Die Poetik des Musikalischen

tens in der mittelalterlichen Psalmodie zerbrochen, in der autonomen Tonformeln ungleich lange Texte unterlegt werden, weshalb melismatische Ornamentik ...
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ISBN 978-3-89785-798-8

Eschlberger · Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800

ETHISCHER NATURALISMUS NACH ARISTOTELES

In der Zeitschrift Athenäum konstatiert Friedrich Schlegel im Jahr 1798: »Die Musik ist eigentl[ich] die Kunst dieses Jahrhunderts«. In den Jahrzehnten um 1800 kommt es in der Geschichte der Ästhetik zu einer historischen Wende – nicht ohne den Beitrag der erzählenden Literatur, die sich eingehend den Wirkungsweisen und Eigenschaften der Musik widmet und ihr dadurch zum Rang der höchsten aller Künste verhilft. Doch können die Gesetze, die sich die Literatur selbst gibt, von diesem Diskurs unberührt bleiben? Tatsächlich steht die Beschäftigung der Dichter mit dem Thema Musik auch in Verbindung mit der Suche nach einer neuen Poetik, einer Poetik des Musikalischen. Gerade an der Behandlung des Musikermotivs kann abgelesen werden, inwieweit sich die ästhetische Neuausrichtung auch in der Entwicklung neuer narratologischer Verfahren niederschlägt und die junge Gattung des Romans selbst in Zeiten einer Sprachkrise kunstvolle Blüten treibt. Als Beispieltexte stehen Erzähltexte von Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und Jean Paul im Zentrum der Untersuchung.

Barbara Eschlberger

Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800 Eine Darstellung anhand des Musikermotivs

Eschlberger · Die Poetik des Musikalischen

Barbara Eschlberger

Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800 Eine Darstellung anhand des Musikermotivs

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung Einbandabbildung: Otto Franz Scholderer (1834–1902): Der Geiger am Fenster (1861)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Meinem Großvater gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Präludium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur musikalisch-literarischen Verwandtschaft und Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Systematisierung musikalisch-literarischer Kunstformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Attraktivität musikalischer Themen in der neueren deutschen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Aufgabenstellung und Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Durchführung Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800. Eine Darstellung anhand des Musikermotivs . . 1. Die Redefinition des Musikalischen durch das Tonkünstlermotiv in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik als superiores Ausdruckssystem . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Ästhetik des Ausdrucks zur Ästhetik der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik als Chiffre des Absoluten und des absolut Schöpferischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konsequenzen der Neubestimmung des Musikalischen: Musikerfigur und musikalische Poetik in der frühromantischen Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musiker und Schriftsteller im künstlerischen Dialog oder Die poetologische Dimension im musikliterarischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die musikalische Prägung von Sprachkrise und Sprachtheorie um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Musiker als Kritiker der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . Musikalisierung als Ausweg aus der Sprachkrise . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Musikrezeption als narrativer Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . Poiesis contra Mimesis: Musikalische Prinzipien der dichterischen Inhaltsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ablehnung von Mimesis und geschlossener Handlungsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Musikalisierte Malerei um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . Die Phantasie der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.Coda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Renaissance der Poetik des Musikalischen im Komponistenroman der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . . .

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IV. Literaturverzeichnis und Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Präludium

Eines der Themen, die in diesem Buch anklingen, ist die Unzulänglichkeit der Sprache. Vor allem da, wo es um Großes geht, muß die Rede oft versagen, und groß ist der Dank, zu dem ich vielen Menschen verpflichtet bin. An dieser Stelle ist vor allen anderen mein Doktorvater Professor Dr. Helmut Koopmann zu nennen. Er hat nicht nur die vorliegende Studie intensiv betreut und sie durch seinen Einsatz für Stipendien wesentlich befördert; sein Wirken, sein Rat und seine Unterstützung waren auch dieser Arbeit vorangehend und über sie hinaus unverzichtbar und auf vielerlei Weise prägend. Meinen akademischen Weg von Beginn an geprägt und gefördert hat auch Professor Dr. Andrea Bartl, die zu dieser Arbeit wichtige Impulse beisteuerte und das Zweitgutachten verfasste. Viel Aufmerksamkeit hat darüber hinaus Professor Dr. Franz Körndle meiner Dissertation gewidmet, er stellte sich für die Disputation als Drittprüfer zur Verfügung. Zu den akademischen Wegbegleitern, die während der Entstehungszeit dieser Studie hilfreiche Anregungen beisteuerten, gehört auch Dr. Antonie Magen. Julia Protz habe ich zusätzlich für die große Verlässlichkeit und Mühe zu danken, mit der sie diese Arbeit redigierte. Irene Ferrara bin ich für die Endkorrektur sehr verpflichtet. Vorworte stehen aus gutem Grund allem anderen voran, obwohl sie meist zuletzt verfaßt werden. Und zu allerletzt werden stets Familie und Freunde genannt – diejenigen, denen man bereits vor dem ersten niedergeschriebenen Wort viel zu danken hatte. Berlin im August 2013

Barbara Eschlberger

I. Exposition

Zur musikalisch-literarischen Verwandtschaft und Vergleichbarkeit Obwohl bereits in den ältesten Erzählformen die Tonkunst als Phänomen begegnet, das meist metaphysischen Ursprungs ist und durch seine Wirkungsmacht stark in den Handlungsverlauf eingreifen kann, zieht das Motiv des Musikers bis zum 18. Jahrhundert eine nur sehr dünne Spur durch die Literaturgeschichte. 1 Weder die antike Mythologie noch das Märchen präsentieren die Musikerexistenz als vita sui generis et iuris: Märchen- und sagenhafte Urheber wunderbarer Klänge gehen, sofern sie überhaupt in Erscheinung treten, eigentlich einem nichtmusikalischen Beruf nach, und selbst im ältesten Musiker Orpheus, dessen Mutter Kalliope die Muse des Saitenspiels und der Epik ist, wird nicht zuletzt der Dichter verehrt. 2 Den Hintergrund für diese lange währende Uneigenständigkeit und geringe Häufigkeit des Musikermotivs bildet nicht allein die vormals niedrige Wertigkeit des Berufsstandes an sich, sondern vielmehr eine Ästhetik, die die Musik nicht als vollgültige Kunst beurteilt. Solange sie nicht als etwas ästhetisch Autonomes begriffen wird, kann sich analog das literarische Motiv des Musikers nicht durchsetzen. In ihren frühen Entwicklungsstufen wird Musik jedoch stets im Zusammenhang mit oder gar in Abhängigkeit von anderen Ausdrucksformen, Kunstgattungen oder Geistesdisziplinen betrachtet. Der antike Begriff der 1

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Zur Häufigkeit des Musikermotivs in der Literatur vgl. v. a. den in der vorliegenden Arbeit noch folgenden Abschnitt »Zur Attraktivität musikalischer Themen in der neueren deutschen Literatur«. Der Musikant in der Wolfsgrube ist beispielsweise Schneider und übt damit wie die meisten im Märchen Musizierenden einen handwerklichen Beruf aus. Auch Hirten und Jäger betätigen sich im Märchen musikalisch. Reine Musikerfiguren sind erst Mitte des 19. Jahrhunderts in den Märchen Ludwig Bechsteins üblich. Zur Musik in der Mythologie und im Märchen vgl. Werner Danckert: Wesen und Ursprung der Tonwelt im Mythos. In: Archiv für Musikwissenschaften 12 (1955). S. 97–115. Wolfgang Laade: Musik und Musiker in Märchen, Sagen und Anekdoten der Völker Europas. Eine Quellensammlung zum Problemkreis »Musik als Kultur«. Band I: Mitteleuropa. Baden-Baden 1988 (= Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen. Band 78). Max Lüthi: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Bern 1943. Gertrud HoferWerner: Die Bedeutung der Musik in Mythen und Märchen. Auf den Spuren von Apoll, Dionysos und Orpheus. Bern 1998 (= Schriften über Harmonik. Band 23).

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I. Exposition

musiké (mousik†), die etymologische Vorstufe des Wortes »Musik«, bezeichnet »weit über die Tonkunst und die ihr verwandten Gebiete hinaus jede Art einer sich in Bildung und Geisteskultur offenbarenden ›Musenkunst‹«. 3 Innerhalb dieses Konzeptes wurde die Musik aufgrund des Elements des Rhythmus’ vor allem als untrennbar mit der Dicht- und Tanzkunst verwoben betrachtet. 4 Nicht nur unter die allgemeine musische Betätigung wird die Musik in ihrer Ausübung und theoretischen Betrachtung subsumiert; die Theorie des Klanges gilt auch als mathematische Frage und rückt deshalb in den Kontext von Arithmetik, Geometrie und Astronomie. In diesem Zusammenhang wird sie als »Philosophie und Theologie der Akustik« 5 für die wissenschaftliche und spekulative Weltdeutung herangezogen. Obwohl sich bei Platon und Aristoteles bereits die Wahrnehmung einer gewissen Eigenständigkeit der Tonkunst beobachten läßt 6, besitzt diese pythagoreische Musikauffassung, 3

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Ulrich Klein: Musik. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet und hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Dritter Band: Iuppiter bis Nasidienus. Stuttgart 1969. Sp. 1485–1496. Hier Sp. 1485. Zur Abstammung des Wortes »Musik« von »Muse« und »musiké« vgl. beispielsweise Albrecht Riethmüller: Musiké – musica – Musik. Vorbemerkung. Wortgeschichte. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe hrsg. von Ludwig Finscher. 21 Bände in zwei Teilen (im folgenden zitiert als: MGG). Sachteil. Band 6: Meis–Mus. Kassel, Basel, London u. a.; Stuttgart, Weimar 1997. Sp. 1195–1212. Hier Sp. 1195. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg 1958 (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Sachgebiet Musikwissenschaft. Band 61. Im folgenden zitiert als: Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen). S. 7. Lukas Richter: Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Platon und Aristoteles. Berlin 1961. S. 2. Vgl. auch Hermann Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland. Bern, München 1963. S. 186–188. Auf der zugrundeliegenden pythagoreischen Zahlen- und Proportionslehre, als deren Vertreter neben Pythagoras, dem die Entdeckung der Intervallproportionen zugeschrieben wird, auch Philolaos und Platon zu nennen sind, beruht auch die Zugehörigkeit der Musik zum Quadrivium innerhalb der Artes liberales. Vor allem die aristotelische Poetik wird Vorbild für eine die einzelnen Gattungen in einen mehr oder weniger strengen kategorialen Rahmen einfügende Theorie der Künste, die die Bildung von Hierarchien begünstigt, während in Platons Dialogen die Gattungen noch unsystematisch voneinander abgegrenzt werden. Vgl. hierzu Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, »Longin«. Eine Einführung. 2., überarbeitete und veränderte Auflage. Darmstadt 1992 (= Die Literaturwissenschaft). Lukas Richter: Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Platon und Aristoteles. Berlin 1961. Diese Neuerungen bedeuten jedoch noch keineswegs, daß die Musik in ihrer Eigenständigkeit auch Wertschätzung erfährt: Platon beispielsweise opponiert im Gefolge Damons mit dem Argument gegen die Instrumentalmusik, daß nur die Dominanz der Sprache der Musik eine ethische und erzieherische Funktion sichern könne. In der wortlosen Musik sieht er eine potentielle Gefährdung der Jugend und des Staatswesens. Platon: Politeia 395d–403c, Nomoi 669c–670a, 700d–701a, 812d–e.

Zur musikalisch-literarischen Verwandtschaft und Vergleichbarkeit

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die die Musik als ein Verhältnisspiel von Zahlen begreift, das nach den selben universalharmonischen Gesetzmäßigkeiten auch den Kosmos durchwaltet, teilweise bis weit in das 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit. 7 Die Verbindung zwischen Musik und Sprache jedoch scheint durch die Zeiten hindurch im Vergleich stets als die stärkste. In allen Kulturen und zu allen Zeiten gelten sie als verwandt. Die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit beider Ausdrucksformen wird gestützt durch ihre Verquickung in der altgriechischen Sprachmelodie, deren Klangdimension für den Sinntransport ebenso ausschlaggebend war wie die Wortbedeutung. 8 Durch den Verzicht auf eine nach festen rhythmischen Gesetzen erfolgende Wortwahl und -stellung kann sich die Dichtung aus diesem System relativ früh emanzipieren: Ist die Ilias noch für den singenden Vortrag bestimmt, wird die Äneis bereits deklamiert. 9 Schrittweise löst ein latenter dynamischer Akzent den streng geregelten Wechsel von langen und kurzen Silben ab; neue Vers- und schließlich auch prosaische Dichtungsformen entstehen. 10 Vergleichsweise spät wird die Musik ohne den Beiklang des Wortes als eigenständige Kunstform angesehen. 7

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Als Beispiele seien Zitate von Baumgarten und Leibniz angeführt, die die Musik in die Nähe von Naturwissenschaft und Philosophie stellen. Gottfried Wilhelm Leibniz: Epistola CLIV an Chr. Goldbach am 17. 04.1712. In: Viri illustris Godefridi Guil. Leibnitii: Epistolae ad diversos, theologiici, iuridici, medici, philosophici, mathematici, historici et philologici arguemtni e msc. Auctoris. Cum annotationibus suis primum divulgavit Chritian Kortholtus. Band I. Bern 1734. S. 239–242. Hier S. 241: »Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare anim[ae].« Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophia generalis. Edidit cum dissertatione prooemiali de dubitatione et certitudine J[ohann] Chr[istian] Foerster. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Halle und Magdeburg 1770. Hildesheim 1968. § 148. S. 64–67: »Philosophia theoretica est [. . .] physica [. . .] phonologia de sono [. . .].« Platon und noch deutlicher Aristoteles sind ihrer Zeit weit voraus, wenn sie Harmonie und Rhythmus aus dem Gesamtkonzept der musiké extrahiert betrachten, auch wenn diese »dem Wort folgen« müssen. Platon: Politeia 398 c-d. Dieselben Beispiele verwendet Calvin S. Brown: Theoretische Grundlagen zum Studium der Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Musik. In: Steven Paul Scher: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1984. S. 29–39 (im folgenden zitiert als: Calvin S. Brown: Theoretische Grundlagen). Hier S. 28. Georgiades thematisiert ausführlich, daß es erst innerhalb der abendländischen Geschichte möglich geworden ist, Dichtung und Musik zu trennen. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Insbesondere S. 45f. John Hollander nennt als Grund für die Aufspaltung der musiké in Musik und Dichtung die Adaption des griechischen Metrums, das ursprünglich untrennbar von der Musik war, auf das Lateinische. John Hollander: Music and Poetry. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 (1956). S. 232–244. Hier S. 235. Petri dagegen meint, die harmonische Einheit sei spätestens in der mittelalterlichen Psalmodie zerbrochen, in der autonomen Tonformeln ungleich lange Texte unterlegt werden, weshalb melismatische Ornamentik und Auszierung auf einer Sprachsilbe erstmals gleichberechtigt neben syllabischen Tonfolgen standen. Horst Petri: Formund Strukturparallelen in Literatur und Musik. In: Studium Generale 19 (1966). S. 72–84. Hier

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I. Exposition

Auch wenn sie bereits im antiken Griechenland praktiziert wird, erfährt die reine Instrumentalmusik bis zum Spätmittelalter nicht genug Wertschätzung, um auch notiert zu werden. 11 Erst in dem Zeitraum, auf den sich die vorliegende Untersuchung konzentriert – an der Wende zum 19. Jahrhundert also – steht ihre Gleichrangigkeit anderen Kunstgattungen gegenüber nicht mehr in Frage. 12 Die Lösung der ursprünglichen Einheit von Literatur und Musik in ein schwesterliches Verhältnis und das Heraustreten der Musikästhetik aus der allgemeinen Kunstbetrachtung sind jedoch Voraussetzung dafür, daß die eine Kunst ein Bild der anderen entwerfen und eine neuartige wechselseitige Befruchtung der Gattungen vonstatten gehen kann. Und erst zu dem Zeitpunkt, zu dem eine solche vergleichende Betrachtung der Disziplinen als Phänomene »in Berührung und Wechselbeziehung« 13 möglich wird, betritt die Figur des Musikers die literarische Bühne. In der Behandlung dieses Motivs findet, so die Grundannahme der vorliegenden Arbeit 14, innerhalb der Literatur eine

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S. 73. Koller sieht in der Einführung des Reims in die griechische Sprache sowohl einen beschleunigenden Faktor als auch eine Kompensation für die Ablösung des sprachmusikalischen Konzeptes der musiké. Hermann Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland. Bern, München 1963. S. 174. Als Zeitraum für diese Aufspaltung in Musik einerseits, Dichtung andererseits gibt Ansermet das 5. oder 6. Jahrhundert nach Christi an. Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein. München 1965. S. 372–374. Zur Geschichte der Abspaltung der Instrumentalmusik aus der frühen Vokalmusik vgl. John Neubauer: The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in EighteenthCentury Aesthetics. New Haven, London 1986. Außerdem: John Hollander: Music and Poetry. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 (1956). S. 232–244, insbesondere S. 235 f. In einer literaturwissenschaftlichen Studie kann der Verlauf der Musikgeschichte natürlich nur eine Nebenrolle spielen. Die hier nur kurz angesprochenen Entwicklungen werden jedoch in der vorliegenden Arbeit noch ausführlicher erläutert. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel II.1. Ausnahmen gibt es jedoch. Friedrich Theodor Vischer beispielsweise konstatiert einschränkend, daß die Musik nur in Verbindung mit der Poesie, die mittels der Phantasie das Sichtbare der bildenden Kunst im Geiste mittransportiert, ihre volle Wirkung entfalten kann: »Jede Kunst zeigt durch ihre Mängel hinüber auf die andern, keine so fühlbar, so schwebend, wie die Musik.« Die dichtende Phantasie vereinigt die charakteristischen Wirkungsprinzipien von Musik und bildender Kunst in sich und steht so an der Spitze der Künstehierarchie. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Theil: Die Kunstlehre. Stuttgart 1857. S. 777. Georg Reichert: Literatur und Musik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Zweite Auflage. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Zweiter Band: L–O. Berlin 1965. S. 143–163. Hier S. 143. In ausführlicher Form wird die Fragestellung dieser Arbeit in einem späteren Abschnitt der »Exposition« entwickelt.