Minimalistische Poetik

Fëdor Gladkov: Zement .......................... 42 b. Vasilij Ažaev: Fern ..... Darstellungen die auf die fünfziger Jahre konzentrierten Beiträge Wolff 1975 und Bock 1980.
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ISBN 978-3-89785-122-1

EXPLICATIO

Das Hauptziel der Studie besteht in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung eines für die DDR-Literatur grundlegenden Korpus: der Aufbauromane. In Auseinandersetzung mit sowjetischen Vorläufern werden die für das Korpus spezifischen Eigenschaften herausgearbeitet. Textbezogene Einzeluntersuchungen und Werkanalysen machen deutlich, dass das auf den ersten Blick homogen wirkende Korpus in seinen einzelnen Ausprägungen vielfältige Unterschiede aufweist. Ein gestuftes Modell der Variation der Handlungsverläufe ermöglicht die systematische Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Mitglieder des Korpus sowie die Abgrenzung von anderen Korpora. Auf diese Weise können die Aufbauromane mit älteren und jüngeren Werkgruppen verglichen und Kontinuitäten und Diskontinuitäten der literaturgeschichtlichen Entwicklung von der frühen Sowjetunion und Weimarer Republik bis zur DDR-Literatur der 60er Jahre erfasst werden. Im Ergebnis zeigt sich, dass die im Zeichen des Sozialistischen Realismus entstandenen Aufbauromane keinen Gegenpol zur literarischen Moderne bilden, sondern gewissermaßen ihre illegitimen Kinder sind. In theoretischer Hinsicht gehorchen sie einer Poetik, die insofern minimalistisch ist, als sie ihre literarische Bedeutung ausschließlich auf der Basis des Systems beziehen, zu dem sie qua Aufbauhandlung gehören. Diese Feststellung besagt jedoch nichts über die Komplexität des Systems selbst, dessen Koordinaten in dieser Studie erstmals vermessen werden.

Aumüller · MINIMALISTISCHE POETIK

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Matthias Aumüller

MINIMALISTISCHE POETIK Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in der Romanliteratur der frühen DDR

Aumüller · Minimalistische Poetik

EXPLICATIO Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft Herausgegeben von Gottfried Gabriel und Rüdiger Zymner Begründet von Harald Fricke und Gottfried Gabriel

Matthias Aumüller

Minimalistische Poetik Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in der Romanliteratur der frühen DDR

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufriss der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung der Ziele und Teilziele . . . . . . . . . . . . . . . 4. Forschungsstand – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 10 13 17 20

I.

25 25 32 33 40

II.

Sowjetische Aufbauromane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in den sowjetischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kollektivierungsroman – Neuland unterm Pflug . . . . . . a. Das Handlungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Das axiologische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Industrialisierungsroman – Zement und Fern von Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Fëdor Gladkov: Zement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Vasilij Ažaev: Fern von Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Merkmale des Aufbauromans und des Sozialistischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret’jakovs Feld-Herren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narratologische und poetologische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handlung als narratologische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . a. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Adäquatheitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Geschichte, Handlung, Ereignis vs. Erzählung . . . . . . . . d. Grundhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur . . . . . . . . . 4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Verschiedene theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das poetologische Grundgerüst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Beseitigung von Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Beeinträchtigung der Monovalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Literarizität und narrative Opazität . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 42 50 54 64 74 77 77 77 81 82 84 90 94 102 102 105 116 120 121 122

6

Inhaltsverzeichnis

III. Aufbauromane der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Traditionen des DDR-Aufbauromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. DDR-Aufbauroman und roter Massenroman der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zur Rezeption der sowjetischen Aufbauromane in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Weitere Traditionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Korpus und Begriff des DDR-Aufbauromans . . . . . . . . . . . . 3. Analyseübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Aufbausystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Variation durch Modifikation von bestehenden Subsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Reduktion des Systems: Werner Reinowskis Der Kleine Kopf (1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Modifikation der Dominanz: Aufwertung des Subsystems individueller Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt muß unser sein (1953) I . . . . . . . . c. Interne Modifikation: Bekehrung als Subsystem ideologischer Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt muß unser sein (1953) II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Dominanz des Aufbau-Subsystems: Maria Langners Stahl (1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Aufbau-Subsystem und Aufbauroman der sechziger Jahre: Bernhard Seegers Herbstrauch (1961) und Erich Köhlers Schatzsucher (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Modifikation als durchschnittliches Variationsniveau der Aufbauromane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g. Eliminierung des Aufbau-Subsystems: Benno Voelkners Die Liebe der Gerda Hellstedt (1957) . . . . . . . 2. Variation durch Kombination mit neuen Subsystemen . . . . . a. Intrasubsystemische vs. transsubsystemische Variation: Karl Mundstocks Helle Nächte (1952) und Benno Scholzes Das verlassene Erbe (1963) I . . . . . . . . . . b. Kombination mit dem Subsystem Bildung: Eduard Claudius’ Menschen an unserer Seite (1951) . . . . . . . . . . . c. Kombination mit den Subsystemen Bildung und Kindheit: Erwin Strittmatters Tinko (1954) . . . . . . . . . . . d. Kombination mit dem Subsystem Vergangenheit: Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) I . . . . . . . . . . . . e. Kombination der Spielarten: Erik Neutschs Spur der Steine (1964) I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125 125 125 133 138 140 149 153 153 153 172 187 199 208 212 216 223 223 238 245 248 257

Inhaltsverzeichnis

f. Die Grenze des Begriffs oder diesseits und jenseits des Aufbauromans: Anna Seghers’ Die Entscheidung (1959) I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Variation des Systems durch Substitution von bestehenden Subsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Substitution der Sabotagehandlung durch Generationenkonflikt: Herbert Nachbars Die Hochzeit von Länneken (1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Substitution der Sabotagehandlung durch psychologische Entwicklung: Joachim Knappes Mein namenloses Land (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Variation durch Kombination mit einem neuen System . . . . . a. Ankunftsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Kombination mit dem Planer-und-Leiter/KarriereSystem: Karl-Heinz Jakobs’ Eine Pyramide für mich (1971) I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Kombination mit dem Planer-und-Leiter/KarriereSystem: Karl-Heinz Jakobs’ Eine Pyramide für mich (1971) II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eine weitere Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.

Das Normensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Monovalenz und Ambivalenzbeseitigung im Normensystem: August Hilds Das Lied über dem Tal (1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ambivalenz im Normensystem und Gegenwartskritik: Benno Scholzes Das verlassene Erbe (1963) II . . . . . . . . . . . . 3. Unaufgelöste Normenkonflikte: Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) II und Erik Neutschs Spur der Steine (1964) II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Das narrative System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Episodizität des Massenromans: Anna Seghers’ Die Entscheidung (1959) II und J. C. Schwarz’ Sie blieb nicht allein (1955) sowie Ungewöhnliche Kirmes (1961) . . . . . . . . . 2. Massenroman und Depersonalisierung: Ungewöhnliche Kirmes (1961) II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erzählinstanz und Erzählweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Normenvermittlung: Margarete Neumanns Der Weg über den Acker (1955) u. a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ironie, Parodie und Humor: J. C. Schwarz u. a. . . . . . . . .

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263 267 267 271 278 278 280 289 291 293 294 298 306 327 329 336 339 340 345

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Inhaltsverzeichnis

VII. Die Poetik des Aufbauromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1. Stalinismus und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Minimalistische Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

365 365 365 367

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Einleitung

Der literarische Gegenstand dieser Untersuchung sind Romane, die in der frühen DDR entstanden sind und vom Aufbau von Industrieanlagen und genossenschaftlichen Strukturen in der Landwirtschaft handeln. Man nennt sie deshalb zutreffend »Aufbauromane«. Sie tragen bezeichnende Titel wie Stahl oder Diese Welt muß unser sein. Roman einer Produktionsgenossenschaft, aber auch weniger bezeichnende Titel wie Helle Nächte oder Der Kleine Kopf. Ihre Autoren sind fast alle vergessen. Über die Werke ist in Literaturgeschichten kaum etwas zu erfahren. Dennoch haben diese Romane ihren festen Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur. Betrachtet man die literarhistorischen Darstellungen selbst als narrative Gebilde, so haben die Aufbauromane darin die Funktion eines Antagonisten. So schematisch, wie sie selbst nach vielfach geteilter Meinung sind, so schematisch fällt auch die Rollenzuweisung aus. Immerhin, sie sollen der Nachkriegsliteratur zu einer neuen Thematik verholfen haben, aber sonst stellen sie eine Art von Literatur dar, die überwunden werden musste. Aufbauromane gehören dieser Einschätzung gemäß zu der Sorte von Literatur, deren Literarizität in Frage steht, wenn nicht gar zu leugnen ist. Da die Aufbauromane für literarisch uninteressant gehalten werden, untersucht man ihre literarischen Eigenschaften nicht, sondern höchstens ihre Funktion in den literaturpolitischen und -theoretischen Debatten der DDR. Diese empirische Hypothese über das Verhalten von Literaturwissenschaftlern delegitimiert jedoch nicht Vorhaben und Perspektive der vorliegenden Untersuchung: eben die Aufbauromane als literarische Artefakte zu untersuchen. Die Lösung dieser Aufgabe gibt nicht nur Aufschluss über einen schlecht ausgeleuchteten Bereich der deutschen Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert, sondern bringt auch weitere Erkenntnisse mit sich, die über die Aufbauromane hinaus von allgemeinem Interesse sind: Erkenntnisse über den literarhistorischen Zusammenhang, in dem die Aufbauromane stehen, und über die Poetik von literarischen Werken, die sich außerhalb des (derzeitigen) Kanons von Literaturwissenschaft und Literaturkritik befinden.

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Einleitung

1. Die Ausgangssituation Für viele beginnt die eigentliche, d. h. literarisch ernst zu nehmende DDR-Literatur erst nach 1960 – dies gilt sowohl für die DDR-Literaturwissenschaft als auch für die west- und gesamtdeutsche Literaturwissenschaft. 1 Die offizielle Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik (1976) unterteilt die Entwicklung der Literatur der DDR seit 1949 in zwei große Etappen: Mit Bezug auf die Literatur von »1949 bis Anfang der sechziger Jahre« ist von der »Herausbildung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik« die Rede (Haase et al. 1976, 10), während die Zeit danach als das Jahrzehnt der »Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik« bezeichnet wird (ebd., 14). 2 Diese Grenze in den frühen sechziger Jahren strukturiert die gesamte Darstellung der literarischen Entwicklung in der DDR und teilt sie in zwei große Kapitel. Schon am Inhaltsverzeichnis wie auch am terminologischen Unterschied zwischen »Herausbildung« und »Entfaltung« ist abzulesen, dass die DDR-Literatur der fünfziger Jahre nicht nur in einem offenbar bedeutenden Maße anders sein muss als die spätere Literatur, sondern auch weniger hoch entwickelt. Für diese Periodisierung (und die damit einhergehende Charakterisierung und Evaluierung) gibt es eine Reihe von Gründen. Ein erster Grund ist, dass literarische Werke aus der DDR plötzlich viel mehr Leser als früher erreichten – innerhalb der DDR, aber auch außerhalb. Aus diesem Umstand wurde schon von den Zeitgenossen auf eine qualitative Veränderung der literarischen Produktion geschlossen (vgl. Eva Strittmatter 1962). Ein anderer Grund ist sicherlich darin zu sehen, dass inzwischen eine Generation von sowohl Autoren als auch Lesern herangewachsen war, in deren Identität die DDR mit ihren Eigenheiten ein konstitutiver Bestandteil war. Autoren schrieben nicht mehr an ihren Lesern vorbei wie in den fünfziger Jahren, als die meisten verlegten Schriftsteller noch zur Partei-Avantgarde mit Exil- oder Widerstandserfahrung zählten und mit dem Gros ihrer potentiellen Leser wenig gemeinsam hatten. Ein weiterer Grund ist schließlich, dass die junge DDR-Literatur auch im westlichen Nachbarstaat verstärkt zur Kenntnis genommen wurde – und 1

2

Vgl. exemplarisch mit Bezug auf die Industrieliteratur Zimmermann (1984, 39), wo der »tiefgreifendste Perspektivenwechsel Mitte der 60er Jahre« im »Übergang von der Arbeiterliteratur zur Planer-und-Leiter-Literatur« verortet wird. Auf verschiedene Periodisierungsmöglichkeiten weist Emmerich (1998, 157f.) hin. Hervorhebungen im Original wie hier werden als solche in Zitaten beibehalten, aber nicht eigens annotiert.

1. Die Ausgangssituation

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dort partiell sogar Anerkennung fand (vgl. Peitsch 2009, 35). Wenn auch die östlichen und westlichen Einschätzungen einzelner Werke selten einmütig waren, so erklärt diese Beobachtung immerhin, dass der von der DDR-Literaturwissenschaft vorgenommene Schnitt in der ersten Hälfte der sechziger Jahre von der bundesdeutschen Seite im Prinzip akzeptiert wurde – allerdings eben aus jeweils anderen Gründen. Ganz grob gesagt, sind es wohl zwei Dinge, die den Schnitt in den sechziger Jahren rechtfertigen: Die Werke der DDR-Literatur wurden in literarischer Hinsicht flexibler, und das bedeutete, dass sie sich in der Handhabung literarischer Mittel der westlichen Literatur vorsichtig annäherte; die Werke der DDR-Literatur wurden auch in normativer Hinsicht flexibler, und das hieß wenigstens manchmal: unbestimmter. Diese Eigenschaften machten die Literatur insgesamt attraktiver, und sie wurde zu einem Ort, an dem Dinge, wenigstens indirekt, öffentlich verhandelt werden konnten, die in anderen Bereichen der Öffentlichkeit noch stärker tabuisiert waren. Daher ist der ideologische Diskurs in vielen Werken aus dieser Zeit konstitutiv für sie – was wiederum die Rede von einer eigenständigen sozialistischen Nationalliteratur doch rechtfertigt. Aus diesen Gründen scheint also die DDR-Literatur im »eigentlichen« Sinne nicht bei der Staatengründung zu beginnen, sondern mit Autoren und Autorinnen wie Christa Wolf. Entsprechend beschäftigt sich die Literaturwissenschaft, nicht nur die west- und gesamtdeutsche Literaturwissenschaft, sondern auch schon die Literaturwissenschaft der DDR vorzugsweise mit der Literatur seit den sechziger Jahren. Über die Literatur der fünfziger Jahre ist hingegen relativ wenig zu erfahren. Die literarhistorische Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen der Literatur der fünfziger und der Literatur der sechziger Jahre wird in übergreifenden historiographischen Darstellungen der DDR-Literatur daher, wenn sie überhaupt gestellt wird, eher pauschalisierend beantwortet. In der DDR hatte sich die Rede von Aufbau- und Ankunftsliteratur herausgebildet, die den qualitativen Unterschied zwischen (Teilen) früherer und späterer Literatur festschrieb und inhaltlich kennzeichnen sollte. Dem gegenüber stehen Einschätzungen wie die von Wolfgang Emmerich, der zwar die Ausdrücke übernimmt, aber die damit bezeichneten Phänomene anders bewertet und in der Ankunftsliteratur noch stalinistische Rudimente erkennt; denn sie sei »von einem krassen Schematismus der Fabelkonstruktion, der Heldenwahl und der Personendarstellung geprägt, der in seiner Konventionalität dem geschlossenen, naiven Weltbild der Autoren entspricht: Schulbeispiel gelenkter Ästhetik« (Emmerich 2008, 530). Hier zeigt sich, dass westdeutsche Literaturwissenschaftler den Schnitt in den sechziger Jahren anders (und meist etwas später) ansetzen als die ostdeutschen. Doch eint

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Einleitung

beide Gruppen die weitgehende Geringschätzung der so genannten Aufbauliteratur. 3 Seit der zeitgenössischen Literaturkritik unterliegen die Aufbauromane dem Verdikt eines unterschiedslosen »Schematismus«, wie nicht zuletzt das Zitat von Emmerich bezeugt. Kaum eine literaturwissenschaftliche Einschätzung wird so einvernehmlich sein wie diese. Die Eigenschaft, schematisch zu sein, wird zugleich als Grund für die ästhetische Minderwertigkeit der Aufbauromane genannt. Die folgende Bewertung mag repräsentativ für viele sein: Die so genannten »Aufbau- und Ankunftsliteraten« der Anfangszeit unterwarfen sich willig den parteilichen Zielsetzungen. [. . . ] Ihre Bücher folgten allesamt dem gleichen Romanschema, demzufolge ein positiver Held nach mannigfachen Konflikten und Schwierigkeiten glücklich im Sozialismus ankommt. Nimmt man noch die allseits zu beobachtende Ablehnung sprachinnovativer Verfahren und gestalterischer Experimente hinzu, steigern sich die ästhetischen Defizite zum Rückfall in längst überholte Erzählformen und damit zu systematischer Regression. (Buck 2002, 15)

Theo Buck schert hier so unterschiedliche Autoren wie Seghers, Marchwitza, Bredel, Gotsche, Strittmatter, Noll, Reimann und Fühmann über einen Kamm. Schon das ist mehr als fragwürdig. Sie alle seien demselben Schema gefolgt. Diese Behauptung ist so pauschal, wie sie unangemessen ist. Nicht nur wird bezeichnenderweise das Schema selbst nicht zureichend beschrieben; es folgen diesem Schema auch nur einige der genannten Autoren in einigen ihrer Werke. Zudem wird der Unterschied zwischen Aufbau- und Ankunftsroman nivelliert. 4 Davon abgesehen, ist bei nüchterner Betrachtung entscheidend erstens, dass selbst jene Werke, die man wie die Aufbauromane einem einzigen Schema zuordnen könnte, beileibe nicht nur demselben Schema gefolgt sind. Nicht alle Werke, vor allem nicht die späteren Werke lassen sich auf das Schema reduzieren, das ich später als Aufbausystem einführen werde. Und zweitens ist für Buck die Orientierung an einem Schema selbstverständlich gleichbedeutend mit einem schweren »ästhetischen Defizit«. Die Reduktion auf ein bestimmtes Schema und die damit verknüpfte ästhetische Deklassierung sind die Gründe, warum Aufbauromane ein Schat3

4

Selbstverständlich wird dies ganz unterschiedlich ausgedrückt. Die Formulierungen reichen von höhnischer Ablehnung – »Die Aufbau-Romane aus dem landwirtschaftlichen Bereich scheiterten so kraß, daß es von niemandem ernsthaft bestritten wurde. [. . .] Etwas besser schnitten die Industrie-Romane ab« (Sander 1972, 119); vgl. dazu: »[Sanders] Schelte ist so pauschal und schematisch wie das Gescholtene« (Hillmann 1983, 497, Anm. 1) – bis zur Charakterisierung der Aufbauliteratur als überwundene, aber notwendige Stufe der literarischen Entwicklung in der offiziellen DDR-Literaturgeschichte. Auch der Satz über fehlende Innovationen ist unbedacht; s. u. Kap. II.4.

2. Aufriss der Arbeit

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tendasein führen. Trotzdem haben sie ihren festen Platz in der Geschichtsschreibung der deutschen Literatur nach 1945. Die Frage lautet: Wie kommt das? Liegt es nur an ihrer sozialistischen Orientierung? Man kann sich mit der Antwort begnügen, der zufolge die Romane als politische Auftragsarbeiten angesehen und damit zu den Akten gelegt werden. Diese Antwort ist sicherlich nicht falsch. Die Romane waren in der Tat Auftragsarbeiten. 5 Die erwähnte Konsequenz, dass man die Werke in diesem Fall auf sich beruhen lassen müsse, folgt daraus aber nicht.

2. Aufriss der Arbeit So stellt sich die Ausgangssituation der vorliegenden Untersuchung von DDR-Aufbauromanen dar. Die dazugehörige Ausgangsfrage lautet: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeichnen die Aufbauromane aus? Der Versuch, darauf eine Antwort zu geben, bedingt den textanalytischen Fokus dieser Arbeit. Da die Romane einen bedeutenden Anteil an der Aufbauliteratur haben und der Roman überdies als Leitgattung des Sozialistischen Realismus angesehen werden kann (vgl. Lauer 2000, 696), konzentriert sich die Untersuchung ausschließlich auf diese Gattung. Diesen Fokus erweitert die Frage nach dem Unterschied zwischen Aufbau- und Ankunftsliteratur in der DDR, grob gesagt, zwischen Romanen der fünfziger und Romanen der frühen sechziger Jahre. Die erwähnte Geringschätzung der Aufbauliteratur bzw. -romane bedingt die weitgehende Nichtbeachtung auf beiden Seiten der Literaturwissenschaft, der östlichen wie der westlichen, und diese Nichtbeachtung wiederum bedingt den mangelhaften Kenntnisstand über das Verhältnis von Aufbauromanen der fünfziger Jahre zur Romanproduktion der sechziger Jahre in der DDR. Daher werden in die Analyse auch bekanntere Romane wie Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) und Erik Neutschs Spur der Steine (1964) sowie Romane von Karl-Heinz Jakobs mit Blick auf die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zu den früheren Romanen einbezogen. Wer sich über die frühe DDR-Literatur orientieren möchte, wird die Erfahrung machen, dass den literaturgeschichtlichen Untersuchungen, die der Anfangszeit der DDR-Romanliteratur gelten, meist nur ein einziger Roman – Eduard Claudius’ Menschen an unserer Seite (1951) – zugrunde liegt. Ehe also das Verhältnis der Aufbauromane zum Romanschaffen der sechziger Jahre untersucht werden konnte, musste das Korpus zusammengestellt werden.

5

Zu den Hintergründen vgl. neben den einschlägigen historiographischen Darstellungen die auf die fünfziger Jahre konzentrierten Beiträge Wolff 1975 und Bock 1980.

14

Einleitung

Dieses Ziel wiederum setzte voraus, den Begriff des Aufbauromans genauer zu bestimmen. Zu diesem Zweck habe ich Ergebnisse der Slavistik als Ausgangsbasis herangezogen, nicht nur weil die sowjetische Romanpoetik viel besser erforscht ist als die Poetik des frühen DDR-Romans, sondern auch weil die frühe DDR-Literatur selbst wohl nur mit Rücksicht auf die sowjetische Literatur adäquat erfasst werden kann. 6 Daher beginnt diese Untersuchung mit einem Kapitel, in dem exemplarisch zwei Varianten des sowjetischen Aufbauromans vorgestellt und einige Forschungsfragen aufgegriffen und diskutiert werden. Die beiden Varianten des Aufbauromans sind der Industrialisierungs- und der Kollektivierungsroman, auf deren begriffliche Differenzierung ich später eingehe. Aus den Ergebnissen abstrahiere ich im zweiten Kapitel ein idealtypisches Modell des Aufbauromans, das den Maßstab für die Untersuchung der DDR-Aufbauromane abgeben wird. Dieses Modell nenne ich das Aufbausystem. Hinter dieser terminologischen Entscheidung steht der Wunsch nach Neutralität im Hinblick auf die ästhetische Wertung. »Schema«, »Schablone« und andere Ausdrücke, die anstelle von »System« in Frage kommen, werden von Zeitgenossen zur ästhetischen Diffamierung der Texte gebraucht oder sind – wie der Begriff des Schemas in der kognitivistisch orientierten Literaturwissenschaft – mittlerweile in einen Bedeutungskontext übergesiedelt, der in einer Untersuchung, die primär textanalytische Ziele verfolgt, zu Missverständnissen führen könnte. In Ergänzung dazu bietet das zweite Kapitel sowohl eine Erörterung der Frage nach dem poetologischen Programm, das den Aufbauromanen (und anderen vergleichbaren Korpora) eigentümlich ist, als auch eine Überlegung zu einem Aspekt, den viele für ein narratives Charakteristikum dieser Romane halten. Dieses Charakteristikum besteht darin, dass nicht die narrative Vermittlung, sondern die Handlung im Vordergrund steht, m. a. W., nicht das Wie, sondern das Was. Zur Untersuchung dieses Charakteristikums bediene ich mich des Begriffs der Episode, der nicht nur dazu geeignet ist, Aspekte der Erzählliteratur zu erfassen, die nicht so sehr die »Erzählung von Worten« als die »Erzählung von Ereignissen« (vgl. Genette 1972) betreffen, sondern auch dazu, die Was-Frage in eine Wie-Frage zu transformieren. Die Feststellung, dass sozialistisch-realistische Romane und mit ihnen als ihre prototypischen Vertreter die Aufbauromane handlungszentriert sind, 6

Dass zwischen sowjetischer Literatur und den Literaturen der »sozialistischen Bruderstaaten« ein enger Zusammenhang besteht, ist wohl unbestritten. Außer entsprechenden Behauptungen und wenigen Einzelfallstudien wurde aber meines Wissens noch nicht systematisch unter˙ sucht, wie dieser Zusammenhang beschaffen ist. Mozejko (1977) gibt eine kenntnisreiche, aber summierende Darstellung des Sozialistischen Realismus in der europäischen Literatur.