie nach Israel zog. Seit drei Jahren ist sie am Institut und promoviert in Immunologie. „In Israel konnte ich eine neue Herangehensweise an wissenschaftliche Probleme entwickeln“, erzählt sie. Das Weizmann-Institut ist nach einem seiner Gründer benannt, Chaim Weizmann, der auch der erste Präsident Israels war. Bei der Staatsgründung 1948 beschloss er, wissenschaftliche Talente zu fördern, denn sie waren der einzige Rohstoff, den das junge Land besaß. Mit einer Spende in Millionenhöhe ebnete Bundeskanzler Konrad Adenauer den Weg für eine beständige Wissenschaftskooperation. Heute zieht es viele Deutsche wegen des hohen Innovationsgrades der israelischen Technologie dorthin. „Die Apparaturen in meinem Labor sind auf dem neuesten Stand der Technik“, schwärmt auch Paul, während wir über den Campus schlendern, einem großen Gelände mit Gebäuden und gepflegten Anlagen. Vom Balkon des Labors, in dem Paul arbeitet, sieht man Mangobäume die ersten Früchte tragen. „Hier lebt es sich tatsächlich ein bisschen wie im Kibbuz“, bestätigt Paul. International ist der Campus tatsächlich: Wissenschaftler des Weizmann-Instituts forschen in über hundert Kooperationsprojekten zusammen mit deutschen Kollegen. Und auch an anderen Wissenschaftsinstitutionen

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Auswandern in die Normalität

Ruhe bewahren, weiterarbeiten! Warum sich deutsche Forscher in Israel wohlfühlen

Essay – Diaspora

is tief in die 1990er-Jahre gab es noch sowohl in Israel als in der Diaspora viele Juden, vor allem europäischer Herkunft, die sich aus Prinzip weigerten, deutsche Produkte zu kaufen, wenn sie es vermeiden konnten, und ebenfalls aus Prinzip nicht Deutschland besuchen wollten. Die meisten dieser Menschen waren nicht persönlich im Holocaust gewesen, sahen es aber als moralische Pflicht, Deutschland als Ausdruck der moralischen Verdammung zu boykottieren. Nicht weil sie dachten, dass dies Deutschland praktisch schaden würde, sondern weil die Idee, die Shoah zu verzeihen, für sie vollkommen unmöglich war. Man möge sich auch daran erinnern, dass viele israelische Politiker, am prägnantesten wohl der langjährige Führer der Likud-Partei und spätere Ministerpräsident Menachem Begin, sich vehement gegen das Wiedergutmachungsabkommen sträubten, welches Ben-Gurion mit Adenauer unterschrieb. Begin sah dieses Abkommen fast wie einen Pakt mit dem Teufel – und die Gefühle vieler Israelis waren höchst ambivalent, als vor fünfzig Jahren Israel und die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen aufnahmen. Im Jahre 2015 könnte das Bild nicht verschiedener sein: Ausführliche Studien zeigen, dass Deutschland heute in Israel positiver gesehen wird als jeder andere Staat. Ich möchte die Frage stellen, wie diese Transformation des Verhältnisses der Israelis zu Deutschland zu verstehen ist. Noch beeindruckender ist das höchst positive Verhältnis der israelischen Jugendlichen zu Deutschland. In den letzten Jahren ist die Abwanderung von jungen Israelis vor allem nach Berlin zu einem brisanten politischen Thema geworden. Oft wurde

Deutschland Israel

behauptet, diese Abwanderung habe hauptsächlich mit den hohen Lebenskosten in Israel zu tun. Schlagzeilen machten die Preise der Milchprodukte, geführt von einem populären Schokoladenpudding namens Milky, der in Berlin viel günstiger zu haben ist als in Tel Aviv und Jerusalem, und einige Politiker wie der damalige Finanzminister Yair Lapid griffen die jungen Menschen, die wegen des Milky-Preises nach Berlin auswanderten, als unpatriotisch an. Ich denke aber, dass diese Interpretation eines höchst positiven Deutschlandbildes unter israelischen Jugendlichen oberflächlich ist. Auch in Dublin, Paris und Rom ist Milky billiger als in Israel – aber Deutschland im Allgemeinen und spezifisch Berlin haben im Diskurs israelischer Jugendlicher einen ganz besonderen Stellenwert bekommen, was in Anbetracht der hochkomplexen Geschichte der Juden in und mit Deutschland besonders interessant ist. Noch erstaunlicher ist dies, da für Jahrzehnte die USA für ehrgeizige junge Israelis das gelobte Land waren, in dem das Leben leicht und der große finanzielle Erfolg möglich zu sein schien. Die Interpretation dieses besonderen Status von Berlin, die ich hier darlegen möchte, beruht zum Teil auf den schon erwähnten Studien, aber auch auf ausführlichen Gesprächen mit Studenten an der Universität Tel Aviv, die sich mit mir über ein mögliches Studium in Deutschland unterhielten. Da diese Gespräche unter der Voraussetzung der Diskretion gehalten wurden, werde ich nur meine Gesamteindrücke schildern, die sehr eindeutig waren. Die meisten jungen Israelis, welche in Betracht ziehen, nach Deutschland zu emigrieren – ob für immer oder für 29

| längere Zeit, ist meist unklar – sind liberal denkende Menschen, welche mit Israels politischer Entwicklung seit 2001, als Ariel Scharon Ministerpräsident wurde, und noch mehr seit 2009, seitdem Netanjahu mittlerweile dreimal die Regierungsführung gewann, große Schwierigkeiten haben. Somit sind in Israel nicht nur ihre materiellen Lebensbedingungen schlecht, sondern sie fühlen immer mehr, dass sie diese Schwierigkeiten für ein Land akzeptieren, mit dem sie sich immer weniger identifizieren. In liberalen Kreisen in Israel ist in den letzten Jahren die Redewendung der „inneren Auswanderung“ immer populärer geworden: Diese Menschen sehen keine reale Möglichkeit, dass ihre Werte in Israel wieder den Ton angeben werden, und ziehen sich innerlich immer mehr vom politischen Tagesgeschehen zurück. Damit verbleibt aber die Frage, warum ausgerechnet Deutschland in Israel einen so guten Namen hat und auch als Emigrationsziel immer attraktiver wird. Ich habe dazu eine Hypothese, für die noch keine klaren sozialwissenschaftlichen Daten vorliegen, die aber ziemlich viel erklären könnte. Die USA bleiben für viele Israelis vor allem durch das Versprechen des finanziellen Erfolges attraktiv. Aber mittlerweile scheinen immer mehr junge Israelis nicht mehr spektakulären Reichtum zu suchen, sondern etwas, was im israelischen Diskurs mit dem Wort „Normalität“ verbunden wird. Israel hat eigentlich Normalität nie gekannt: In den ersten Jahrzehnten der israelischen Geschichte war die Existenz des Staates unter realer, militärischer Bedrohung; die kurze Hoffnungsperiode der Oslo-Friedensverträge mit den

Palästinensern wurde durch die Ermordung Rabins, dem Zusammenbruch des Friedensprozesses und dem Trauma der zweiten Intifada zu einem brutalen Ende gebracht. Die israelische Politik spielt sich auf einem emotionalen Niveau ab, das an Hysterie grenzt, und liberal denkende Menschen fühlen, dass die rechtsnationalistischen und ultraorthodoxen Kräfte auf Dauer die Oberhand behalten werden und den Charakter des Staates immer weiter prägen werden. Wenn man noch die dramatische Desintegration des nahöstlichen Staatensystems in das Gesamtbild einfügt, kann klar werden, warum „Normalität“ für viele Israelis fast zu einem utopischen Begriff geworden ist. Deutschland mit seiner stabilen Wirtschaft, einer Politik, die sich, nach israelischen Maßstäben, in Ruhe und Rationalität abwickelt, und einer kulturellen Mentalität, die, verglichen mit den USA, eher auf Stabilität als auf spektakulären Erfolg drängt, wird somit für viele liberal denkende junge Israelis ein Vorbild dessen, wie das Leben sein könnte: normal. Die Idee, ein Leben führen zu können, das nicht ständig von Dramen gekennzeichnet ist, und Teil einer Kultur zu sein, in welcher sich Menschen nicht gegenseitig wörtlich und metaphorisch auf die Zehen treten; die Idee einer Kultur, in welcher zuvorkommendes Verhalten nicht Zeichen der Schwäche, sondern eine zivilisatorische Grundforderung ist, wird für viele junge Israelis zum Inbegriff der Ruhe, nach welcher sie sich sehnen und welche für Israel und den Nahen Osten anscheinend immer mehr in die Ferne rückt.

Zahlen – Fakten

6

Millionen Menschen in Israel sprechen Hebräisch. Arabisch ist die Muttersprache von über einer Million und Russisch von 900.000 Menschen

180.000

1,43

Kinder

je Frau wurden 2014 in Deutschland geboren. In Israel lag der Durchschnitt bei 2,62 Kindern pro Frau

Quellen: goisrael.com; bundeswehr.de; The Institute of National Security Studies; Außenwirtschaftsportal Bayern; Deutscher Reiseverband; American Department of Commerce's Office of Travel and Tourism; Statistisches Bundesamt

Cent

kostet ein Schokopudding mit Sahne in israelischen Discountern, in Deutschland hingegen nur 19 Cent

Quellen: Süddeutsche Zeitung; CIA World Factbook

Soldaten

64

|

dienen in der deutschen Bundeswehr. Die Zahl der für die israelischen Streitkräfte aktiven Soldaten ist mit 177.000 beinahe identisch

1,6

Milliarden

Euro beträgt der Wert der Waren, die Israel nach Deutschland exportiert. Der Wert der aus Deutschland importierten Waren liegt bei 3,9 Milliarden Euro. Deutschland ist Israels wichtigster europäischer Handelspartner und belegt im weltweiten Vergleich Platz drei nach den USA und China

355.466 21.640 Israelis

Quadratkilometer

reisen jährlich in die USA, damit ist das Land das beliebteste ausländische Reiseziel. Die Deutschen fahren am liebsten nach Spanien, 10 Millionen Besucher waren dort im vergangenen Jahr

Fläche hat das Land Israel – Hessen ist ungefähr gleich groß. Insgesamt erstreckt sich Deutschland über 357.168 Quadratkilometer

Deutschland Israel

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