mindestlohn

Tabelle 3: Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz nach Typ, 2007 ...... Argumente auf äusserst strikten und teilweise wenig realistischen Annahmen. So.
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MINDESTLOHN Situation und Handlungsbedarf

Bericht der SGB-Expertengruppe Mindestlohn Doris Bianchi, Stefan Giger, Daniel Lampart, Danièle Lenzin, Alessandro Pelizzari, Andreas Rieger, Georges Tissot Redaktion Doris Bianchi, Daniel Lampart, Isabel Martinez, Gabriela Medici

Mai 2011

Impressum Herausgeber: SGB Monbijoustrasse 61, 3007 Bern, [email protected], www.sgb.ch Verlag: Editions à la Carte Technoparkstrasse 1, 8005 Zürich, Schweiz, www.editions.ch Umschlaggestaltung: Medienbüro Selezione 6853 Ligornetto, www.selezione.ch Bild Umschlag: karpi.ch Copyright by SGB

Inhaltsverzeichnis I.

Mindestlöhne und Tieflöhne in der Schweiz heute .................................... 5

1

Gesamtarbeitsverträge und Mindestlöhne .................................................... 5

1.1. Der GAV-Abdeckungsgrad in der Schweiz ............................................................... 5 1.2. Abdeckung mit Mindestlöhnen durch GAV .............................................................. 8 1.3. Konkrete Ausgestaltung der Gesamtarbeitsverträge ............................................. 11 2

Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen (NAV) .......................................... 15

3

Die Situation der Tieflohnbezüger/innen ..................................................... 17

3.1. Tieflohnproblematik in Schweiz und Mindestlohnkampagne der Gewerkschaften 1998 ................................................................................................. 17 3.2. Tieflöhne in der Schweiz heute ................................................................................. 20 4

Fazit: Hindernisse und Expansionspotenzial ............................................... 28

Anhang .................................................................................................................................. 30 Literaturnachweise ................................................................................................................. 41 II.

Mindestlohnpolitik in Europa................................................................... 42

Österreich ................................................................................................................................ 42 Skandinavien .......................................................................................................................... 43 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur EU-Entsenderichtlinie ............. 46 Frankreich ............................................................................................................................... 47 Grossbritannien ...................................................................................................................... 49 Die BeNeLux-Staaten ............................................................................................................ 52 Spanien .................................................................................................................................. 53 Fazit: Die Institutionalisierung der Mindestlohnpolitik ist wegweisend ........................ 55 Anhang .................................................................................................................................. 58 Literaturnachweise ................................................................................................................. 60 III.

Wirkung von Mindestlöhnen auf Beschäftigung und Einkommensverteilung ............................................................................ 62

1

Einleitung ..................................................................................................... 62

2

Theoretische Grundlagen ............................................................................ 63

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

Beschäftigung und Arbeitslosigkeit .......................................................................... 63 Margen und Innovationstätigkeit der Unternehmen .............................................. 66 Anreize zum Outsourcing geringqualifizierter Tätigkeiten .................................... 67 Aus- und Weiterbildung .............................................................................................. 68 Einkommensverteilung ................................................................................................ 69 Gesamtwirtschaftliche Effekte ................................................................................... 70

3

3

Empirische Studien ..................................................................................... 71

3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8.

Beschäftigungseffekte in vergleichenden Länderpanel ........................................ 71 Beschäftigungseffekte anhand von einzelnen Länderstudien ............................. 72 Beschäftigungseffekte in typischen Tieflohnbranchen ......................................... 76 Evidenz für marktmächtige Unternehmen und Monopsone ................................ 80 Anpassungsstrategien, Margen und Innovationstätigkeit der Unternehmen ... 81 Outsourcing und Mindestlöhne ................................................................................. 82 Auswirkungen auf die Weiterbildung........................................................................ 83 Mindestlöhne und Einkommensverteilung .............................................................. 85

4

Fazit: Keine negativen Beschäftigungseffekte ............................................ 87

Literaturnachweise ................................................................................................................. 88 IV.

Regulierung der Mindestlöhne ................................................................ 93

1

Grundsätze der Lohnfestsetzung in der Schweiz ........................................ 93

1.1. Schranken der Vertragsfreiheit – Löhne können nicht beliebig festgelegt werden ........................................................................................ 93 1.2. Verfassungsrechtliche Vorgaben – Existiert ein Anspruch auf gesicherte Mindestlöhne? .................................................................................... 95 1.3. Für gesetzliche Mindestlöhne ist keine zusätzliche Verfassungsgrundlage nötig ...................................................................................... 96 1.4. Förderung von Gesamtarbeitsverträgen ............................................................... 102 1.5. Vollzug von Gesamtarbeitsverträgen ..................................................................... 109 2

Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen ...................................................114

2.1. Lohnfestsetzung in Normalarbeitsverträgen ........................................................ 114 2.2. Verbesserungen von Normalarbeitsverträgen mit Blick auf die Mindestlohnfrage ......................................................................................... 118 3

Gesetzliche Mindestlöhne ..........................................................................121

3.1. Einleitende Bemerkungen ....................................................................................... 121 3.2. Verfassungsrechtliche Grundlage .......................................................................... 122 3.3. Subsidiarität des gesetzlichen Mindestlohnes ..................................................... 123 3.4. Inhalt verfassungsrechtlicher Mindestlohnbestimmungen ................................ 124 3.5. Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns .................................................... 126 Literaturnachweise .............................................................................................................. 127

4

I. 1

Mindestlöhne und Tieflöhne in der Schweiz heute Gesamtarbeitsverträge und Mindestlöhne

1.1. Der GAV-Abdeckungsgrad in der Schweiz In der Schweiz spielt der Staat bei der Regulierung der Arbeitsverhältnisse eine sehr zurückhaltende Rolle. Traditionell wird es den Sozialpartnern überlassen, die Löhne über Gesamtarbeitsverträge (GAV) festzulegen. Im Folgenden wird untersucht, inwiefern Beschäftigte auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt vom Schutz einer kollektiv ausgehandelten Mindestlohnregelung profitieren. Ein Mass für diesen Schutz ist der GAV-Abdeckungsgrad: er bezeichnet den Anteil der lohnabhängig Beschäftigten, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind (=unterstellte Beschäftigung/ unterstellbare Beschäftigung). Von Interesse ist folglich der Netto-Abdeckungsgrad (Unterstellte/Unterstellbare), und nicht der wesentlich einfacher zu bestimmende Brutto-Abdeckungsgrad (total Unterstellte/Gesamtbeschäftigung). Der Unterschied rührt daher, dass Teile der Beschäftigten keinem GAV unterstellt werden können: Mitarbeitende Betriebseigentümer gelten ebenso wenig als unterstellbar wie Selbstständige, Familienmitarbeitende oder öffentlich-rechtlich Angestellte. Die folgenden Berechnungen beruhen auf einer Reihe von Annahmen und Schätzungen und sollten deshalb in ihrer Genauigkeit nicht überschätzt werden. Hingegen scheint es plausibel, dass rund die Hälfte der Lohnabhängigen (exklusiv öffentlich-rechtlich Angestellte) in der Schweiz einem GAV unterstellt sind.

5

Tabelle 1: GAV-Unterstellte und Beschäftigte (in 1000), Netto-Abdeckungsgrad 1991 bis 2007 Anzahl einem GAV unterstellte Lohnabhängige 1 Gesamte Beschäftigung 2 -nicht unterstellbar: Teil des öffentlichen Sektors 3 -nicht unterstellbar: Betriebseigner, Kader, mitarbeitende Familienmitglider (4.9%) 4 Gesamte unterstellbare Beschäftigung Abdeckungsgrad (=GAVUnterstellte / unterstellbare Beschäftigte)

1991

1992

1994

1996

1999

2003

2005

2007

1400

1402

1304

1214

1269

1414

1520

1683

3730

3630

3521

3454

3518

3624

3635

3828

631

629

637

642

681

273

278

297

150

146

140

136

138

163

163

171

2949

2856

2744

2676

2700

3189

3194

3360

48%

49%

48%

45%

47%

44%

48%

50%

1

Quelle: Erhebung der Gesamtarbeitsverträge, diverse Jahre, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel. Berechnungen Daniel Oesch.

2

Quelle : Beschäftigungsstatistik BESTA, saisonbereinigt, 2. Quartal, Bundesamt für Statistik.

3

Als nicht unterstellbar werden die Beschäftigten im Beamtenstatus gezählt.

4

Mitarbeitende Betriebsinhaber und Familienmitglieder sind ebenso wie Kader und Aushilfen in aller Regel vom Geltungsbereich eines GAV ausgeschlossen.

Quelle: Oesch (2007 und 2009). Für weitere Details wird auf den methodischen Anhang zu diesem Kapitel verwiesen.

Bis Ende der Neunziger Jahre entwickelte sich die Anzahl der GAV-Unterstellten in etwa parallel zur Beschäftigung. Der Tiefpunkt wurde 1996 mit einem NettoAbdeckungsgrad von 45%, respektive 1‘214‘000 Beschäftigten, erreicht. Danach nahmen die Unterstellten kontinuierlich zu, bis die Zahl auf 1'683'000 im Jahr 2007 angewachsen war. 2001 wurde das Beamtengesetz auf Bundesebene durch das Bundespersonalgesetz (BPG) ersetzt und GAV fanden auch im öffentlichen Sektor Verbreitung. In den meisten Kantonen wurde der Beamtenstatus ebenfalls abgeschwächt. Damit wurde die unterstellbare Beschäftigung stark ausgeweitet. Seither ist die Zahl der GAV-Unterstellten schneller als die unterstellbare Beschäftigung gewachsen: 2005 wurde der Netto-Abdeckungsgrad von 1991 erreicht (48%) und 2007 übertroffen (50%). Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, dass der Abdeckungsgrad in der Schweiz mit 50% relativ tief ausfällt. In vielen Ländern ohne gesetzlichen Mindestlohn liegt der Abdeckungsgrad deutlich höher, so beispielsweise in Österreich (99%), Finnland (90%), Schweden (91%), Dänemark (83%) oder Norwegen (70%). Aber auch in Ländern mit gesetzlichen Mindestlöhnen liegt der Abdeckungsgrad mit GAV häufig über 50%, so in Spanien (80-90%), den Niederlanden (81%), Belgien (96%), oder Frankreich (90%). Einen ähnlich tiefen Abdeckungsgrad wie die Schweiz hat Deutschland (55% Westdeutschland, 40% Ostdeutschland), einen deutlich tieferen hat England mit lediglich 35% (72% im öffentlichen, 20% im privaten Sektor) (Quelle: European Industrial Relations Observatory on-line, Jan. 2011). 6

Tabelle 2 gibt eine Übersicht über den Abdeckungsgrad mit GAV in der Schweiz in den einzelnen Branchen. Zusätzlich wurde nach GAV mit und ohne Mindestlöhne unterschieden. Die Tabelle soll einen Überblick über die GAV-Landschaft in der Schweiz liefern, dennoch sollten die Zahlen mit Vorsicht interpretiert werden, da es sich ebenfalls um Schätzergebnisse handelt. Tabelle 2: Geschätzter Netto-Abdeckungsgrad mit GAV nach Branchen, 2007 Branche (mit Noga2002-Code)

Unterstellte Beschäftigte

Abdeckungsgrad total

SEKUNDÄRER SEKTOR 15 Herstellung Nahrungsmittel u. Getränke 18,19 Herstellung Bekleidung, Pelzwaren, Lederwaren u. Schuhe 20 Be- und Verarbeitung von Holz 21 Papier- und Kartongewerbe 22 Verlag, Druck, Vervielfältigung 24,23 Chemische Industrie, Kokerei 25 Herstellung Gummi- und Kunststoffwaren 26 Herstellung sonst. nichtmet. Mineralien 27-32,34-35 MEM-Industrie+# 33 Herstellung med. u. Präzisionsinstrumente 36,37 Sonstiges verarbeitendes Gewerbe 40 (41) Energie- und Wasserversorgung 45 Baugewerbe TERTIÄRER SEKTOR 50 Handel, Reparatur Automobile(inkl. Tankstellen) 51 Handelsvermittlung, Grosshandel 52 Detailhandel und Reparatur 55 Gastgewerbe 60-64 Verkehr, Nachrichtenübermittlung 65 Kreditgewerbe 66 Versicherungsgewerbe 70 Immobilienwesen 72,74 Informatikdienste; DL für Unternehmen 80 Unterrichtswesen 85 Gesundheits- und Sozialwesen 90 Abfallbeseitigung/-entsorgung 91 Interessenvertretungen, Vereinigungen 92 Unterhaltung, Kultur, Sport 93 Persönliche Dienstleistungen CH Total*

15'130

25%

2'437 19'855 2'791 25'722 13'911 1'946 5'450 138'830 39'620 2'966 5'331 181'000

34% 54% 24% 59% 20% 8% 29% 47% 43% 11% 22% 61%

18'729 5'246 153'696 216'000 156'467 84'132 2'164 1'767 70'431 7'728 53'380 72 503 9'842 985

22% 3% 44% 100% 55% 74% 4% 5% 17% 14% 12% 1% 1% 22% 2%

1'568'279

49%

Quelle: Erhebung der Gesamtarbeitsverträge 2007 und BZ 2008, BfS; Berechnungen: SGB. # MEM-Industrie + : Breit gefasste Definition der der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Sie beinhaltet folgende Noga-Branchen: 27 Erzeugung und Bearbeitung von Metall; 28 Herstellung von Metallerzeugnissen; 29 Maschinenbau; 30 Herst. v. Büromaschinen, Computern u. ä.; 31 Herst. v. Geräten der Elektrizitätserzeugung; 32 Herst. v. Radio-/Fernseh-/Nachrichtengeräten; 34 Fahrzeugbau; 35 Herstellung von sonstigen Fahrzeugen. * ohne Landwirtschaft

7

Ausgeklammert wurden die Angestellten des öffentlichen Sektors im Unterrichtswesen; nicht berücksichtigt wurden Öff. Verwaltung, Landesverteidigung, Sozialvers. Für Betriebseigner wurde analog zu Oesch (2007) mit 4.9% korrigiert (s. Erläuterungen zu Tabelle 1). Für weitere Details wird auf den methodischen Anhang zu diesem Kapitel verwiesen.

Die Tabelle oben beschreibt den geschätzten Netto-Abdeckungsgrad in den einzelnen Branchen. Schon auf den ersten Blick wird klar, dass die Lage je nach Branche sehr unterschiedlich ist. Während in einigen grossen Branchen wie im Gastgewerbe, im Baugewerbe, bei Verkehr- und Nachrichtenübermittlung sowie im Kreditgewerbe der Abdeckungsgrad überdurchschnittlich hoch ist, fallen andere Branchen in der Industrie und vor allem auch im Dienstleistungsbereich unterdurchschnittlich aus. Für einige Branchen mit sehr vielen Beschäftigten wie beispielsweise im Detailhandel, bei Informatikdiensten und Dienstleistungen für Unternehmen (worunter auch das Reinigungs- und Sicherheitsgewerbe fallen), im Gesundheitswesen und bei den persönlichen Dienstleistungen bedeutet dies, dass eine grosse Anzahl von Beschäftigten nicht durch gesamtarbeitsvertragliche Regelungen geschützt ist. 2007 befand sich das Coiffeur-Gewerbe, das zu den persönlichen Dienstleistungen zählt, noch in einem vertragslosen Zustand. Seit 1.1.2010 ist ein GAV in Kraft, dem ca. 8‘500 Arbeitnehmende unterstehen. Unter Berücksichtigung dieser Beschäftigten stiege der Abdeckungsgrad bei den persönlichen Dienstleistungen auf knapp 20% an.

1.2. Abdeckung mit Mindestlöhnen durch GAV Gesamtarbeitsverträge enthalten zwar mehrheitlich Mindestlohnbestimmungen, doch gibt es auch GAV, die keine Mindestlöhne festhalten. Von den rund 600 GAV in der Schweiz enthalten gemäss BfS-Statistik knapp 500 Mindestlohnbestimmun1 gen . Wie aus der nachfolgenden Tabelle 3 ersichtlich, waren 2007 rund 1,2 Millionen Beschäftige einem GAV mit Mindestlöhnen unterstellt. Dies bedeutet, dass 37% der unterstellbaren Beschäftigten oder 74% der unterstellten Beschäftigten vom Schutz eines gesamtarbeitsvertraglichen Mindestlohns profitieren. Rund 18% der Unterstellten waren 2007 einem Firmen-GAV unterstellt, wovon ein Grossteil auch Mindestlöhne enthielt. Knapp 1,3 Millionen Arbeitnehmende oder 82% der Unterstellten waren zur selben Zeit einem Verbands-GAV unterstellt. Vom Schutz durch Mindestlöhne in Verbands-GAV profitieren rund 30% der unterstellbaren beziehungsweise 62% der unterstellten Beschäftigten in der Schweiz. Der Verbands-GAV ist also trotz teilweiser Dezentralisierung der Kollektivverhandlungen von der Branchen- auf die Betriebsebene in den neunziger Jahren nach wie vor von wesentlicher Bedeutung für die Regelung von Arbeitsbedingungen in der Schweiz (Oesch 2007:340). Die Anzahl der allgemeinverbindlich erklärten GAV hat sich seit 1995 mehr als vervierfacht. Diese Entwicklung kann insbesondere mit der Aussicht auf die Einführung des freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs mit der EU und den damit zu1

8

Es gilt anzumerken, dass in der Erhebung der Gesamtarbeitsverträge zum Teil Doppelzählungen sowie ungenaue Angaben, insbesondere zu Mindestlöhnen, enthalten sind.

sammenhängenden flankierenden Massnahmen erklärt werden (Oesch 2007:348). Gemäss BfS waren in 2007 588'000 Beschäftigte einem der 62 allgemeinverbindlich erklärten GAV unterstellt. Daraus ergibt sich, dass 38% der unterstellten Arbeitnehmer beziehungsweise 18% der unterstellbaren Arbeitnehmer von einem allgemeinverbindlichen Mindestlohnschutz profitieren. Tabelle 3: Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz nach Typ, 2007 GAV insgesamt

GAV mit Mindestlöhnen

ave GAV

Unterstellte

Unterstellte

Unterstellte

Total

1‘568‘279

1‘235‘788

588‘200

Verbands-GAV

1‘290‘610

976‘319

588‘200

277‘669

259‘469

0

100%

79%

38%

49%

39%

18%

Firmen-GAV Unterstellte Beschäftigte in % aller GAVUnterstellten Unterstellte Beschäftige in % der unterstellbaren Beschäftigung

Quelle: Erhebung der Gesamtarbeitsverträge, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 2007. ave GAV: allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge

Tabelle 4 unten zeigt die Verbreitung von GAV-Mindestlöhnen in den einzelnen Branchen. Es zeigt sich, dass es in der Mehrheit der Branchen offensichtlich GAV ohne Mindestlöhne gibt. Eine grosse Ausnahme bildet das Gastgewerbe, wo der Abdeckungsgrad dank dem Landesgesamtarbeitsvertrag L-GAV bei 100% liegt und gleichzeitig allen unterstellbaren Beschäftigten einen Mindestlohn garantiert. Auch in einigen Branchen des sekundären Sektors (z.B. in den Noga-Branchen18-22) ist allen Unterstellten auch ein gesamtarbeitsvertraglich festgelegter Mindestlohn gewiss, doch wird hier keine so hohe Abdeckung mehr erreicht wie im Gastgewerbe. Während der Abdeckungsgrad mit Mindestlöhnen häufig etwas tiefer liegt als der gesamte Abdeckungsgrad, gibt es einzelne Branchen, wo dieser Unterschied zum Teil beträchtlich sein kann. Am ausgeprägtesten fällt dieser bei der hier etwas breiter definierten MEM-Industrie aus, wo trotz einem Abdeckungsgrad von 47% nur gerade 10% der Unterstellbaren auch einen garantierten Mindestlohn haben. Noch extremer würde das Resultat ausfallen, wenn die Branchendefinition enger gefasst würde, denn allein dem MEM-Vertrag unterstehen rund 107‘000 Beschäftigte, doch beinhaltet dieser Vertrag keine Mindestlohnregelungen. Gesamthaft ist der Abdeckungsgrad mit Mindestlöhnen im sekundären Sektor erwartungsgemäss etwas höher als im Dienstleistungssektor. Für die gesamte Schweiz (ohne Landwirtschaft) liegt der Netto-Abdeckungsgrad mit Mindestlöhnen bei 39%. Mit anderen Worten: Ca. 60% der Lohnabhängigen in der Schweiz können sich nicht auf in GAV garantierte Mindestlöhne berufen.

9

Tabelle 4: Geschätzter Abdeckungsgrad mit GAV-Mindestlöhnen nach Branchen, 2007 Branche (mit NOGA2002-Code) SEKUNDÄRER SEKTOR 15 Herstellung Nahrungsmittel u. Getränke 18,19 Herstellung Bekleidung, Pelzwaren, Lederwaren u. Schuhe 20 Be- und Verarbeitung von Holz 21 Papier- und Kartongewerbe 22 Verlag, Druck, Vervielfältigung 24,23 Chemische Industrie, Kokerei 25 Herstellung Gummi- und Kunststoffwaren 26 Herstellung sonst. nichtmet. Mineralien 27-32,34-35 MEM-Industrie+# 33 Herstellung med. u. Präzisionsinstrumente 36,37 Sonstiges verarbeitendes Gewerbe 40 (41) Energie- und Wasserversorgung 45 Baugewerbe TERTIÄRER SEKTOR 50 Handel, Reparatur Automobile (inkl. Tankstellen) 51 Handelsvermittlung, Grosshandel 52 Detailhandel und Reparatur 55 Gastgewerbe 60-64 Verkehr, Nachrichtenübermittlung 65 Kreditgewerbe 66 Versicherungsgewerbe 70 Immobilienwesen 72,74 Informatikdienste; DL für Unternehmen 80 Unterrichtswesen 85 Gesundheits- und Sozialwesen 90 Abfallbeseitigung/-entsorgung 91 Interessenvertretungen, Vereinigungen 92 Unterhaltung, Kultur, Sport 93 Persönliche Dienstleistungen CH Total*

Abdeckungsgrad total

… mit Mindestlohn

… ohne Mindestlohn

25%

21%

5%

34% 54% 24% 59% 20% 8% 29% 47% 43% 11% 22% 61%

34% 54% 24% 59% 9% 4% 28% 10% 40% 7% 8% 56%

0% 0% 0% 0% 11% 4% 1% 38% 2% 4% 14% 6%

22% 3% 44% 100% 55% 74% 4% 5% 17% 14% 12% 1% 1% 22% 2% 49%

16% 3% 42% 100% 42% 71% 0% 5% 17% 11% 12% 1% 0% 8% 2% 39%

6% 0% 2% 0% 13% 3% 4% 0% 1% 3% 0% 0% 1% 14% 0% 10%

Quelle: siehe Tabelle 2.

Neben den zum Teil beachtlichen Unterschieden im Abdeckungsgrad mit Mindestlöhnen je nach Branche muss für eine genaue Analyse der Lohngarantien in der Schweiz weiter unterschieden werden, um was für Mindestlöhne es sich handelt. Erstens variiert gleich wie der GAV-Abdeckungsgrad auch das Mindestlohnniveau von GAV-Mindestlöhnen je nach Branche beträchtlich, zweitens spielt es eine wichtige Rolle, welche Arbeitnehmenden durch die GAV-Mindestlöhne geschützt werden und drittens muss man die GAV-Mindestlöhne danach unterscheiden, wie ihre 10

Durchsetzbarkeit abgesichert ist. Diese Aspekte werden im Weiteren genauer betrachtet.

1.3. Konkrete Ausgestaltung der Gesamtarbeitsverträge An dieser Stelle lohnt sich eine genauere Betrachtung der einzelnen Vertragswerke. In der Tabelle A1 im Anhang zu diesem Kapitel sind eine Reihe ausgewählter Verträge sowie die im Folgenden besprochenen Eckwerte ersichtlich (Stand: 2010). a)

Niveau der Mindestlöhne

Die monatlichen Minimallöhne für Ungelernte in den ausgewählten Niedriglohnbranchen bewegen sich zwischen 53% und 67% des schweizerischen Medianlohns von 2008 von 5‘823 Franken (Privater Sektor und Bund, LSE 2008). Dies zeigt: Obwohl rund die Hälfte der unterstellbaren Arbeitnehmenden in der Schweiz einem Gesamtarbeitsvertrag untersteht, sind die Lohnunterschiede zwischen den Branchen zum Teil beachtlich. Die tiefsten Löhne werden im Gastgewerbe, dem Detailhandel, in der Reinigungsbranche sowie im Schreinergewerbe gezahlt. Dort erreichen die vereinbarten Mindestlöhne für Ungelernte nicht 60% des schweizerischen Medianlohns. Allein im Gastgewerbe verdienten 2008 73‘000 Angestellte weniger als 44‘500 Franken im Jahr (das entspricht 12 Monatslöhnen à 3‘700 Franken), im Detailhandel fallen 50'000 Personen unter diese Grenze. Bezeichnenderweise sind es insbesondere stark von Frauen und Einwanderern besetzte Berufe, in welchen die Löhne so ausgesprochen tief ausfallen. Die Mehrheit der untersuchten GAV-Minimallöhne für Ungelernte in Tieflohnbranchen liegt immerhin etwas über 60% des Medianlohns und sieht überdies einen vollen dreizehnten Monatslohn vor. Einzig im Gastgewerbe wird dieser erst nach 3 Anstellungsjahren vollumfänglich gewährt. Hier wurde jedoch mit dem neuen L-GAV, der per 1.1.2012 in Kraft tritt, ein Schritt zur Verbesserung erzielt: Dann wird der 13. Monatslohn ab Anstellungsbeginn voll bezahlt. Zudem werden verschiedene Lohreduktionsmöglichkeiten abgeschafft. In der Reinigungsbranche ist ein voller „Dreizehnter“ seit 2010 für gewisse, aber noch immer nicht für alle Arbeitnehmer/innen vorgesehen. In anderen Branchen liegen die Mindestlöhne bei ca. 65% des Medianlohnes. Dies ist im Dach- und Wand-, im Holzbauund im Maler- und Gipsergewerbe der Fall. Diese Branchen stehen jedoch dem Bauhauptgewerbe sehr nah, so dass man von einem Ausstrahlungseffekt des Landesmantelvertrags für das Schweizerische Bauhauptgewerbe ausgehen kann. Dort liegt der niedrigste Monatslohn für Arbeiter ohne Fachkenntnisse bei 4'330 Franken – und Anspruch auf einen dreizehnten Monatslohn – was 74% des Medianlohns entspricht. Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass es noch immer Gesamtarbeitsverträge gibt, die regionale Abstufungen vorsehen. So existiert in einigen Branchen neben einem schweizweiten Vertrag daneben noch ein kantonaler, beispielsweise im Elektro- und Telekommunikations-Installationsgewerbe, im Maler- und Gipsergewerbe sowie weiteren handwerklichen Berufen. Andere Branchen, wie das Autogewerbe, kennen gar nur kantonale, beziehungsweise regionale Verträge, wo11

bei alle Gebiete der Schweiz abgedeckt sind. Im Detailhandel gibt es noch immer kein landesweites Vertragswerk. Neben den GAV der grössten Detailhandelsketten Coop und Migros existieren diverse kleinere GAV sowie einige kantonale Vereinbarungen, die Abdeckung bleibt damit aber lückenhaft. b)

Berücksichtigung von Qualifikationen

Fast alle Gesamtarbeitsverträge (und auch die Normalarbeitsverträge) enthalten neben dem Minimallohn auch Bestimmungen über die Löhne der qualifizierten und erfahrenen Arbeitnehmer/innen. Diese höheren Löhne für Personen mit einem Lehrabschluss und weiteren Bildungsleistungen können als Belohnung für die unternommenen Bildungsanstrengungen angesehen werden. In der Ökonomie spricht man hierbei von Bildungsrenditen und Bildungsinvestitionen. Die Gesamtarbeitsverträge legen damit die minimale Höhe dieser Rendite fest. Wie auch bei den Minimallöhnen ergeben sich bei den Lohnvorteilen branchenspezifische Unterschiede. Besonders gering sind die Lohnvorteile bei einer dreijährigen abgeschlossenen Lehre im Detailhandel: Der garantierte Lohnvorteil in den betrachteten Verträgen liegt zwischen 7% und 9%. Auch für einen Isolierspengler im Alter von 20 bis 25 Jahren bringt eine Lehre nur gerade mal 7% mehr Lohn gegenüber einem Ungelernten mit sich. Ab dem 30. Altersjahr steigt der Lohnvorteil gegenüber einem Ungelernten auf 10%. Demgegenüber profitieren Berufsschreiner schon im ersten Jahr nach Lehrabschluss von einem 16% höheren Lohn, ab dem 24. Altersjahr von 33%. Ähnlich sind die Verhältnisse im Holzbaugewerbe und in der Möbelindustrie. In der Mehrheit der betrachteten Vertragswerke liegt der Lohnvorteil kurz nach Lehrabschluss (0-3 Jahre) zwischen 8% und 16%, danach, mit zunehmendem Alter und Erfahrung, zwischen 20% und 30%. c)

Modus der Anpassung

Enthielten zu Beginn der 1990er Jahre noch 67% aller GAV eine Teuerungsklausel, so verschwanden diese bis Ende der Dekade aus praktisch allen GAV (Oesch 2007: 341). Inhaltlich wurde damit die Lohnsicherung in GAV gemindert. Eine Ausnahme bildet hierin das Isoliergewerbe, in dem die Löhne automatisch der Teuerung folgen, sofern diese 2% nicht übersteigt. Neu werden ab 2011 auch im Vertrag für das Ausbaugewerbe in der Westschweiz (14‘300 Unterstellte) die Löhne automatisch der Teuerung angepasst. Im Vertrag zwischen der Holcim und der Gewerkschaft Unia ist eine automatische Anpassung an die Teuerung und die Betriebsentwicklung vorgesehen. In anderen Branchen ist ein teilweiser Teuerungsausgleich vorgesehen (Maler- und Gipsergewerbe, Elektro- und Telekommunikations-Installationsgewerbe). In vielen Fällen wird einmal jährlich verhandelt oder zumindest werden die Löhne von den Vertragsparteien überprüft. Daher sind Lohnerhöhungen Ergebnis von Verhandlungen und vom Kräfteverhältnis der Vertragsparteien abhängig. In diesen jährlichen Lohnrunden werden die Mindestlöhne jedoch nicht immer in gleichem Ausmass

12

angehoben wie die Effektivlöhne. Für letztere wird in der Regel eine prozentuale Bandbreite festgelegt, innerhalb welcher sich die Effektivlohnerhöhungen bewegen. d)

Durchsetzbarkeit der GAV-Mindestlöhne

Sofern ein GAV in Kraft ist, begründen die darin geregelten Mindestlöhne einen direkten Anspruch der Arbeitnehmenden auf Bezahlung dieser Mindestansätze. Dies gilt aber nur soweit sie unter den Geltungsbereich des GAV fallen. Ausserdem ist der GAV ein Vertrag, der auch kündbar ist. Je nach dem, zwischen welchen Vertragspartnern ein GAV ausgehandelt wurde, kommt einem GAV-Mindestlohn deshalb eine unterschiedlich starke Schutzwirkung zu. … in allgemeinverbindlicherklärten GAV Das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) erlaubt es dem Staat (dem Bundesrat oder einer Kantonsregierung) unter bestimmten Bedingungen, auf gemeinsamen Antrag von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretung, die Bestimmungen eines GAV für alle Betriebe einer Branche obligatorisch zu erklären. Durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung wird der Geltungsbereich des GAV für eine bestimmte Zeit auf alle Arbeitsverhältnisse eines Berufes oder Wirtschaftszweiges ausgedehnt, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisation. Ein Arbeitgeber kann sich der Wirkung des GAV und somit der Mindestlöhne nicht entziehen. Mindestlöhne, die in allgemeinverbindlichen GAV geregelt sind, erzielen deshalb eine ähnliche Wirkung wie gesetzliche Mindestlöhne und bieten während der Dauer ihrer Geltung den grössten Schutz vor Lohnunterbietungen. Auch für Arbeitgeber ist das Instrument der AVE insbesondere deshalb interessant, weil man mit einer Branchenmehrheit erreichen kann, dass sich alle Konkurrenten an einheitliche Mindestbedingungen halten müssen. Dieses Instrument führt zur Regulierung einer ganzen Branche. Wird der Verbands-GAV, auf dem die Allgemeinverbindlichkeit beruht, allerdings gekündigt, so fällt auch die Allgemeinverbindlichkeit weg. … in Verbands-GAV Wenn die Vertragspartei des GAV auf der Arbeitgeberseite ein Verband ist, so handelt es sich um einen Verbands-GAV. Dem GAV unterstellt sind dann alle den Unterzeichnerverbänden des GAV angeschlossene Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden. Sind die einem vertragsschliessenden Verband angehörenden Mitglieder einmal an einem befristeten GAV beteiligt, bleiben sie es bis zur Beendigung des GAV, 2 selbst wenn sie in der Zwischenzeit aus ihrem Verband austreten. Ist der GAV unbefristet, kann sich das austretende Mitglied, sobald es den vertragsschliessenden Verband verlassen hat, unter Einhaltung gewisser Fristen und Bedingungen vom GAV lösen. Andernfalls können nur die Verbände den GAV kündigen. Der einzelne 2

BGer 4C.7/1999 vom 13. Juni 2000 in JAR 2003, S. 407. 13

Arbeitgeber kann deshalb die Lohnbestimmungen in einem Verbands-GAV nicht beliebig ändern, sondern muss innerhalb seines Verbandes auf einer Änderung bestehen und sich damit durchsetzen, oder aber aus dem Verband austreten. Dieser Mechanismus bietet den Beschäftigten einen gefestigten Mindestlohnschutz. Zudem kann man besonders in grossen Branchen mit bedeutenden GAV davon ausgehen, dass diese auch über ihren offiziellen Geltungsbereich hinaus Wirkung entfalten, da die Mindestlohnstandards auch auf die nicht abgedeckten Betriebe ausstrahlen. … in Firmen-GAV Firmenverträge sind GAV, die auf der Arbeitgeberseite direkt von den Vertretern eines oder mehrerer Unternehmen bzw. Betriebe abgeschlossen werden. Auch Mindestlöhne in Firmenverträgen sind für die Arbeitgeber verbindlich während der GAV in Kraft ist und bieten deshalb Schutz vor tiefen Löhnen. Dennoch geht dieser Schutz weniger weit als bei den oben besprochenen Arten von GAV-Mindestlöhnen, weil ein Arbeitgeber sich wesentlich einfacher von einem Firmenvertrag lösen kann. Ist er nicht mehr bereit, die ausgehandelten Löhne zu bezahlen, kann er den GAV im Extremfall innert relativ kurzer Zeit kündigen. Die genauen Kündigungsmodalitäten ergeben sich aus den einzelnen GAV. Ausserdem ist auch die Aussenwirkung von Mindestlöhnen in Firmenverträgen beschränkt. Einzig wenn es sich um Firmenverträge mit einem in der Branche bedeutenden Arbeitgeber handelt, können die ausgehandelten Arbeitsbedingungen für weitere Arbeitgeber derselben Branche als Orientierungsgrösse dienen und so den Markt indirekt regeln. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kam es zu einer vermehrten Dezentralisierung der Lohnverhandlungen von der Verbands- auf die Betriebsebene. Nachdem zuvor insbesondere im GAV der Maschinenindustrie die Lohnfestsetzung auf betriebliche Ebene delegiert war, wurde dies von den Arbeitgebern 1996 in der Basler Chemischen Industrie, 1997 bei den Banken und 1999 in der graphischen Industrie durchgesetzt. Im GAV der graphischen Industrie und bei den Banken bestehen aber weiterhin – auf tiefem Niveau – Mindestlöhne, während im Basler Chemie-GAV die betrieblichen Mindestansätze angebunden sind. Diese Dezentralisierung hat zur Folge, dass es keine einheitlichen Lohnanpassungen mehr für die gesamte Branche gibt und somit nicht mehr alle Beschäftigten gleichermassen von einem Lohnschutz profitieren.

14

2

Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen (NAV)

Der NAV ist ein Instrument, mittels welchem der Staat allgemein den Abschluss, den Inhalt und die Beendigung von Einzelarbeitsverträgen für bestimmte Berufsarten regelt. Der NAV reglementiert die Arbeitsbedingungen für einen bestimmten Berufszweig, so auch (Mindest-) Lohnbestimmungen. Seit der Inkraftsetzung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit mit der EU gibt es in der Schweiz zwei Arten von NAV: der gewöhnliche NAV (mit oder ohne Mindestlöhne) und der NAV mit zwingenden Mindestlöhnen. Für die juristische Qualifikation des NAV wird auf das Kapitel 5 verwiesen. Entscheidend ist, dass die Vertragsparteien eines Einzelarbeitsvertrags von den Bestimmungen im gewöhnlichen NAV abweichen können. Deshalb bietet dieser einen eher schwachen Schutz für die Arbeitnehmenden. Die enthaltenen Mindestlöhne erfüllen demnach mehr den Zweck allgemeiner Lohnrichtlinien, ohne dabei verbindlich zu sein. Die Löhne kommen allerdings direkt zum Zug, sofern nichts anderes vereinbart wurde. Aus diesem Grund ist es nicht möglich festzustellen, wie viele Arbeitnehmende den Lohnbestimmungen eines gewöhnlichen NAV tatsächlich unterstellt sind. Tabelle 5: Normalarbeitsverträge im herkömmlichen Sinn, 2007 Normalarbeitsverträge Anzahl NAV

Total

Mit Mindestlöhnen

76

32

Reichweite National

6

0

Kantonal

70

32

01 Landwirtschaft

34

12

51 Handelsvermittlung und Grosshandel

1

1

Wirtschaftszweige

52 Detailhandel

5

5

60 Luftverkehr 74 Erbringung von unternehmensbez. Dienstleistungen

2

2

1

1

85 Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen

4

0

95 private Haushalte mit Hauspersonal

29

11

Quelle: Erhebung der Gesamtarbeitsverträge, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 2009.

Mit Einführung der Personenfreizügigkeit wurde als Teil der flankierenden Massnahmen die Möglichkeit geschaffen, im Fall von Missbrauch zwingende Mindestlöhne in NAV festzusetzen. Wenn die strengen Voraussetzungen gegeben sind, können deshalb bereits heute zeitlich befristete, gesetzliche Mindestlöhne für eine Branche geschaffen werden. Bis anhin haben erst die Kantone Genf, Tessin und Wallis von 15

diesem Instrument Gebrauch gemacht. Der erste nationale NAV mit zwingenden Mindestlöhnen für die Branche der Hauswirtschaft tritt am 1. Januar 2011 in Kraft 3 und wird bis zum 31. Dezember 2013 in der ganzen Schweiz gelten. Auch hierzu liegen keine genauen Daten vor, wie viele Arbeitnehmende gemäss diesem neuen NAV entlöhnt werden. Aufgrund von Schätzungen zu den Tieflohnbezügerinnen und Tieflohnbezügern in der Schweiz (siehe unten), ist davon auszugehen, dass rund 18‘000 Arbeitnehmende davon profitieren können. Wie Tabelle 6 unten aber auch zeigt, sind die in solchen neuen NAV festgelegten Minimallöhne noch immer sehr tief: Bei 18 Franken pro Stunde kommen bei 42 Wochenarbeitsstunden gerade mal 3’300 Franken im Monat zusammen. Dies entspricht knapp 57% des Schweizer Medianlohns und muss daher noch immer als Tieflohn, der kaum zum Leben reicht, bezeichnet werden. Tabelle 6: Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen Bezeichnung

Mindestlöhne tiefster Satz

höchster Satz

18.20/h

22.00/h

19.85/h

---

Contrat-type de travail pour les travailleurs de l'économie domestique à temps complet et à temps partiel (NAV für Arbeitnehmende in der Hauswirtschaft)

18.45/h

24.60/h

Contratto normale di lavoro per i saloni di bellezza (CNLE) (NAV für Arbeitnehmende in Schönheitssalons)

17.18/h

---

Contratto normale di lavoro per gli operatori dei Call Centers (CNLCC) (NAV für Arbeitnehmende in Callcentern)1)

15.40/h*

17.80/h

Beschluss betreffend den Erlass eines Normalarbeitsvertrags für Arbeitnehmer/innen des Sektors der industriellen Wartung und Reinigung

25.00/h

26.50/h

National Normalarbeitsvertrag für Arbeitnehmer/innen in der Hauswirtschaft (NAV Hauswirtschaft) Kantonal Genf Contrat-type de travail pour les travailleuses et travailleurs du secteur de l'esthétique (NAV für Arbeitnehmende im Kosmetikbereich)

Tessin

Wallis

Quelle: SECO, 2010. * In der Probezeit von max. 3 Monaten. 1) Zuzüglich Feriengeld, Feiertagsentschädigung und Anteil 13. Monatslohn.

3

16

Ausgenommen ist Genf, wo bereits ein entsprechender NAV mit zwingenden Mindestlöhnen existiert.

3

Die Situation der Tieflohnbezüger/innen

Was als Tieflohn gilt, ist zum Teil umstritten. Die in international vergleichenden Arbeiten häufig verwendete Schwelle von 66% des Medianlohns lag für die Schweiz im Jahr 2008 bei rund 3'840 Franken im Monat (bei einem Beschäftigungsgrad von 100%), ausbezahlt 12 Mal pro Jahr. Ausgehend von dieser Schwelle, beziehen in der Schweiz rund 380'000 Arbeitnehmende einen Tieflohn.

3.1. Tieflohnproblematik in Schweiz und Mindestlohnkampagne der Gewerkschaften 1998 In den 1990er Jahren wurde man in der Schweiz vermehrt aufmerksam auf das Problem der Working Poor. Schutz vor Tieflöhnen boten nur gesamtarbeitsvertragliche Mindestlöhne und die Lohnsysteme bei den öffentlichen Arbeitgebern. Da sich die Gewerkschaften in der Vergangenheit vor allem um die Erhöhung der Effektivlöhne bemüht hatten, war dieser Schutz jedoch Lückenhaft (Rieger und Baumann 2007). Hinzu kam eine Welle von Privatisierungen und Outsourcing, so dass Zehntausende von Beschäftigten nicht mehr unter dem Schutz einer öffentlichrechlichen Lohnvereinbarung standen und in eine Tieflohnsituation fielen, so zum Beispiel im Reinigungsgewerbe. 2001 wurde dann der Beamtenstatus auf Bundesebene abgeschafft, so dass auch hier erstmals eine Situation ohne tatsächlichen Lohnschutz bestand. Vor diesem Hintergrund lancierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund 1998 seine Mindestlohnkampagne mit der Forderung, dass fortan keine Löhne mehr unter 3'000 Franken bezahlt werden sollten. Ziel des Slogans „Keine Löhne unter 3'000 Franken“ war es, die Lohnfrage zu „politisieren“. Fortan sollten Tieflöhne unter 3'000 Franken nicht einfach nur ein Problem in einzelnen Branchen sein, sondern als gesellschaftliches Problem erkannt werden (Rieger und Baumann 2007: 168). Neben dem so entstehenden öffentlichen Druck auf die Unternehmen wählten die Gewerkschaften für die Umsetzung ihrer Forderung das Mittel der Gesamtarbeitsverträge. Mindestlöhne wurden in der Folge zu einem zentralen Thema in den kollektiven Verhandlungen. Dieses Vorgehen hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Mindestlöhne (siehe Tabelle 1). So wurden diese im beschäftigungsmässig wichtigsten GAV der Schweiz, dem Vertrag des Gastgewerbes (200'000 Unterstellte), zwischen 1998 und 2008 um 40% erhöht. 2012 werden die Minimallöhne durch in Kraft treten des neuen L-GAV mit diversen Verbesserungen, wie einem 13. Monatslohn für alle Arbeitnehmenden, weiter erhöht. Auch in den beiden grössten Unternehmen des Detailhandels, Migros und Coop, wurde ein Anstieg der zuvor sehr tiefen Mindestlöhne für ungelernte Arbeitnehmende um 35% bis 45% vereinbart. Dass es sich dabei um weit überdurchschnittliche Erhöhungen handelt, zeigt ein Vergleich mit der Entwicklung des schweizerischen Medianlohnes: Dieser stieg

17

während derselben Zeitperiode (1998-2008) nur um 16% – von 5‘020 auf 5‘823 Franken. Tabelle 7: Entwicklung der GAV-Mindestlöhne für Beschäftigte ohne Lehre (in Franken) Branche

1998

2000

2002

2004

2008

2010

Buchhandel

2‘890

3‘000

3‘200

3‘270

3‘450

3‘600

Detailhandel, Coop

2‘400 – 2‘700* 2‘600 – 2‘900 2‘900

3‘200

3‘300

3‘600

3‘700

Detailhandel, Migros Druckindustrie

2‘400 – 2‘700* 2‘500 – 2‘800 2‘800

3‘150

3‘300

3‘700

3‘000

3‘300 – 3‘600* 3’300

Gastgewerbe

2‘350

2‘410

3‘000

3‘120

3‘300

3‘383

Textilindustrie

2‘365

2‘390

2‘750

3‘050

3‘160**

3‘285

3‘000

3’600

* Regional unterschiedliche Mindestlöhne **Stand: 2007

Der Einfluss der Mindestlohnkampagne der Schweizer Gewerkschaften von 1998 wird aus der Analyse der Entwicklung der Lohnstruktur sichtbar. Abbildung 1 zeigt, dass sich zwischen 1996 und 2008 der Anteil der Beschäftigten mit einem monatlichen Bruttolohn von weniger als 3‘000 Franken von 11% auf 3,6% verringert hat (Löhne für Teilzeitbeschäftigte sind auf ein Vollzeitpensum hochgerechnet). Das sind mehr als 150'000 Erwerbstätige – unter ihnen besonders viele Frauen – deren Monatslohn über die Schwelle von 3‘000 Franken gehoben wurde. Abbildung 1: Anteil der Beschäftigten mit einem Bruttomonatslohn von unter 3‘000 Franken

3.8%

4.8%

4.3%

7.6%

2008

2.0%

2.5%

2006

6.2%

2004

11.0%

2002

9.5%

2000

2.3%

3.6%

3.2%

5.1%

4.4%

6.1%

7.9%

5.0%

6.9%

10.0%

1998

13.8%

1996

10.3%

15.0%

19.8%

20.0%

17.3%

25.0%

0.0%

Frauen

Männer

Total

Bemerkung: berechnete Schwelle entspricht einem Bruttojahreslohn von 39’000 Fr. (=3000 Fr. x 13) Löhne sind standardisiert für eine Vollzeiterwerbstätigkeit von 40 Wochenstunden. Quelle: Lohnstrukturerhebungen 1998, 2000, 2002, 2004, 2006, Bundesamt für Statistik. Verwendete Stichprobe umfasst nur Erwachsene zwischen 19 und 65 Jahren im privaten Sektor. Berechnungen: Roman Graf, Observatoire Universitaire de l’Emploi, Universität Genf. 18

Diese Darstellung berücksichtigt nicht, dass zwischen 1996 und 2008 die Konsumentenpreise um 12% anstiegen und sich die Reallöhne darüber hinaus um 3.6% erhöhten. Um festzustellen, ob die Tieflöhne mit der Teuerung und der generellen Lohnentwicklung Schritt gehalten haben, wird in Abbildung 2 der Anteil der Tieflöhner/innen in Bezug zu einer relativen Schwelle von 60% des schweizerischen Medianlohns gesetzt. Auch diese Auswertung zeigt, dass die Mindestlohnkampagne die Lohnsituation der wenig qualifizierten Beschäftigten deutlich verbessert hat: Der Anteil der Beschäftigten, die weniger als diese (sich Jahr für Jahr erhöhende) Schwelle verdienen, ging zwischen 1998 und 2006 von 5,8% auf 5,0% zurück. Die Analyse zeigt weiter, dass die gewerkschaftliche Kampagne vor allem die Löhne der weiblichen Beschäftigten erhöht hat: 1998 verdienten 12% der Frauen weniger als 60% des Medianlohnes, 2006 traf dies nur mehr auf 8,9% aller weiblichen Beschäftigten zu.

2008

2.8%

2.7%

2.6%

2.4%

2.8%

4.0%

2.5%

2.6%

6.0%

2006

5.3%

5.7%

8.0%

2004

5.0%

2002

5.4%

2000

4.7%

1998

5.8%

1996

5.5%

9.5%

8.9%

10.2%

8.8%

10.0%

11.9%

12.0%

11.3%

14.0%

11.6%

Abbildung 2: Anteil der Beschäftigten mit einem Bruttomonatslohn unter 60% des Medianlohns

2.0% 0.0%

Frauen

Männer

Total

Bemerkung: 60% des Medianlohns entsprach 1996 einem Jahreslohn von 35‘340 Fr. (12 x 2‘945 Fr.), 1998: 36'340 Fr. (12 x 3‘030 Fr.), 2000: 37'440 Fr. (12 x 3‘120 Fr.), 2002: 38'900 Fr. (12 x 3‘240 Fr.), 2004: 39‘660 Fr. (12 x 3‘310 Fr.), 2006: 40'560 Fr. (12 x 3‘380 Fr.), 2008: 41‘712Fr. (12 x 3‘476 Fr.). Löhne sind standardisiert für eine Vollzeiterwerbstätigkeit von 40 Wochenstunden. Quelle und Berechnungen: Siehe Abbildung 1.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mindestlohnkampagne primär zwei positive Auswirkungen auf die Lohnstruktur hatte: Erstens sorgte sie dafür, dass nach 1998 auch die Bezügerinnen und Bezüger von tiefen Löhnen am Konjunkturaufschwung Teil hatten. Dies gelang vor allem in jenen Bereichen, in welchen die Mindestlöhne kollektiv in GAV vereinbart werden. Zweitens konnte zudem die Zunahme der Lohnungleichheit gebremst werden. Vor dem Hintergrund der wachsenden Individualisierung der Lohnpolitik und der explodierenden Managergehälter bestand für die Schweiz Ende der 1990er Jahre die Gefahr, dass die Lohnschere in ähnlichem Ausmass aufgehen würde wie zehn Jahre zuvor in den USA und Gross19

britannien. Dank des Bedeutungsgewinns von Mindestlöhnen konnte diese Gefahr eingedämmt werden. Abbildung 2 macht jedoch auch deutlich, dass der Rückgang der Tieflöhne nach 2004 ins Stocken geraten ist und seither der Anteil der Tieflohnbezüger – und besonders der Tieflohnbezügerinnen – sogar wieder angestiegen ist. Diese Zahlen zeigen: Ein neuer Anlauf der Mindestlohnkampagne ist dringend notwendig.

3.2. Tieflöhne in der Schweiz heute Folgende Tabelle zeigt die Verbreitung von Tieflöhnen in den einzelnen Branchen, wobei eine etwas andere Definition für Tieflöhne verwendet wurde. Im Hinblick auf die Mindestlohnforderung der Gewerkschaften von 22 Franken pro Stunde für das Jahr 2010 wurde die Auswertung, unter Berücksichtigung der Lohnentwicklung zwischen 2008 und 2010, für einen Monatslohn von 3‘700 Franken im Jahr 2008 durchgeführt (zwölfmalige Auszahlung). Diese Schwelle entsprach 63.6% des Medianlohns.

20

Tabelle 8: Tieflohnbezüger unter 63.6% des Medianlohns nach Branchen, 2008, privater und öffentlicher Sektor (Bund) Branche (mit NOGA2002-Code) PRIMÄRER SEKTOR 01 Landwirtschaft1 01.12 u. 01.14 Gartenbau2 SEKUNDÄRER SEKTOR2 15 Herst. v. Nahrungs- u. Futtermitteln u. Getränken 17 Herst. Textilien 18,19 Herst. Bekleidung, Pelz- u. Lederwaren, Schuhe 20 Herst. Holz sowie Holz-, Kork- u. Flechtwaren (ohne Möbel) 21 Papier- u. Kartongewerbe 22 Verlag, Druck, Vervielfältigung 23,24 Kokerei, chemische Industrie 25 Herst. von Gummi- u. Kunststoffwaren 26 Herst. sonst. nichtmet. Mineralien 27,28 Metallbe- u.- verarbeitung 29,34,35 Maschinen- u. Fahrzeugbau 30-32 Herst. el. Geräte, Feinmechanik 27-32,34-35 MEM-Industrie+ 33 Herst. med. u. Präzisionsinstrumente; optische Geräte u. Uhren 36,37 Sonstiges verarbeitendes Gewerbe 40,41 Energie- u. Wasserversorgung 45 Bau TERTIÄRER SEKTOR2 50 Handel, Reparatur Automobile; Tankstellen 51 Handelsvermittlung u. Grosshandel (ohne Automobile) 52 Detailhandel u. Reparatur (ohne Automobile u. Tankstellen) 55 Gastgewerbe 60-64 Verkehr, Nachrichtenübermittlung 65-67 Kredit- u. Versicherungsgewerbe 70,71 Immobilienwesen/Verm. bewegl. Sachen 73 Forschung u. Entwicklung 72,74 Informatikdienste; Dl für Unternehmen 80 Erziehung u. Unterricht 85 Gesundheits-, Veterinär- u. Sozialwesen 90 Abwasser- u. Abfallbeseitigung u. sonstige Entsorgung 91 Interessenvertretungen, kirchliche u. sonstige Vereinigungen 92 Kultur, Sport u. Unterhaltung 93 Persönliche Dienstleistungen Angestellte in Privathaushalten3 CH Total

Tieflöhner/ innen in % Total (geder Berundet) schäftigten 60% 30%

17‘000 6‘700

10% 15% 26% 3% 5% 4% 2% 7% 2% 5% 3% 5% 4% 6% 10% 1% 2%

6'600 1'600 2'000 1'300 600 1'900 1'300 1'700 400 5'400 4'200 3'500 13'100 5'400 2'800 200 6'800

9% 6% 14% 32% 5% 1% 8% 2% 12% 2% 4% 4% 4% 11% 41% 65% 10%

8'300 11'300 50'100 73'100 11'400 3'200 3'200 300 50'800 2'000 17'600 300 2'100 5'000 17'800 40‘000 380'000

Quellen: 1 Agrarbericht 2010, Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) und SBV Statistik 2009, Schweizerischer Bauernverband (SBV); Schätzung SGB. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2009. 2 Lohnstrukturerhebung (LSE) 2008, BfS; Auswertung: Roman Graf, Université de Genève. Schätzung der Anzahl Tieflöhner/innen mittels Betriebszählung (BZ) 2008: SGB. 3 Erwerbstätigenstatistik (ETS), Flückiger et al. (2008); Schätzung SGB. Weitere Details: siehe Anhang zu diesem Kapitel.

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Besonders gravierend ist die Situation in den typischen Tieflohnbranchen im tertiären Sektor, angeführt von den Persönlichen Dienstleistungen (41% der Beschäftigten), dem Gastgewerbe (32% bzw. rund 73'000 Personen) und dem Detailhandel (14%, rund 50'000 Personen). Eine weitere Dienstleistungsbranche, die in absoluten Zahlen nicht weniger als 51'000 Tieflöhner/innen beschäftigt, ist jene der Dienstleistungen für Unternehmen (v.a. Reinigung und privates Sicherheitsgewerbe). Im industriellen Sektor sind besonders in der Nahrungsmittel- und der Automobilindustrie sowie bei der Herstellung von elektrischen Geräten, Feinmechanik und Präzisionsinstrumenten Tieflöhne weit verbreitet. Auch Branchen mit einem grossen Anteil des öffentlichen Sektors bleiben nicht von Tieflöhnen verschont: Im Gesundheits- und Sozialwesen sind nicht weniger als 18'000 (4%) Arbeitnehmende betroffen, bei Verkehr und Nachrichtenübermittlung sind es 11'000 (5%) Beschäftigte. Hinzu kommen die Beschäftigten in der Landwirtschaft und in der Hauswirtschaft. Aufgrund der Datenlage kann hier lediglich eine grobe Schätzung vorgenommen werden. In der Landwirtschaft ist mit 15‘000 bis 20‘000 familienfremden Angestellten, die zu Tieflöhnen arbeiten, zu rechnen (2009). Bei Angestellten in Privathaushalten muss man von 30‘000 bis 50‘000 Tieflöhner/innen ausgehen (Erläuterungen zu diesen Schätzungen finden sich im Anhang zu diesem Kapitel). Insgesamt also muss man davon ausgehen, dass in der Schweiz 380'000 bis 400‘000 Beschäftigte zu einem Tieflohn unter 63.6% des Medianlohns arbeiten. a)

Lohnschutz im Tieflohnbereich – eine qualitative Einschätzung

Im Zusammenhang mit Tieflohnbezüger/innen stellt sich die Frage nach deren Lohnschutz: Wie sieht es in dieser Gruppe von Arbeitnehmenden bezüglich Abdeckungsgrad mit GAV-Mindestlöhnen aus? Um diese Frage zu beantworten, muss eine Schätzung vorgenommen werden. In der am stärksten betroffenen Branche, der Gastronomie, ist davon auszugehen, dass die Abdeckung dank des L-GAV 100% beträgt, die Mindestlöhne sind jedoch sehr tief. Da ab 2012 jedoch alle Angestellten des Gastgewerbes einen Anspruch auf einen vollen dreizehnten Monatslohn haben, verbessert sich deren Lohnsituation insoweit, als dass ihr Jahreslohn über der hier verwendeten Schwelle von 63.6% des Medianlohns liegt. Im Detailhandel, in dem über 50‘000 Tieflöhner/innen arbeiten, muss man davon ausgehen, dass rund 30‘000 davon keinem GAV unterstehen. Die Angestellten der grössten Detailhandelsketten im Lebensmittelbereich gehören nämlich nicht zu den Tieflohnbezüger/innen gemäss vorliegender Berechnung, da diese 13mal jährlich ausbezahlt werden. Lücken bezüglich GAV-Abdeckung finden sich im Detailhandel vorwiegend im Non-Food-Bereich, insbesondere bei Bekleidung, Schuhen, Textilien sowie im Fachdetailhandel. Im Grosshandel existieren im Gegensatz zum Detailhandel keine GAV, sodass alle 11'000 Tieflohnbezüger keinen Lohnschutz erfahren. Im Autogewerbe gibt es zwar einen flächendeckenden GAV, doch werden die Mindest22

löhne über kantonale Zusatzverträge vereinbart, so dass die Mindestlöhne zum Teil äusserst tief ausfallen, was die 8'000 Tieflohnbezüger weitgehend erklärt. In der Landwirtschaft sind die Löhne nur über Lohnempfehlungen in NAV geregelt, ein allgemeiner umfassender Lohnschutz existiert nicht. Die 17‘000 Tieflöhner/innen in der Landwirtschaft erfahren somit keinen Lohnschutz. Im Gartenbau existiert ein nationaler GAV, ergänzt durch einige kantonal gültige GAV (so BS, BL, TI und GE). Obwohl die Mindestlöhne in diesem nationalen GAV tief ausfallen, liegen sie mit 3‘700 Franken pro Monat für Arbeitnehmende mit Eidg. Fähigkeitszeugnis (EFZ), 13 Mal jährlich ausbezahlt, gerade noch über der hier definierten Tieflohnschwelle (Stand: 2009). Anders sieht es allerdings für Gartenarbeiter aus, die sich mit lediglich 3‘200 Franken begnügen müssen. Im Grossen und Ganzen dürften die 6‘700 Tieflöhner/innen im Gartenbau somit vom GAV erfasst sein. Bei den Dienstleistungen für Unternehmen sind allein aus der Reinigungsbranche ca. 40'000 Beschäftigte einem GAV mit Mindestlohn unterstellt; vom Geltungsbereich ausgenommen sind jedoch Betriebe in der Deutschschweiz mit weniger als 6 Beschäftigten. Da die Mindestlöhne in diesen GAV deutlich unter der Tieflohnschwelle liegen und ein Teil der Arbeitnehmenden gar nicht erst in den Geltungsbereich des GAV fällt, ist hier der Löwenanteil der Tieflohnbezüger zu finden. Auch die privaten Sicherheitsdienstleister sind ab zehn Beschäftigten einem ave GAV unterstellt, inzwischen liegen die Mindestlöhne hier jedoch gerade über der Tieflohnschwelle (seit 2009: 3'700.- als absolutes Minimum). Ein Vertragswerk fehlt dagegen für die IT-Dienstleistungen. Hier ist immerhin davon auszugehen, dass es aufgrund des relativ hohen Ausbildungsniveaus nur wenige Tieflohnstellen gibt. Insgesamt dürften bis zu 30‘000 Tieflöhner/innen im Bereich der unternehmensbezogenen Dienstleistungen keinem kollektiven Vertragswerk unterstellt sein. Grosse Lücken gibt es bei den persönlichen Dienstleistungen, wo nur im Coiffeurgewerbe ein GAV existiert, der äusserst tiefe Mindestlöhne vorsieht. Genf hatte bisher als einziger Kanton reagiert und NAV mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen für Hausangestellte und Arbeitnehmende im Bereich der Schönheitspflege. Für letztere liegt der Mindestlohn jedoch unter der Tieflohnschwelle. Weitgehend fehlende Mindestlöhne beziehungsweise sehr tiefe Mindestlöhne sind somit als Gründe für die Situation der Tieflohnbezüger/innen bei den persönlichen Dienstleistungen zu nennen. Knapp 10‘000 Beschäftigte in dieser Branche unterstehen keinem GAV und erfahren so keinen Lohnschutz Weiter finden sich ca. 40‘000 Tieflohnbezüger/innen als Angestellte in privaten Haushalten. Hier fehlt ein Arbeitgeberverband, sodass der Abschluss eines GAV nicht möglich ist. Der neue NAV für Hausangestellte, welcher am 1.1.2011 in Kraft getreten ist, sollte hier helfen, die Situation zu verbessern. Für geschätzte 30‘000 bis 50‘000 Beschäftigte in privaten Haushalten wird so ein gewisser Lohnschutz garantiert. Allerdings sind die darin vereinbarten Stundenlöhne zum Teil so tief, dass die

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betroffenen Arbeitnehmenden noch immer unter die Tieflohnschwelle fallen (siehe dazu auch Kapitel II.2.). Die rund 11'000 Tieflohnbezüger/innen aus Verkehr und Nachrichtenübermittlung sind diversen Bereichen zuzuordnen: Da wären etwa die Unternehmen des Service public, die über GAV verfügen oder zum Teil einem öffentlich rechtlichen Lohnregulativ unterstehen. Tieflohnbezüger sind hier höchstens ungelernte Arbeitskräfte (z.B. 4 Minibar SBB, Sortierarbeiter und Zusteller im Paketmarkt). Die rund 10'000 Zeitungsfrühzusteller, welche bei der neu gegründeten Post-Tochter Presto AG angestellt sind, unterstehen ebenfalls einem GAV-Mindestlohnschutz, wobei dieser mit 18.50 Franken pro Stunde, d.h. hochgerechnet 3‘210 Franken pro Monat, deutlich unter der Tieflohngrenze liegt. Bei den Fernmeldediensten existieren nicht mit allen Telekomanbietern Verträge, der absolute Mindestlohn des GAV für die Swisscom liegt seit 1.1.2010 bei umgerechnet 3‘790 Franken pro Monat (12 Auszahlungen pro Jahr) und damit knapp über der Tieflohngrenze. Im Personen- und Güterbeförderungswesen fehlen GAV grösstenteils in diversen kleineren Betrieben im Taxigewerbe, bei der Schifffahrt, bei Bergbahnen und Skiliften sowie bei Reiseveranstaltern. Auch bei der Güterbeförderung im Strassenverkehr fehlt ein umfassendes Vertragswerk. Insgesamt ist hier von schätzungsweise 8‘000 nicht unterstellten Tieflohnbezügern auszugehen. Im Gesundheits- und Sozialwesen sind mit 18'000 Tieflöhner/innen ebenfalls eine grosse Anzahl der Betroffenen angestellt. Hinz kommt, dass in dieser Branche viele Anstellungsverhältnisse Ausbildungscharakter haben und daher ebenfalls schlecht bezahlt sind. Solche Anstellungsverhältnisse sind in der Analyse nicht inbegriffen. Sie sind der Regel nicht Gegenstand von GAV und tiefere Löhne sind, ähnlich wie bei einem Lehrvertrag, auch gerechtfertigt. Insgesamt befinden sich c.a. 30% der Arbeitnehmenden der Branche in einem öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnis, doch GAV für den Rest existieren nur teilweise, beispielsweise für einige Kantonsspitäler, aber eben nicht für alle. Bei Heimen bilden GAV eher die Ausnahme, so dass besonders bei privater Trägerschaft der Lohnschutz in Frage gestellt ist und die Tieflöhne ein ernst zu nehmendes Problem darstellen können (siehe hierzu auch den Bericht der Commission Tripartite Neuchâtel). Man muss hier von schätzungsweise 15‘000 Tieflöhner/innen ohne garantierten Lohnschutz ausgehen. In der Industrie letztlich sind es die Branchen Nahrungsmittelproduktion, die Textilund Bekleidungsindustrie und das verarbeitende Gewerbe, welche einen hohen Anteil an Tieflohnbezüger/innen aufweisen. Zudem sind, aufgrund der Branchengrösse, auch bei der Herstellung von Uhren und Präzisionsinstrumenten sowie in der die Metallbe- und –verarbeitung besonders viele Tieföhner/innen beschäftigt. Bei der Nahrungsmittelindustrie ist es so, dass es nur wenige GAV gibt und diese häufig 4

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Der Erwerbsstatuts dieser 10'000 Arbeitnehmenden ist i.d.R. allerdings von besonderer Art, da sich hierunter viele Pensionäre und andere Rentenbezüger sowie TieflohbezügerInnen befinden, welche mit dieser Arbeit ihr geringes Einkommen aufbessern wollen.

auch keine Mindestlöhne enthalten. Der grösste GAV existiert in der Fleischverarbeitung (ave GAV für das Metzgereigewerbe). Rund 14'000 Mitarbeiter/innen sind ihm unterstellt; hier liegen die Mindestlöhne für Angestellte in der Produktion über der Mindestlohnschwelle. Rund 5‘000 Beschäftigte mit einem Tieflohn erfahren hier keinen Lohnschutz. In der Metallbe- und -verarbeitung regelt der MEM-Vertrag zwar diverse Arbeitsbedingungen, nicht jedoch die Löhne. Diese werden auf Betriebsebene festgesetzt, liegen aber in der Regel über 3'700 Franken. Für das Metallgewerbe Schweiz existiert ein GAV, wobei der Mindestlohn für Ungelernte bei 3'500 Franken liegt. Bei Feinmechanik und Präzisionsinstrumenten ist in erster Linie die Uhrenindustrie betroffen. Dort gibt es zwar GAV und über 33'000 Unterstellte, doch sind die Minimallöhne sehr tief (Stand 1.1.2010 für Ungelernte: Bern (ohne Berner Jura) 3'510.-, Jura und Berner Jura 3'183.-, Genf 3'400.- (nach 6-monatiger Ausbildung), Neuenburg 3'500.-, Solothurn und beide Basel 3'210.-, Tessin 2'400.-, Wallis 3'246.-, Waadt und Freiburg 3'330.-). Die über 5'000 Tieflohnbezüger sind also vorwiegend in diesem Branchenzweig zu lokalisieren. Im Baugewerbe sind die Tieflohnbezüger/innen vorwiegend im Baunebengewerbe zu lokalisieren, wo der Landesmantelvertrag keine Gültigkeit hat. Lediglich ein kleiner Teil, nämlich das administrative Personal im Bauhauptgewerbe, hat keinen Mindestlohn. Insgesamt muss man im zweiten Sektor von 30‘000 bis 40‘000 Tieflohnbezügern ohne Mindestlohnschutz ausgehen. Insgesamt unterstehen somit, grob geschätzt, rund 140‘000 aller Tieflohnbezüger/innen keinem Gesamtarbeitsvertrag und können sich auch nicht auf einen NAV mit verbindlichen Mindestlöhnen stützen. Hinzu kommen noch einmal über 50‘000 Tieflohnbezüger/innen aus der Landwirtschaft und Angestellte in Privathaushalten, welche höchstens über NAV einen gewissen Lohnschutz erfahren. Die übrigen Betroffenen sind entweder einem GAV mit sehr tiefen oder ohne Mindestlöhne unterstellt. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass ein gesetzlicher Mindestlohn in der Grössenordnung von zwei Dritteln des Medianlohns zwei Effekte hätte: Er dürfte einerseits zu einer Anhebung der tiefsten GAV-Mindestlöhne führen und anderseits die noch bestehenden Lücken im Lohnschutz schliessen, so dass die Situation von bis zu 200‘000 Arbeitnehmenden verbessert würde.

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b)

Tieflöhner/innen nach Geschlecht

Dass in allen Branchen ein Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern besteht, ist bekannt. Nachfolgende Tabelle zeigt, dass der Anteil Frauen mit einem Tieflohn durchgehend höher ist als der entsprechende Männeranteil. Tabelle 9: Geschlechterverteilung der Tieflöhne, 2006 Branche (mit NOGA2002-Code)

SEKUNDÄRER SEKTOR 15 Herst. von Nahrungs- u. Futtermitteln u. Getränken 17 Herst. Textilien 18,19 Herst. Bekleidung, Pelz- u. Lederwaren, Schuhe 20 Herst. Holz sowie Holz-, Kork- u. Flechtwaren (ohne Möbel) 21 Papier- u. Kartongewerbe 22 Verlag, Druck, Vervielfältigung 23,24 Kokerei, chemische Industrie 25 Herst. von Gummi- u. Kunststoffwaren 26 Herst. sonst. nichtmet. Mineralien 27,28 Metallbe- u.- verarbeitung 29,34,35 Maschinen- u. Fahrzeugbau 30-32 Herst. el. Geräte, Feinmechanik 27-32,34-35 MEM-Industrie+ 33 Herst. med. u. Präzisionsinstrumente; optische Ger. u. Uhren 36,37 Sonstiges verarbeitendes Gewerbe 40,41 Energie- u. Wasserversorgung 45 Bau TERTIÄRER SEKTOR 50 Handel, Reparatur Automobile; Tankstellen 51 Handelsvermittlung u. Grosshandel (ohne Automobile) 52 Detailhandel u. Reparatur (ohne Automobile u. Tankstellen) 55 Gastgewerbe 60-64 Verkehr, Nachrichtenübermittlung 65-67 Kredit- u. Versicherungsgewerbe 70,71 Immobilienwesen/Verm. bewegl. Sachen 73 Forschung u. Entwicklung 72,74 Informatikdienste; Dienstleistungen für Unternehmen 80 Erziehung u. Unterricht 85 Gesundheits-, Veterinär- u. Sozialwesen 90 Abwasser- u. Abfallbeseitigung u. sonstige Entsorgung 91 Interessenvertretungen, kirchliche u. sonstige Vereinigungen 92 Kultur, Sport u. Unterhaltung 93 Persönliche Dienstleistungen CH Total

Frauen

Männer

Verhältnis Frauen/ Männer

21% 27% 33% 12% 16% 8% 4% 18% 8% 14% 14% 13% 13% 11% 23% 3% 10%

5% 2% 10% 2% 1% 2% 1% 2% 1% 3% 1% 2% 2% 1% 4% 0% 1%

4.2 13.5 3.3 6.0 16.0 4.0 4.0 9.0 8.0 4.7 14.0 6.5 6.5 11.0 5.8 10.0

19% 10% 17% 36% 7% 3% 11% 2% 20% 3% 4% 5% 5% 13% 45% 13%

6% 3% 8% 28% 4% 1% 5% 1% 6% 1% 2% 3% 3% 9% 24% 4%

3.2 3.3 2.1 1.3 1.8 3.0 2.2 2.0 3.3 3.0 2.0 1.7 1.7 1.4 1.9 3.3

Quelle: Lohnstrukturerhebung 2006, Bundesamt für Statistik. Berechnungen: Roman Graf, Observatoire Universitaire de l’Emploi, Université de Genève. 26

Zwar handelt es sich hierbei nur um grobe Schätzungen, dennoch zeigt sich auch hier: Es gibt grosse Unterschiede nach Branchen. Während in den Bereichen Kultur und Unterhaltung, im Gastgewerbe und bei den persönlichen Dienstleistungen sowie im Gesundheits- und Sozialwesen die Differenz relativ gering ist, ist der Anteil Frauen mit einem Tieflohn in vielen Branchen zwei- bis fünfmal höher als der Anteil Männer. Für den relativ geringeren geschlechterspezifischen Unterschied bei den Tieflöhnen im Dienstleistungssektor dürfte es im Wesentlichen zwei Erklärungen geben: Einerseits der naturgemäss höheren Anteil des öffentlichen Sektors, wo mehr Wert auf Lohngleichheit gelegt werden dürfte, sowie die im Allgemeinen tiefen branchenüblichen Löhne für gewisse Dienstleistungen, so zum Beispiel im Gastgewerbe, im Detailhandel, bei den persönlichen Dienstleistungen oder in der Abfallbeseitigung. In der Industrie dagegen gibt es in manchen Branchen sehr grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern, so dass beispielsweise in der Papier-, in der Textil- und in der Uhrenindustrie davon ausgegangen werden muss, dass die schlechtbezahltesten Jobs häufig von Frauen ausgeführt werden. Auch in stark von Männern besetzten Branchen wie im Bau- oder Metallgewerbe ist die Wahrscheinlichkeit, als Frau einen Tieflohn zu beziehen, etwa sechs- bis zehnmal höher als für einen Mann. Im schweizerischen Mittel liegt das Verhältnis bei 3.3. Wie eine Publikation des Bundesamtes für Statistik (BfS 2008) zeigt, nimmt der Anteil Frauen mit Tieflöhnen auch bei steigender Qualifikation oder Erfahrung nicht ab: Durch alle Bildungs- und Erfahrungsgruppen hinweg übersteigt der Anteil Frauen mit Tieflohn jenen der Männer. Die Tieflöhne bei Frauen sind somit also keineswegs ein vorübergehendes Phänomen von Berufseinsteigerinnen mit mangelnder Erfahrung oder Ausbildung. Über die Zeit hat der Anteil Tieflohnbezüger abgenommen (vgl. Kapitel 1), wovon in absoluten Zahlen deutlich mehr Frauen als Männer profitierten. Der Frauenanteil unter den Tiefstlohnbezüger/innen hat sich jedoch nicht wesentlich verändert: „Während 1998 70.8% der von Tieflöhnen unter 3'000 Franken Betroffenen Frauen waren, lag der Anteil 2008 immer noch bei 69.3%“ (Strub und Stocker 2010). c)

Regionale Aspekte von Tieflöhnen

Bei der Analyse der Tieflohnsituation in der Schweiz ist abschliessend und der Vollständigkeit halber noch auf die zum Teil erheblichen regionalen Unterschiede hinzuweisen. Bereits beim regelmässig erhobenen Brutto-Medianlohn sind grosse regionale Verschiedenheiten nicht von der Hand zu weisen. So betrug der Bruttomedianlohn 2008 für die Nordwestschweiz (BS, BL, AG) 6‘095 Franken, in der Region Tessin betrug er indessen nur 4‘983 Franken. Der Zürcher Medianlohn lag mit 6‘250 5 Franken mehr als 7% über dem nationalen Medianlohn von 5‘823 Franken. Dass diese regionalen Unterschiede auch auf Tieflohnniveau eine beträchtliche Rolle spielen, zeigen die in diesem Zusammenhang ebenfalls ausgewerteten Quartilsgrenzen (25 bis 75 Prozent in der Verteilung) für „einfache und repetitive Tätigkeiten“: Im 5

Lohnstrukturerhebung 2008, Bundesamt für Statistik. 27

Tessin liegt die untere Quartilsgrenze hier bei 3'253 Franken, während dieselbe in im Espace Mittelland immerhin 3'920 Franken beträgt. Dies zeigt, dass die Tieflohnsituation auch in den verschiedenen Regionen ungleich aussieht. Die Lohnstrukturerhebung unterscheidet nur zwischen sieben Grossregionen in der Schweiz. Die Unterschiede verschärfen sich gar noch, wenn man die einzelnen Kantone betrachtet. Das Bundesamt für Statistik (BfS, 2008) hat für 2006 festgestellt, dass die Grossregionen mit den meisten Tieflohnstellen gleichzeitig die Regionen mit der grössten Anzahl Arbeitsstellen sind. Ungeachtet der Tatsache, dass die Gliederung der Tieflohnstellen nach Grossregion im Grossen und Ganzen jener der gesamten Arbeitsstellen zu folgen scheint, muss auf folgende Punkte speziell hingewiesen werden: Gemessen am nationalen Schwellenwert, fielen im Jahr 2006 rund 22,6 Prozent aller Stellen in der Region Tessin unter die Kategorie der Tieflohnstellen, während es in der Grossregion Zürich lediglich 7,5 Prozent der gesamten Stellenzahl waren. Bemisst man die Tieflohnschwelle jedoch unter Berücksichtigung der regionalen Lohnstruktur, so sinkt der Anteil Tieflohnstellen im Tessin auf 11,7 Prozent, während er für die Grossregion Zürich auf 13 Prozent klettert und damit für alle Grossregionen am höchsten ausfällt (BfS 2008:11).

4

Fazit: Hindernisse und Expansionspotenzial

In der Schweiz liegen ca. 10% aller Löhne unter 63.6% des Medians (Tieflohnschwelle). Die Gründe dafür sind unterschiedlicher Natur. In manchen Branchen bestehen zwar GAV, diese enthalten aber keine Lohnbestimmungen – wie im Fall der Metall- und Maschinenindustrie – oder die festgesetzten Löhne sind ausgesprochen tief, wie im Gastgewerbe oder in der Uhrenindustrie. In diesen Fällen sind es besonders die Kostenüberlegungen der Unternehmer, welche die Einführung oder Erhöhung von GAV-Minimallöhnen verhindern. Andernorts mangelt es an der umfassenden Abdeckung mit GAV, wie beispielsweise in der Nahrungsmittelindustrie: Hier sind über 10% der Stellen Tieflohnstellen. Es gelang bisher nicht, umfassende GAV mit verbindlichen Mindestlöhnen für die gesamte Branche einzuführen. Im Baugewerbe erhalten zwar nur gerade 2% der Beschäftigten einen Bruttolohn unter 3‘700 Franken, in Anbetracht der Grösse dieser Branche sind dies doch knapp 7‘000 Beschäftigte. Um auch diesen Arbeitern einen angemessenen Lohnschutz zu bieten, müsste der Geltungsbereich des Landesmantelvertrags weiter ausgedehnt werden. Aussichtslos erscheint eine Ausweitung der Mindestlohnabdeckung über GAV im Falle der persönlichen Dienstleistungen und der Angestellten in den Privathaushalten, weil eine Arbeitgeberorganisation als Verhandlungspartnerin fehlt. Bezeichnenderweise ist in dieser Branche der Anteil Beschäftigter mit einem Verdienst von weniger als 3'700 Franken brutto im Monat mit über 40% am höchsten. Für diesen Fall bieten sich die neuen NAV mit verbindlichen Mindestlöhnen als einziges zurzeit vorhandenes, praktikables Instrument an, da hier mit Hilfe des Staates ein Vertragswerk 28

ohne Vorhandensein einer Arbeitgebervertretung errichtet werden kann. Im Oktober 2010 hat der Bundesrat erstmals eine entsprechende Verordnung erlassen, so dass mit dem NAV Hauswirtschaft, der per 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist, immerhin in einem Teilbereich der persönlichen Dienstleistungen die Löhne nach unten abgesichert sind. Die NAV mit verbindlichen Mindestlöhnen bilden jedoch wegen ihrer zeitlichen Begrenzung nicht unbedingt ein optimales Instrument zur langfristigen Sicherung der Lohnentwicklung (näheres zu den NAV siehe Abschnitt 2 in diesem Kapitel sowie Kapitel V). Gesamthaft sind schätzungsweise 115‘000 bis 140‘000 Arbeitnehmende mit Tieflöhnen keinem GAV unterstellt. Alles in allem gibt es also trotz Hindernissen noch Potenzial zur Ausweitung der Abdeckung mit Mindestlöhnen über GAV oder NAV. Besonders wichtig wäre dies in jenen Branchen, in denen bisher erst wenige oder keine Minimallöhne festgelegt wurden, da dadurch eine Signalwirkung erzielt würde. In jenen Branchen mit bisher ungenügender GAV-Abdeckung kann auch eine Stärkung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung Abhilfe schaffen. Gelingt dies nicht, kann ein gesetzlicher Mindestlohn bestehende Lücken im Lohnschutz füllen. Weiter wäre es ein Mittel, um unbefriedigend tiefe Mindestlöhne in GAV zu verhindern. Darüber hinaus kann man sich vorstellen, dass die Tendenz zum Outsourcing von einfachen Tätigkeiten, wie beispielsweise die Reinigungsdienste in Unternehmen, damit gebremst werden könnte. Denn während man durch das Outsourcing solcher Tätigkeiten die betroffenen Beschäftigten von GAV-Mindestlohnstandards ausschliessen kann, wäre der Spielraum für derartige Lohneinsparungen bei einem national geltenden Mindestlohn eingeschränkt. Es bestünde somit gerade auch in grossen Firmen ein Anreiz, alle Beschäftigten unter ein und demselben GAV zu gleichwertigen Bedingungen anzustellen.

29

Anhang A 1

Methodische Erläuterungen zu den Schätzungen Die unterstellte Beschäftigung

Die unterstellte Beschäftigung wird vom Bundesamt für Statistik alle zwei Jahre erhoben, die letzte Publikation der „Erhebung der Gesamtarbeitsverträge“ (2009) bezieht sich auf das Jahr 2007. Die darin enthaltenen Angaben beruhen zum Teil allerdings selbst auf Schätzungen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände. Wegen Überschneidungen einiger GAV in der Einteilung nach Noga-Branchen macht es zudem Sinn, einige Branchen zusammenzufassen. Dies ist insbesondere in den MEM-Industrien der Fall, wo der MEM-Vertrag dem Maschinenbau zugeteilt wurde, obwohl dieser Rahmenvertrag natürlich auch in anderen Noga-Branchen Wirkung entfaltet. Deshalb wurden die Branchen 27-32 und 34, 35 zusammengefasst. Ein Teil der Firmenverträge steht unter Datenschutz, so dass nicht immer ganz klar ist, wie viele davon Mindestlöhne enthalten. Hier waren weitere Abklärungen nötig, z.B. mit Hilfe von Übersichtstabellen der Unia sowie einer separaten Auswertung der Gesamtarbeitsverträge, die auf Anfrage vom BfS erstellt wurde. 2

Zu Tabelle 1: GAV-Unterstellte und Beschäftigte (in 1000), Netto-Abdeckungsgrad 1991 bis 2007 (Quelle: Oesch 2007)

Für die unterstellbare Beschäftigung existieren nur Annäherungen; die letzte offizielle Berechnung des Netto-Abdeckungsgrades des Bundes stammt von 1991 (Bauer und Baumann 1992). Für 1991 wurde einen Netto-Abdeckungsgrad von 51% ausgewiesen. Als unterstellbare Beschäftigung verwendeten die Autoren die gesamte Beschäftigung im Sekundär- und Tertiärsektor minus die öffentliche Beschäftigung. Für die in Tabelle 1 ausgewiesenen Netto-Abdeckungsgrade wurde aus zwei Gründen eine andere Vorgehensweise gewählt: (a) Zahlen zur öffentlichen Beschäftigung werden nur in unregelmässigen Abständen erhoben; (b) seit 2001 haben GAV auch Eingang in den Grossteil des öffentlichen Bereichs gefunden (Ausnahmen bestehen in der Verwaltung, der Landesverteidigung sowie in einem Teil des Unterrichtswesens). Dementsprechend wurde in der ab 1991 beginnenden Reihe des Abdeckungsgrads die unterstellbare Beschäftigung von Daniel Oesch mit Sektordaten aus der Beschäftigungsstatistik (BESTA), jeweils saisonbereinigte Werte für das zweite Quartal, berechnet. Grundgesamtheit der BESTA sind Beschäftigte (nach dem Inlandkonzept, ab 6 Stunden pro Woche) in den Betrieben des sekundären und tertiären Sektors, in denen mindestens 20 Stunden pro Woche gearbeitet wird, ohne Beschäftigte des primären Sektors sowie „ausserbetrieblich Beschäftigte“.

30

Als nicht unterstellbar werden die Beschäftigten im Beamtenstatus gezählt. Für 1991 bis 1999 trifft dies auf folgende Wirtschaftssektoren zu: (1) öffentliche Verwaltung, Landesverteidigung, Sozialversicherungen; (2) Unterrichtswesen; (3) Nachrichtenübermittlung; (4) die Hälfte der Beschäftigten des Sozial- und Gesundheitswesens; (5) die Hälfte der Beschäftigten im Landverkehr (Schienenverkehr). 2001 wurde das Beamtengesetz auf Bundesebene durch das Bundespersonalgesetz (BPG) ersetzt und GAV fanden auch im öffentlichen Sektor Verbreitung. In den meisten Kantonen wurde der Beamtenstatus ebenfalls abgeschafft. Dementsprechend werden ab 2001 nur noch die Beschäftigten in (1) öffentliche Verwaltung, Landesverteidigung, Sozialversicherungen sowie (2) die Hälfte der Beschäftigten im Unterrichtswesen als nicht unterstellbar gezählt. Der Knick im Abdeckungsgrad 2001 erklärt sich mit der Abschaffung des Beamtenstatus. Dadurch ist die Zahl der Unterstellbaren schlagartig erhöht worden, ohne dass zugleich die Zahl der neu ausgehandelten GAV gestiegen wäre. Mitarbeitende Betriebsinhaber und Familienmitglieder sind ebenso wie Kader und Aushilfen in aller Regel vom Geltungsbereich eines GAV ausgeschlossen. Der geschätzte Anteil der dadurch nicht unterstellbaren Erwerbstätigen von 4.9% (an der unterstellbaren nicht öffentlich-rechtlich angestellten Erwerbsbevölkerung) wurde vom Resultat des grössten GAV der Schweiz, jenem des Gastgewerbes, extrapoliert (Beschäftigung Gastgewerbe 2005: 216'000; GAV-Unterstellte Gastgewerbe: 206'000; Anteil nicht unterstellte Beschäftigte im Gastgewerbe: 4.9%). 3

Zu Tabelle 2: Geschätzter Netto-Abdeckungsgrad mit GAV nach Branchen, 2007

Zur Ermittlung der unterstellbaren Beschäftigten wurden die Daten aus der Betriebszählung (BZ) 2008 verwendet. Die BZ ist eine Vollerhebung und wird dreimal pro Jahrzehnt durchgeführt. Der Grund für die Verwendung der BZ liegt darin, dass die Quartalsschätzungen der BESTA, die auf der BZ beruhen, für das Jahr 2008 noch auf der BZ von 2005 basieren und somit für manche Branchen relativ ungenau werden. Dank der Differenzierung nach öffentlichem und privatem Sektor in der BZ ist es zudem möglich, im Unterrichtswesen allein die Angestellten des privaten Sektors zu berücksichtigen; die Noga-Branche 75 „Öffentliche Verwaltung, Sozialversicherung, Landesverteidigung“ wurde nicht berücksichtigt. Für die restlichen Branchen wurde die Beschäftigung des öffentlichen Sektors jedoch nicht ausgeklammert, da seit der Abschaffung des Beamtenstatus 2001 GAV auch Eingang in den Grossteil des öffentlichen Sektors gefunden haben. Für die Korrektur um die Betriebseigner wurde die von Oesch (2007) vorgeschlagene Korrekturmethode verwendet und 4.9% der Beschäftigten in jeder Branche als nicht-unterstellbar eingestuft (siehe oben).

31

Damit resultierten insbesondere für die grossen Branchen wie das Gastgewerbe oder die MEM-Industrien plausible Schätzergebnisse für den Abdeckungsgrad. Auch gesamtschweizerisch ergibt sich ein mit den Ergebnissen von Oesch vergleichbarer Abdeckungsgrad von 49%. Da sich die Daten zu den GAV auf 2007, jene der BZ jedoch auf 2008 beziehen, wurde im Rahmen einer Sensitivitätsanalyse auch eine Schätzung durchgeführt, in der die Beschäftigungsentwicklung zwischen den beiden Jahren berücksichtigt wurde. Dazu wurden die Veränderungen zum aus dem Beschäftigungsbarometer des dritten Quartals 2008 des Bundesamtes für Statistik herbeigezogen. Die Ergebnisse variieren nur geringfügig, in der Regel liegen die Unterschiede im geschätzten Abdeckungsgrad zwischen null und einem Prozentpunkt. Ohne Berücksichtigung der Beschäftigungsentwicklung fällt der geschätzte Netto-Abdeckungsgrad erwartungsgemäss ein wenig geringer aus. Einzig für das Gastgewerbe resultiert das etwas unbefriedigende Ergebnis eines Abdeckungsgrades von 103%, der aus Plausibilitätsgründen bei ziemlich genau 100% liegen sollte, da der L-GAV im Gastgewerbe für alle Arbeitnehmenden Anwendung findet. 4

Zu Tabelle 8: Tieflohnbezüger unter 63.6% des Medianlohns nach Branchen, 2008 privater und öffentlicher Sektor (Bund)



Landwirtschaft

Der Primäre Sektor ist in der LSE nicht erfasst, so dass für die Schätzung der Tieflöhner/innen in der Landwirtschaft andere Quellen beigezogen werden mussten. Gemäss Angaben des BfS waren in der Landwirtschaft 2009 knapp 167‘000 Personen beschäftigt, wobei auch Familienmitglieder miteingeschlossen sind. Die Anzahl familienfremder Beschäftigter in einem Anstellungsverhältnis belief sich dagegen im selben Jahr auf lediglich 28‘000 (Bundesamt für Landwirtschaft BLW 2010) Das BfS erfasst jedoch keine Daten zu den Löhnen der Beschäftigten in der Landwirtschaft und in der LSE ist der Primärsektor nicht enthalten. Angaben zu den Löhnen famili6 enfremder landwirtschaftlicher Angestellter liefert der Schweizerische Bauernverband (SBV). Die Angaben basieren auf einer Stichprobenerhebung bei 2‘500 repräsentativ über die Kantone verteilten Betrieben. Insgesamt konnten 633 Fragebogen mit Angaben über 1333 familienfremde Beschäftigte ausgewertet werden. Relativ zur Grundgesamtheit ist die Stichprobe zwar sehr klein, doch liefert sie immerhin ein Bild der Lohnstruktur im landwirtschaftlichen Sektor. Der Medianlohn lag bei 3‘400 Franken im Monat (Löhne von Teilzeitarbeitnehmenden wurden entsprechend der üblichen Arbeitszeit auf ein Vollpensum hochgerechnet). Der Modalwert, also der Wert mit der grössten Häufigkeit, liegt zwischen 3‘100 und 3‘200 Franken. Diese Daten zeigen, dass Tieflöhne in der Landwirtschaft weit verbreitet sind. Man muss 6

Ausgenommen sind Lehrlinge, da für diese „relativ enge Vorschriften bestehen“ (SBV Statistik 2009: 6).

32

somit davon ausgehen, dass mindestens die Hälfte der rund 30‘000 familienfremden Angestellten, also rund 15‘000 Personen, zu Tieflöhnen arbeiten. Realistischerweise muss man vielmehr annehmen, dass 60% der landwirtschaftlich Angestellten oder 18‘000 Personen von einem Tieflohn betroffen sind. 

Hauswirtschaft

In der LSE ebenfalls nicht erfasst sind die Angestellten in privaten Haushalten, da die Stichprobe für die LSE aus dem Betriebs- und Unternehmensregister gezogen wird. Die Erwerbstätigenstatistik (ETS) des BfS liefert jedoch Angaben zu dieser Klasse von Beschäftigten. Für das Jahr 2008 werden 62‘000 Beschäftigte ausgewiesen; die aktuellsten Zahlen liegen für das Jahr 2009 vor mit 68‘000 Beschäftigten in Privathaushalten. Die Studie von Flückiger et al. (2008) zeigt weiter auf, dass der Durchschnittslohn für hauswirtschaftliche Angestellte in Privathaushalten 2006 bei 19.10 Franken pro Stunde lag. Bei einer Vollzeitbeschäftigung entsprach dies einem Monatslohn von 3‘310 Franken. Da Lohnverteilungen rechtsschief sind, liegt der Median unter dem Mittelwert, so dass sicherlich über 50% der Beschäftigten einen Tieflohn beziehen. Gestützt auf die Daten von Flückiger et al. ist es grob geschätzt möglich, dass bis hin zu 70% der Beschäftigten in diesem Bereich einen Tieflohn unter 63,6% des Medianlohns beziehen. Dies entspricht einer Grössenordnung von 30‘000 bis knapp 50 ‘000 Beschäftigten. In der Tabelle 8 wurde ein Wert von 65% angenommen, was rund 40‘000 Tieflöhner/innen entspricht.

33

34

Tabellen

41h

41h

56.67%

51.52%

60.11%

3‘300

3‘300

3‘500

Vereinbarung DH BS

NAV Detailhandel BE (bis 25. Altersjahr / ab 25. Altersjahr)

63.54%

41h

41h45h

3‘700

58.10%

GAV Coop

Stunden / Woche

LGAV Gastgewerbe

In % des Medianlohns*

Monatlicher Minimallohn, in Franken 3‘383

Branche / Vertrag

Anspruch auf 13. Monatslohn

i.d.R. voller 13., kein Rechtsanspruch

Voller 13. Monatslohn

Erst ab 3. Anstellungsjahr zu 100%, Anspruch erst nach 6. Anstellungsmonat

13. Monatslohn

Tabelle B1: Ausgestaltung ausgewählter GAV und zwei NAV, Stand Januar 2010

B

Jährliche Verhandlungen, kein automatischer Teuerungsausgleich Jährliche Verhandlungen über Mindestlohnanpassungen, kein automatischer Teuerungsausgleich Die Mindestlöhne werden durch den Regierungsrat alle zwei Jahre unter Berücksichtigung der Wirtschaftslage sowie der eventuellen Teuerung überprüft und nach Anhörung der Sozialpartner gegebenenfalls neu festgesetzt

Anpassungen & Lohnerhöhungen

9% bei dreijähriger Ausbildung

7% bei dreijähriger Ausbildung

13% mit EFZ. 23% mit EFZ & 7 Jahren Erfahrung, höherer Ausbildung 8% bei dreijähriger Ausbildung, 11% bei vierjähriger Ausbildung

Lohnvorteil für Qualifizierte**

35

3‘372

3‘832

3‘649

GAV Holzbaugewerbe

Schweizerische Möbelindustrie

Monatlicher Minimallohn, in Franken 3‘744

GAV Schreinergewerbe

GAV private Sicherheitsdienstleistungsbranche

Branche / Vertrag

62.67

65.81%

57.91%

64.30%

In % des Medianlohns*

41h

37.5h47.5h

41.5h

34.5h44h

Stunden / Woche

Anspruch auf 13. Monatslohn

Anspruch auf 13. Monatslohn

Voller 13. Monatslohn

Unternehmensabhängig, Mindestlohn als Jahreslohn festgelegt (Bsp. hier mit 13.)

13. Monatslohn

Alljährliche Mindestlohnanpassungen durch Vertragspartner. Anpassung der betrieblichen Leistungslohnsumme alle 3 Jahre

Anpassungen & Lohnerhöhungen

20.5% im 1. Jahr nach Lehrabschluss 26.8% ab dem 3. Jahr nach Lehrabschluss

9% ab dem 4. Dienstjahr 13% ab dem 7. Dienstjahr 15% ab dem 12. Dienstjahr 15.6% ab 20. Altersjahr / 1. Erfahrungsjahr als Berufsarbeiter 32.9% ab dem 24. Altersjahr als Berufsarbeiter 15% Holzbaufachmann / Zimmermann 34% HolzbauVorarbeiter mit Fortbildung

Lohnvorteil für Qualifizierte**

36

GAV Maler- und Gipsergewerbe (Deutschschweiz, TI, JU)

GAV Schweizerisches Dach- und Wandgewerbe

Branche / Vertrag

64.90%

67.01%

3‘902

In % des Medianlohns*

Monatlicher Minimallohn, in Franken 3‘779

40h

42h

Stunden / Woche

Anspruch auf 13. Monatslohn

Anspruch auf 13. Monatslohn

13. Monatslohn

In den Zwischenjahren wird die effektive Teuerung um max. 2% ausgeglichen. Als Berechnungsgrundlage gilt der Berechnungslohn. Ist die Teuerung höher als 2%, wird über den Ausgleich verhandelt. Die Sockellöhne werden in den Zwischenjahren um die Hälfte der effektiven Teuerung angehoben.

Jährliche Verhandlungen der Vertragsparteien über allfällige Lohnanpassungen (Teuerung, Reallöhne). Die Jahresteuerung (Indexstand Oktober) wird bis zum Wert von 1.5% automatisch angeglichen. Fällt die Teuerung höher aus, wird über die Höhe des Ausgleichs verhandelt.

Anpassungen & Lohnerhöhungen

15% im 3. Jahr nach Lehrabschluss 21% gelernter Berufsarbeiter ab 3 Jahren Berufserfahrung

18% für Berufsarbeiter im ersten Jahr 30% für Berufsleute mit mehr als 4 Jahren Berufserfahrung

Lohnvorteil für Qualifizierte**

37

3‘103

3‘606

GAV des Reinigungssektors für die Westschweiz

Monatlicher Minimallohn, in Franken 3‘575

Reinigungsbranche Deutschschweiz

NAV Hausangestellte GE

Branche / Vertrag

61.93%

53.29%

61.39%

In % des Medianlohns*

43h

Max 42h

46h

Stunden / Woche

13. Monatslohn, falls mind. 3 Monate im Betrieb

Ab 2010 ein ganzer 13. Monatslohn für sog. Spezialund Spitalreinigungsmitarbeiter/innen sowie für Objektleiter/innen/Vorarbeiter/innen; nur ¾ eines Monatslohnes für Unterhaltsreinigungsmitarbeiter/innen

13. Monatslohn

Keine jährlichen Verhandlungen (ausser im Falle einer Inflationsrate von über 2.5%): Lohntabelle für die nächsten 4 Jahre (von 2009 bis 2012) bereits ausgehandelt

Die Anpassung der Löhne wird jährlich von den Vertragsparteien überprüft; kein Teuerungsautomatismus.

Anpassungen & Lohnerhöhungen

27% Qualifiziertes Personal EFZ o.ä.

14% Spezialreinigungsmitarbeiter/in 2% Spitalreinigungsmitarbeiter/in

12% Zimmermädchen EFZ o.ä. 17% Oberkellner und Haushälterinnen EFZ o.ä. 21% Chauffeure und Köche EFZ o.ä. 33% Gärtner EFZ o.ä.

Lohnvorteil für Qualifizierte**

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GAV Schweizerisches Elektro- und Telekommunikations-Installationsgewerbe

Branche / Vertrag

Monatlicher Minimallohn, in Franken 3‘570

Stunden / Woche 40h

In % des Medianlohns* 61.31%

Anspruch auf 13. Monatslohn

13. Monatslohn

Die Festsetzung von Mindestlöhnen bleibt in der Regel den Ergänzungsbestimmungen der kantonalen/lokalen Vertragsgebiete überlassen. Falls keine solchen Ergänzungsbestimmungen vorliegen, werden die Minimallöhne von den Vertragsparteien (Paritätische Landeskommission) jährlich festgesetzt. Die Paritätische Landeskommission legt die allfällige Anpassung der Minimallöhne und des Lohnrahmens fest (jährliche Bekanntgabe). Spezielle Reglungen betr. Teuerungsausgleich, abhängig von der Höhe der Jahresteuerung (mehr oder weniger als 1.5%).

Anpassungen & Lohnerhöhungen

18% 1. Jahr nach LAP Elektro-Monteur/in EFZ 25% ab vollendetem 25. Altersjahr (ElektroMonteur/in EFZ inkl. Weiterbildung) 34% ab vollendetem 30. Altersjahr (dito)

Lohnvorteil für Qualifizierte**

39

3‘500

3‘500

LGAV Schweizerisches Metallgewerbe

Monatlicher Minimallohn, in Franken individuell zwischen AN&AG

GAV Schweizerische Gebäudetechnikbranche

Vereinbarung MEMIndustrie

Branche / Vertrag

60.11%

60.11%

In % des Medianlohns*

40h

Anspruch auf 13. Monatslohn

Anspruch auf 13. Monatslohn

Anspruch auf 13. Monatslohn

40h

40h

13. Monatslohn

Stunden / Woche

Jährliche Lohnverhandlungen

Der Lohn wird zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer individuell nach dem Leistungsprinzip vereinbart. Alljährliche Verhandlungen im September gestützt auf die Teuerung gemäss August-Index des Landesindex der Konsumentenpreise.

Lohnanpassung: Verhandlung zwischen Geschäftsleitung und Arbeitnehmer/innenVertretung

Anpassungen & Lohnerhöhungen

11% Metallbauer/in EFZ, 20.-21. Altersjahr 27% 25.-29. Altersjahr

11% im 1. Jahr nach LAP EFZ 15% im 4. Jahr nach LAP EFZ

Lohnvorteil für Qualifizierte**

40

3‘600

Monatlicher Minimallohn, in Franken 3‘800

61.82%

65.26%

In % des Medianlohns*

41h

40h

Stunden / Woche

Anspruch auf 13. Monatslohn

Anspruch auf 13. Monatslohn

13. Monatslohn

Jährliche Lohnverhandlungen der Vertragsparteien. Die Effektivlöhne der Arbeitnehmenden werden jährlich bis zu einer Jahresteuerung von 2% automatisch und generell an die Teuerung angepasst. Bei Jahresteuerung >2%: Verhandlungen über die Lohnanpassung von über 2%. Grundsätzlich zwischen ArbeitnehmerIn/ArbeitgeberIn individuell festgesetzt, als Stunden- oder Monatslohn. Jährliche Verhandlungen der Vertragsparteien über allfällige Lohnanpassung.

Anpassungen & Lohnerhöhungen

11% Gelernte (4 Jahre) EFZ im 1. Jahr nach Abschluss

7% Isolierspengler mit Lehrabschluss, 20.-25. Altersjahr 10% 31.-35. Altersjahr

Lohnvorteil für Qualifizierte**

* 5823 Franken betrug der Schweizerische Medianlohn 2008 (Privater Sektor und Bund zusammen, LSE 2008). Das Verhältnis der Minimallöhne zum Median wird deshalb etwas überschätzt. ** Wo immer möglich, wird die Lohndifferenz einer Person mit Lehrabschluss zu Personen ohne Ausbildung als Prozentsatz des Minimallohnes ausgewiesen.

GAV Carosseriegewerbe (ausser GE)

GAV Schweizerisches Isoliergewerbe

Branche / Vertrag

Literaturnachweise Bauer, T. und B. Baumann (1992). „Die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz im Jahre 1991“, Die Volkswirtschaft, 65(5): 54–60. Bundesamt für Statistik BfS (2008). Tieflöhne und Working Poor in der Schweiz. Ausmass und Risikogruppen auf Basis der Lohnstrukturerhebung 2006 und der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 2006, Neuchâtel. Bundesamt für Statistik BfS (2009). Erhebung der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz 2007, Neuchâtel. Bundesamt für Landwirtschaft BLW (2010). Agrarbericht 2010, Bern. Commission Tripartite Neuchâtel (2009). „Enquête sur les salaires dans le secteur de la santé publique du Canton de Neuchâtel“. Download unter: http://www.ne.ch/neat/site/jsp/rubrique/rubrique.jsp?StyleType=bleu&Doc Id=28359 [eingesehen am 21.12.2010]. Flückiger, Yves und Giovanni Ferro Luzzi (2008). „Domestic work in Switzerland. Calculation of the prevailing wages in the domestic services sector in Switzerland in consideration of the establishment of a standard contract", Observatoire Universitaire de l’Emploi, Université de Genève. Oesch, Daniel (2007). „Weniger Koordination, mehr Markt? Kollektive Arbeitsbeziehungen und Neokorporatismus in der Schweiz seit 1990“, Swiss Political Science Review, 13(3): 337–368. Oesch, Daniel (2009). „GAV in der Schweiz: Entwicklung und Stand heute“, Arbeitspapier, Dez. 09, Université de Genève. Rieger, Andreas und Hans Baumann (2007). „Mindestlohnpolitik in der Schweiz und in Europa“, Widerspruch, 52/2007: 165-176. Strub, Silvia und Désirée Stocker (2010). Analyse der Löhne von Frauen und Männern anhand der Lohnstrukturerhebung 2008, Schlussbericht im Auftrag von: Bundesamt für Statistik und Eidgenössisches Büro für Gleichstellung von Frau und Mann.

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II. Mindestlohnpolitik in Europa Die Mehrheit der europäischen Länder kennt einen gesetzlichen Mindestlohn. Während manche Länder schon seit mehreren Jahrzehnten einen Mindestlohn haben, wurde er in anderen Ländern erst vor relativ kurzer Zeit eingeführt – insbesondere in den neuen EU-Ländern sowie in Grossbritannien und in Irland. Die Debatte um gesetzliche Mindestlöhne erhält auch vom europäischen Parlament Auftrieb, das sich 7 für gesetzliche Mindeststandards bei der Entlöhnung ausgesprochen hat. In anderen europäischen Ländern wie Österreich, Deutschland und Skandinavien werden Lohngarantien über Gesamtarbeitsverträge sichergestellt. Besonders interessant ist die Frage, wie sich Mindestlohnregelungen auf das bestehende institutionelle Gefüge auswirken und welche Rolle der Sozialpartnerschaft dabei zukommt. Im Folgenden werden die Mindestlohnpolitik und dazugehörige Institutionen in Frankreich, England, den BeNeLux-Staaten, Spanien und Skandinavien vorgestellt und die Entwicklung und Tendenzen in den einzelnen Ländern aufgezeigt. Eine tabellarische Zusammenfassung im Anhang dient der Übersicht.

Österreich Österreich gehört zu jenen Ländern in Europa ohne gesetzlichen Mindestlohn. Minimallöhne werden ähnlich wie in der Schweiz über Kollektivverträge festgelegt. Die niedrigste Lohngruppe in einem Vertrag entspricht so dem Mindestlohn für die jeweilige Branche, so dass es de facto viele Mindestlöhne und zum Teil beachtliche Unterschiede zwischen den Branchen gibt. Um einem weiteren Auseinanderfallen der Tariflöhne in den verschiedenen Branchen entgegenzuwirken, waren deshalb branchenübergreifende Mindestlohnkampagnen nötig. Seit Ende der 1980er Jahre formuliert der Österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB deshalb immer wieder ein branchenübergreifendes Mindestlohnziel. Zurzeit (Herbst 2010) liegt dieses Ziel bei 1’300 Euro monatlich. Bei einem Medianlohn von 1’968 Euro (Stand: 2007) wären dies genau zwei Drittel des Medianlohns. Die Lehrlingslöhne sind an den jeweiligen Mindestlohn gekoppelt, so dass auch diese in regelmässigen Abständen erhöht werden. In der Regel finden die Lohnverhandlungen einmal jährlich im Rahmen der Kollektivverträge statt. Ausgehandelt werden die Kollektivverträge zwischen den Fachgewerkschaften und der Wirtschaftskammer. Ausgenommen von den Mindestlohnregelungen sind somit Beschäftigte in den sogenannt freien Berufen wie 7

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Im November 2007 hat sich das Europäische Parlament (2007) dafür ausgesprochen, dass überall in der EU „auf einzelstaatlicher Ebene, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern, ein angemessener existenzsichernder Mindestlohn eingeführt werden sollte“. Im März 2010 hat der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments (2010) die Notwendigkeit eines Mindesteinkommens erneut diskutiert, wobei offen gelassen wurde, ob die Umsetzung auf einzelstaatlicher oder gesamteuropäischer Ebene zu vollziehen wäre.

Ärzt/innen, Anwält/innen, Wirtschaftstreuhänder/innen etc., da diese nicht Mitglieder der Wirtschaftskammer sondern der Berufskammer sind. Manche dieser Kammern sind nicht bereit, Kollektivverträge auszuhandeln, andere haben bestehende Kollektivverträge seit Jahren nicht mehr erneuert. Der Staat kann in jenen Bereichen, für die es keinen Mindestlohn gibt, einspringen und einen gesetzlichen Mindestlohn festlegen, wenn eine kollektivvertragsfähige Arbeitnehmer//innenvertretung beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit einen Antrag stellt. In der Realität existieren solche gesetzlichen Mindestlöhne aber nur für wenige Bereiche, beispielsweise für die haushaltsnahen Dienstleistungen. Im österreichischen Kollektivvertragsystem kommt den Beschäftigten vor allem die Pflichtmitgliedschaft der privaten Unternehmen bei der Österreichischen Wirtschaftskammer zugute. Unternehmen können sich zwar zu Unternehmensverbänden zusammenschliessen, um gesonderte Kollektivverträge abzuschliessen, sie können sich aber nicht dem Vertragsabschluss entziehen. So fallen 95% der Beschäftigten unter einen Branchenkollektivvertrag. Eine marginale Rolle spielen in diesem System die Firmenkollektivverträge. De facto besteht so eine Verhandlungspflicht, so dass trotz rückläufigen Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften und Abnahme der Betriebsräte das österreichische Mindestlohnsystem nicht ausgehöhlt wurde. Dennoch erschweren diese Entwicklungen die Gewerkschaftsarbeit. Insbesondere in Niedriglohnbranchen aus dem Dienstleistungssektor ist der fehlende Rückhalt auf Betriebsebene ein Problem, wenn es darum geht, Mindestlohnforderungen durchzusetzen. Ebenfalls kritisch zu beurteilen sind in diesem System die grossen branchenspezifischen Unterschiede, welche nicht zuletzt zu geschlechterspezifischen Lohnunterschieden führen. Die erwähnten branchenübergreifenden Mindestlohnkampagnen vermochten diese Kluft bisher nicht zu schliessen. Und doch wehrt sich der ÖGB gegen einen gesetzlichen Mindestlohn, da damit der Mindestlohn zum Spielball der Politik würde, und weil im gegenwärtigen System die jährliche Verhandlungspflicht gesichert ist.

Skandinavien Dänemark, Norwegen und Schweden werden häufig unter dem Begriff „skandinavisches Modell“ zusammengefasst, wodurch die historischen, wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den drei Ländern zum Ausdruck gebracht werden. In allen drei Fällen handelt es sich um kleine offene Volkswirtschaften, die in sehr starkem Masse von einer konkurrenzfähigen Exportwirtschaft abhängen. Die Arbeitsmarktbeteiligung ist hoch, Lohnspreizung und Lohnunterschiede fallen vergleichsweise gering aus. Umfassende wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen und auf Umverteilung ausgelegte Steuersysteme machen den egalitären Charakter dieses Modells deutlich (Lismoen 2006). Einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn gibt es jedoch nicht. Die geringe Lohnspreizung, welche von einer Lohnkompression am unteren und oberen Ende der Lohnskala herrührt, wird

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durch institutionalisierte zentralisierte Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern erreicht. Dabei wurde die Verhandlungsverantwortung und -befugnis auf starke Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen auf nationaler Ebene übertragen. Gleichzeitig bleibt auch Raum für dezentrale Verhandlungen, da die Vertragsparteien ein hohes Mass an Autonomie und Verantwortung auf betrieblicher Ebene haben. Dank einer Gesetzgebung, welche umfangreiche Gewerkschaftsaktivitäten auf Betriebsebene zulässt, sind die Gewerkschaften in den Betrieben stark und kompetent. Dies wird auch durch den hohen Organisationsgrad deutlich: Er liegt in Schweden 8 und Dänemark bei 68%, in Norwegen bei 53%. In allen drei Ländern dominieren jedoch einige wenige, grosse Dachverbände – sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite. Letztlich trägt auch eine ausgedehnte soziale Konzertierung in Lohn-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu einer Verstärkung des Zentralisationsgrades bei. Während sich der Staat aus den Tarifverhandlungen weitgehend heraushält, kommt es durch tripartitische Zusammenarbeit zur makroökonomischen Koordinierung der Wirtschaftspolitik, bei welcher auch eine solidarische Lohnpolitik verfolgt werden soll. Diesen Grundsätzen ist es auch zu verdanken, dass die Lohnunterschiede zwischen den Branchen trotz Vereinbarungen auf Brachen- und Firmenebene relativ gering ausfallen. Die traditionsträchtige Kooperationsbereitschaft ist nicht zuletzt durch langjährige sozialdemokratische Regierungen gefördert und so9 mit im heutigen Masse möglich geworden. Im skandinavischen Modell sind zwei Vertragstypen zu Mindestlöhnen zu unterscheiden. Die am weitesten verbreitete Form ist die Mindestlohnvereinbarung, welche auf Branchenebene die absolute Untergrenze dessen fixiert, was noch als akzeptabler Lohn gesehen werden kann. Diese Branchenverträge sehen jedoch noch weitere Lohnverhandlungen auf Betriebsebene vor. Zur zweiten Vertragsform gehören Normallohnvereinbarungen, welche zwar ebenfalls auf Branchenebene ausgehandelt werden, jedoch keine weiteren Verhandlungen auf Betriebsebene vorsehen. Deshalb entsprechen diese Mindestlöhne viel eher dem Effektivlohn. In Schweden unterstehen 11% der Beschäftigten einem solchen Vertrag, in Dänemark und Norwegen schätzungsweise zwischen 15% und 20%. Wo ein Branchenvertrag existiert, kommt dieser in der Regel für alle Arbeitnehmenden zur Anwendung, welche in einem angeschlossenen Unternehmen arbeiten. Allerdings kann es bestimmte Bedingungen geben, wie beispielsweise, dass eine gewisse Anzahl gewerkschaftlich organisierter Mitarbeiter im Betrieb tätig sein muss. Nur Schweden sieht von solchen 8

9

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Dänemark und Schweden gehören zum so genannten Gent-System, in welchem die Gewerkschaften an der Verwaltung der Arbeitslosenunterstützung beteiligt sind, was den gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusätzlich positiv beeinflusst. Kooperation kann als eine Form von Sozialkapital gesehen werden, welches wie andere Kapitalformen akkumuliert wird. Dabei wird angenommen, dass jede erfolgreiche Kooperation weitere Schritte zur Kooperation begünstigt. Dies erklärt auch die starke Pfadabhängigkeit sozialpartnerschaftlicher Beziehungen in verschiedenen Ländern. Eine ausführliche Studie zu dem Thema mit einem theoretischen Modell liefern Aghion et. al. (2008).

Restriktionen ab. Eine Ausweitung der Tarifverträge kommt in der Regel über eine Anwendungsvereinbarung zustande, indem nichttarifgebundene Unternehmen in Übereinkunft mit gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern in anderen Betrieben bereits ausgehandelte Vereinbarungen übernehmen. Dieses Instrument ist weit verbreitet, während Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (welche ein Einschreiten des Staates mit sich bringen) nicht vorgesehen sind. Obwohl die Tarifabdeckung also ausser im öffentlichen Sektor nicht 100% erreicht, sind nur sehr wenige Arbeitnehmer/innen von Niedriglöhnen betroffen: In Dänemark waren es 1996 gemäss OECD 5,6% aller Erwerbstätigen, in Schweden 5,2% und in Norwegen, wo genaue Zahlen fehlen, dürfte der Anteil ähnlich tief liegen. Dieser geringe Anteil an Niedriglohnbezüger/innen bestätigt die These, dass in einem Arbeitsmarkt mit hohem Abdeckungsgrad die verbleibenden Lücken nicht durch unterdurchschnittlich tiefe Löhne charakterisiert sein sollten, da von den bestehenden Tarifverträgen eine gewisse positive Ausstrahlung auf den gesamten Arbeitsmarkt ausgeht. Begründet wird diese These dadurch, dass bei genügender Mobilität der Arbeitnehmenden diese die Stelle wechseln, sobald sie in einem nichttarifgebundenen Unternehmen unter den Tariflöhnen in anderen Unternehmen und vergleichbaren Branchen bezahlt werden. Diese „Ausstrahlungsthese“ wird auch dadurch gestützt, dass der „Lohnaufschlag“ für gewerkschaftlich organisierte Arbeitneh10 mer/innen in Norwegen mit 4% bis 7% relativ gering ausfällt (Lismoen 2006:215). Mit der zunehmenden Öffnung der Arbeits- und Produktmärkte gerät dieses System allerdings zunehmend unter Druck. Die Gewerkschaften befürchten insbesondere, dass es bei einer verstärkten Zuwanderung zu einem negativen Ausstrahlungseffekt auf die nicht abgedeckten Bereiche kommt. Aus demselben Grund sprechen sie sich auch gegen einen gesetzlichen Mindestlohn aus, da dieser die Gefahr birgt, die nicht abgedeckten Bereiche auf tiefem Niveau anzusetzen. Längerfristig würden dadurch auch die tariflichen Löhne unter Druck geraten. Damit würde ein System geschwächt, das in Skandinavien für vergleichsweise hohe Löhne, geringe Lohnunterschiede und somit für einen hohen Lebensstandard gesorgt hat. Darüber hinaus würde den Tarifvertragsparteien durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns die Verhandlungsmacht entzogen, so dass die Tarifverhandlungen von politischen Überlegungen und Machtverhältnissen mitbestimmt würden.

10

Für Schweden und Dänemark fehlen vergleichbare Zahlen.

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Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur EU-Entsenderichtlinie In jüngerer Zeit hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gleich in mehreren Fällen die europäischen Vorschriften zum Binnenmarkt, insbesondere die Dienstleistungsfreiheit, höher gewichtet als die in nationalen Gesetzen garantierten Arbeitnehmerrechte. Einer der Fälle, der Fall „Laval/Vaxholm“, ereignete sich in Schweden: Die lettische Gesellschaft „Laval“ entsandte zur Renovation einer Schule Arbeitnehmende nach Schweden. Die schwedische Baugewerkschaft nahm Verhandlungen mit „Laval“ auf, doch diese unterzeichnete einen GAV mit einer lettischen Bauarbeitergewerkschaft, worauf die schwedische Gewerkschaft sämtliche Baustellen von „Laval“ in Schweden blockierte. „Laval“ verklagte die Gewerkschaf11 ten und verlangte Schadenersatz. Der EuGH kam in seinem Urteil zum Schluss, dass die Dienstleistungsrichtlinie die Sachverhalte, für die Gewerkschaften streiken dürfen, abschliessend benennt. Mindestlöhne fallen nur darunter, wenn sie staatlich festgeschrieben werden. Der Arbeitskampf der Gewerkschaften war aus Sicht des EuGH daher illegal (Böcklerimpuls 2009: 5). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Ausgestaltung der Mindestlohnregelungen in Schweden und anderen Ländern mit Tarifverträgen im Rahmen der Personenfreizügigkeit aussehen soll. Der Schwedische Gewerkschaftsbund Landsorganisationen in Sverige (LO) stellt sich auf den Standpunkt, das Urteil wiederspreche in gewissen Bereichen gar EUGesetzgebung, nicht zuletzt auch den Entsenderichtlinien. Die Gewerkschaften beklagen, dass mit der eingeschlagenen Entwicklung das traditionsreiche System der Sozialpartnerschaft in Schweden untergraben werde. Ähnliche Urteile wurden in Streitsachen in Deutschland (Fall „Rüffert“), Finnland (Fall 12 „Viking Line“) und Luxemburg (Fall „Luxemburg“) gefällt. Im Rüffert-Urteil verbot der EuGH die zwingende Anwendung von Tariflöhnen oberhalb von allgemein verbindlichen Mindestlöhnen im Rahmen von staatlichen Tariftreuegesetzen bei der 13 Vergabe eines öffentlichen Auftrags. Im Luxemburg-Urteil verbot er Luxemburg unter anderem die Anwendung einer automatischen Inflationsanpassungsklausel bei 14 den Löhnen entsandter Beschäftigter. Im Viking Line-Urteil schliesslich hielt der EuGH fest, dass der von den finnischen Gewerkschaften beabsichtigte Streik unverhältnismässig sei, die Niederlassungsfreiheit von „Viking Line“ beschränke und damit gegen EU-Recht verstosse. Die genannten Urteile lösten eine umfassende Debatte in diversen europäischen Ländern aus, an der sich schliesslich auch das EUParlament beteiligte. Im Bericht über die Herausforderungen für Tarifverträge in der EU (auch: „Andersson-Bericht“) nahm das Parlament die Auslegung des EuGH zur Kenntnis, distanzierte sich aber in ungewöhnlich deutlicher Form von einigen tra-

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EuGH Urteil „Laval" - C 341/05 vom 18. Dezember 2007. EuGH Urteil „Rüffert" - C 346/06 vom 3. April 2008. EuGH Urteil „Luxemburg" - C 319/06 vom 19. Juni 2008. EuGH Urteil „Viking Line“ - C-438/05 vom 11. Dezember 2007.

genden Erwägungen und Interpretationen des EuGH, insbesondere zur Frage der Anwendung günstigerer Arbeitsbedingungen über den Katalog des Art. 3 Abs. 1 RL 96/71/EG hinaus. Weiter spricht sich der Bericht dafür aus, dass der Binnenmarkt nicht über Tarifautonomie und Streikrecht gestellt werden darf. Im Primärrecht der EU, also in den Europäischen Verträgen, müsse „das Gleichgewicht zwischen den Grundrechten und den wirtschaftlichen Freiheiten“ verankert werden, um einen Wettbewerb um niedrigere Sozialstandards zu verhindern. Folgende Forderungen wurden dazu aufgestellt: 

Überarbeitung der Entsenderichtlinie;



Zusammenfassung der Sozialklauseln der Monti-Richtlinie und der Dienstleistungsrichtlinie zu einer Sozialklausel im Primärrecht oder in einer interinstitutionellen Vereinbarung;



unverzügliche Annahme der Richtlinie über Leiharbeitnehmer, in der verdeutlicht wird, dass für Leiharbeitnehmer die gleichen Regeln gelten sollen wie für direkt im Unternehmen angestellte Arbeitnehmer;



Ergreifung von Massnahmen zur Bekämpfung von Briefkastenfirmen (…).

Am 22. Oktober 2008 wurde der Bericht mit grosser Mehrheit vom EU-Parlament angenommen.

Frankreich Frankreich gehört zu jenen Ländern Europas, das über die längsten Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlohnregelungen verfügt: Bereits 1899 wurde ein Regierungsdekret erlassen, wonach öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben wurden, die ihren Beschäftigten die normalerweise üblichen Löhne bezahlten. 1950 wurde eine tripartite Kommission für Tarifverträge eingerichtet, die einen nationalen Mindestlohn bestimmen sollte. Da sich die Kommission nicht einigen konnte, bestimmte die Regierung selber die Kriterien für einen Mindestlohn und setzte im August 1950 den salaire minimum interprofessionnel garanti SMIG fest. 1970 wurde dieser vom salaire minimum interprofessionnel de croissance (SMIC) abgelöst. Mit 8,86 Euro 15 pro Stunde (Stand 1.1.2010 ) ist der SMIC nach dem luxemburgischen Mindestlohn der zweithöchste in Europa, relativ gesehen ist er sogar der höchste: Er entspricht 63% des Medianlohns (Stand: 2008; Schulten 2010). Dieser wachstumsorientierte Mindestlohn soll den Beschäftigten Kaufkrafterhaltung sowie die Beteiligung an der wirtschaftlichen Entwicklung zusichern und findet auf alle Arbeitnehmer/innen – einschliesslich Landwirtschaft – Anwendung. Eine Ausnahme bilden Jugendliche unter 18 Jahren mit weniger als 6 Monaten Berufserfahrung sowie behinderte Arbeitnehmer. Der SMIC wird automatisch an die Preisentwicklung angepasst, sobald 15

Per 1.1.2011 wurde der SMIC auf 9 Euro angehoben. Von dieser Erhöhung um 1.6% profitieren rund 2,3 Mio. Arbeitnehmende.

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diese 2% überschreitet. Unabhängig davon erfolgte jeweils zum 1. Juli (neu seit 2010: zum 1. Januar) eine Anpassung per Regierungsdekret. Hierzu soll die Regierung im Vorfeld die tripartit zusammengesetzte Nationale Kommission für Tarifverhandlungen konsultieren. 2009 wurde zudem eine Expertenkommission (Groupe d’Experts sur le SMIC) aus fünf Wissenschaftler/innen eingerichtet, welche die Regierung in ihrer Mindestlohnpolitik beraten soll. Die Regierung hat insbesondere darauf zu achten, dass der Mindestlohn neben der Preisentwicklung auch mit der allgemeinen Entwicklung der Durchschnittslöhne Schritt hält, weshalb der reale Wertzuwachs des SMIC mindestens 50% der realen Erhöhung der Durchschnittslöhne betragen muss. Darüber hinaus veranlassten die verschiedenen Regierungen – häufig aus politischen Gründen – in ihrem freien Ermessen SMIC-Erhöhungen, .16 welche seit den 1970ern mehr oder weniger die Regel darstellen .Seit der Ära Sarkozy hat hier jedoch ein Wandel stattgefunden. Im Laufe der Geschichte unterlag der Anteil der Mindestlohnempfänger grossen Schwankungen und korrelierte dabei mit der realen Kaufkraftentwicklung des SMIC. Nach der Erhöhung per 1. Juli 2008 wurden 14,1% der Beschäftigten zum geltenden Mindestlohntarif entlöhnt, ein vergleichsweise hoher Anteil. Dies hat Rückwirkungen auf die Lohnverteilung, besonders im untersten Bereich der Einkommensverteilung: Die Daten zeigen eine Spitze in der Höhe des Mindestlohns, was bedeutet, dass dieser besonders bei bestimmten Niedriglohngruppen seine Wirkung entfaltet hat. Dies hat auch Auswirkungen auf die Lohnverteilung: Zumindest in der unteren Hälfte der Lohnskala verfügt Frankreich im europäischen Vergleich über eine relativ egalitäre Einkommensverteilung (Schmid und Schulten 2006:115). Zudem hat die Lohnspreizung in Frankreich entgegen dem europäischen Trend nicht zugenommen. Auch die Tarifverträge werden von der Entwicklung des SMIC tangiert. Obwohl nur noch weniger als 10% aller Beschäftigten in Frankreich gewerkschaftlich organisiert sind (zum Vergleich: in der Schweiz sind es ca. 22%), werden nach wie vor 90% der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst, da mehr als die Hälfte aller Branchenverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden. Weitaus am höchsten ist der Organisationsgrad dabei besonders im öffentlichen Dienst und in den Grossbetrieben. Während der SMIC die unterste Lohnschwelle festschreibt, wird in den Gesamtarbeitsverträgen die Lohnstruktur definiert und bestimmte branchenbezogene Mindestlöhne festgelegt. Da es gemäss französischem Recht jedoch möglich ist, dass diese Branchenlöhne unter dem SMIC liegen können (!), werden diese teilweise unwirksam. Diese Entwicklung ist auf die fehlende Verzahnung zwischen gesetzlichen und tariflichen Mindestlöhnen zurückzuführen: Es besteht zwar auch bei den Tarifverträgen eine jährliche Verhandlungspflicht, doch wird sehr häufig keine Einigung erzielt, so dass die Löhne nicht angepasst werden. Eine Indexierung der Tarif16

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Lediglich in den Jahren 1977, 1986/87, 1993/93, 1999 sowie in den letzten 4 Jahren nahmen die Regierungen von Erhöhungen nach freiem Ermessen Abstand (Burgess und Usher 2003:63).

löhne ist in Frankreich verboten, denn sie sollen ausdrücklich das Ergebnis von sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen sein. Zudem sind Tariflöhne unterhalb des SMIC, wenn auch nicht wirksam, so dennoch theoretisch erlaubt. Dies hat dazu geführt, dass es für manche Beschäftigte kaum mehr möglich ist, die Lohnskala zu durchlaufen: auch wenn sie um eine Lohngruppe aufsteigen, erhalten sie doch immer nur den gesetzlichen Mindestlohn, da die tariflich vereinbarten Gehaltsklassen im Niedriglohnsegment bei fehlgeschlagenem Verhandlungsergebnis hinter der Entwicklung des dem SMIC zurückliegen (2004 existierten in 68% der Tarifverträge eine oder mehrere Lohngruppen unterhalb des SMIC). Ein ähnliches Hinterherhinken der Tariflöhne war übrigens Ende 1980er bis zur Krise der 1990er in der Schweiz zu beobachten: Effektivlohnerhöhungen wurden zwar jährlich ausgehandelt, doch die in den GAV festgeschriebenen Minimallöhne waren längere Zeit nicht angehoben worden (siehe auch Kapitel I.3.). Immerhin wird seit 2010 der SMIC nicht mehr wie bis anhin am 1. Juli sondern am 1. Januar erhöht, damit er in den Lohnverhandlungen mehr Bedeutung erlangt. Insgesamt geht die Verantwortung für die Festsetzung der Niedriglöhne in diesem System immer mehr auf den Staat über. Die fehlenden Verhandlungsergebnisse der Tarifvereinbarungen können auch als Schwäche der Gewerkschaften angesehen werden, die Arbeitgeber zu angemessenen Tariflöhnen zu verpflichten. Bei einem so geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad wie in Frankreich, der besonders in Tieflohnbranchen noch weit geringer ausfällt als im öffentlichen Dienst und in Grossbetrieben, ist der gesetzliche Mindestlohn ein subsidiäres Instrument zur Sicherung der Einkommen der Niedriglohnbezüger. Zudem hat der SMIC in den letzten Jahrzehnten zu einer makroökonomischen Koordinierung der Lohnpolitik verholfen und war zumindest ein Orientierungspunkt für die jährlichen Lohnverhandlungen. Was die Lohnverteilung betrifft, so hat die Lohnungleichheit gesamthaft abgenommen, was auf eine Kompression am unteren Ende der Lohnverteilung zurückzuführen ist. Dazu kam es, weil der SMIC von verschiedenen Regierungen regelmässig über das gesetzliche Mindestmass hinaus erhöht wurde und damit stärker anstieg als die tariflich vereinbarten Löhne. Tieflohnbezüger haben von diesen Erhöhungen durchaus profitieren können, doch der SMIC hat in Frankreich keine Wirkung auf die Lohnstruktur im mittleren und oberen Bereich der Lohnverteilung entfalten können (Schmid und Schulten 2006).

Grossbritannien In Grossbritannien war der Tarifvertrag lange Zeit die einflussreichste Institution zur Regulierung der Löhne und erreichte 1979 mit einer Tarifbindung von 70% im privaten Sektor ihren Höhepunkt. Mit der Regierung Thatcher kam jedoch die Kehrtwende und die Gewerkschaften wurden durch diverse Gesetzesreformen geschwächt. Die Tarifabdeckung der Beschäftigten im privaten Sektor fiel bis 1998 auf knapp

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20%. Mit dem Wahlsieg der Labour Partei 1997 wurden dann aber die Gewerkschaftsrechte wieder gestärkt und Gewerkschaften müssen als Verhandlungspartner anerkannt werden. Die neue Regierung begann umgehend mit den Vorbereitungen zur Einführung eines Mindestlohnes. So schuf sie die Low Pay Commission, der zunächst die Aufgabe zukam, sich eingehend mit der Mindestlohnfrage zu befassen und der Regierung eine Empfehlung vorzulegen. Insgesamt hatte eine starke Verschiebung der Tarifvereinbarungen von der Branchen- auf die Firmenebene stattgefunden, so dass 2000 nur noch 5% der Beschäftigten in der privaten Wirtschaft einem Flächentarifvertrag unterstellt waren. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen existieren in England bis heute nicht. Per 1. April 1999 wurde daraufhin der National Minimum Wage (NMW) eingeführt. Die anfängliche Höhe wurde dabei als Kompromiss zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern in der Low Pay Commission ausgehandelt und war daher ziemlich niedrig. Doch ist es gerade dieser anfänglich tiefe Satz, der die Einführung und Anerkennung eines Mindestlohnes möglich machte. Durch spätere Anpassungen ging der NMW schnell in die Höhe. Trotzdem betrug er mit 5,52 Pfund pro Stunde 2008 nur gerade 38% des Durchschnittslohns respektive 47% des Medianlohns in Grossbritannien (Schulten 2009); die Zahlen der Low Pay Commission (2009) sind mit 50,7% des Medianlohns etwas optimistischer. Seit Oktober 2010 beträgt der minimale Stundensatz neu 5,93 Pfund. Der Mindestlohn findet für alle Arbeitnehmer/innen Anwendung, somit auch für Heim- und Leiharbeiter, Arbeitnehmende aus dem Ausland sowie britische Arbeitnehmer/innen, die vorübergehend im Ausland beschäftigt sind. Für junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren sowie für Arbeitnehmende ab 22 Jahren, die eine neue Tätigkeit bei einem neuen Arbeitgeber aufnehmen und eine anerkannte Ausbildung abgeschlossen haben, gilt der so genannte Einstiegssatz. Daneben gibt es noch den Jugendlohnsatz für 16 bis 17jährige und neu seit Oktober 2010 einen speziellen Satz für Lehrlinge. Im Gegensatz zu Frankreich gibt es in England keinen automatischen Anpassungsmechanismus. Die Höhe des NMW wird gemäss den Empfehlungen der Low Pay Commission vom Minister festgesetzt. Sowohl politisch als auch praktisch zählte die Einrichtung der Low Pay Commission zu den wichtigsten Entwicklungen bei der Umsetzung des NMW. Sie besteht jeweils aus drei Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeberorganisation, zwei führenden Wissenschaftlern und einem Vorsitzenden. Alle Mitglieder werden vom Minister ernannt, doch hat die Festsetzung des NMW viele Merkmale einer Verhandlung. Die Aufgaben der Kommission werden vom Minister festgelegt und beinhalten insbesondere jährliche Empfehlungen zur Mindestlohnhöhe sowie Untersuchungen über die Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohnes. Dabei ist die Low Pay Commission verpflichtet, in ihrem Bericht all17

50

Der Abdeckungsgrad im öffentlichen Sektor war zwar stets bedeutend höher, unterliegt jedoch demselben Abwärtstrend. Fasst man beide Sektoren zusammen, liegt der Abdeckungsgrad bei ca. 32%.

gemeine wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, Beschäftigungseffekte, Effekte auf die Inflation, Auswirkungen auf die Kosten und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sowie mögliche Folgen für den Staatshaushalt zu berücksichtigen. Der Minister gibt dann die jährlichen Mindestlohnerhöhungen jeweils sechs Monate vor ihrem Inkrafttreten bekannt, damit die Firmen auch genügen Zeit zur Anpassung ihrer Entlöhnungsschemata haben. Die Einrichtung dieses neuen Forums hat in Anbetracht der Tatsache, dass andere korporatistische Institutionen in Grossbritannien praktisch nicht vorhanden sind, zur Stärkung der beteiligten Spitzenorganisationen beigetragen. Die Tarifabdeckung im privaten Sektor hat sich seit Einführung des Mindestlohnes zwar bei gut 20% stabilisiert, eine erneute Ausdehnung ist bisher aber noch nicht wieder gelungen. Insgesamt hat eine starke Verschiebung der Tarifvereinbarungen von der Branchenauf die Firmenebene stattgefunden. Besonders in Sektoren, in denen der NMW einen direkten Einfluss hatte, zeigten sich Auswirkungen auf die Tarifverträge. So enthalten die Branchenverträge der Textil- und Bekleidungsindustrie und des Einzel18 handels inzwischen keine Mindestlohnvereinbarungen mehr. Einige Arbeitgeber kündigten geltende Branchentarifverträge sogar auf. Ihre Begründung: Es seien bereits per Gesetz wirksame Mindestlöhne festgesetzt worden. Dort wo die Tarifverträge fortgesetzt wurden, fanden Anpassungen an den Mindestlohn statt. So richtet sich in einigen Branchen die jährliche Erhöhung der Tariflöhne nach der Erhöhung des NMW für das betreffende Jahr oder der Tariflohn für Erwachsene gilt nicht mehr ab 18 sondern in Anlehnung an den gesetzlichen Mindestlohn erst ab 22 Jahren. Betrachtet man die Lohnverteilung, sind in Grossbritannien zwei Spitzen zu erkennen: Die eine liegt auf der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, die zweite liegt ca. 10% darüber. Dies lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass einige Unternehmen ihr Image als gute Arbeitgeber aufpolieren wollen und nicht mit minimum wage jobs in Verbindung gebracht werden möchten (Burgess 2006, Burgess und Usher 2003). Die Entwicklung der Tarifabdeckung und die Einführung des NMW waren in England hochgradig abhängig von der Ausrichtung der jeweils amtierenden Regierung. Erst der Wahlsieg der Labour Partei hat die Einführung eines Mindestlohnes und die Stärkung der Gewerkschaften per Gesetz ermöglicht. So ist es immerhin gelungen, das Niveau der Tarifabdeckung zu halten (wenn auch auf tiefem Stand), während die Gewerkschaftsmitgliederzahlen sogar leicht angestiegen sind. Die Spitzenverbände der Sozialpartnerschaft wurden durch die Errichtung der Low Pay Commission gestärkt. Das Lohnniveau der Bezüger tiefer Einkommen wurde durchaus positiv beeinflusst: Die Tariflöhne wurden auf das gesetzliche Minimum angehoben und gleichzeitig lässt sich beobachten, dass gewisse Firmen ihre Lohnstrukturen angehoben haben, um nicht als Mindestlohn-Arbeitgeber zu gelten. Auf besser qualifizier18

Auf Unternehmensebene werden weiterhin Verhandlungen über Lohnerhöhungen geführt (Burgess 2006).

51

te Arbeitskräfte hatte der NMW gemäss Burgess und Usher (2003: 32) jedoch keine erkennbaren Effekte.

Die BeNeLux-Staaten Nationale Mindestlöhne gehören in allen drei BeNeLux-Staaten seit langem zu den grundlegenden Regelinstrumenten einer modernen Arbeitswelt. Im Rahmen der nationalen Mindestlohnpolitik wurden entsprechende Regelungen, Verfahren und Institutionen entwickelt (z.B. kennen alle drei Länder die Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch den Staat), wobei die Festlegung des Anpassungsmechanismus im Mittelpunkt steht. In Belgien besteht eine allgemeine Indexierungspflicht der Löhne, die auch für den Mindestlohn gilt, so dass dieser jährlich an die Entwicklung der Preise angepasst wird. Zusätzlich haben die Arbeitgeber und Gewerkschaften im Rahmen der alle zwei Jahre stattfindenden branchenübergreifenden Tarifverhandlungen die Möglichkeit, den Mindestlohn über den Inflationsausgleich hinaus anzuheben. Dieser Mechanismus gibt den Arbeitgebern jedoch eine starke Veto-Macht, so dass es in der Regel nicht zu einer Erhöhung des Mindestlohnes über den Teuerungsausgleich hinaus kommt. In Luxemburg, dem europäischen Land mit dem 19 höchsten Mindestlohn , besteht ebenfalls eine allgemeine Indexierung der Löhne: Diese werden ab einer Teuerung von 2,5% automatisch angehoben. Darüber hinaus ist die Regierung verpflichtet, dem Parlament alle zwei Jahre einen Bericht über die allgemeine Entwicklung der Löhne vorzulegen und auf dessen Grundlage eine Empfehlung für eine zusätzliche Mindestlohnerhöhung abzugeben. In der Regel wird hierbei die durchschnittliche Entwicklung der Reallöhne zu Grunde gelegt, so dass sich seit den 1970er Jahren die durchschnittlichen Löhne und der Mindestlohn parallel entwickelt haben. Dadurch wird – ähnlich wie in Frankreich – eine Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung garantiert. Dieser sukzessiv steigende Mindestlohn wurde auch in das luxemburgische Entsendegesetz aufgenommen. Die EUKommission verklagte daraufhin das Grossherzogtum wegen diesem, ihrer Ansicht nach europarechtswidrigen, Entsendegesetz. Der EuGH gab der Kommission 20 Recht, mit der Begründung: „Was entsendende Unternehmen im Gastland einhalten müssen, sei abschliessend in der Entsenderichtlinie aufgezählt. Ein Mindestlohn der automatisch steigt, gehöre nicht dazu.“ (Böcklerimpuls 2009: 5). Luxemburg ist überdies das einzige Land, das neben einem niedrigeren Satz für Jugendliche unter 21 18 Jahren auch über einen speziellen Mindestlohn für qualifizierte Arbeitnehmer verfügt, der generell 20% über dem regulären Mindestlohn liegt. In den Niederlanden ist der Mindestlohn sowohl an die Preisentwicklung wie auch an die Entwick19

20 21

52

Der luxemburgische Mindestlohn ist absolut und gemessen in Kaufkraftparitäten der höchste Europas. Er entspricht jedoch nur 40.5% des Medianlohs (Schulten 2010). EuGH Urteil Urteil „Luxemburg" - C 319/06 vom 19. Juni 2008. Als qualifiziert gelten jene Arbeitnehmer/innen, welche über einen anerkannten Berufsabschluss verfügen und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung haben.

lung der Tariflöhne gekoppelt. Anders als in Belgien und Luxemburg hat in den Niederlanden die Regierung jedoch das Recht, nach oben und nach unten von dieser Regelung abzuweichen, so dass die Mindestlohnempfänger beträchtliche Kaufkraftverluste hinnehmen mussten. Ob bei der Erhöhung nach oben oder nach unten abgewichen wurde, hing im Wesentlichen von der politischen Couleur der Regierung ab. Eine weitere Besonderheit ist die sozialpolitische Funktion des Mindestlohnes in den Niederlanden: Seit Mitte der 1970er werden diverse Sozialleistungen an die Mindestlohnhöhe gekoppelt, so zum Beispiel die Höhe des Arbeitslosengelds. Damit haben Mindestlohnerhöhungen auch Konsequenzen für das nationale Haushaltsbudget. Während der reale Mindestlohn in den Niederlanden tendenziell gesunken ist, ist er in Luxemburg kontinuierlich angestiegen. In Belgien konnte er zwar real gehalten werden, blieb jedoch hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurück, da es den Gewerkschaften nicht gelungen ist, im Rahmen der Tarifverhandlungen Erhöhungen über die Teuerung hinaus durchzusetzen. So hat der Mindestlohn gemäss seiner realen Entwicklung auch eine unterschiedliche Reichweite in den drei Ländern: In den Niederlanden sind ca. 4% aller Beschäftigten Mindestlohnbezüger, in Belgien dürften es noch weniger sein (keine offiziellen Angaben), während in Luxemburg 12% der Arbeitnehmer/innen den Mindestlohn beziehen. Die jeweiligen Verfahren und Institutionen der nationalen Mindestlohnpolitik eröffnen den Tarifvertragsparteien unterschiedliche Einflussmöglichkeiten. Aus gewerkschaftlicher Sicht scheint das belgische System gewisse Vorzüge zu bieten, da die Gewerkschaften direkt an der Aushandlung der Mindestlöhne beteiligt werden. Dieses System gibt den Arbeitgebern jedoch gleichzeitig eine sehr starke Veto-Macht, die es ihnen erlaubt, die Erhöhung des Mindestlohns über die Preisentwicklung hinaus zu blockieren. Die Indexierung, wie in den Niederlanden, sichert dagegen regelmässige Erhöhungen (wenn man von der Möglichkeit, nach unten abzuweichen, einmal absieht). Zugleich kann dies eine gewisse De-Politisierung der Mindestlohndebatte mit sich bringen, wie dies in den Niederlande zu beobachten ist (nicht aber in Frankreich). Die Institutionalisierung regelmässiger politischer Anpassungsprozesse, wie in Luxemburg, bietet sich als dritter Weg an. Dadurch besteht immer wieder die Möglichkeit einer breiten politischen Auseinandersetzung, die auch den Gewerkschaften Chancen zur Mitsprache eröffnet. Was die Auswirkungen für die gut Qualifizierten betrifft, hat der gesetzliche Mindestlohn offenbar keine direkten Auswirkungen für diese Gruppe der Beschäftigten. Luxemburg bildet hierbei dank einem gesetzlichen Mindestlohn für Qualifizierte die grosse Ausnahme.

Spanien Der gesetzliche Mindestlohn Salario Mínimo Interprofesional (SMI) bewegt sich seit jeher auf tiefem Niveau. 1963 vom Franco-Regime eingeführt und propagiert als

53

Ausdehnung der sozialen Rechte, handelte es sich tatsächlich um ein Kontrollinstrument für die Entwicklung der Lohnkosten. Bereits in einer Studie aus den 1960ern wurde die Massnahme als völlig unwirksam für die Besserstellung der Arbeitnehmenden erkannt, da sie etwa bei einem Drittel unter dessen lag, was man zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Einkommens brauchte (Jané 1968 in: Recio 2006:129). Sein Anteil am Medianeinkommen ist von 43% (1980) auf 36% (1990) gesunken. Zur Jahrtausendwende ist der relative Mindestlohn wieder etwas gestiegen auf 43% (2000) und liegt seit 2007 bei 45% (OECD Minimum Wage Database). Die Regierung Zapatero hatte zum Amtsantritt angekündigt, den Mindestlohn 22 bis 2012 auf umgerechnet etwas mehr als 900 Euro anzuheben; denn real war seit 1980 ein kontinuierlicher Wertverlust zu verzeichnen. Langfristig soll der spanische Mindestlohn bei 60% des Durchschnittslohnes liegen (Schulten 2010). So hat die sozialistische Regierung seit ihrem Amtsantritt den Mindestlohn jedes Jahr über die Preissteigerungen hinaus erhöht. Dennoch befindet er sich heute mit umgerechnet 739 Euro monatlich (Stand 1.1.2010) auf einem so tiefen Niveau, das man als Armut bezeichnen kann. Die Bedeutung für die Lohnentwicklung ist daher noch immer gering. Vielmehr hat er eine Funktion als Referenzwert für immer mehr sozialpolitische Leistungen übernommen. Damit ist er wie in den Niederlande zu einem haushaltpolitischen Instrument geworden, was die Mindestlohnentwicklung stark beeinflusst hat. Der Bedeutungsverlust im Verhältnis zu den Durchschnittslöhnen lässt sich auch dadurch erklären, dass der gesetzliche Mindestlohn weitgehend einseitig von der Regierung bestimmt wird. Sie ist zwar zur Konsultation der Tarifvertragsparteien verpflichtet, doch schenkten die spanischen Regierungen den Forderungen der Gewerkschaften wenig Gehör. Die übrigen Löhne sind dagegen Ergebnis von Tarifverhandlungen, bei welchen sowohl die Produktivitäts- wie auch die Inflationssteigerung berücksichtigt werden. Obwohl die Tariflöhne in den letzten Jahren nur moderat erhöht wurden, sind die Durchschnittslöhne dennoch real gestiegen und haben sich damit weiter vom gesetzlichen Mindestlohn entfernt. Die geringe Bedeutung des spanischen Mindestlohns zeigen auch Schätzungen der Gewerkschaften, wonach 2004 nur ca. 1% der Arbeitnehmer einen solchen bezog. Die Tarifverhandlungen dominieren in der Lohnpolitik und die grosse Mehrheit der Tarifverträge wird für allgemeinverbindlich erklärt, so dass in der Praxis zwischen 80% und 90% der spanischen Beschäftigten in den Geltungsbereich eines Tarifvertrags fallen. Tatsächlich verfügt Spanien über einen der umfassendsten Mechanismen der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (Janssen und Galgóczi 2004: 319). In der Praxis ist der Mindestlohn somit nur in den Bereichen anwendbar, in denen kein Tarifvertrag existiert. Dies ist vor allem in jenen Branchen der Fall, wo keine organisierte

22

54

Die Umrechnung rührt daher, dass der monatlich festgelegte Mindestlohn in Spanien 14mal jährlich ausbezahlt wird.

Arbeitgeberstruktur besteht, die in der Lage wäre, einen Tarifvertrag auszuhandeln. Seit 1986 ist es jedoch möglich, Tarifverträge auszuweiten auf verwandte Branchen, in welchen überhaupt keine tarifvertraglichen Regelungen bestehen. Obwohl man dies nur vorsichtig umgesetzt hat, ist damit Reichweite von Tarifverträgen noch grösser geworden. Wegen des sehr tiefen Niveaus des Mindestlohnes, hat dieser keinen namhaften 23 Einfluss, weder auf die Lohngestaltung noch auf die Beschäftigung. Dieses Länderbeispiel zeigt, wie ein gesetzlicher Mindestlohn seine Bedeutung gänzlich verlieren kann. Äusserst kritisch zu beurteilen ist, dass der gesetzliche Mindestlohn in Spanien kaum zielführend ist, um das Problem der Tieflöhne zu bekämpfen. Durch seine sozialpolitische Funktion und Konsequenzen für die Staatsausgaben werden zudem negative Anreize zur Erhöhung des Mindestlohnes gesetzt.

Fazit: Die Institutionalisierung der Mindestlohnpolitik ist wegweisend Es ist jeweils eine Kombination von Faktoren, die das Ergebnis der Mindestlohnpolitik bestimmt, wobei die historische Entwicklung von besonderer Bedeutung ist. Von einem einmal eingeschlagenen Pfad abzuweichen ist in einem historisch gewachsenen Institutionengefüge nicht einfach. Dies hat dazu geführt, dass sich in Europa unterschiedliche Systeme zur Sicherung der Minimallöhne etabliert haben. Der offensichtlichste Unterschied liegt zwischen Ländern mit gesetzlichem nationalem Mindestlohn und solchen, die die Löhne einzig über Tarifverträge regeln. Doch die vorliegende Übersicht zeigt, dass es auch innerhalb dieser beiden Gruppen Unterschiede gibt: Dort beispielsweise, wo der gesetzliche Mindestlohn regelmässig auch über den Teuerungsausgleich hinaus angehoben wird und von seiner Höhe her für einen relativ hohen Prozentsatz der Beschäftigten von Bedeutung ist, finden wir tendenziell eine tiefere Tarifbindung und umgekehrt. Die Kausalität ist jedoch nicht klar, da eine rückläufige Tarifbindung häufig erst den Weg für einen nationalen Mindestlohn ebnet, wie dies in England geschehen ist. In diesem Sinne sind Tarifverträge und ein nationaler Mindestlohn durchaus subsidiäre Instrumente zur Sicherstellung eines angemessenen Lohnschutzes für alle Arbeitnehmenden. Nicht vergessen darf man, dass in Branchenverträgen neben dem Minimallohn auch weitere Mindeststandards sowie die Lohnstruktur festgelegt werden. Gesamtarbeitsverträgen kommt somit auch bei Einführung eines nationalen Mindestlohnes eine zentrale Bedeutung zu; der nationale Mindestlohn legt allerdings eine untere Grenze fest, die über alle Branchen hinweg einen sozial akzeptablen Minimallohn sicherstellt. Gerade die gegenwärtige Krise zeigt denn auch, wie Branchenvereinbarungen unter Druck geraten können: In Griechenland und Spanien wird der Geltungsbereich der GAV ausgehöhlt, indem Firmen die Möglichkeit haben, GAV-Löhne nicht mehr für alle Arbeit23

Auch als 1998 der Tarif für Jugendliche abgeschafft wurde, stellten sich keine negativen Beschäftigungseffekte für diese Gruppe ein.

55

nehmenden anzuwenden und insbesondere junge Arbeitnehmende unter der Minimallohngrenze zu entlöhnen. Wichtig auf institutioneller Ebene sind die vorgegebenen Schranken und die Rolle der Regierung bei der Festlegung des Mindestlohnes. Liegt dessen Festlegung allein in der Hand der Regierung und dominieren primär politische Interessen die Entscheidung, fällt der Mindestlohn in der Regel äusserst tief aus. Zudem wird seine Entwicklung auch von der politischen Couleur der amtierenden Regierung abhängen. In Spanien und den Niederlanden, wo eine Erhöhung des Mindestlohnes immer auch eine Erhöhung der Sozialausgaben zur Folge hat, war dies zu beobachten. Eine solche Koppelung der Leistungen der Sozialversicherungen an die Höhe des Mindestlohnes wirkt sich offenbar besonders ungünstig auf dessen Entwicklung aus. Dass je nach Festlegungsart des Mindestlohnes sogar eine Senkung desselben möglich ist, zeigt sich aktuell in Irland: Dort hat das Parlament im Rahmen eines umfassenden Sparprogramms die Senkung des Mindestlohnes um einen Euro auf 7.65 Euro beschlossen. In Frankreich dagegen wurde der Mindestlohn von der Regierung in der Vergangenheit regelmässig über das gesetzliche Mindestmass hinaus erhöht, 24 da der Mindestlohn als Instrument zur Profilierung der Regierung diente. Beide Fälle zeigen, wie bei fehlender Institutionalisierung des Anpassungsmechanismus der Mindestlohn zum Spielball der Politik werden kann. Insbesondere wenn der Mindestlohn real absinkt, bedeutet dies, dass er auf dem Arbeitsmarkt an Bedeutung verliert und keinen wirksamen Lohnschutz mehr entfalten kann. Anders sieht es aus in Ländern, in welchen Mindestlöhne nur über Verhandlungen der Tarifparteien festgelegt werden – beispielsweise in Österreich oder Skandinavien. Die Rolle des Staates beschränkt sich dort darauf, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Für den Erfolg dieses Modells sind allerdings eine gewisse Verhandlungstradition sowie eine ganzheitliche, konzertierte Politik aller Akteure nötig. Belgien liefert ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Denn wird dann der allgemeine, über alle Branchen gültige gesetzliche Mindestlohn allein durch Tarifparteien ausgehandelt, kann dies bei einer starken Veto-Macht der Arbeitgeberseite eine Einigung und damit eine Erhöhung des Mindestlohnes über den Teuerungsausgleich hinaus verhindern. Eine regelmässig festgelegte Berichterstattung, bei welcher diverse Aspekte rund um den Mindestlohn untersucht werden, sichert offenbar eine angemessene Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohnes. Die Low Pay Commission in Grossbritannien gibt ein gutes Beispiel einer Institutionalisierung der Mindestlohnentwicklung ab, da hier sowohl eine wissenschaftliche Evaluation vorgenommen wird und auch eine Art unterstütze Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stattfinden, die von der Regierung abgesegnet werden. Durch die historische Entwicklung, die auf tiefem Niveau startete und sein erst zehnjähriges Bestehen ist er (noch?) ver24

Sarkozy bildet hierbei – wie im Text erwähnt – die Ausnahme.

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gleichsweise tief. Luxemburg scheint unter den Ländern mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn insgesamt am besten abzuschneiden, da hier erstens durch die generelle Indexierung der Löhne und die Orientierung an der allgemeinen Lohnentwicklung sich ein hoher Mindestlohn etablieren konnte (bei vergleichsweise tiefer Arbeitslosigkeit und einem hohen Anteil ausländischer Arbeitnehmer/innen), und weil zweitens ein gesetzlicher Mindestlohn für Qualifizierte existiert. Weiter ist der Mindestlohn nicht so sehr abhängig vom Wohlwollen und der Couleur der amtierenden Regierungspartei, wie dies in (Zweiparteien)Systemen mit Mehrheitswahlrecht wie Grossbritannien, Spanien oder auch Frankreich der Fall ist.

57

Anhang Tabelle 1: Länder mit gesetzlichem Mindestlohn

Höhe in % des Durchschnitsslohnes1) Höhe in % des Medianlohnes1) Bezüger in % aller Beschäftigten 2) Tarifvertragsabdeckung in % der Beschäftigten, privater Sektor 2) Satz für Jugendliche 2)

Satz für Qualifizierte 2)

gewerkschaftlicher Organisationsgrad (2008) 5) Kopplung an soziale Sicherung

Frankreich

Grossbritannien

Belgien

Niederlande

Luxemburg

Spanien

50%

38%

43%

38%

33%

35%

63%

46%

51%

43%

41%

45%

14%

5% 3)

< 4%

4%

12%

ca. 1%

90%

20%

90%

85%

60%

JA (< 18)

JA (< 22; 1718; Lehrlingssatz)

JA (< 21)

JA (< 23)

JA (< 18)

NEIN (nur bis 1998)

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

JA

NEIN

8%

27%

52%

19%

37%

14%

NEIN

NEIN

NEIN

JA

NEIN

JA

80-90% 4)

1)

OECD: Minimum Wage Data Base. Schulten, Bispinck, Schäfer (Hrsg.) (2006). Low Pay Commission Report 2009. 4) Janssen und Galgóczi (Hrsg.) (2004). 5) OECD: Trade Union Density http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=UN_DEN 2) 3)

Tabelle 2: Länder mit Tariflöhnen, ohne gesetzlichen Mindestlohn Österreich Schweden Dänemark Norwegen Tarifvertragsabdeckung in % der Beschäftigten, privater Sektor (2009)1) Gewerkschaftlicher Organisationsgrad (2008) 4)

98%

81%

83%

83%

29%

68%

68%

53%

1) European Industrial Relations Observatory, http://www.eurofound.europa.eu/eiro/country_index.htm 2) OECD: Trade Union Density, http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=UN_DEN

58

Tabelle 3: Entwicklung der Mindestlöhne im Vergleich zum Median 1980

1990

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

Belgien

53%

54%

53%

52%

52%

51%

51%

51%

50%

50%

51%

Frankreich

57%

59%

59%

60%

60%

60%

61%

62%

63%

63%

63%

Luxemburg

45%

49%

40%

40%

40%

41%

41%

41%

41%

41%

40%

Niederlande

63%

53%

47%

47%

47%

46%

45%

44%

44%

43%

43%

Spanien

43%

36%

43%

43%

42%

41%

42%

44%

44%

45%

45%



42%

41%

40%

43%

42%

43%

45%

45%

47%

46%

Grossbritannien

Quelle: OECD http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=RHMW

Tabelle 4: Anpassungsmechanismus Frankreich

Grossbritannien

Belgien

Niederlande Luxemburg

Spanien

Österreich Skandinavien

Anpassung an die Preisentwicklung, sobald diese >2%. Unabhängig davon immer zum 1.7. per Regierungsdekret. Davor Konsultation der tripartiten Kommission für Tarifverhandlungen, die neben der Preisentwicklung auch die Entwicklung der Durchschnittslöhne berücksichtigt. Der reale Wertzuwachs des Mindestlohnes soll mindestens 50% des realen Wertzuwachses des Durchschnittslohnes betragen. Darüber hinaus Erhöhungen im freien Ermessen der Regierung möglich. Hiervon wurde häufig Gebrauch gemacht. Die Low Pay Commission, bestehend aus jeweils 3 Vertretern der AG und AN sowie 2 Wissenschaftlern und einem Vorsitzenden, gibt jährlich Empfehlungen zur Mindestlohnhöhe an den Minister. Dabei ist sie verpflichtet, in ihrem Bericht allgemeine wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge zu berücksichtigen. Indexierung aller Löhne, so dass automatisch die Anpassung des Mindestlohns an die Preisentwicklung erfolgt. Zusätzlich: Alle 2 Jahre branchenübergreifende Tarifverhandlungen, wo der Mindestlohn ebenfalls angehoben werden kann. Hierbei jedoch starke Veto-Macht der Arbeitgeber. Indexierung des Mindestlohnes (Mischindex der Preis- und Tariflohnentwicklung). Die Regierung hat aber die Möglichkeit, nach oben oder unten (!) davon abzuweichen. Alle Löhne unterliegen der Indexierung und werden ab einer Teuerung von 2.5% automatisch angehoben. Darüber hinaus ist die Regierung verpflichtet, dem Parlament alle 2 Jahre einen Bericht über die allgemeine Entwicklung der Löhne vorzulegen und auf dessen Grundlage eine Empfehlung für eine Mindestlohnerhöhung abzugeben. I.d.R. wird hierbei die durchschnittliche Entwicklung der Reallöhne zu Grunde gelegt. Nach Anhörung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und unter Berücksichtigung der Preis- und Produktivitätsentwicklung sowie der allg. konjunkturellen Lage soll der Mindestlohn einmal pro Jahr von der Regierung angepasst werden. Diese verfügt allerdings über einen weitgehend autonomen Gestaltungsspielraum. Regelmässige Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Regelmässige Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern.

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III. Wirkung von Mindestlöhnen auf Beschäftigung und Einkommensverteilung 1

Einleitung

Die Wirkung von Mindestlöhnen beschäftigt Ökonomen seit langem. Neuere empirische Analysen zu den Auswirkungen von Mindestlöhnen auf die Beschäftigung haben in den 1990er Jahren zu einem Paradigmenwechsel geführt. Auslöser dafür war die Arbeit von Card und Kruger (1994), die – entgegen den damaligen theoretischen Annahmen – nach einer Mindestlohnerhöhung einen positiven Beschäftigungseffekt in der Fast-Food Branche aufzeigte. Angespornt von diesem unerwarteten Resultat folgten viele weitere Studien mit aktuelleren Daten und verbesserten statistischen Methoden. Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die tatsächlichen Auswirkungen eines Mindestlohnes alles andere als eindeutig sind und dass die Effekte von Mindestlöhnen auf die Arbeitslosigkeit weitgehend neutral (weder positiv noch negativ) sind. Die Lohnverteilung wird erwartungsgemäss im untersten Bereich angehoben. Im Folgenden werden theoretische Überlegungen zu Fragen rund um die Auswirkungen von Mindestlöhnen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sowie auf Lohnstruktur, (Weiter)Bildung und Unternehmensstrategien kurz diskutiert. Darauf folgt ein Überblick über die neuere empirische Forschungsliteratur, die sich diesen Themen widmet: Vergleichende Länderpanels, Länderstudien und Branchenstudien fokussieren vor allem auf die Auswirkungen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, dann folgt die Behandlung der empirischen Evidenz für marktmächtige Unternehmen sowie der Anpassungsstrategien auf Firmenseite. Den Abschluss bilden die Beiträge zu Weiterbildung und Einkommensverteilung.

62

2

Theoretische Grundlagen

2.1. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Aus theoretischer Sicht ist die Wirkung eines Mindestlohnes auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit nicht ganz eindeutig. Das Ergebnis ist insbesondere auch abhängig von den Annahmen, die zu Beginn getroffen werden. Bevor wir uns der theoretischen Argumentation widmen, ist an dieser Stelle jedoch erst eine kurze Begriffsklä25 rung zu Beschäftigung und Arbeitslosigkeit angebracht: Als arbeitslos werden jene Personen bezeichnet und in den Statistiken erfasst, welche keine Stelle haben, jedoch eine suchen. In der Schweiz sind dies die arbeitslos gemeldeten Personen und ein nicht unbeachtlicher Teil der ausgesteuerten. Solange diese Personen gerne arbeiten würden und eine Stelle suchen, stehen sie dem Arbeitsmarkt als Arbeitskräfte zur Verfügung. Im Vergleich dazu werden Personen, welche aus irgendeinem Grund nicht arbeiten möchten, nicht als arbeitslos gezählt. Im klassischen Modell wird diese Form daher auch als freiwillige Arbeitslosigkeit 26 bezeichnet. Mit der Beschäftigung ist der tatsächlich geleistete Arbeitsinput in einer Volkswirtschaft gemeint. Dieser kann absolut gemessen werden, zum Beispiel durch die innerhalb einer Periode geleisteten Arbeitsstunden (Arbeitsvolumen), oder durch die (periodendurchschnittliche) Zahl der Beschäftigten, d.h. die effektiv Erwerbstätigen. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit stellen zusammen das gesamte verfügbare Angebot an Arbeitsinput dar. Diese Summe bildet damit den potentiellen maximalen Arbeitsaufwand, den eine Volkswirtschaft innerhalb einer Periode nutzen kann. Ein gebräuchliches Mass für diese Grösse bildet die Erwerbsquote: Sie stellt die Summe von Arbeitslosen und beschäftigten Personen in Relation zur Bevölkerung im Erwerbsalter. Die Arbeitslosenquote beschreibt das Verhältnis der Anzahl arbeitslos gemeldeter Personen zu allen Personen, welche auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft anbieten, also die Summe aus Erwerbstätigen und Arbeitslosen. Ein Mindestlohn mit negativen Auswirkungen: Der neoklassische Modellfall Das Standardmodell in der Volkswirtschaftslehre betrachtet den Arbeitsmarkt wie einen gewöhnlichen Gütermarkt: Angebot und Nachfrage treffen aufeinander, und dabei werde Preise und Mengen festgesetzt. Der Preis, der für die eingesetzte Arbeit bezahlt wird, ist der Lohn der Arbeitnehmenden. Die Menge entspricht den eingestellten Personen. Wenn die Marktkräfte frei spielen können, werden sich die Löhne 25

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Zur Erinnerung: Die Netto-Beschäftigungsquote ergibt sich aus der Anzahl Erwerbstätiger im Verhältnis zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (z.B. 18 Jahre bis Rentenalter). Daneben gibt es noch friktionelle Arbeitslosigkeit aufgrund von Such- und MatchingProzessen, welche definitionsgemäss von vorübergehender Natur ist.

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so anpassen, dass am Ende alle arbeitswilligen Personen eingestellt werden. Zentral für dieses Ergebnis ist jedoch wie in allen neoklassischen Marktmodellen die Annahme vollständiger Konkurrenz. Zudem wird angenommen, alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber verfügen über alle notwendigen Informationen, insbesondere wissen alle, wer zu welchem Lohn bereit ist welche Arbeit zu machen. Der Einfachheit halber wird ausserdem angenommen, alle Arbeitnehmenden wären identisch (diese Eigenschaft wird auch als „Homogenität des Arbeitsangebots“ bezeichnet). In diesem Rahmen führt die Einführung eines Mindestlohns, der über dem Marktlohn liegt, zu Arbeitslosigkeit: Die Arbeitgeber fragen zum Mindestlohn weniger Arbeitskräfte nach, sodass bisher Beschäftigte arbeitslos werden. Auf der anderen Seite sind die Arbeitnehmenden wegen des höheren Lohnes gewillt mehr zu arbeiten und ihr Arbeitsangebot steigt. Doch der Arbeitsmarkt absorbiert dieses zusätzliche Angebot zum Mindestlohn nicht, sodass die neu hinzukommenden Arbeitswilligen ebenfalls arbeitslos sind. Arbeitsangebot (die Arbeitnehmerseite!) und – nachfrage (die Arbeitgeberseite) driften also auseinander, der Arbeitsmarkt wird durch den Mindestlohn rationiert, und es kommt zu Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsrückgang. Abbildung 1: Mindestlohn im neoklassischen Modell des Arbeitsmarktes Reallohn Angebot

Mindestlohn Marktlohn

Nachfrage An (Arbeitsnachfrage)

G

Aa (Arbeitsangebot)

Arbeitskräfte

Abbildung 1: Die Einführung eines Mindestlohnes bewirkt im neoklassischen Modell eines kompetitiven Arbeitsmarktes, dass die Beschäftigung zurückgeht und dass gleichzeitig mehr Arbeit angeboten wird als im Gleichgewicht (Aa>G). Es kommt zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit im Ausmass Aa-An. In einer offenen Volkswirtschaft, welche auch Arbeitskräfte aus dem umliegenden Ausland beschäftigt, würden sich solche negativen Beschäftigungseffekte und Aus-

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wirkungen auf die Arbeitslosigkeit jedoch nicht vollumfänglich im Inland bemerkbar machen. Der Grund liegt darin, dass ausländische Arbeitskräfte ohne dauerhafte Aufenthaltsbewilligung sowie Grenzgänger in ihren Ursprungsländern als arbeitslos gemeldet wären. Ein allfälliger Anstieg der Arbeitslosigkeit würde somit quasi exportiert. Lockert man nun die strengen Annahmen der neoklassischen Sichtweise, insbesondere jene der vollkommenen Konkurrenz und vollständiger Information auf dem Arbeitsmarkt sowie Homogenität des Faktors Arbeit und der Arbeitsplätze, verändert sich die Ausgangslage. Dann sind weitere Ursachen der Verschiebung von Arbeitsangebot und Nachfrage zu berücksichtigen. Nur ein relevanter Arbeitgeber und viele Arbeitnehmer: Der Monopsonfall Das Ergebnis der obigen Analyse ändert sich beispielsweise grundlegend, wenn man die Annahme der vollständigen Konkurrenz unter den Arbeitgebern aufgibt. Der freie Wettbewerb kann beispielsweise dann nicht spielen, wenn einer grossen Zahl von Arbeitnehmern nur eine geringe Zahl von Arbeitgebern oder sogar nur ein Arbeitgeber gegenübersteht. Vorstellbar ist dies beispielsweise, wenn es in einer bestimmten Region nur einen nennenswerten Arbeitgeber gibt, oder wenn es für einen bestimmten Berufszweig nur wenige Arbeitgeber gibt. In einer solchen Situation 27 entsteht ein Monopson (ähnlich einem Monopol ). Gründe dafür gibt es verschiedene, so wird beispielsweise unterschieden in lokale und regionale, in qualifikatorische oder in kartellistische Monopsone. Die Arbeitgeberseite hat somit eine gewisse Marktmacht, welche sie zu ihren eigenen Gunsten ausnutzen kann. Der Lohn wird dann relativ einseitig von der Arbeitgeberseite bestimmt und nicht mehr über das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Der Monopsonist wählt nun den Lohn und die Anzahl einzustellender Arbeitnehmer so, dass er seinen Gewinn maximiert. Man kann zeigen, dass dadurch Lohn und Beschäftigung unter den Marktlohn fallen, der sich bei vollständiger Konkurrenz ergeben würde (vgl. beispielsweise Borjas 2007: S.199 ff.). In diesem Fall führt ein verbindlicher Mindestlohn dazu, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt und dass mehr Leute eingestellt werden, sodass die Beschäftigung steigt. Im Monopsonfall steigt die Beschäftigung sogar dann über das ursprüngliche Niveau an, wenn der Mindestlohn über dem Konkurrenzmarktgleichgewicht liegt. Allerdings entsteht dann auch unfreiwillige Arbeitslosigkeit, da zum nun hohen Mindestlohn mehr Personen bereit sind zu arbeiten als dass tatsächlich vom Unternehmen nachgefragt werden.

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Während man von einem Monopol spricht, wenn es nur einen Anbieter eines Produktes oder einer Dienstleistung gibt, gibt es im Monopsonfall nur einen Nachfrager: Es existiert in einem Bereich oder einer Region nur ein Arbeitgeber, der Arbeitskräfte nachfragt.

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Arbeitnehmende können unterschiedlich reagieren: Substitutionsund Einkommenseffekte Auch auf der Seite der Arbeitnehmenden, die Arbeit suchen, führen veränderte Annahmen im theoretischen Modell zu anderen Ergebnissen. Entgegen den Annahmen im Standardmodell, wo ein Mindestlohn Anreize setzt, um mehr zu arbeiten, kann ein solcher eben auch zu einer Reduktion des Arbeitsangebots führen, beispielsweise wenn Geringverdiener einen Zweitjob aufgeben, weil der Verdienst aus ihrer Haupttätigkeit gestiegen ist. Auch wenn es an und für sich finanziell lohnender ist, bei hohen Löhnen mehr zu arbeiten, ist ab einem gewissen Punkt das Einkommen genügend hoch, sodass man es sich leisten kann, insgesamt weniger zu arbeiten. In der Sprache der Ökonomen überwiegt in diesem Fall ab einer gewissen Einkommenshöhe der Einkommenseffekt den Substitutionseffekt. Und für Jugendliche kann es sich bei Existenz eines Mindestlohnes lohnen, eine weiterführende Ausbildung aufzunehmen und während dieser Zeit nur nebenbei einer Beschäftigung nachzugehen, anstatt auf Dauer unqualifizierte Arbeit zu verrichten. So ist es möglich, dass die Beschäftigung bestimmter Gruppen, welche bisher gearbeitet haben, zurückgeht, ohne dass dabei die Arbeitslosigkeit steigt. Ein Mindestlohn kann weiter einen positiven Beschäftigungseffekt haben, indem Personen, welche sich aus dem Erwerbsprozess zurückgezogen haben, aufgrund der Aussicht auf einen stabilen, höheren Lohn wieder eine Erwerbsarbeit aufnehmen und beispielsweise die Sozialhilfe verlassen. Die Beschäftigung steigt, die Erwerbslosigkeit geht zurück.

2.2. Margen und Innovationstätigkeit der Unternehmen Über Mindestlöhne kann Lohndumping (d.h. einzelne Arbeitgeber „drücken“ die Löhne unter das Marktgleichgewicht) verhindert werden. Mindestlöhne haben unter diesen Bedingungen einzig tiefere Margen bei den Arbeitgebern zur Folge. Dies bedeutet letztlich, dass das Überleben der Unternehmen im Wettbewerb über Produkt- und Prozessinnovationen gesichert werden muss und nicht mehr über möglichst günstige Arbeitskräfte. Ein solcher Effekt von Mindestlöhnen ist aus Effizienzüberlegungen und aus wohlfahrtstheoretischer Sicht äusserst wünschenswert. Das Umfeld im Produktmarkt bestimmt zu einem grossen Teil ebenfalls mit, wie die Firmen sich an den Mindestlohn anpassen. Insbesondere sind die Produktmarktbedingungen entscheidend dafür, ob die Kostensteigerungen über die Preise an die Konsumenten weiter gegeben werden können oder nicht. Bei Produkten, welche starkem internationalem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, sind Preissteigerungen keine Option, sodass in diesem Umfeld stärker auf Qualitätssteigerung und Prozessoptimierung gesetzt werden muss. Solche Anpassungsstrategien dürften des Weiteren auch Bildungsinvestitionen in die Belegschaft nach sich ziehen.

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2.3. Anreize zum Outsourcing geringqualifizierter Tätigkeiten Eng mit den vorangegangenen Überlegungen verknüpft sind die Auswirkungen eines Mindestlohnes auf die Entscheidung der Unternehmen, einzelne Tätigkeiten auszulagern. Existiert ein flächendeckender nationaler Mindestlohn, lohnt es sich beispielsweise kaum mehr, gewisse unternehmensbezogene Dienstleistungen auszulagern, da keine Einsparungen über tiefere Löhne erzielt werden können. In Bezug auf einen flächendeckenden Mindestlohn muss an dieser Stelle jedoch zwischen zwei Formen von Auslagerung unterschieden werden: die Auslagerung in andere Länder, typischerweise in der Produktion, und die Auslagerung von unternehmensbezogenen Dienstleistungen, wie beispielsweise die gewerbliche Reinigung. Im ersten Fall kann ein nationaler Mindestlohn dazu führen, dass die Auslagerung in Niedriglohnländer ins Auge gefasst wird. Dabei verschiebt sich das Problem der Tieflöhne einfach von einer Region der Welt in eine andere. Prominentes Beispiel hierfür ist die Textilindustrie, wo der Kampf um existenzsichernde Löhne heute vor allem in den Produktionsländern Südostasiens ausgetragen wird. Anders verhält es sich dagegen bei ortsgebundenen unternehmensbezogenen Dienstleistungen wie der gewerblichen Reinigung: Ein relativ hoher nationaler Mindestlohn würde die Auslagerung dieser Beschäftigten kaum noch attraktiv machen, da nicht einfach immer tiefere Löhne für geringqualifizierte Arbeit bezahlt werden könnten. Bei Existenz eines GAV würden die betroffenen Beschäftigten zudem weiterhin in dessen Geltungsbereich fallen, womit ihnen allgemein bessere und insbesondere auch dieselben Arbeitsbedingungen wie ihren Kolleginnen und Kollegen garantiert wären. Weiter kann man sich die Frage stellen, ob es nicht auch Anreize gäbe, bei der Einführung eines genügend hohen nationalen Mindestlohnes einmal ausgegliederte Tätigkeiten wieder einzugliedern. Ein Vorteil für die Firmen wäre, dass sie damit bestimmte Dienstleistungen nicht mehr teuer einzukaufen bräuchten. Bei einer erneuten Eingliederung gewisser Dienstleistungen wie beispielsweise der Reinigung oder der betriebseigenen Verpflegung eröffnet sich zudem ein erneuter Gestaltungsspielraum bei der Entlöhnung dieser Bereiche. Dabei sind zwei gegenläufige Entwicklungen denkbar. Einerseits ist es möglich, dass der in diversen GAV festgeschriebene Minimallohn innerhalb einer Unternehmung in Zukunft auch für die neu eingegliederten Beschäftigten Gültigkeit hätte, was für diese eine deutlich Verbesserung bedeuten würde. Gerade wenn die in GAV festgeschriebenen Minimallöhne aus 28 Imagegründen hoch angesetzt sind, ist diese Überlegung plausibel. Andererseits ist es auch denkbar, dass bei einer allfälligen erneuten Eingliederung gewisser niedrigqualifizierter, arbeitsintensiver Tätigkeiten die Unternehmen zumindest versuchen könnten, die Minimallöhne in den GAV nach unten zu drücken. 28

Solche Minimallöhne werden nicht zuletzt auch aus Imagegründen in den GAV festgeschrieben. Mögliche Beispiele sind: Swisscom (45‘500 Franken/Jahr), Banken (50‘000 Franken/Jahr), Schweizerische Post (44‘071 Franken/Jahr).

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Eine erneute Eingliederung ehemals ausgelagerter Tätigkeiten ist selbst natürlich auch mit Personal- und Organisationskosten verbunden. Es ist schwierig abzuwägen, wie stark solche Kosten bei den Kalkülen der Unternehmen ins Gewicht fallen würden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass bei einer direkten Anstellung im Unternehmen die Fluktuation geringer ausfällt, als bei einer Anstellung eines Subunternehmens wie beispielsweise bei einer Reinigungs- oder Cateringfirma. Geringere Fluktuation wiederum wirkt sich günstig auf die Kosten und auf die Qualität der Arbeit aus.

2.4. Aus- und Weiterbildung Becker gehört zu den Mitbegründern der Bildungsökonomie und der Humankapitaltheorie (1964). Er geht von der Annahme perfekter Märkte aus, welche durch vollständige Konkurrenz und umfassende Informiertheit aller Arbeitnehmenden und Arbeitgeber charakterisiert sind (es handelt sich also um kompetitive und friktionslose Märkte). Unter Gültigkeit dieser Annahmen zieht er den Schluss, dass ein Min29 destlohn allgemeine Bildungsinvestitionen für die betroffenen Arbeitnehmenden reduziert. Denn: Die allgemeine Weiterbildung am Arbeitsplatz wird unter diesen Rahmenbedingungen dadurch finanziert, dass die Arbeitnehmenden für eine gewisse Zeit Löhne, die unter ihrer Produktivität liegen, in Kauf nehmen und so indirekt die Weiterbildung mitfinanzieren. Der Grund liegt darin, dass durch die allgemeine Weiterbildungsmassnahme ihre zukünftige Produktivität gesteigert wird – und zwar bei allen Arbeitgebern auf dem Markt. Typisches Beispiel für solche allgemeine Weiterbildungsmassnahmen sind Sprachkurse. Finanziert die Firma diese vollumfänglich, besteht die Gefahr, dass der oder die Angestellte nach erfolgreichem Abschluss der Weiterbildung zu einem anderen Arbeitgeber wechselt, ohne dass jene Firma, welche die Ausbildung finanziert hat, je einen Nutzen aus dieser Investition in ihre Beschäftigte ziehen könnte. Wird ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, sind solche Lohnzurückhaltungen nicht mehr möglich, wodurch die Firmen nicht mehr in die allgemeine Weiterbildung ihrer Mitarbeiter am Arbeitsplatz investieren würden. Wenn die Arbeitnehmenden diese Bildungsinvestitionen nicht selbst finanzieren können, resultiert unter den getroffenen Annahmen ein Rückgang der allgemeinen Weiterbildung. Ähnlich wie die Argumentation in Abschnitt 2.1 in diesem Kapitel, basieren obige Argumente auf äusserst strikten und teilweise wenig realistischen Annahmen. So sind vollständige Information über die Produktivität der Arbeitnehmenden oder Abwesenheit von Markt- und damit Lohnsetzungsmacht der Arbeitgeberseite je nach

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Es gilt zwischen allgemeiner und firmenspezifischer Weiterbildung zu unterscheiden: Erstere vermittelt allgemein einsetzbare Fähigkeiten, während im zweiten Fall nur spezifisches Wissen für den gegenwärtigen Arbeitsplatz erlernt wird. Firmenspezifische Weiterbildung wird in jedem Fall von der Firma finanziert.

Kontext in Frage zu stellen. Acemoglu und Pischke (2001) stellen deshalb ein alternatives Modell vor, bei welchem Friktionen auf dem Arbeitsmarkt (ähnlich der Monopsonsituation) dazu führen, dass nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes mehr in die Weiterbildung der Mitarbeiter/innen investiert wird. Dies deshalb, weil die Firmen ein Interesse haben, die Produktivität ihrer Mitarbeiter zu erhöhen und Ineffizienzen zu beseitigen. Mindestlöhne haben im Weiteren Auswirkungen auf die individuellen Entscheidungen zur Aus- und Weiterbildung. Bei der Entscheidung zu einer bestimmten Ausbildung sichert ein Mindestlohn der betreffenden Person eine minimale Mindestrendite der Bildung zu. Dies ist besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und für Personen, welche mit geringeren Fähigkeiten ausgestattet sind, wichtig: Weiss man, dass Mühen und Anstrengungen einer Ausbildung später belohnt werden, nimmt man diese auch eher in Kauf.

2.5. Einkommensverteilung In Bezug auf die Verteilung der Löhne ist die Wirkung von griffigen Mindestlöhnen theoretisch eindeutig: Durch Mindestlöhne lässt sich ein Absinken der Löhne verhindern, was zu einer ausgeglicheneren Verteilung der Löhne insbesondere am unteren Ende führt. Die Lohnschere innerhalb einer Gesellschaft kann sich damit nur noch nach oben öffnen, nach unten werden klare Grenzen gesetzt. Zudem werden Einkommensunterschiede zwischen einzelnen Gruppen, z.B. zwischen Männern und Frauen oder zwischen Einwanderern und Ausländern, verringert (Bosch 2007: 425). Die Auswirkungen auf das tatsächlich verfügbare Einkommen hängen jedoch auch von der Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems ab. Wird dieses nicht angepasst, ist es beispielsweise möglich, dass Personen mit tiefem Einkommen durch die Einführung eines Mindestlohnes in eine höhere Steuerklasse rutschen und Ansprüche auf Transferleistungen verlieren. Es sollte also verhindert werden, dass das tatsächlich verfügbare Einkommen geringer ausfällt als vor der Einführung oder einer Erhöhung des Mindestlohnes. Was die Armutsproblematik betrifft, muss berücksichtigt werden, dass tiefe Löhne nur eines unter vielen Armutsrisiken darstellen, weitere gefährdende Faktoren für die Einkommenssituation eines Haushaltes sind beispielsweise Scheidung und Kinder oder prekäre Arbeitsverhältnisse. Flächendeckende Mindestlöhne haben zudem auch einen gesellschaftlichen stabilisierenden Effekt: Personen, die mehr als nur ein geringfügiges Erwerbseinkommen aufweisen und deshalb beispielsweise Steuern entrichten und nicht mehr sozialhilfeabhängig sind, werden Schritt für Schritt stärker in die Gesellschaft eingebunden und partizipieren auch mehr an demokratischen Entscheidfindungen.

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2.6. Gesamtwirtschaftliche Effekte Nach der nachfrageorientierten Kaufkrafttheorie steigert ein Mindestlohn den Gesamtkonsum der Volkswirtschaft. Dies liegt daran, dass Lohnempfänger im Niedriglohnbereich eine geringe Sparquote haben und so zusätzliches Einkommen direkt in den Konsum fliesst. Voraussetzung für einen positiven Nettoeffekt für die Wirtschaft ist, dass der Nachfrageeffekt grösser ist als die Preissteigerungen infolge der höheren Löhne. Kritiker bezweifeln dies: Die Effekte nachfragesteuernder Massnahmen würden im Gegensatz zur Preissteigerung erst mit grosser zeitlicher Verzögerung wirksam. So müsse in der kurzen Frist mit Sparmassnahmen und Entlassungen seitens der Firmen gerechnet werden. Wenn dann die Erhöhung der Niedriglöhne zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich reale Nachfrageeffekte hervorrufe, werde sich die kumulierte Nachfrage nicht verändern. Welcher Effekt dominiert, muss empirisch festgestellt werden.

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Empirische Studien

3.1. Beschäftigungseffekte in vergleichenden Länderpanel Über so genannte Länderpanel, d.h. Vergleiche der Entwicklung in verschiedenen Ländern über verschiedene Zeiträume, können die Entwicklung der Mindestlohnhöhe einerseits und die der Arbeitslosigkeit beziehungsweise der Beschäftigung andererseits verglichen werden. Verschiedene neuere OECD-Publikationen untersuchen so den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitslosigkeit. Gianella et al. (2009) untersuchen in 19 OECD Ländern die Auswirkung verschiedener Institutionen auf die Sockelarbeitslosigkeit (NAIRU, „Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment“). Sie finden keinen Einfluss der Mindestlöhne, auch nicht in Wechselwirkung mit anderen Faktoren (Gianella et al. 2009, Tabelle 2). Auch Bassanini und Duval (2006) kommen zum selben Ergebnis. Die Wirkung von Mindestlöhnen auf die allgemeine Arbeitslosigkeit ist neutral. Auch auf die Beschäftigung junger Personen hat der Mindestlohn gemäss genannter Studie keine negative Auswirkung, in gewissen Spezifikationen wirkt er sogar positiv. Antonova und Tudoreanu (2009) finden mittels „Difference-in-Differences“-Schätzung ebenfalls keine eindeutigen Einflüsse von Mindestlohnerhöhungen: Während die Erhöhung des Mindestlohnes in Vermont die Beschäftigung der Jugendlichen unter 23 Jahren reduzierte, fanden sich in Illinois keine negativen Beschäftigungseffekte, gesamthaft waren die Effekte sogar positiv, wenn auch insignifikant. Auswirkungen auf Jugendliche mögen zwar stärker sein als auf die aggregierte Beschäftigung, doch die widersprüchlichen Resultate lassen zumindest darauf schliessen, dass die Effekte nur schwach ausgeprägt sein dürften. Vor diesem Hintergrund kommt Programmen zur Arbeitsmarktförderung speziell für junge Erwachsene oder breiterer, attraktiver Zugang zu weiterführenden Bildungsangeboten eine bedeutende Rolle zu. Auch Neumark und Wascher (2003) - zwei prominente Kritiker von Mindestlöhnen nutzen die Unterschiede der Mindestlohnsysteme und weiterer Arbeitsmarktinstitutionen und –regulierungen in 17 verschiedenen OECD-Ländern, um die Auswirkungen von Mindestlöhnen auf Jugendliche genauer zu untersuchen. Allgemein zeigen die Resultate negative, teils signifikante Effekte des Mindestlohnes auf die Beschäftigung und erhöhen die Arbeitslosigkeit Jugendlicher, sowohl in einfachen Korrelationen aus den Rohdaten als auch in Zeitreihenanalysen. Bei solchen Vergleichen über verschiedene Länder hinweg besteht jedoch die Gefahr, dass länderspezifische Gegebenheiten nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dann kann es dazu kommen, dass von einer Mindestlohnerhöhung scheinbar ein Effekt auf die Jugendarbeitslosigkeit ausgeht, obwohl die Ursachen für die beobachteten Entwicklungen der Jugendarbeitslosigkeit woanders liegen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wurden in einem weiteren Schritt fixe länderspezifische Effekte und länderspezifische Trends in die Untersuchung einbezogen. Die Resultate ergeben eben-

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falls negative Koeffizienten, allerdings fallen sie geringer aus. Die weiteren Ergebnisse weisen auch darauf hin, dass die Beschäftigungseffekte stark variieren und dass die negativen Effekte geringer sind, wenn (a) die Mindestlöhne durch Kollektivverhandlungen festgelegt werden und wenn (b) tiefere Tarife für Jugendliche festgelegt werden oder diese ganz vom Mindestlohn ausgeschlossen sind. Restriktive Arbeitsmarktbedingungen (betreffend Arbeitszeiten, Möglichkeit flexibler Arbeitsverhältnisse und Mitspracherechte der Arbeitnehmenden) verstärken die negativen Auswirkungen, während ein ausgeprägter Kündigungsschutz und eine ausgedehnte aktive Arbeitsmarktpolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die negativen Beschäftigungseffekte verringern. Und: Unter dem Strich schnitten die am wenigsten regulierten Arbeitsmärkte (USA, England, Kanada und Japan) am schlechtesten ab, dort treffen Mindestlöhne die Jugendlichen am härtesten. Howell et al. (2006) überprüfen die Methode der ökonometrischen Ländervergleiche über den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktinstitutionen/-regulierungen und der Höhe der strukturellen Arbeitslosigkeit generell. Dabei schenken sie exemplarisch der in diesem Zusammenhang oft kritisierten Arbeitslosenunterstützung besondere Beachtung. Sie kommen zum Schluss, dass entgegen der weit verbreiteten Meinung die Schätzergebnisse alles andere als robust sind. Zudem ist die Kausalität nicht klar: Verursacht z. B. eine höhere Bezugsdauer höhere Arbeitslosigkeit oder wird die Bezugsdauer erhöht, wenn die Arbeitslosigkeit steigt? Die Autoren schliessen aufgrund politisch und ökonomisch motivierter Überlegungen sowie auf Grund von statistischen Kausalitätstests, dass Veränderungen der Arbeitslosenquote die Arbeitslosenunterstützung beeinflussen. Freeman (2008) gibt einen Überblick über Theorie und Empirie zum Zusammenhang zwischen Institutionen und Arbeitslosigkeit. Sein Fazit: Die Zusammenhänge sind sowohl theoretisch als auch empirisch alles andere als eindeutig.

3.2. Beschäftigungseffekte anhand von einzelnen Länderstudien USA Eine der aktuellsten und umfassendsten Studien zu Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen wurde von Dube et al. (2010) von der Universität Berkeley publiziert. Sie haben dazu 66 Counties ausgewählt, welche aneinander grenzen und über eine ähnliche Wirtschaftsstruktur verfügen, jedoch unterschiedlich hohe Mindestlöhne aufweisen. Sie werteten die Beschäftigungsstatistiken dieser Counties über den Zeitraum von 1990 bis 2006 aus, eine Zeitspanne, die wesentlich länger ist als in allen vergleichbaren Studien (z.B. jene von Card und Kruger, 1994 und 2000, oder von Neumark und Wascher, 2000; siehe auch Abschnitt Gastgewerbe unten). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass höhere Mindestlöhne im untersuchten Zeitraum keine Arbeitsplätze gekostet haben, auch nicht in typischen Tieflohnbranchen wie im Gastgewerbe, im Detailhandel oder in der Nahrungsmittelproduktion. In ihrer regio-

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nalen Analyse finden sie starke Einkommens-, aber keine Beschäftigungseffekte durch höhere Mindestlöhne. Sie kommen zum Schluss, dass die negativen Auswirkungen, wie sie beispielsweise in der Studie von Neumark und Wascher (2000) beschrieben werden (siehe unten Gastgewerbe), auf das Untersuchungsdesign zurückzuführen sind. Die Ergebnisse wurden primär von regionalen und lokalen Unterschieden in Beschäftigungstrends verursacht, die nicht im Zusammenhang mit der Mindestlohnpolitik stehen (Dube et al. 2010: 962). England Metcalf (2007) liefert eine ausführliche Übersicht über die Entwicklung in England und kommt zum Schluss, dass die Einführung des Mindestlohns nicht zu negativen Beschäftigungseffekten geführt hat: „Aggregate UK employment has risen consistently since 1993 and, similarly, aggregate unemployment fell during that time up to mid-2005. There is no evidence that the introduction of the NMW influenced these trends in aggregate employment and unemployment.” (S.14). Auch auf Branchenebene hat die aggregierte Beschäftigung – mit Ausnahme der Textilindustrie, welche seit längerem einem Abwärtstrend unterliegt – zugenommen (Metcalf 2007: Tabelle 4). Eine Übersicht zu verschiedenen Studien rund um die Beschäftigungsfrage (Metcalf 2007: Tabelle 5) zeigt, dass die Ergebnisse meist insignifikant sowie die Beschäftigungselastizitäten in Bezug auf den Lohn gering und meist positiv sind. Stewart und Swaffield (2002) finden allerdings Hinweise darauf, dass eine Reduktion der Arbeitszeit um 1 bis 2 Stunden pro Woche stattfand. Auf Zweitjobs (4% der britischen Arbeitnehmenden haben einen solchen) schien der Mindestlohn interessanterweise keine Auswirkungen zu haben: Robinson und Wadsworth (2005) fanden keine Hinweise darauf, dass die Einführung des ML die Wahrscheinlichkeit, einen zweiten Job zu haben, senkte. Die Studie fand überdies keine Evidenz für Auswirkungen auf die Stunden, weder im ersten noch im zweiten Job. In einer weiteren Studie von Stewart (2002) wurde nicht einmal dort ein negativer Beschäftigungseffekt ausgemacht, wo das Sample auf besonders betroffene Individuen wie Frauen, Unqualifizierte und seit weniger als einem Jahr Beschäftigte beschränkt wurde. Auch auf Firmenebene konnten kaum negative Effekte des Mindestlohnes ausgemacht werden. „It is interesting to note in passing that many studies report that staff shortages were usually eased by the introduction of the NMW, hinting at a monopsonistic labour market. “ (Metcalf 2007: S.20). Als Gründe für diese Ergebnisse werden insbesondere die folgenden angenommen: 

Produktivität und Effort steigen: Verschiedene Studien zeigen einen positiven, wenn auch meist statistisch nicht signifikanten Produktivitätszuwachs.



Reaktionen der Preise: Die absoluten aggregierten Preise haben kaum zugenommen, es kam nicht zu inflationären Tendenzen nach Einführung des Mindestlohnes. Aber die relativen Preise haben sich verändert: Manche der arbeitsintensiven

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Dienstleistungen sind relativ teurer geworden, die Kostensteigerungen konnten weitergegeben werden (Metcalf 2007: Tabelle 9, Kolumne 2 ). Die Verteilungswirkung dieser Preissteigerungen scheint jedoch neutral, da diese Preiseffekte über alle Haushalte verteilt werden (Metcalf 2007: Tabelle 9, Kolumne 4). 

Auswirkungen auf Firmenprofite: Verschiedene Studien zeigen, dass die Einführung des Mindestlohnes Margen und Profite schmälerten. Der Rückgang bei den Profiten war jedoch nicht mit einer gesteigerten Wahrscheinlichkeit, Konkurs zu erleiden, verbunden, sodass Draca et al. (2006) schliessen: „firms were making profits from paying low wages prior to the minimum wage introduction and that one consequence of the introduction of the minimum wage to the UK labour market was to moderate these „excess“ profits by channelling them back to the wages of low paid workers.” (S. 29).



Anpassung via Stunden statt Beschäftigte: Wie schon aufgezeigt, haben manche Studien einen Stundeneffekt ausgewiesen. Auch qualitative Untersuchungen zeigen dies, so beispielsweise bei einer grossen Supermarktkette, in welcher die Filialleiter Boni erhalten, wenn sie ihr Geschäft auch mit weniger Arbeitsstunden betreiben können.



Moderne Monopsone: Monopsone im klassischen Sinne sind eher unwahrscheinlich, doch es sind kompetitive Monopsonsituationen denkbar, so genannte Oligopsone. Anscheinend sind auch Statistiker der Regierung der Meinung, dass Firmen eine gewisse Flexibilität zur Lohnsetzung haben. Zudem ist es beispielsweise in der Gastronomie offenbar so, dass viele Angestellte die tiefen Löhne akzeptierten, da sie kaum Vergleiche mit anderen Jobs hatten und weil sie nur beschränkte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt hatten, wie eine entsprechende Studie für die Midlands zeigte (Metcalf 2007: S.37). Ein weiteres Argument: Unter den Standardannahmen würden die Firmen versuchen, ihre Lohnkosten zu senken, Arbeitsplätze oder -stunden abbauen oder unqualifizierte durch qualifizierte Arbeit zu ersetzen, was jedoch so nicht geschah. Vielmehr schienen die Firmen vor Einführung des Mindestlohnes über Personalmangel zu klagen. Und: Auch die hohen Profite auf Kosten der Löhne sind ein Zeichen für eine Oligopsonsituation.

Frankreich Frankreich hat nicht nur die längste Tradition von Mindestlöhnen, auch das Niveau des SMIC ist im internationalen Vergleich hoch: Mit 63% des Medianlohnes ist es der höchste im europäischen Vergleich. Abowd et al. (2001) haben die Beschäftigungseffekte des SMIC und jene der US-Mindestlöhne untersucht und verglichen. Während in den USA reale Mindestlohnerhöhungen kaum Einfluss auf den Stellenverlust der Betroffenen hatten, finden sie für Frankreich Evidenz dafür, dass Mindestlohnerhöhungen zu Entlassungen führen. Bei der Aufnahme einer neuen Tätigkeit spielt der Mindestlohn dagegen in beiden Ländern keine Rolle und auch geschlech-

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terspezifische Unterschiede waren keine erkennbar, obwohl in beiden Ländern mehr Frauen als Männer einen Mindestlohn beziehen. Die Resultate müssen jedoch relativiert werden, denn die untersuchten Treatmentgruppen in beiden Ländern sind sehr klein (3% bis 5% der Männer und 8% der Frauen), sodass die Effekte tatsächlich viel geringer sind. Insgesamt kommt diese Studie zum Schluss, dass die Effekte gering ausfallen, auch wenn ein hoher Mindestlohn wie in Frankreich in Verbindung mit den höheren Lohnnebenkosten sich negativ auf die Beschäftigung auswirken kann. Unter Bedingungen, wie sie in den USA herrschen, bleiben negative Beschäftigungswirkungen ganz aus. Österreich In Österreich gibt es zwar keinen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, doch findet für praktisch alle Arbeitnehmenden ein sozialpartnerschaftlich ausgehandelter Branchenlohn Anwendung. Dadurch ergibt sich eine hohe Differenziertheit der Mindestlöhne nach Branche. Trotz hohem Abdeckungsgrad ist der Anteil der direkt vom Mindestlohn betroffenen Personen im internationalen Vergleich relativ gering, wie Ragacs (2003) in seiner Übersicht zeigt. Er untersucht die Auswirkungen dieses Lohnsystems in der österreichischen Industrie zwischen 1967 und 1995. Dabei erstellt er verschiedene Schätzgleichungen jeweils in Bezug auf das Niveau und in Bezug auf die Wachstumsraten von Beschäftigung und Mindestlohn. Die Ergebnisse sind auch hier widersprüchlich: „Während für alle Schätzgleichungen, die als erklärende Variable das Niveau der Beschäftigung aufweisen, das Vorzeichen positiv ist, Mindestlöhne die Beschäftigung somit steigern sollten, ist dieses für die Schätzgleichungen mit der zu erklärenden Wachstumsrate umgekehrt.“ (S.20). Nur für eine Gleichung jedoch, jene mit dem Niveau für den Zeitraum 1984-1995, ist der Koeffizient auch tatsächlich signifikant (und positiv). Deutschland In den letzten Jahren sind verschiedene Simulationen von Beschäftigungswirkungen eines Mindestlohnes in Deutschland publiziert worden, nicht zuletzt weil ein solcher immer wieder auch auf politischer Ebene diskutiert wurde. Doch die Schätzungen der Arbeitsnachfrageeffekte mit verschiedenen Datengrundlagen führen zu sehr unterschiedlichen Ausmassen, was die Beschäftigungseffekte einer Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von € 7.50 betrifft. Allen Schätzungen gemeinsam ist jedoch, dass sie negativ ausfallen (siehe beispielsweise Bachmann et al. (2008), Bauer et al. (2008), Knabe und Schöb (2008) und Müller und Steiner (2008)). Müller (2009) untersucht diese Studien und versucht, den unterschiedlichen Resultaten auf den Grund zu gehen. Dabei findet er die Ursache insbesondere in Unterschieden in den Datensets, wobei manche extrem tiefe, unwahrscheinliche Stundenlöhne aufweisen, während in anderen der Anteil der prekär Beschäftigten und Beschäftigten in Kleinstunternehmen zu gering ist, um genügend repräsentativ zu sein, damit ge-

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naue Schätzergebnisse erzielt werden. Weiter haben dann auch die geschätzten Arbeitsnachfrage- und Produktpreiselastizitäten einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse. Insoweit muss der Schluss gezogen werden, dass Simulationen weitaus stärker mit Unsicherheiten behaftet sind als andere Studien, in welchen Mindestlohneffekte anhand vergangener, tatsächlicher Einführungen des Mindestlohnes geschätzt werden.

3.3. Beschäftigungseffekte in typischen Tieflohnbranchen Detailhandel Die Studie von Addison et al. (2009) zum US-amerikanischen Detailhandel untersucht die Effekte einer Mindestlohnerhöhung zwischen 1990 und 2005 auf die Durchschnittseinkommen sowie auf die Beschäftigung in einzelnen Teilen der Branche, welche besonders tiefe Löhne um oder unter dem Mindestlohn aufwiesen. Die Ergebnisse deuten mehrheitlich auf keinen negativen oder einen positiven Beschäftigungseffekt der Mindestlöhne hin. Es gibt jedoch regionalspezifische Unterschiede: 30 Insbesondere in Staaten, in welchen right-to-work-laws bestehen, ist der Effekt bei den Lebensmittelläden leicht negativ, während in Staaten, in welchen der union31 shop zugelassen ist, sich kein Effekt ausmachen lässt. Mögliche Begründung: Die starken Gewerkschaften in den union-shop Staaten tragen dazu bei, dass dort die Löhne im Schnitt schon höher sind und daher eine moderate Mindestlohnerhöhung nicht sonderlich starke Auswirkungen hat. Bezeichnenderweise tritt dieser regionale Effekt bei den convenience stores (Mini-Markt u.ä., wo Waren des täglichen Bedarfs verkauft werden), wo die Gewerkschaften offenbar einen schwachen „Drohstandpunkt“ haben, nicht auf. Diese Ergebnisse sind ein Hinweis darauf, dass es in Tieflohnbranchen mit schwachen Gewerkschaften nicht nur einen ML braucht, sondern dass dieser genau dort auch verkraftbar ist und im besten Fall sogar Beschäftigungsgewinne bringt. Als Erklärung für den häufig leicht positiven Effekt einer Mindestlohnerhöhung sind vielleicht die eingangs diskutierte Monopsontheorie und auch die Effizienzlohntheorie herbeizuziehen. Die Effizienzlohntheorie will negatives Verhalten oder hohe Mitarbeiterfluktuation vermeiden. Es sollen Löhne über dem branchenüblichen Niveau gezahlt werden, um die Angestellten stärker an das Unternehmen zu binden. Im Detailhandel ist Diebstahl relativ leicht und umfassende Überwachung unter Umständen teurer als positive Anreize via attraktive Löhne zu setzen. Viel wichtiger könnte hier aber der positive Nachfrageeffekt einer Mindestlohnerhöhung sein: Tieflöhner dürften ihr zusätzliches Einkommen insbesondere für Lebens- und Genussmittel 30

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Right-to-work-laws ermöglichen auch jenen Arbeitnehmenden eine Anstellung, welche nicht

Mitglied einer Gewerkschaft sind. Man spricht von einem union-shop, wenn in einem Betrieb nur eingestellt wird, wer Gewerkschaftsmitglied ist oder bereit ist es zu werden.

(convenience und Supermärkte, liquor stores) (Addison et al. 2009: S.19) sowie in Hobby-Güter (Sport, Unterhaltung) ausgeben. Letzteres wird deshalb angenommen, weil in diesem Bereich des Detailhandels besonders viele und schlecht bezahlte Jugendliche arbeiten (Addison et al. 2009: S.27). Zwar konnten in der Studie von Addison et al. (2009) aufgrund der Datenlage keine Stundeneffekte untersucht werden. Sabia (2008) und Zavodny (1999) fanden aber keine Reduktion der Arbeitsstunden als Reaktion auf eine Mindestlohnerhöhung. Zudem: Wenn höhere Mindestlöhne mit einer Reduktion der Arbeitsstunden einhergingen, würden sich die durchschnittlichen Wochengehälter nicht erhöhen, sondern stagnieren oder fallen, was jedoch nicht der Fall ist (Addison et al. 2009: S.29). In der schlimmen Rezession in Finnland anfangs der 1990er Jahre hatten die Arbeitgeber zwischen 1993 und 1995 die Möglichkeit, junge Beschäftigte unter der Mindestlohngrenze zu entlöhnen, sofern sie weniger als 25 Jahre alt waren und über weniger als ein Jahr Berufserfahrung verfügten. Ziel dieser Massnahme war, die Beschäftigung junger Arbeitnehmer/innen zu fördern, da man gemeinhin annahm, dass diese sowohl von der Rezession als auch von einem hohen Mindestlohn am stärksten betroffen wären. Böckerman und Uusitalo (2007) untersuchten die Auswirkungen dieser Massnahme auf den Detailhandel, da die Mindestlöhne die Lohnverteilung in dieser Branche in Finnland wesentlich bestimmen. Doch die Lockerung der Mindestlohnregelung hatte nur einen geringen Einfluss auf die Verteilung der Löhne: Die Durchschnittslöhne der Betroffenen fielen um geschätzte 1 Prozent, die Beschäftigung fiel um ca. 3,5% im Vergleich zur Kontrollgruppe etwas älterer Arbeitnehmender. Ein ähnlich starker Effekt (-3,7 Prozentpunkte) zog die erneute Erhöhung des Mindestlohnes nach sich (difference-in-differences Schätzung). Unter Berücksichtigung gruppenspezifischer linearer Trends jedoch sind keine positiven Beschäftigungseffekte auszumachen. Böckerman und Uusitalo (2007) ziehen den Schluss, dass die gut gemeinte Massnahme die gewünschten Beschäftigungseffekte nicht herbeigeführt hat. Gründe könnten Befürchtungen der Arbeitgeber sein, eine Absenkung des Mindestlohns hätte negative Auswirkungen auf den Einsatz der Arbeitnehmenden. Eine vorübergehende Absenkung der Mindestlöhne nur für junge Arbeitnehmende, welche allerdings die selbe Arbeit verrichten wie ältere Kolleginnen und Kollegen, könnte eine Firma darüber hinaus in Erklärungsnot bringen. Die Effekte wären möglicherweise anders unter einer dauerhaften Änderung der Mindestlohnregelungen. Gastgewerbe Auch Studien für das Gastgewerbe und die Fast Food-Industrie weisen tendenziell auf schwach positive Beschäftigungseffekte hin. Card und Kruger (1994) haben mittels difference-in-differences Methode die Effekte der Mindestlohnerhöhung von 1992 in New Jersey auf die Fast-Food Industrie im Vergleich zu Pennsylvania ge-

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schätzt. Dabei war ein leicht positiver Effekt auf die Beschäftigung in New Jersey auszumachen. Neumark und Wascher (2000) haben diese Ergebnisse kritisiert und mit eigenen Daten zu widerlegen versucht. Die Replik von Card und Kruger (2000) geht einerseits auf die Gründe für die unterschiedlichen Ergebnisse ein, andererseits sehen sie sich bei einer erneuten Untersuchung mit anderen Daten in ihren ursprünglichen Ergebnissen bestätigt. Alles in allem, schliessen die Autoren, hatte die Erhöhung des Mindestlohnes keine oder schwach positive Effekte auf die Beschäftigung. Geht man davon aus, dass der Effekt im Schnitt bei Null liegt, erstaunt es nicht, dass man bei modifizierten Spezifikationen auch mal negative (wenn auch statistisch nicht signifikante) Effekte ausmachen kann. Die Unterschiede zu den Ergebnissen von Neumark und Wascher (2000) rühren im Wesentlichen von unterschiedlichen Definitionen und Unterschieden in der Datengrundlage her. Interessanterweise finden aber auch Neumark und Wascher (2000), dass allein innerhalb von New Jersey, jene Betriebe mit den zuvor tiefsten Löhnen, welche daher am stärksten von der Mindestlohnerhöhung betroffen waren, das stärkste Beschäftigungswachstum aufwiesen. Neumark und Wascher eliminieren in ihrem Panel jedoch den County fixed effect; wird dieser Effekt berücksichtigt, verschwindet der negative Einfluss des Mindestlohnes und es lässt sich kein statistisch signifikanter Einfluss mehr ausmachen (siehe auch die Darstellung in Bassani und Duval 2006: S.51). Skedinger (2002) untersucht die sozialpartnerschaftlich ausgehandelten Mindestlöhne in der Hotellerie und im Gastgewerbe Schwedens im Zeitraum von 1979 bis 1999. Dabei wird ein etwas anderer Ansatz gewählt: Anstatt Nettoveränderungen der Beschäftigung zu verfolgen, werden hier die Ein- und Austritte einzelner Arbeitnehmenden als Reaktion auf reale Mindestlohnänderungen untersucht. Wie der Autor gleich zu Beginn anmerkt, wurden mit dieser alternativen Methode viel mehr signifikant negative Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen identifiziert, während die übliche zu keinen oder gar zu leicht positiven Effekten führte („Ausnahme“ Neumark und Wascher (1992)). Auch hier wieder: Die Ergebnisse scheinen sensitiv bezüglich des Untersuchungsdesigns zu sein. Skedinger teilt das Sample in eine Treatmentund Kontrollgruppe und betrachtet sowohl reale Mindestlohnerhöhungen als auch Senkungen. Die Beschäftigungseffekte werden gemessen, indem bei steigenden Mindestlöhnen jene, welche in der nächsten Periode nicht mehr angestellt sind, betrachtet werden (respektive vice versa bei fallenden Mindestlöhnen). Ein Nachteil ist allerdings, dass den Daten nicht entnommen werden kann, ob ein Stellenverlust auf einer freiwilligen Kündigung oder einer Entlassung beruht. Der Autor versucht dies zu relativieren, indem er davon ausgeht, dass dies bei dem hohen Anteil befristeter Verträge in der Gastronomie nicht so sehr eine Rolle spielt. Dann stellt sich allerdings die Frage, wie genau mit dem vorliegenden Untersuchungsdesign Beschäftigungseffekte isoliert werden können. Der Autor kommt zum Ergebnis, dass eine einprozentige Erhöhung des Mindestlohnes mit einem Beschäftigungsrückgang von 0,576% verbunden ist. Diese Schätzung (die Differenz der Elastizität von Treatment-

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und Kontrollgruppe) ist als untere Grenze zu verstehen, da Spill-over Effekte in der Kontrollgruppe nicht auszuschliessen sind. Die Beschäftigungszunahme bei einer einprozentigen Mindestlohnsenkung wird auf 0,843% geschätzt, wobei es sich hier um eine obere Grenze handelt. Dass der Effekt bei einer Mindestlohnsenkung grösser ist, führt der Autor darauf zurück, dass Anpassungen über Neueinstellungen leichter fallen als über Entlassungen aufgrund der restriktiven Arbeitsgesetze. Allerdings steht dieses Ergebnis im Kontrast zu der Studie von Böckerman und Uusitalo (2007) zum Detailhandel in Finnland. Interessanterweise kann ausgerechnet für die Jugendlichen unter 20 Jahren kein Effekt ausgemacht werden, was mit der drastischen Senkung des Mindestlohnes für diese Gruppe im Jahre 1993 erklärt wird: Darauf folgende Erhöhungen hätten keinen Effekt mehr gehabt, da sie allesamt auf tiefem Niveau lagen. Insgesamt zeigen jedoch die Robustheitstests: Die Resultate sind sensitiv bezüglich der Spezifikation und können deshalb nur mit grösster Vorsicht interpretiert werden. Hausangestellte Hertz (2004) untersucht die Einführung eines Mindestlohnes für Hausangestellte in Südafrika im November 2002. Ca. 1 Million der 49 Millionen Einwohner sind als Hausangestellte beschäftigt. Im September 2003 lagen die Löhne 23% über jenen im Vorjahresmonat, während die Löhne von Beschäftigten mit ähnlichen Merkmalen nur 5% zugenommen hatten. Gleichzeitig kam es zu einer statistisch signifikanten Reduktion der Stunden um 4%, welche bei ähnlichen Arbeitnehmenden nicht zu beobachten war. Der Beschäftigungsrückgang betrug 3%, ist jedoch nicht statistisch signifikant und scheint nicht durch die Einführung des ML verursacht worden zu sein; vielmehr war auch bei vergleichbaren Arbeitnehmenden ein solcher Rückgang in der betrachteten Periode zu verzeichnen. Der Nettoeffekt war ein realer Lohnzuwachs für Hausangestellte und damit eine Kaufkraftsteigerung, während vergleichbare Arbeitnehmende Reallohneinbussen erfahren haben. Weitere Bedingungen der Anstellung haben sich ebenfalls verbessert: Festzustellen ist eine markante Zunahme der Aufnahme in die Arbeitslosenversicherung sowie die Aufnahme in die Altersvorsorge, obwohl letztere nicht Gegenstand der Reform war. Dies deutet auf einen spill-over Effekt der gesetzlichen Mindestlohnregelung hin. Wie immer reicht die Einführung eines neuen Gesetzes allein jedoch nicht, um Minimalstandards bei einer Anstellung zu erreichen, denn nur 25% der Hausangestellten verfügten auch über einen schriftlichen Arbeitsvertrag, und der Anteil jener, die unterhalb der Minimallohngrenze entlöhnt wurden, fiel von schätzungsweise 75% auf 61%.

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3.4. Evidenz für marktmächtige Unternehmen und Monopsone Wie bereits erwähnt, sind klassische Monopsone wie im Lehrbuch beschrieben in der Realität eher selten. Dennoch existieren andere Konstellationen, in denen Arbeitgeber über Lohnsetzungsmacht verfügen, zum Beispiel aufgrund kartellistischem Verhalten bei der Lohnsetzung oder wegen spezifischer Qualifikationen der Arbeitnehmenden. Ashenfelter et al. (2010) liefern eine Übersicht über die neuere empirische Evidenz für die Marktmacht der Arbeitgeber: Falch (2010) und Staiger et al. (2010) schätzen anhand von statischen Modellen die 32 Arbeitsangebotselastizität von Lehrkräften in Norwegen und der Krankenschwestern in U.S. Veterans Administration Hospitals. In einem kompetitiven Markt, in dem kein einzelner Arbeitgeber Lohnsetzungsmacht hat, ist diese Arbeitsangebotselastizität theoretisch unendlich. Die Schätzergebnisse der beiden Studien fallen jedoch sehr tief aus (1,5 für norwegische Lehrer, 0.1 für die genannten amerikanischen Krankenschwestern). Zusammen mit der Annahme, dass die Anzahl Arbeitgeber sowohl für Lehrer und auch für Krankenschwestern beschränkt ist, deuten diese Resultate darauf hin, dass auf Seiten dieser Arbeitgeber im Prinzip eine gewisse Lohnsetzungsmacht besteht. Manning (2003) präsentiert in seinem Buch einen neuen Ansatz zur Untersuchung von Monopsonen. In seinem Modell haben Firmen trotz Existenz von Konkurrenten Lohnsetzungsmacht, beispielsweise aufgrund imperfekter Informationen, Mobilitätskosten und hohem Spezialisierungsgrad. Die Beschäftigung in einer Firma ergibt sich aus dem Fluss der Arbeiterinnen und Arbeiter, welche die Firma verlassen und jener, die neu hinzukommen. Diese Flussgrössen sind im Modell durch den Lohn der Firma bestimmt. Mit diesem dynamischen Ansatz können über die Sensitivität der Fluktuation in Bezug auf die Löhne langfristige Elastizitäten geschätzt werden. Hirsh et al. (2010), Ransom und Oaxaca (2010) und Ransom und Sims (2010) haben diesen Ansatz gewählt und längerfristige Arbeitsangebotselastizitäten geschätzt für Deutschland (diverse Branchen), Lehrkräfte öffentlicher Schulen in Missouri sowie für einen konkreten Arbeitgeber. Wiederum lieferten alle Schätzungen sehr kleine Elastizitäten (1,5 bis 4), sodass auch dies Methode Evidenz für Lohnsetzungsmacht der Arbeitgeber liefert. Fox (2010) schliesslich hat die Mobilität von Ingenieuren zwischen den Firmen in Schweden untersucht und kommt zum Schluss, dass diese kaum auf Lohnunterschiede reagiert. Diese fehlende Mobilität der Arbeitskräfte gibt den Arbeitgebern wiederum mehr Spielraum zur Lohnsetzung. Alle diese Ansätze, die versuchen, Evidenz für Lohnsetzungsmacht der Arbeitgeber herauszuarbeiten, haben natürlich auch gewisse Schwächen. Allen gemein ist das

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Die Arbeitsangebotselastizität gibt die prozentuale Änderung des Arbeitsangebots an, wenn sich der Lohn um ein Prozent ändert.

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Problem des „omitted variable bias“ respektive der Endogenität, doch dieser Mangel in der Modellspezifikation kann die Ergebnisse im Prinzip sowohl nach oben wie nach unten verzerren. So schliessen Ashenfelter et al. (2010) aus diesen Studien denn auch, dass es „bemerkenswerte Evidenz dafür gibt, dass Arbeitsmärkte alles andere als kompetitiv sind“ (Ashenfelter et al. 2010: 9). Wie schon weiter oben erläutert, gehen auch Metcalf (2007) und Statistiker der englischen Regierung von einer gewissen Lohnsetzungsmacht der Unternehmen aus.

3.5. Anpassungsstrategien, Margen und Innovationstätigkeit der Unternehmen Grimshaw und Carroll (2006) untersuchen, inwiefern britische Firmen die Kostensteigerungen nach Einführung des Mindestlohnes auf die Preise überwälzt haben. Interessanterweise war nämlich nach der Einführung und den mehrmaligen Erhöhungen des Mindestlohnes in England keine Zunahme der Inflation zu beobachten. Dies lässt vermuten, dass die Preissteigerungen relativ gering ausgefallen sind. Dies bedeutet gleichzeitig, dass der Druck auf die Profitmargen, insbesondere bei kleinen Firmen, zugenommen haben muss. Wie auch schon weiter oben erläutert, schliessen Draca et al. (2006) aus ihrer Untersuchung zur Entwicklung der Unternehmensprofite unter dem Mindestlohn ebenfalls, dass die Einführung des Mindestlohnes zu einer Mässigung der Profite geführt hat, nicht aber zu einem übermässigen Verschwinden von Firmen. Anhand qualitativer Daten kleiner und mittlerer Firmen aus den sechs Tieflohnbranchen Reinigungsgewerbe, Textilien und Schuhe, Gasgewerbe, Pflegeheime, Detailhandel und Sicherheitsbranche zeigen Grimshaw und Carroll (2006), dass drei Rahmenbedingungen für die Anpassung an den Mindestlohn wesentlich sind: Erstens bestimmen die jeweiligen Produktmarktbedingungen über die Möglichkeit der Preiserhöhungen: Wo sich Firmen starkem internationalem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sehen (Produktion von Bekleidung und Schuhen) oder wo im wesentlichen ein grosser und damit bestimmender Abnehmer existiert (Pflegeheime, da dort die öffentliche Hand die Tarife vorgibt), sind Preiserhöhungen keine Option. Zweitens sind die Ansichten des Eigentümers bezüglich der Relation von Lohn und Leistung massgebend: Die untersuchten Firmen konnten grob in zwei Gruppen eingeteilt werden, einerseits jene, welche auf hohe Qualität ihrer Produkte und Dienstleistungen setzten und deshalb die Löhne über das Niveau des Mindestlohnes anhoben, um so die besten Arbeitskräfte an sich zu binden. Andererseits die anderen, welche auf Kostenminimierung setzten und einen Grossteil der Beschäftigten zum Mindestlohn entlöhnten. Allerdings gab es auch diverse Ausnahmen, welche von diesem Schema abwichen.

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Zu einem omitted variable bias kommt es, wenn eine mit den Regressoren und mit der erklärten korrelierte Variable nicht berücksichtigt wird.

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Kleinknecht (1998) kommt zum Schluss, dass die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zwar kurzfristig positive Beschäftigungseffekte haben mag, dass langfristig jedoch auch Anreize zur Produkt- und Prozessinnovation verloren gehen. Eine solche Entwicklung hätte dann natürlich auch negative Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung einer offenen Volkswirtschaft (Kleinknecht 1998: S.387). Auch Bassani und Ernst (2000) haben für manche Branchen eine negative Beziehung zwischen Arbeitsmarktflexibilität und Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten festgestellt. Tatsächlich zeigen verschiedene Studien, dass eine der möglichen Reaktionen auf diesen neuen Kostenfaktor Effizienzsteigerungen und Neuorientierungen sein können. So fanden Arrowsmith et al. (2003) bei ihrer Untersuchung britischer KMU insbesondere in der Textilbranche diverse Unternehmen, die sich auf Nischenbereiche mit hohen Qualitätsansprüchen spezialisiert und im oberen Marktsegment platziert haben. Da mit der Einführung des Mindestlohnes auch die Entlöhnung im Akkordsystem kaum noch möglich war, wurde eine solche Verschiebung weg von der billigen Massenproduktion weiter begünstigt. Solche Verschiebungen passierten allerdings nicht selten auf Kosten der leistungsschwächsten Arbeitnehmenden. Zwar gab es in der Zeit nach Einführung des Mindestlohnes auch Firmen, welche zu Rationalisierung und zum Teil sogar Schliessungen gezwungen waren, doch führten sie die schlechte Geschäftslage in erster Linie auf den gestiegenen internationalen Konkurrenzdruck und die mangelnde Nachfrage zurück (Arrowsmith et al. 2003: S.441). In Restaurants und Hotellerie waren Effizienzsteigerungen aufgrund der Art der Arbeiten in diesem Sinne nur sehr begrenzt möglich. Und da es sich vorwiegend um kleine Betriebe handelt, waren auch Entlassungen häufig keine Option, denn in einem kleinen Team kann die Arbeit nur schwer auf weniger Mitarbeiter umverteilt werden. So erstaunt es nicht, dass hier die höheren Kosten häufig in Form höherer Preise auf die Kunden überwälzt wurden. Im Gastgewerbe waren die Löhne allerdings schon ungefähr auf der Höhe des Mindestlohnes als dieser eingeführt wurde, sodass die befragten Unternehmen nur geringe Kostensteigerungen zu verkraften hatten. Aufgrund der hohen Mitarbeiterfluktuation im Gastgewerbe erhöhten einige Patrons die Löhne sogar über den Mindestlohn hinaus, in der Hoffnung damit gut qualifiziertes Personal besser an sich zu binden (Arrowsmith et al. 2003: S.442).

3.6. Outsourcing und Mindestlöhne Braun und Scheffel (2007b) haben für Deutschland untersucht, welche Auswirkung die Auslagerung von gewissen Tätigkeiten auf gesamtarbeitsvertragliche Mindestlöhne hat. Dabei haben sie festgestellt, dass geringqualifizierte Arbeitnehmende in Branchen mit einer hohen Tendenz zur Auslagerung einen Rückgang der GAVMindestlöhne in Kauf nehmen müssen, sowohl wenn sie einer Branchenvereinbarung oder einer Vereinbarung auf Firmenebene unterstehen. Auf der anderen Seite sind die Löhne jener geringqualifizierten Arbeitnehmenden, welche keiner kollekti-

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ven Lohnvereinbarung unterstehen, nicht direkt negativ von der Intensität der Auslagerungsmassnahmen betroffen. Diese Ergebnisse liefern Evidenz dafür, dass eine starke Tendenz zu Auslagerungen in einer Branche die Position der Gewerkschaften in Verhandlungen um Mindestlöhne in Branchen- oder Firmen-GAV schwächen, wobei dies insbesondere für geringqualifizierte Arbeitnehmende gilt. Dies ist nicht weiter erstaunlich, da die Auslagerung von Dienstleistungen oder der Produktion von Zwischenprodukten im Normalfall auf Kosten gerade dieser Niedrigqualifizierten geht. Letztendlich wird damit der Wettbewerb auf dem Buckel jener ausgetragen, die in der Lohnhierarchie ganz unten stehen. Ein flächendeckender Mindestlohn wirkt solcher Lohndrückerei wirksam entgegen. Nicht abschliessend geklärt bleibt allerdings, inwiefern weitere Auslagerungsprozesse die Reaktion von Unternehmen auf einen solchen flächendeckenden Mindestlohn wären. Grimshaw und Carroll (2006) zeigen in ihrer Übersicht britischer Studien, dass manche, jedoch längst nicht alle Firmen mit Auslagerungen der Produktion reagieren. Konkret war nur in einigen Firmen der Bekleidungsindustrie von Outsourcing als Anpassung an den neu eingeführten Mindestlohn die Rede, in allen übrigen Studien wurden andere Anpassungsstrategien wie Ausweichen auf Nischenmärkte oder vermehrte Weiterbildungsaktivitäten identifiziert (Grimshaw und Carroll 2006: S. 26-28). Besonders bei den unternehmensbezogenen Dienstleistungen wie beispielsweise bei der gewerblichen Reinigung und den privaten Sicherheitsdienstleistungen stellt Outsourcing keine valable Strategie mehr dar. Zu der Frage, ob es als Reaktion auf die Einführung eines Mindestlohnes auch vermehrt zu Insourcing kommt, fehlt bisher umfassende empirische Literatur. Insourcing findet im Allgemeinen jedoch vor allem dort statt, wo die vormalige Auslagerung von gewissen Tätigkeiten mit Qualitätseinbussen verbunden war oder die Kosten nach der Auslagerung sogar höher ausfielen als vorher – den tiefe34 ren Löhnen der Arbeitskräfte zum Trotz.

3.7. Auswirkungen auf die Weiterbildung Beckers (1964) Standardtheorie des Humankapitals basiert auf der Annahme friktionsloser kompetitiver Arbeitsmärkte. Acemoglu und Pischke (2001) stellen diesem Modell ihr eigenes Modell gegenüber, in welchem Friktionen auf dem Arbeitsmarkt auftreten, so dass sich die Arbeitgeber eine sogenannte Rente sichern können (ähnlich der Monopsonrente). Zudem wird angenommen, dass die Arbeitnehmenden die Bildungsinvestitionen nicht selbst tätigen können. Wird dann ein Mindestlohn eingeführt, ist es für die Arbeitgeber sogar lohnend, in allgemeine Weiterbildungsmassnahmen für ihre Angestellten zu investieren, da sie so deren Produktivität erhöhen können. Diese Strategie lohnt sich wegen der erwähnten Rente für die Arbeitgeber mehr, als Stellen abzubauen. Je höher diese Rente im Ausgangszustand ist, umso 34

Als exemplarische Fallbeispiele seien der Fall Spital Region Oberaargau SRO AG sowie der Fall des Regionalspitals Schwyz aufgeführt. Nähere Details unter: http://www.nahverkehr.ch/privatisierung/reinigung.htm

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höher ist auch das noch verkraftbare Level eines Mindestlohnes. In einer früheren Studie haben die Autoren bereits gezeigt, dass eine komprimierte Lohnstruktur firmenfinanzierte Weiterbildung begünstigt (Acemoglu und Pischke 1999). Die Regression der jährlichen firmenfinanzierten allgemeinen Weiterbildung auf Mindestlohnerhöhungen und weitere Kontrollvariablen über ein lineares Wahrscheinlichkeitsmodell liefert jedoch ernüchternde Ergebnisse: Für den Zeitraum zwischen 1987 und 1992 findet weder die Standardtheorie von Becker noch die Theorie von Acemoglu und Pischke mit Friktionen durch die US-Daten Bestätigung. Die Autoren führen dies darauf zurück, dass im Sample nur ein geringer Prozentsatz überhaupt weitergebildet wird, was bei einem grossen Sample dazu führt, dass mögliche Effekte kaum erkennbar sind. Wenn zudem ein Grossteil der Weiterbildung informeller Art ist, so kann es sein, dass ein Rückgang der Weiterbildung in den Daten gar nicht wiedergegeben wird. Die Weiterbildungsvariable wurde als Dummy mit den Ausprägungen 0 und 1 konstruiert. Wenn aber Weiterbildung im Beruf eine kontinuierliche Variable darstellt, könnte es sein, dass für manche Arbeitnehmer/innen das Ausmass an Weiterbildung ab- oder zugenommen hat. Letztlich ist es also möglich, dass beide Theorien Gültigkeit haben, sodass die Weiterbildung für manche Arbeitnehmende abnimmt, während sie für andere zunimmt, wenn ein Mindestlohn eingeführt wird. Die Autoren modifizieren ihr Modell leicht, indem sie annehmen, dass zumindest manche Arbeitnehmer/innen selbst für ihre Weiterbildung am Arbeitsplatz aufkommen, indem sie Lohneinbussen akzeptieren. Andere können dies jedoch nicht, da ihnen dieser Weg wegen ihren persönlichen Konsum- und Kreditbedingungen (z.B. Zahlung von Alimenten, Kreditwürdigkeit etc.) nicht offen steht. Ohne Mindestlohn erhalten jene eine Weiterbildung, welche dafür auch Lohneinbussen in Kauf nehmen können, genau wie in Beckers Modell. Durch die Einführung eines Mindestlohnes ist deren Weiterbildung nun gefährdet. Für andere aber, welche die Weiterbildung nicht finanzieren konnten, könnte nun die Weiterbildung erhöht werden, da es sich für die Firmen wiederum lohnt, bei einem Mindestlohn ihre Produktivität zu erhöhen. Das Ausmass dieses Effekts hängt von der Höhe der Rente ab, welche Firmen abschöpfen können. Die Autoren nutzen diese Erkenntnis und vergleichen Sektoren mit unterschiedlich hohen Firmenrenten und unterschiedlicher Wettbewerbsintensität. Dazu verwenden sie Daten zur Lohnspreizung (geringere Lohnspreizung ist ein Indiz für einen höheren Wettbewerbsdruck und für eine niedrigere Rente) und finden tatsächlich die erwarteten Effekte: In Industrien, welche weniger stark dem Wettbewerb ausgesetzt sind, finden sie einen positiven Effekt der Mindestlöhne auf die Weiterbildung. Arulampalam et al. (2004) untersuchen ebenfalls, ob der englische Mindestlohn dazu geführt hat, dass mehr in die Weiterbildung investiert wurde. Die einfache Korrelation in den Rohdaten zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit und die Intensität (Dauer) der Weiterbildung in der Gruppe der vom Mindestlohn direkt Betroffenen grösser ist als in der Kontrollgruppe. Eine Differnce-in-Difference Schätzung zeigte weiter, dass

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in der Treatmentgruppe die Wahrscheinlichkeit um 8% bis 11% und die Intensität um 10% anstiegen. Beide Resultate sind statistisch signifikant. Auch Dickerson (2006) findet einen solchen Anstieg, allerdings ist dieser statistisch nicht signifikant. Cahuc und Postel-Vinay (2002) zeigen ebenfalls, dass stärker regulierte Arbeitsmärkte die Akkumulation von Humankapital fördern, da der Anteil gut gebildeter Arbeitskräfte in der Produktion erhöht wird. Auch diese Ergebnisse unterstützen die von Acemoglu und Pischke getroffenen Annahmen. Das Wettbewerbsmodell scheint in Zusammenhang mit Weiterbildung nicht optimal zu sein, um den Tieflohnsektor zu beschreiben. Offenbar erzielen Firmen Renten auf Kosten der Arbeitnehmenden, sodass sich ein Mindestlohn tatsächlich positiv auf die Weiterbildung auswirkt. Cahuc und Michel (1996) thematisieren in einem Mehrgenerationenmodell zusätzlich die Investitionen der Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder und zeigen: Mit steigendem Lohn der Eltern nehmen diese Investitionen zu.

3.8. Mindestlöhne und Einkommensverteilung Die empirische Erfahrung westlicher Länder zeigt, dass Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohnes ihre Wirkung vor allem im Bereich um den Mindestlohn entfalten. Schmid und Schulten (2006) sowie Burgess und Usher (2003: 69) stellen in Frankreich eine Kompression im untersten Bereich der Lohnverteilung fest. Dies liegt daran, dass verschiedene Lohnklassen ganz unten in der Lohnhierarchie von den regelmässigen Mindestlohnerhöhungen erfasst wurden und damit alle auf das einheitliche Niveau des Mindestlohnes angestiegen sind. Bei der Einführung lag der englische Mindestlohn bei £3.60 pro Stunde, was 45,7% des Medianlohns entsprach. 1,2 Mio. Arbeitnehmende waren von der Einführung des Mindestlohnes betroffen, und der durchschnittliche Lohnanstieg zwischen 1998 und 1999 betrug für das unterste Dezil der Lohnverteilung mit 10% das Doppelte des durchschnittlichen Lohnwachstums. Betrachtet man das Lohnwachstum nach Perzentilen, so stellt man fest, dass dieses vor der Einführung des Mindestlohnes unterhalb des Medians unterdurchschnittlich war, während es seit der Einführung unterhalb des Medians überdurchschnittlich hoch ist. Das Lohnwachstum oberhalb des Medians hat sich dagegen kaum verändert, für die obersten 15% der Lohnverteilung hat das Wachstum – ähnlich wie in anderen Industrienationen – gar noch zugenommen (Metcalf 2007: Abbildung 2). Auch Neumark et al. (1999) zeigen in 35 ihrer Arbeit anhand von amerikanischen Haushaltsdaten, dass die Lohnelastizität gleich beim Mindestlohn am höchsten ist und dann immer weiter abnimmt. Auf Löhne in zweifacher Höhe des Mindestlohnes und höher hat eine Anhebung des Mindestlohnes keinen Effekt mehr. Unter Berücksichtigung von lagged effects zeigt sich jedoch, dass die anfänglichen Einkommensgewinne ein Jahr später wieder „zurückgegeben“ werden. Die Autoren vermuten, dass die Tieflohnbezüger nach einer Mindestlohnerhö-

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Die Lohnelastizität ist hier ein Mass für die prozentuale Veränderung des Lohnes als Reaktion auf eine einprozentige Erhöhung des Mindestlohnes.

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hung im Gegensatz zu anderen Arbeitnehmer/innen keinen Teuerungsausgleich erhal36 ten. Zur Problematik der Working Poor gilt es festzuhalten, dass diesen mit einem Mindestlohn alleine nicht aus der Armut heraus geholfen werden kann. Gemäss Bundesamt für Statistik (2008: S.25) bezogen 2006 33 % der Working Poor in der Schweiz auch einen Tieflohn. Die restlichen 66 % der Working Poor sind aus anderen Gründen von Armut betroffen, beispielsweise wegen Teilzeitarbeit und prekären Arbeitsverhältnissen, sowie Eltern mit kleinen Kindern und Alleinerziehende. Wenn die unteren Löhne angehoben werden, ist allerdings anzunehmen, dass sich die Lohnschere insgesamt schliesst. Durch eine umfassende Mindestlohnkampagne in allen Branchen oder durch einen allgemeingültigen gesetzlichen Mindestlohn wird die 37 Lohnhierarchie im unteren Bereich der Lohnverteilung abgeflacht. Eine Studie des Conseil d’Analyse Économique (CAE) in Frankreich (Cahuc et al. 2008) zeigt, dass sich die Lohnrelationen seit 1975 nur leicht verschoben haben. Das Verhältnis vom fünften zum ersten Dezil hat geringfügig abgenommen, worin die Kompression am unteren Ende der Lohnverteilung zu erkennen ist. Insgesamt hat sich die Lohnschere wie angenommen eher geschlossen: Das Verhältnis vom neunten zum ersten Dezil ist zwischen 1975 und 2003 von 3,5 auf 3 zurückgegangen. In England ist die Lohnungleichheit, gemessen am Verhältnis D5/D1, ebenfalls zurückge-gangen, was laut Dickens und Manning (2006) auf die Einführung des Mindestlohnes 1998 zurückzuführen ist. Weiter hat in der Regel die Immigration Auswirkungen auf Löhne und Beschäftigung. Doch während der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in England im Zeitraum von 1999 bis 2005 von 8,7% auf 11,5% anstieg, hätte das Verhältnis D5/D1 unter sonst gleichen Bedingungen um 3 Prozentpunkte ansteigen müssen, was aber nicht geschah (Metcalf 2007, S. 3 ff.). Der Mindestlohn hat so einen wichtigen Dienst geleistet, um die Löhne bei steigender Einwanderung nach unten abzusichern. Ein gesetzlicher Mindestlohn komprimiert erwartungsgemäss die Lohnverteilung im unteren Ende und hilft damit, ein in breiten Kreisen anerkanntes gesellschaftspolitisch wünschenswertes Ziel zu erreichen. Bei der Festlegung der mittleren und oberen Lohnklassen über sozialpartnerschaftliche Verhandlungen kann die Entwicklung des Mindestlohnes zudem als Orientierung dienen, so dass die Struktur der Lohnhierarchie erhalten und den qualifizierten Arbeitnehmenden eine angemessene Bildungsrendite gesichert bleibt. Hierbei spielen Gewerkschaften in jedem Fall ebenfalls eine bedeutende Rolle. 36

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Interessant ist, dass für Gewerkschaftsmitglieder im Tieflohnbereich diese negativen, verzögerten Effekte kaum feststellbar sind sondern sie im Gegenteil besser gestellt werden (Neumark et al. 1999, Schmitt 2008). Dies ist auf den speziellen Status sozialpartnerschaftlicher Vereinbarungen in den USA zurückzuführen, wo nur Gewerkschaftsmitglieder einem GAV (sog. collective agreements) unterstellt sind. Unter dieser Konstellation profitieren gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer auf Kosten der nicht-organisierten. Bliebe die Lohnhierarchie erhalten, verschöbe sich die gesamte Lohnverteilung nach rechts, ohne dabei schmaler, d.h. gleichmässiger zu werden. Eine solche gesamthafte Verschiebung ist deshalb nicht zu erwarten, weil dadurch in einem Unternehmen bei Mindestlohnerhöhungen die Lohnkosten auf allen Ebenen steigen würden.

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Fazit: Keine negativen Beschäftigungseffekte

Die vorgestellten Studien zeigen, dass die klassische Lehrbuchmeinung, wonach ein Mindestlohn klar negative Effekte auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit hat, durch die Empirie widerlegt wird. Neuere Studien zeigen nicht nur, dass die negativen Beschäftigungseffekte ausbleiben, sondern auch, dass ein Mindestlohn die Beschäftigung unter Umständen sogar erhöhen kann. Diverse Studien zeigen zudem, dass die Ergebnisse nicht robust sind und vom Untersuchungsdesign abhängig sind. Dies hat in neuerer Zeit Debatten zur Methodik bei der Analyse von Mindestlohneffekten ausgelöst und zur Weiterentwicklung statistischer Ansätze beigetragen. Auch die OECD (2010) und die ILO (2010) gehen in aktuellen Publikationen auf diese Forschungsergebnisse ein. So schreibt die OECD: “[…] the ratio of the statutory minimum wage to the median wage is associated with no significant alteration of gross worker flows” und “taking also into account the micro-economic literature, this suggests that statutory minimum wages have at best second-order impacts on labour reallocation” (S.197). Doucouliagos und Stanley (2009) haben eine Metastudie zu Mindestlohnuntersuchungen durchgeführt und kommen zum Schluss, dass Mindestlohnerhöhungen keine signifikanten (weder tatsächlich noch statistisch) Beschäftigungseffekte nach sich ziehen. Zudem konnten sie zeigen, dass bisherige Metastudien unter einem Selektionseffekt leiden, wonach bevorzugt Studien ausgewählt wurden, welche negative Beschäftigungseffekte aufwiesen. Insgesamt muss man aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse schliessen, dass Mindestlöhne keine Effekte auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit haben.

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IV. Regulierung der Mindestlöhne In den vorangegangenen Kapiteln wurde der Stand des Lohnschutzes durch GAV und NAV auf dem Schweizer Arbeitsmarkt dargestellt und die Problematik der Tieflohnbezüger/innen beleuchtet. Nachdem die Frage nach den ökonomischen Auswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohnes diskutiert und die Mindestlohnpolitik verschiedener europäischer Länder vorgestellt wurde, soll im Folgenden die rechtliche Situation in der Schweiz näher untersucht werden. Welche Möglichkeiten bietet das schweizerische Rechtssystem zur Festsetzung von Minimalstandards bei der Entlohnung? Wo gibt es Wege, diese auszubauen, wo sind Grenzen gesetzt? Und: Wie liesse sich die Idee eines nationalen, flächendeckenden Mindestlohnes aus juristischer Sicht umsetzen?

1

Grundsätze der Lohnfestsetzung in der Schweiz

1.1. Schranken der Vertragsfreiheit – Löhne können nicht beliebig festgelegt werden Das schweizerische Recht kennt keine allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnvorschriften. Die Höhe des Lohnes richtet sich in der Schweiz grundsätzlich nach Einzel- oder Kollektivvereinbarung. Allerdings sind der Vertragsfreiheit im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberschaft zunächst durch verschiedene Bestimmungen des Privatrechts selbst Grenzen gesetzt. Der Arbeitsvertrag ist nicht nur Leistungsaustauschvertrag, sondern auch Schutzvertrag. Der in Art. 27 Abs. 2 ZGB sowie Art. 328 OR garantierte Persönlichkeitsschutz verbietet übermässige Bindungen des Einzelnen. Arbeitsverträge, die bei voller Erwerbstätigkeit zu keinem existenzsichernden Einkommen führen, gelten als persönlichkeitsverletzend und somit als rechtswidrig (Geiser 1998: 809 ff.). Nichtsdestotrotz sind in der Schweiz immer wieder stossend tiefe Löhne anzutreffen. Denn der Rechtsschutz bei Persönlichkeitsverletzungen ist für die Betroffenen mühselig und kostspielig. Eine weitere Schranke der Vertragsfreiheit ist das Lohngleichheitsgebot zwischen Frauen und Männer (Art. 8 Abs. 3 BV). Für gleichwertige Arbeit ist Mann und Frau der gleiche Lohn geschuldet. Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung kommt aber bei der Lohnfestsetzung nur sehr beschränkt zum Tragen. Beliebige Differenzierungen zwischen den einzelnen Arbeitnehmenden sind erlaubt. Wer mit dem Arbeitgeber weniger gut zu verhandeln weiss als seine Kollegen, hat nach Auffassung des Bundesgerichts den daraus resultierenden tieferen Lohn hinzuneh38 men. Das Personenfreizügigkeitsabkommen hält für Arbeitnehmende aus EU38

BGE 4C.269/2002, E. 3.1.

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Mitgliedstaaten fest, dass diese für gleichwertige Arbeit Anspruch auf gleichen Lohn wie die inländischen Arbeitnehmenden haben. Dieses Diskriminierungsverbot hat direkte zivilrechtliche Wirkung. Es konnte sich jedoch in der Praxis noch nicht durchsetzen. Zudem stellen die flankierenden Massnahmen (v. a. Art. 360a ff OR, AVG,, EntsG) eine zusätzliche Schranke der Vertragsfreiheit dar. Sie verlangen Interventionen der tripartiten Kommissionen bei Lohnunterbietungen – egal ob bei in- oder ausländischen Arbeitskräften: Stellt eine tripartite Kommission eine wiederholte und missbräuchliche Lohnunterbietung fest, so ist sie befugt, einen Normalarbeitsvertrag mit zwingenden Mindestlohnbestimmungen zu erlassen (vgl. 3). Für Temporäre (Art. 20 AVG bzw. Art. 48a AVV ) und Entsandte (Art. 2 EntsG) gelten die Lohnbestimmungen der allgemeinverbindlichen GAV. Lohnfestsetzungsregelungen sind zudem in einzelnen spezifischen Gesetzgebungen zu finden. So etwa in der Ausländergesetzgebung: Ausländerinnen und Ausländer - namentlich aus Drittstaaten - können zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz nur zugelassen werden, wenn die orts-, berufs- und branchenüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Die Lohnbedingungen stellen auf die Lohnvorschriften in Gesamt- und Normalarbeitsverträgen ab, sowie auf die üblichen Löhnen im selben Betrieb und in derselben Branche. Daraus folgt, dass bei Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt Mindestlöhne eingehalten werden müssen. Diese öffentlich-rechtliche Lohnvorschrift geht anderslautenden Vereinbarungen unter den Parteien vor, der Arbeitgeber hat trotz Vereinbarung eines tieferen Lohnes den üblichen Mindestlohn zu bezahlen. Laut Heimarbeitsgesetz muss der Heimarbeitslohn dem Lohn gleichwertiger Arbeit der im Betrieb Beschäftigten entsprechen. Fehlt ein vergleichbarer Betriebslohn, so ist der im betreffenden Wirtschaftszweig übliche regionale Lohnansatz für ähnliche Arbeiten anzuwenden. Auch im öffentlichen Beschaffungsrecht finden sich Vorschriften, die auf die Einhaltung eines Lohnniveaus abzielen. Unternehmen, welche öffentliche Beschaffungen ausführen, müssen laut eidgenössischen (Art. 8 Abs. 1 lit. b BoeB) und kantonalen Submissionsvorschriften orts- und branchenübliche Löhne bezahlen. Damit ist in erster Linie die Einhaltung des am Leistungsort üblichen GAV gemeint. Bei Lohnunterbietung fehlt jedoch eine direkte Sanktionierung. Der einzelne Arbeitnehmer hat keine direkte Klagemöglichkeit gestützt auf das Beschaffungsrecht. Vielmehr kann der Auftraggeber bei Missachtung der Lohnvorschriften Konventionalstrafen verhängen, wobei Kontrollen selten sind. Ähnlich verhält es sich bei der Erteilung von Konzessionen beziehungsweise Bewilligungen für Tätigkeiten oder Nutzungen, die dem Gemeinwesen vorbehalten sind (zum Beispiel im Postdienst oder im Eisenbahnverkehr). Auch hier wird die Einhaltung der orts- und branchenüblichen Arbeitsbedingungen verlangt. Die „orts- und branchenüblichen Arbeitsbedingungen“

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umfassen aber mehr als nur einen möglichen Mindestlohn, sie definieren ein allgemeines Lohnniveau inkl. Lohnabstufungen und Altersvorsorge etc. Staatliche Lohneinwirkung ist auch im Rahmen der Arbeitslosenversicherung möglich. Kantonale Behörden können Vorschriften über Minimallöhne für Solidaritätsbeschäftigungen (zweiter Arbeitsmarkt) erlassen. Dabei können nach Ansicht des Bundesgerichts sogar Minimallöhne vorgeschrieben werden, die unter den Mindestlöhnen von allgemeinverbindlich erklärten GAV oder NAV mit zwingenden Mindest39 löhnen liegen. Diese fragwürdige Rechtsprechung bezieht sich zwar ausdrücklich nur auf Beschäftigungen im so genannten zweiten Arbeitsmarkt; sie zeigt aber auf, dass staatliche Interventionen im Lohnsektor auch zur Lohnunterbietungsgefahr werden können.

1.2. Verfassungsrechtliche Vorgaben – Existiert ein Anspruch auf gesicherte Mindestlöhne? Die Bundesverfassung statuiert in Art. 41 Abs. 1 lit. d, dass Erwerbsfähige ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten sollten. Zu den „angemessenen Bedingungen“ der Arbeit gehören nicht nur die konkreten Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz selbst, sondern namentlich auch der Lohn. Damit ist ein existenzsichernder Lohn gemeint. Diese als Sozialziel formulierte Absicht begründet aber keine verfassungsmässige Verpflichtung zur Festlegung von Mindestlöhnen. Die in Art. 41 BV aufgeführten Sozialziele auferlegen Bund und Kantonen sozialpolitische Verantwortung aber nur in einem programmatischen oder treffender in einem symbolischen Sinn. Denn die Sozialziele begründen nach herrschender Lehre weder Kompetenzen noch Individualrechte. Auch das in Art. 12 BV garantierte Grundrecht auf Existenzsicherung vermag keine staatliche Kompetenz zum Erlass von Mindestlohnvorschriften zu begründen. Das Grundrecht auf Existenzsicherung ist einer der wenigen sozialen Leistungsansprüche der Bundesverfassung. Es garantiert aber nicht ein Mindesteinkommen, son40 dern „nur, was für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar ist“. Damit erweist sich das Grundrecht auf Existenzsicherung nicht als tauglicher Anknüpfungspunkt für einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Konkretisierung des Grundrechts auf Existenzsicherung richtet sich nach den individuellen Umständen der Notlage und wird als Überlebenshilfe, die vor einer unwürdigen Bettelexistenz bewahren soll, betrach-

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BGE 134 I 269: Der Fall betraf die Minimallöhne der Genfer „emplois de solidarité“. Diese lagen mit Fr. 3000 brutto für Ungelernte und Fr. 3500 für Gelernte weit unter den Mindestlöhnen in GAV. BGE 131 I 166, 172.

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tet. Orientierungsgrösse ist dabei die materielle Grundsicherung nach den SKOS41 Richtlinien, wobei Abweichungen nach unten verfassungskonform sind. Aus der Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV) lässt sich kein Anspruch auf einen existenzsichernden Lohn ableiten. Die Koalitionsfreiheit ist in erster Linie ein gegen den Staat gerichtetes Abwehrrecht. Sie dient aber auch der Sicherung der schweizerischen Wirtschaftsordnung, indem sie die Stellung der strukturell schwächeren Arbeitnehmerseite verbessert. Die Koalitionsfreiheit insbesondere in ihrer Ausprägung als Tarifautonomie ermöglicht es die Kräfte zu bündeln, um bessere Arbeits- und Lohnbedingungen auszuhandeln. Die Verfassung auferlegt dem Staat die allgemeine Verpflichtung, sich für die Verwirklichung der Koalitionsfreiheit einzusetzen (Art. 28 i.V.m. Art. 35 BV). Über Inhalt und Ausmass dieser Verpflichtung herrscht keine Klarheit. Einzig die Vorschriften über die Gesamtarbeitsverträge (GAV) sowie die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) können damit aber nicht gemeint sein. Vielmehr müsste der Staat auch im Sinne des für die Schweiz bindenden IAOÜbereinkommens Nr. 98 aktiv den Abschluss von GAV fördern.

1.3. Für gesetzliche Mindestlöhne ist keine zusätzliche Verfassungsgrundlage nötig Für den Erlass von gesetzlichen Mindestlöhnen ist keine zusätzliche Verfassungsgrundlage nötig. Die Art. 95 Abs. 1 (privatrechtliche Erwerbstätigkeit), 110 Abs. 1 BV (Arbeitnehmerschutz) und 122 Abs. 1 BV (Zivilrecht) stellen nämlich eine ausreichende Grundlage dar und erteilen dem Bund die nötigen Kompetenzen zum Erlass von Lohnschutzregeln (Lepori Tavoli 2009: 159). Ohne zusätzliche Verfassungsgrundlage konnten zum Beispiel die neuen OR-Bestimmungen über obligatorische Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen (Art. 360a ff OR) erlassen werden: Ihre Ver42 fassungsmässigkeit stand ausser Zweifel. Diese Frage wurde in der Botschaft nicht einmal erwähnt. Die politischen Vorstösse, welche die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes gefordert haben, sind immer mit dem (politischen) Argument verworfen worden, wonach Mindestlöhne „nicht ins schweizerische System des Arbeits43 marktes“ passen würden . Das Parlament hat jeweils nicht aufgrund fehlender Verfassungsgrundlage oder mangelnder Vereinbarkeit mit anderen Verfassungsbestimmungen, sondern aus rein politischen Motiven darauf verzichtet, in diesem Gebiet zu legiferieren. Insbesondere stellt der Art. 110 Abs. 1 lit. A BV (Arbeitnehmerschutz) eine genügende Verfassungsgrundlage dar. Die Lehre ist nämlich der Ansicht, dass diese 41

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Ein Taggeld von Fr. 13.- für die Unterkunft und Fr. 8.- für Nahrung erschien dem Bundesgericht zwar als gering, nicht jedoch als verfassungswidrig. BBl. 1999 6128 ff. So z. B. der Bundesrat in seiner Antwort auf die Motion 98.3564 Borel/Rennwald oder die nationalrätliche Kommission für Wirtschaft und Abgabe in ihrem Bericht über die parl. Ini. 05.425 Zysiadis.

Kompetenznorm dem Gesetzgeber einen ausserordentlich grossen Spielraum gibt und dass es keinen Bereich des Arbeitnehmerschutzes gibt, in dem der Bund nicht legiferieren darf (Gächter 2008: 1732). Dieser Artikel gibt dem Bund die Kompetenz, die Sozialziele von Art. 41 Abs. 1 lit. d BV zu konkretisieren (Aubert/Mahon 2003: 851). Die Lehre scheint zudem der Ansicht zu sein, dass die flankierenden Massnahmen sich auf Art. 110 Abs. 1 lit. a BV abstützen (Aubert/Mahon 2003: 853f., Gächter 2008: 1732f.), auch wenn nicht alle betroffene Erlasse es ausdrücklich erwähnen (das ist etwa der Fall des EntsG). Die autonome Festlegung der Lohnhöhe steht als Teil der Vertragsfreiheit unter dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Mindestlohnvorschriften sind daher ein Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit. Sie müssen also den Schranken für Grundrechtseingriffe (Art. 36 BV) entsprechen. Das bedeutet, dass Mindestlohnvorschriften einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein müssen. Schliesslich muss der Kerngehalt der Grundrechte gewahrt werden. Es steht ausser Zweifel, dass Mindestlöhne ein öffentliches Interesse verfolgen: Existenzsichernde Löhne sind sowohl als Menschenrecht (z. B. in Art. 7 lit. A UNO-Pakt I) als auch als Staatsziel (Art. 41 Abs. 1 lit. D BV) anerkannt. Schliesslich ist die Lehre darüber einig, dass eine Mindestlohnregelung den Kerngehalt der Wirtschaftsfreiheit nicht tangiert (Lepori Tavoli 2009: 152f m. w. H.). Das Bundesgericht, welches über die Frage der Gültigkeit der Genfer kantonalen Mindestlohninitiative zu entscheiden hatte, sprach sich klar dafür aus, dass eine Mindestlohnregelung einen gerechtfertigten Eingriff in die Grundrechten darstellt, ohne aber gross in die Details einzugehen. Es bejahte aber klar das öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit, weil der Staat bei der Festlegung des Mindestlohns der Situation in den einzelnen Branchen sowie den vorhandenen GAV-Mindestlöhnen Rechnung zu tragen 44 habe . Darüber hinaus muss eine weitere Schranke beachtet werden. Als Besonderheit der schweizerischen Wirtschaftsverfassung gilt allgemein, dass staatliche Massnahmen den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Art. 94 BV), d.h. die zentralen Elemente des Marktmechanismus wie die Wettbewerbsfreiheit oder die Staatsfreiheit der Wirtschaft, respektieren müssen. Abweichungen von diesem Grundsatz bedürfen einer Verfassungsgrundlage (Art. 94 Abs. 4 BV). So sind zum Beispiel staatliche Massnahmen, welche die Lenkung der Wirtschaft oder die Ausschaltung des Wettbewerbs zum Ziel haben, nicht grundsatzkonform und ohne besondere Verfassungsgrundlage unzulässig. Als grundsatzkonform betrachtet werden hingegen Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit, welche andere öffentliche Interessen (z. B. polizeiliche oder sozialpolitische Ziele) verfolgen und nur sekundäre Auswirkungen auf den freien Wettbewerb haben. Mindestlöhne, welche die Existenzsicherung oder den Schutz von Lohnunterbietung zum Ziele haben, fallen unter diesen Tatbestand: Sie greifen 44

BGE 1C_357/2009 vom 8. April 2010, E. 3.3.

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zwar in die Vertragsfreiheit ein, dieser Eingriff ist aber die sekundäre Auswirkung eines sozialpolitischen und polizeilichen Ziels (Lepori Tavoli 2009: 147f). Schliesslich stellt sich die Frage, ob eine Mindestlohnregelung in die Koalitionsfreiheit eingreifen würde. Dies wird häufig ohne nähere Begründung in der politischen Diskussion behauptet, kann aber verneint werden, wenn die Mindestlohnbestimmung auf die GAV Rücksicht nimmt. In ihren Gutachten über die Zulässigkeit einer kantonalen Volksinitiative haben Mahon/Matthey (Mahon/Mathey 2009: §93) festgestellt, dass ein gesetzlicher Mindestlohn die Verhandlungsfreiheit der Sozialpartner nicht beschränken würde, wenn der Staat bei dessen Erlass die vorhandenen GAV-Mindestlöhne berücksichtigt. GAV-Mindestlöhne sind zudem nur ein kleiner Teil der Kollektivverhandlungen: Die volle Verhandlungsfreiheit der Sozialpartner würde für alle anderen GAV-Bestimmungen über Anfang, Ende und Inhalt des Einzelarbeitsvertrags erhalten bleiben. Die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne würde also einen verhältnismässigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit darstellen (Lepori Tavoli 2009:150ff). Mindestlöhne in Gesamtarbeitsverträgen

Lohnfestsetzung in Gesamtarbeitsverträgen Gesamtarbeitsverträge (GAV) sind in der Schweiz das wichtigste Instrument, um Mindestlöhne durchzusetzen. Die Lohnfestsetzung im GAV dient dem Schutz der Arbeitnehmenden durch Sicherung eines branchenspezifisch angemessenen Lohnniveaus. Die Delegation der Lohnfestsetzungsbefugnis an die GAV-Parteien ermöglicht dem Gesetzgeber, sich der direkten staatlichen Einwirkung auf die Lohnfestsetzung weitgehend zu enthalten. a)

Normative Kraft der Mindestlohnbestimmungen

Bei Mindestlohnregelungen in GAV handelt es sich um so genannte normative Bestimmungen. Dies sind „Bestimmungen über Abschluss, Inhalt und Beendigung der einzelnen Arbeitsverhältnisse“ (Art. 356 Abs. 1 OR), die unmittelbar sowie grundsätzlich unabdingbar und unverzichtbar für die beteiligten Arbeitgeber/innen sowie die beteiligten Arbeitnehmer/innen gelten. Diese normative Kraft ist charakteristisch für Mindestlohnbestimmungen in GAV. Sie begründet die unmittelbar verbindlichen Rechtsfolgen für Drittpersonen, namentlich für die beteiligten Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden (Art. 357 Abs. 1 OR). Die Vertragsparteien eines GAV besitzen mit anderen Worten gegenüber den beteiligten Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden Befugnisse, die mit denjenigen des Gesetzgebers vergleichbar sind. Es gelten auch die gleichen Auslegungsregeln wie für Gesetze. Normative Bestimmungen können von den Sozialpartnern grundsätzlich beliebig ausgestaltet werden, sofern hierbei nicht zu Ungunsten der Arbeitnehmer/innen von

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zwingenden gesetzlichen Bestimmungen abgewichen wird (Art. 357 Abs. 2 Halbs. 2 OR). Einmal festgelegt kann nur noch zu Gunsten der Arbeitnehmer/innen von ihnen abgewichen werden. b)

Durchsetzung von Mindestlohnbestimmungen in Gesamtarbeitsverträgen und Sanktionen

Normative Bestimmungen eines GAV begründen einen direkten zivilrechtlichen Anspruch, der sich auf individueller Ebene durchsetzen lässt, wie wenn sie direkt zwischen den Einzelvertragsparteien vereinbart worden wären. Hierzu stehen alle jeweils gegebenen Zivilklagen zur Verfügung, insbesondere die Erfüllungs- und die Schadenersatzklage. Zusätzlich zu den Zivilklagen der Einzelvertragsparteien sieht das Recht vor, dass auch die Parteien des GAV – also die Verbände – Rechtsmittel zur ergänzenden Durchsetzung normativer Bestimmungen ergreifen können. Dies ist insofern wichtig, weil Arbeitnehmer/innen in der Praxis oft vor der direkten Geltendmachung ihrer Ansprüche zurückschrecken. Die Legitimation der Verbände kann sich aus verschiedenen Rechtsgrundlagen ergeben. So kann ein Berufsverband mit der allgemeinen Verbandsklage in eigenem Namen Ansprüche seiner Mitglieder geltend machen, wenn er damit den Schutz eines kollektiven Interesses bezweckt. Die GAVParteien können aber auch mittels einer Klausel im GAV vereinbaren, dass ihnen gemeinsam ein Anspruch auf Einhaltung des Vertrages gegenüber den beteiligten Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden zusteht (Art. 357b OR). Gemeinsam sind allen diesen Klagemöglichkeiten der Verbände aber, dass die Verletzung von vermögensrechtlichen Bestimmungen des GAV vom Gericht nur festgestellt werden kann. Der Verband selbst kann also keine Schadenersatzforderungen geltend machen. Dieser Anspruch steht allein den betroffenen Arbeitnehmer/innen zu. Die Konventionalstrafe stellt das wirksamste Mittel der Rechtsdurchsetzung bei Verletzung eines GAV dar. Auch sie muss im GAV vereinbart werden. Die verbandsrechtliche Verpflichtung zur Leistung der Konventionalstrafe tritt in diesem Fall zu den Verpflichtungen aus den Einzelarbeitsverträgen hinzu. Gemäss Art. 163 Abs. 3 OR kann der Richter übermässig hohe Konventionalstrafen nach seinem Ermessen herabsetzen. Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass es nicht bundesrechtswidrig sei, die Strafe an die Grösse und den Ertrag eines Be45 triebes anzupassen. c)

Geltungsbereich der Mindestlohnbestimmungen in Gesamtarbeitsverträgen

Damit Mindestlohnbestimmungen eines GAV für ein bestimmtes Arbeitsverhältnis zwingend Anwendung finden, müssen mehrere Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt 45

BGE 116 II 302, E. 4.

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sein: (1) das Arbeitsverhältnis muss in den sachlichen, persönlichen und räumlichen Geltungsbereich des GAV fallen, (2) der GAV muss in Kraft sein und (3) der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber müssen beide am GAV beteiligt sein. Jeder GAV definiert seinen Geltungsbereich selber. In räumlicher Hinsicht findet er in einem durch den GAV bestimmten geografischen Raum Anwendung (Ort, Kanton, Land). In sachlicher Hinsicht kann man zwischen Berufs-GAV, Branchen-GAV und Firmen-GAV unterscheiden. Ausserdem kann es vorkommen, dass gewisse Arbeitnehmende oder gewisse Arbeitgebende vom Geltungsbereich des GAV ausdrücklich ausgenommen werden oder verschiedene Regelungen nach Kategorien aufgestellt werden. In zeitlicher Hinsicht ist der GAV nur zwingend rechtswirksam, solange er in Kraft ist. Die Regelungen des GAV bleiben aber auch nach Erlöschen des GAV wirksam sofern der Einzelarbeitsvertrag nicht geändert wird. Dem GAV unterstellt sind alle den Unterzeichnerverbänden des GAV angeschlossene Arbeitnehmende und Arbeitgebende sowie Arbeitgebende, die direkt GAV-Partei sind. Doch auch Nicht-Mitglieder der GAV-Parteien können Mindestlohnregelungen in GAV unterstellt werden. Das Gesetz sieht hier namentlich die Möglichkeit des Einzelanschlusses von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden vor (Art. 356b Abs. 1 OR). In diesem Fall wird die gesamtarbeitsvertragliche Bestimmung über eine Mindestentlöhnung ebenfalls direkt anwendbar. Der Geltungsbereich eines GAV kann aber auch durch Vereinbarung der Vertragsparteien ausgedehnt werden. So können sich die beteiligten Arbeitgeber/innen dazu verpflichten, die arbeitsvertraglichen Bestimmungen des GAV auf alle Arbeitnehmenden anzuwenden und nicht nur auf die Mitglieder der GAV-Verbände. Die Arbeitnehmer/innen können aus einer solchen Ausdehnungsklausel aber keine eigenen Rechte herleiten und weder gegen ihren Arbeitgeber noch gegen den Arbeitgeberverband vorgehen. Einzig der Arbeitnehmerverband kann wie oben ausgeführt die Verletzung des GAV feststellen lassen und auf Vertragstreue pochen. Der direkte Schutz der Arbeitnehmenden vor Lohndumping ist mittels Ausdehnungsklauseln 46 jedoch nicht gewährleistet. Dasselbe gilt für Mindestlohnregelungen in GAV, welche durch Vereinbarung in einen Einzelvertrag übernommen werden. Ihnen fehlt die normative Kraft. Solche im Einzelvertrag übernommene Mindestlöhne können etwa mittels Änderungskündigung herabgesetzt werden.

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BGE 123 III 129: Eine Verkäuferin, die nicht Gewerkschaftsmitglied war, klagte gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin auf Zahlung der Differenz zwischen ihrem Lohn und dem gemäss GAV vorgesehenen Mindestlohn. Der fragliche GAV enthielt zwar eine Ausdehnungsklausel zugunsten aller Arbeitnehmer/innen. Das Bundesgericht entschied aber, dass die Verkäuferin daraus keinen zivilrechtlichen Anspruch gegen den Arbeitgeber ableiten konnte.

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Die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen Die Möglichkeiten des GAV, die private Lohngestaltung zu beeinflussen, kommen in erster Linie mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) zur Geltung. Sie ist neben der staatlichen Mindestlohnfestsetzung die unmittelbarste Art der staatlichen Lohnintervention. Durch eine AVE wird der persönliche Geltungsbereich von gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen auf alle Arbeitsverhältnisse eines Berufes oder Wirtschaftszweiges ausgedehnt, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Arbeitnehmeroder Arbeitgeberorganisation. Sinn der AVE ist es, den Aussenseitern, die nicht am GAV beteiligt sind, angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern. Mindestlöhne, die in allgemeinverbindlichen GAV geregelt sind, erzielen deshalb die gleiche Wirkung wie gesetzliche Mindestlöhne. Mit diesem Instrument kommt es zu einer Regulierung der ganzen Branche. Die Konkurrenz zwischen den Anbietern erfolgt nicht über mögliche Lohnunterbietungen, sondern über die Qualität und Produktivität der Leistungen. Durch die Ausdehnung des GAV wird die privatrechtliche Konzeption der GAV-Bestimmungen aber nicht geändert. Die AVE erfolgt durch den Bundesrat beziehungsweise den betroffenen Kanton mit Genehmigung des Bundes (Art. 7 und 13 AVEG). Die Behörde kann jedoch weder die Initiative für eine AVE ergreifen, noch kann sie Einfluss nehmen auf den Inhalt des allgemeinverbindlich zu erklärenden GAV (Portmann und Stöckli 2004: 28). Deshalb handelt es sich bei der AVE um einen Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung (Fent 1999: 49). Das Bundesgericht hat die AVE im Verhältnis zu den 47. antragstellenden Sozialpartnern als einen Verwaltungsakt qualifiziert. Kantonale Allgemeinverbindlicherklärungen können daher mit Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten angefochten werden (Art. 82 lit. b BGG, Beschwerde gegen Erlasse). Gegen bundesrätliche Entscheide über die Ausdehnung der Allgemeinverbindlichkeit ist aber keine Beschwerde möglich (Brunner et al. 2005: 364). Art. 110 Abs. 1 BV gibt dem Bund eine Kompetenz im Bereich des Arbeitnehmerschutzes, die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV wird ausdrücklich genannt (Art. 110 Abs. 1 lit. d und Abs. 2). Dennoch handelt es sich bei der AVE um einen nicht unerheblichen Eingriff in die Privatautonomie, namentlich betroffen sind die Wirtschafts- und Koalitionsfreiheit. Deshalb ist sie an strenge Voraussetzungen gebunden. Eine AVE setzt einerseits die Einreichung eines gemeinsamen Antrags durch alle Vertragsparteien an die zuständige Behörde (Art. 8 AVEG) und andererseits die Erfüllung mehrerer materieller Bedingungen (Art. 2 AVEG) voraus. Die wichtigste dieser materiellen Voraussetzungen ist das Erfordernis der dreifachen Mehrheit (Art. 2 Ziff. 3 AVEG): sowohl die am GAV beteiligten Arbeitgebenden als auch die Arbeit47

BGE 128 III 18 f.

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nehmenden müssen je mehr als 50% aller Arbeitgeber / Arbeitnehmer ausmachen, die dem GAV nach dessen AVE unterstehen werden; ausserdem müssen die am GAV beteiligten Arbeitgebenden mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmenden beschäftigen, die dem GAV nach dessen AVE unterstehen werden. In der Praxis hat sich aber das Arbeitnehmerquorum, für dessen Berechnung die Behörden über eine Ermessensfreiheit verfügen, als unbedeutend erwiesen (Roncoroni: 425f.). Im Rahmen der flankierenden Massnahmen zum Freizügigkeitsabkommen mit der EU wurde eine erleichterte Form der AVE eingeführt, die der Bekämpfung von Lohnund Sozialdumping dient. Neu wird einer tripartiten Kommission das Recht eingeräumt, mit Zustimmung der GAV-Parteien die AVE eines einschlägigen GAV zu beantragen, sofern wiederholte Missbräuche im Sinne von Art. 1a AVEG festgestellt 48 werden. In diesem Fall sieht Art. 2 Ziff. 3bis AVEG als Quorum vor, dass die beteiligten Arbeitgeber/innen mindestens 50% aller Arbeitnehmenden beschäftigen müssen, damit der betreffende GAV allgemeinverbindlich erklärt werden kann.

1.4. Förderung von Gesamtarbeitsverträgen Vorteil von gesamtarbeitsvertraglich bestimmten Mindestlöhnen ist, dass so nach branchenmässig und regional angepassten Lösungen gesucht und auf unternehmerische Gegebenheiten Rücksicht genommen werden kann. Im Gegensatz zu einem gesetzlichen Mindestlohn besteht bei Mindestlohnregelungen in GAV nicht die Gefahr, dass aus Rücksicht auf die wirtschaftlich schwächsten Branchen ein Mindestlohn festgelegt wird, der zur Existenzsicherung nicht genügt. Ein Branchen-GAVMindestlohn hat nämlich zum Ziel, die Löhne nur innerhalb der betroffenen Branche zu regulieren. Er muss also nur den Verhältnissen dieser Branche Rechnung tragen, bzw. kann andere, lohnschwächere Branchen ausser Acht lassen. Die Lohnfestsetzung in GAV bietet überdies die Möglichkeit, nach Qualifikation abgestufte Mindestlöhne zu vereinbaren und so eine gewisse Dynamik bei der Lohnentwicklung zu erreichen. Der Anteil der Arbeitsverhältnisse in der Schweiz, die einer GAVMindestlohnregelung unterstellt sind, variiert jedoch immer noch stark nach Branchen. Weiterhin fehlen GAV in Tieflohnbranchen wie dem Strassentransport, der Landwirtschaft oder den persönlichen Dienstleistungen. Das Vorhandensein, Niveau und die Regulierungsdichte der GAV hängen jeweils sehr stark von den Kräfteverhältnissen im jeweiligen Bereich ab (Organisationsgrad und Aktionsfähigkeit der Arbeitnehmerverbände). Wo GAV bestehen, können Mindestlöhne sozialpartnerschaftlich ausgehandelt, angehoben und durchgesetzt werden. Deshalb ist es wichtig, dass alle Branchen mit GAV abgedeckt werden. Gleichzeitig muss auch die 48

„wenn festgestellt wird, dass in der betreffenden Branche oder in einem Beruf die orts-, berufs- oder branchenüblichen Löhne und/oder Arbeitszeitbedingungen wiederholt in missbräuchlicher Weise unterboten werden.“

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Reichweite von Kollektivverträgen vergrössert werden. Was gibt es also für mögliche Instrumente, um Abschlüsse von GAV zu fördern und ihren Geltungsbereich weiter zu vergrössern (wie dies beispielsweise durch die AVE geschieht)? a)

Submissionsrecht und Finanzhilfen

Bund, Kantone und Gemeinden gehören zu den bedeutendsten Auftraggebern der Schweiz. Das von ihnen vergebene Volumen beläuft sich auf 40 Milliarden Franken 49 pro Jahr. Von der Beschaffung von Bund, Kantonen und Gemeinden hängen über 300’000 Arbeitsplätze ab. Der Staat hat bei Beschaffungen demzufolge eine Marktmacht, welche die Verhältnisse auf dem Schweizer Arbeitsmarkt erheblich beeinflussen kann. Es ist deshalb nahe liegend, dass in der Wirkungssphäre des Staates viel Potenzial zur Förderung von GAV vorhanden ist. Gemäss Artikel 8 des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen vergibt der Bund Aufträge für Leistungen in der Schweiz nur an Anbieterinnen und Anbieter, die die Einhaltung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsschutzbestimmungen sowie der Lohngleichheit zwischen Frau und Mann gewährleisten. Die Einhaltung dieser Verfahrensgrundsätze ist im Beschaffungsrecht eine Verpflichtung des Bundes und kein Eignungs- oder Zuschlagskriterium zur Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebotes. Die öffentlichen Beschaffungsstellen verlangen allerdings von den Anbieterinnen und Anbietern keinen Anschluss an nicht allgemeinverbindlich erklärte GAV. Es wird lediglich die Einhaltung der arbeitsvertraglichen Bestimmungen des GAV beziehungsweise der branchenüblichen Arbeitsbedingungen verlangt. Die Überprüfung, ob Mindestlöhne tatsächlich eingehalten werden, ist mangelhaft. Nachträgliche Kontrollen sind selten, ebenso Konventionalstrafen oder der Widerruf des Zuschlags bei Lohndumping. Die Durchsetzung von Mindestlöhnen wäre bedeutend einfacher, wenn die Anbieter einem GAV angeschlossen sein müssten. Eine Pflicht zum Abschluss von GAV oder zum Anschluss an einen bestehenden GAV besteht aber im geltenden Submissionswesen nicht, da eine solche Pflicht wohl verfassungswidrig wäre. Eine Änderung dieser Vergabevorschrift würde eine konkrete verfassungsrechtliche Grundlage erfordern. Die öffentliche Hand hat zudem bei der Gewährung von Finanzhilfen eine beachtliche Steuerungsmacht der Märkte. Bei der Vergabe von staatlichen Subventionen müssen die Behörden nach den geltenden Regeln darauf achten, nicht Empfängerinnen und Empfänger zu subventionieren, die offensichtlich und systematisch gegen die Vorschriften unseres Rechtssystems und die geltenden GAV beziehungsweise üblichen Arbeitsbedingungen verstossen. In den meisten Sektoren sind dementsprechend Finanzhilfen in der Regel an die Einhaltung von orts- und branchenüblichen Arbeitsbedingungen gebunden. Dies ist aber nicht in allen Branchen der Fall,

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Gemäss seco-Medienmitteilung im Juni 2009.

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sodass beispielsweise in der Landwirtschaft Finanzhilfen nicht an die Einhaltung von Arbeitsbedingungen geknüpft sind. Dies ist insbesondere dort stossend, wo – wie dies in der Landwirtschaft der Fall ist – ganze Branchen von staatlicher Unterstützung profitieren und gleichzeitig tiefe Löhne ausgerichtet werden. Hier sollten Tiefstlöhne nicht möglich sein und Subventionen davon abhängig gemacht werden, dass in den Branchen Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen existieren. Der verfassungsrechtliche Freiraum in diesem Bereich ist allerdings sehr eng. In BGE 124 I 107 hat das Bundesgericht nämlich entschieden, dass die Verknüpfung von staatlicher Hilfe für Unternehmen mit dem Beitritt zu einem GAV eine unzulässige Einschränkung der Vereinigungsfreiheit darstellt. Laut diesem Urteil würde eine solche Massnahme einer versteckten AVE gleichkommen, ohne dass die Voraussetzungen einer AVE überprüft würden. Eine Förderung von GAV könnte aber auch in anderen Bereichen der staatlichen Wirkungssphäre erreicht werden. So könnte man Auslagerungen öffentlicher Aufgaben oder die Liberalisierung von Märkten zwingend von einer GAV-Abdeckung abhängig machen, so wie es in der Praxis zum Teil schon geschehen ist (Teilliberalisierung der Post, Swisscom). Schwieriger wäre es, eine AVE dieser GAV zu erreichen. Meist wäre hierzu eine Rechtsformänderung der Arbeitsverhältnisse notwendig, denn die Arbeitsverhältnisse müssten privatrechtlich qualifiziert werden, um die erforderlichen Quoren zu erfüllen. b)

Verhandlungspflicht

Eine andere Möglichkeit, das Instrument des GAV effizienter auszugestalten, ist die Einführung einer Pflicht, Verhandlungen über einen GAV zu führen. In der Schweiz besteht zurzeit keine direkte gesetzliche und durchsetzbare Verhandlungspflicht. Eine solche wird bislang aus unbestimmten Rechtsgrundsätzen abgeleitet. So basiert das geltende kollektive Arbeitsrecht grundsätzlich auf dem Prinzip der Abschlussfreiheit. Trotzdem besteht aber auf beiden Seiten eine Pflicht zu bona fide geführten Verhandlungen. Diese Verhandlungspflicht in guten Treuen ergibt sich aus dem Streikrecht als legitimes Arbeitskampfmittel, das auf den Abschluss von GAV ausgerichtet ist. Ausserdem ist das Schutzinteresse der Arbeitnehmerseite höher zu bewerten als die Freiheit der Arbeitgeberseite, in Verhandlungen über den Abschluss eines GAV überhaupt einzutreten. Die Verhandlungspflicht besteht auf Arbeitgeberseite im Prinzip mit jeder tariffähigen Organisation der Arbeitnehmer, die im Betrieb repräsentativ vertreten ist und über das notwendige Gewicht für die Einhaltung und Durchsetzung des GAV verfügt. Laut Bundesgericht dürfen im Hinblick auf die Repräsentativität einer Gewerkschaft keine allzu strengen zahlenmässigen

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Anforderungen gestellt werden. Diesbezüglich herrscht im heutigen System allerdings viel Unsicherheit. Eine durchsetzbare Verhandlungspflicht gibt es bereits in verschiedenen Ländern, beispielsweise in Frankreich, Polen, Luxemburg, den USA und Japan. Die Ausgestaltung der Verhandlungspflicht variiert von Staat zu Staat. Gemeinsam ist ihnen aber, dass die Arbeitgeber/innen verpflichtet sind Verhandlungen zu führen, sobald eine Arbeitnehmerorganisation danach fragt (zum Teil auch umgekehrt). Teilweise sieht das Recht nur die Pflicht zur Verhandlung in guten Treuen vor, in einigen Fällen umfasst die Regelung aber auch eine Pflicht zum Abschluss eines GAV. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, einen Streit an eine staatliche Schlichtungsstelle weiter zu leiten, sofern sich ein Arbeitgeber zu verhandeln weigert oder keine Einigung erzielt werden kann (Luxemburg). In Frankreich gibt es selbst die gesetzliche Pflicht, einmal jährlich über Mindestlöhne und andere Arbeitsbedingungen zu verhandeln. In Japan können sich Arbeitgeberorganisationen sogar mit Schadenersatzforderungen konfrontiert sehen, wenn sie sich ohne genügende Gründe weigern, über einen GAV zu verhandeln und daraus ein Schaden erwächst (Sewerynski 2003: 13). Mit der Einführung einer Verhandlungspflicht muss man aber auch das Problem der Repräsentativität der Sozialpartner, insbesondere der Arbeitnehmerorganisationen, im Auge behalten und wahrscheinlich gesetzlich regeln. Sonst besteht (wie zum Teil in Frankreich immer noch) die Gefahr, dass Arbeitgebende mit PseudoGewerkschaften zu schlechten Bedingungen GAV abschliessen. Eine solche Verhandlungspflicht stellt einen Eingriff in die Tarifautonomie der Sozialpartner, also in die Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV) sowie in die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV), dar. Um in der Schweiz eine solche durchsetzbare Verhandlungspflicht einzuführen, bräuchte es daher eine Gesetzesgrundlage, welche den Grundsatz der Verhältnismässigkeit respektiert und auf einem öffentlichen Interesse beruht (Art. 36 BV). Was die Wirtschaftsfreiheit anbelangt, ist dieser Eingriff als grundsatzkonform (vgl. oben 1.3) zu betrachten, da er nicht die Ausschaltung des Wettbewerbs oder die Lenkung der Wirtschaft zum Ziel hat. Er bedarf also keiner speziellen Verfassungsgrundlage nach Art. 94 Abs. 4 BV. c)

Staatliche Schlichtungs- oder Mediationsstellen

Um Mindestlohnverhandlungen in GAV voranzubringen, sind auch staatliche Schlichtungsstellen für Streitigkeiten denkbar. Luxemburg kennt eine solche staatliche Schlichtungsstelle, die bei Streitigkeiten in kollektiven Verhandlungen automatisch beigezogen wird. Ihr Vermittlungsvorschlag ist zwar rechtlich nicht bindend, in der Praxis halten sich die Sozialpartner aber trotzdem daran. 50

Das Bundesgericht hat in BGE 113 II 37 eine Gewerkschaft als genügend repräsentativ erachtet, die weniger als 10% der Belegschaft vertrat.

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Im Gegensatz zu den bereits bestehenden Einigungsämtern und zu durch GAV selbst vorgesehenen eigenen Schlichtungs- und Schiedsordnungen wäre sie aber nicht nur auf Verlangen der beteiligten Sozialpartner zuständig, sondern käme automatisch zum Zuge, sobald beim Verhandeln eines GAV keine Einigung erzielt werden kann. Die Schlichtungsstelle sollte paritätisch besetzt werden (Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Staat). Ausserdem wäre es denkbar, dass diese Schlichtungsstelle neben einem unverbindlichen Vermittlungsvorschlag auch einen verbindlichen Schiedsspruch fällen könnte, auch ohne das vorgehende Einverständnis der beiden Parteien. Damit könnte ein gewisser Druck zur Einigung auf die Sozialpartner ausgeübt werden, sofern sie keine staatliche Einflussnahme wünschen. Es ist allerdings fraglich, ob dies wirklich die gewünschten Auswirkungen in Richtung höhere Mindestlöhne hätte. Einige Kantone kennen bereits jetzt Schlichtungsstellen mit ähnlichen Kompetenzen (so besteht im Kanton Wallis z.B. die Pflicht zur Einschaltung der kantonalen Einigungsämter bei Streitigkeiten in GAV-Verhandlungen), was in der Praxis eher der Aushöhlung des Streikrechts als dem Schutz der Arbeitnehmerorganisationen dient. Nicht klar ist, inwiefern eine behördliche Kontrolle des GAV mit dem privatautonomen Charakter des GAV vereinbar ist, sobald die GAV-Parteien sich nicht mehr freiwillig der staatlichen Organe bedienen. Ausserdem stellt sich dann die Frage, wie ein bindendes Schlichtungsurteil rechtlich qualifiziert würde. Dieses müsste entweder als NAV mit zwingenden Mindestlöhnen oder als gesetzlicher Mindestlohn für die entsprechende Branche ausgestaltet sein. Weitere Möglichkeiten, den Abschluss von GAV mit Mindestlöhnen zu fördern, sind etwa Generalkollektivverträge, die durch die Dachverbände der Sozialpartner abgeschlossen werden und Mindestarbeitsbedingungen wie Lohn, Ferien und Arbeitszeit regeln. Denkbar wäre auch, dass der Staat jährlich gewisse Richtlinien für Mindestlöhne erlässt. Diese müssten dann von den Sozialpartnern bei der Verhandlung über Mindestlöhne in GAV beachtet werden. d)

Durchsetzung der Lohngleichheit

GAV bieten ein grosses Potential für die Realisation der Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern. In diesem Sinne sollten Mindestlöhne in GAV beziehungsweise GAV an sich verstärkt als Mittel zur Förderung von Lohn- und Chancengleichheit erkannt werden. Eine deutsche Studie zeigt, dass die Lohndifferenz in Betrieben mit Kollektivverträgen um 6% geringer ist als in Betrieben ohne kollektive Verträge. Die ILO hat 2007 in einem Bericht festgehalten, dass sich vor allem in Industrieländern eine klare Tendenz abzeichnet, das Anliegen der Lohngleichheit in die Kollek51

Gemäss dem Bundesgesetz über die eidgenössische Einigungsstelle zur Beilegung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten (EES), sowie kantonale Einigungsämter gem. Art. 30 Fabrikgesetz.

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tivverhandlungen aufzunehmen. Sie hat aber auch festgestellt, dass ein Risiko besteht, wenn man das Thema ausschliesslich den Kollektivverhandlungen überlässt, nämlich jenes, dass die Lohngerechtigkeit anderen Anliegen untergeordnet wird. Insofern bietet es sich an, über eine Verknüpfung staatlicher Förderung von GAV und staatlicher Massnahmen zur Durchsetzung der Lohngleichheit nachzudenken. Frankreich kennt seit 2006 eine gesetzliche Verpflichtung der Arbeitgeber, Verhandlungen über die berufliche Gleichheit durch die Einführung von Massnahmen zu führen, die zum Beispiel dem Arbeitsminister erlauben, einzugreifen und Verhandlungen einzuleiten, wo diese noch nicht stattfanden, und solche Verhandlungen zwingend vorzuschreiben, bevor ein GAV in Kraft treten kann. Das französische Gesetz strebt ausserdem die bessere Vereinbarkeit von Arbeits- und Familienleben und die Verbesserung des Zugangs von Frauen zur Berufsausbildung an, um die Lohngerechtigkeit zu fördern. Das heutige Gleichstellungsgesetz in der Schweiz sieht als staatliche Massnahmen zur Förderung der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern einzig die Möglichkeit staatlicher Finanzhilfen vor. Dies genügt aber im Fall von Lohndiskriminierung nicht. Aufgrund dieser Tatsache beschloss der Bundesrat, mögliche staatliche Instrumente zur Durchsetzung der Lohngleichheit zu prüfen. Im Rahmen eines von der Bundesverwaltung organisierten Hearings diskutierten im November 2007 Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreterinnen und -vertreter über mögliche staatliche Interventionsmöglichkeiten zur Durchsetzung der Lohngleichheit in der Schweiz. Es zeigte sich, dass die Standpunkte diesbezüglich unvereinbar waren. Die Dachverbände der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden beschlossen deshalb, das Ziel der Lohngleichheit auf dem Weg der Sozialpartnerschaft anzustreben. Gemeinsam und unter der Ägide von drei Bundesämtern haben sie das Projekt Lohngleichheitsdialog entwickelt, welches seit 2009 für fünf Jahre läuft. Das Projekt basiert auf dem Abschluss von Vereinbarungen über Lohnkontrollen. Ein für das Ausmass des geschlechtsspezifischen Lohngefälles wichtiger Faktor ist die Ebene, auf welcher der GAV verhandelt wird, d.h. die Unternehmens- oder Sektorebene, sowie der Grad der Koordinierung zwischen den verschiedenen Verhandlungsebenen. Je stärker die Kollektivverhandlungen dezentralisiert sind, desto grösser sind die Lohnunterschiede und das geschlechtsspezifische Lohngefälle. Förderung der Allgemeinverbindlicherklärung Grundsätzlich sind zwei Möglichkeiten denkbar, die zu einer Vereinfachung und somit einer Förderung der heutigen AVE führen. Einerseits könnten die Quoren gesenkt werden, welche Voraussetzung einer AVE sind. Das Arbeitgeberquorum von 50% ist in der Praxis die häufigste Ursache für das Scheitern eines Verfahrens zur AVE. Oft ist der Nachweis der Quoren sehr schwierig und langwierig. Andererseits könnte man das Verfahren der AVE vereinfachen. Beispielsweise indem man die

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Prozedur automatisiert. So erfolgt in einigen europäischen Ländern die Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV von Seiten des Staates, welcher auch dafür zuständig ist den Nachweis der erforderlichen Quoren zu erbringen. In Finnland ist beispielsweise kein Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit erforderlich. Die Arbeitgebenden müssen alle abgeschlossenen GAV innerhalb eines Monats nach Abschluss dem Arbeitsminister überweisen, und beide Sozialpartner müssen dem Minister verschiedene Daten und Statistiken zugänglich machen, so dass dieser die Repräsentativität des GAV überprüfen und allenfalls allgemeinverbindlich erklären kann. Frankreich kennt eine andere Form der Ausdehnung von GAV: Unternehmen werden gesetzlich dazu verpflichtet den GAV auf die gesamte Arbeitnehmerschaft anzuwenden, auch auf Nicht-Mitglieder der vertragsunterschreibenden Gewerkschaften. Die normativen Bestimmungen des GAV werden so für alle Arbeitnehmer/innen direkt einklagbar. Bei dieser Form der Ausdehnung von GAV besteht wie bereits bei der Einführung einer Verhandlungspflicht auch die Gefahr, dass unrepräsentative Gewerkschaften Unterzeichner von minderwertigen GAV werden. Es müssten also Quoren oder Verfahren eingeführt werden, welche die Repräsentativität der Gewerkschaften sicherstellen. Ausserdem sollte bei einem solchen System an ein Einspracheverfahren für andere, nicht-unterzeichnende Sozialpartner gedacht werden. In einem zweiten Schritt kennt Frankreich eine erleichterte Ausdehnung eines GAV auf nicht-organisierte Branchen. Der Staat kann in Ausnahmefällen einen GAV ausdehnen auf Branchen, Berufe oder geographische Regionen, in denen es aufgrund fehlender Sozialpartner oder fehlender Einigung während mehr als 5 Jahren zu keinem Abschluss von GAV gekommen ist. Ebenfalls im Rahmen der flankierenden Massnahmen bereits diskutiert wurde der Verzicht auf das Arbeitnehmerquorum. Der Bundesrat befand, dass die AVE eines GAV für die Arbeitnehmenden sowieso nur positive Auswirkungen hat und deshalb auf ein Arbeitnehmerquorum verzichtet werden könnte. Zudem habe dieses Quorum eine sehr geringe praktische Bedeutung. Mit einem Verzicht auf dieses Quorum könnte schliesslich das Verfahren verkürzt werden (Roncoroni 2009: 424f.). In diesem Zusammenhang auch interessant ist das österreichische Modell. Österreich besitzt einen der höchsten Abdeckungsgrade durch GAV in Europa. Durch einen gesetzlich geregelten Mitgliedszwang der Arbeitgebenden in Interessenvertretungen, den Wirtschaftskammern, wird ein hoher Organisationsgrad der Arbeitgeber/innen erreicht. Dadurch wird über GAV eine Flächendeckung erreicht, die ähnliche Wirkungen hat wie die AVE in der Schweiz. Durch solche gesetzliche Interessenvertretungen könnte im Allgemeinen auch eine Zentralisierung der Verhandlungen erreicht werden.

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Vielfach scheitert eine AVE an der Hürde des Arbeitgeberquorums. Gemäss dem Wortlaut von Art. 2 Ziff. 3 AVEG müssen an einem GAV „mehr als die Hälfte aller Arbeitgeber und mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer, auf die der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ausgedehnt werden soll, beteiligt sein“. Vom Erfordernis des Arbeitnehmerquorums kann abgewichen werden, das Erfordernis des Arbeitgeberquorums ist hingegen zwingend. Bis heute wurde die Bestimmung zum Arbeitgeberquorum so ausgelegt, dass mehr als 50% der vom GAV betroffenen Unternehmungen beim vertragsschliessenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen. Dies führt zu unbefriedigenden Situationen in Branchen, in denen mehrere Grosskonzerne einer grossen Anzahl Kleinst- und Kleinbetrieben gegenüberstehen. In solch einer Situation ist es undemokratisch, wenn einer Kleinst- oder Kleinfirma dasselbe Gewicht beigemessen wird wie einem Grosskonzern, der ein Vielfaches an Arbeitnehmenden beschäftigt und ein Vielfaches der Lohnsumme erwirtschaftet. Wenn aber das Erfordernis des Arbeitgeberquorums dahingehend interpretiert würde, dass mehr als 50% der vom GAV betroffenen Arbeitsstätten vom vertragsschliessenden Arbeitgeberverband vertreten sein müssen, könnte die Klippe des Quorums in verschiedenen Branchen entschärft werden. Christophe Darbellay hat im Herbst 2008 mittels Interpellation (08.3735) gefragt, ob das Erfordernis des Arbeitgeberquorums auch so ausgelegt werden könnte, dass mehr als 50 Prozent der Lohnsumme der vom GAV betroffenen Branche vom vertragsschliessenden Arbeitgeberverband vertreten sein müssen. Der Bundesrat hat diese Frage mit der Begründung verneint, dass der Wortlaut von Art. 2 Ziff. 3 AVEG klar sei und keinen Raum für Interpretation lasse. Nach Meinung des Bundesrates besteht in diesem Bereich auch kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf, da die demokratische Legitimierung der AVE nicht mehr gegeben wäre, wenn eine Minderheit von (grossen) Betrieben einer Mehrheit von (kleinen) Betrieben Arbeitsbedingungen auferlegen könnte. Nichts desto trotz wäre eine allfällig notwendige Revision des AVEG, die für das Arbeitgeberquorum von Arbeitsstätten und nicht mehr von Betrieben ausginge, für die AVE und somit auch für die Abdeckung mit Mindestlohnbestimmungen in allgemeinverbindlichen GAV äusserst wirkungsvoll.

1.5. Vollzug von Gesamtarbeitsverträgen a)

Kautionen

Ein bereits heute mögliches aber wenig genutztes Mittel zur Vereinfachung des Vollzuges von GAV ist die Kaution. Die Kaution ist die vertraglich vereinbarte obligatorische Hinterlegung von Geldbeträgen durch die Arbeitgeber zur Vereinfachung des Vollzuges von GAV. Die Kaution kann von den paritätischen Kommissionen in Anspruch genommen werden, wenn Kontrollkosten, Konventionalstrafen, Weiterbil-

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dungs- und Vollzugskosten sowie Verfahrens- und Gerichtskosten von fehlbaren Betrieben nicht bezahlt werden. Kautionen wurden bis anhin nur selten und nur in wenigen Regionen zur Vereinfachung des GAV-Vollzugs genutzt. Im Zusammenhang mit der Öffnung der Grenzen für ausländische Dienstleistungserbringer durch die bilateralen Abkommen hat das Institut der Kaution aber eine neue Bedeutung gewonnen. Im Zusammenhang mit der Verschärfung der flankierenden Massnahmen auf den 1. April 2006 wurden auf Bundesebene auch die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um Kautionen zur Sicherstellung gesamtarbeitsvertraglicher Verpflichtungen allgemeinverbindlich erklären zu lassen (Art. 3 AVEG) und deren Geltungsbereich auch auf ausländische Betriebe mit Entsendung in die Schweiz erweitern zu können (Art. 2 Abs. 2ter EntsG). Mit einer allgemeinverbindlich erklärten Kautionsregelung in GAV kann von ausländischen Unternehmen, die in der Schweiz tätig werden, die Hinterlegung von Kautionen verlangt werden. Die AVE der Kautionspflicht unterliegt einerseits denselben Voraussetzungen wie die AVE eines Gesamtarbeitsvertrages. Die AVE der Kautionspflicht muss sich also wegen der für die beteiligten Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden andernfalls zu erwartenden erheblichen Nachteile als notwendig erweisen und sie darf dem Gesamtinteresse nicht zuwiderlaufen. Die Allgemeinverbindlichkeit muss sodann Minderheitsinteressen innerhalb des betreffenden Wirtschaftszweiges oder Berufes angemessen Rechnung tragen. Die AVE einer Kautionspflicht ist demnach erlaubt, wenn sie verhältnismässig erscheint. Dies bedeutet, dass die allgemein verbindliche Kautionspflicht notwendig erscheinen muss, um den GAV-Vollzug zu sichern. Es muss die Gefahr bestehen, dass der GAV ohne die AVE der Kautionspflicht nicht oder nicht sachgerecht durchgeführt werden kann. Die allgemeinverbindliche Kautionspflicht muss einem objektiven Bedürfnis entsprechen. Anderseits dürfen Bestimmungen über Kautionen nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die Voraussetzungen von Art. 3 Abs. 2 AVEG erfüllt sind. Dieser Artikel bestimmt, dass die AVE der Kautionspflicht dann möglich ist, wenn die „geordnete Anwendung“ der Bestimmung gewährleistet ist. Dies bedeutet konkret, dass die Kaution ausschliesslich der Sicherung der Vertragseinhaltung dienen muss und nicht so hoch sein darf, dass sie einen indirekten Zwang zum Eintritt in einen der vertragsschliessenden Verbände darstellt. Zur geordneten Anwendung gehört aber auch insbesondere, dass alle erfassten Arbeitgebenden gleich behandelt werden. Die Aussenseiter dürfen also nicht anders behandelt werden, als die in den Verbänden Organisierten. Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist von den vertragsschliessenden Verbänden zu beweisen. Zudem muss die Kaution auf einem auf den Namen der Kautionsleistenden lautenden Bankkonto hinterlegt werden. Im Weiteren muss geregelt sein, in welchen Fällen auf die Einzelkaution gegriffen werden darf, wer dazu befugt ist und wann und in welcher Weise sie zurückzuzahlen sind.

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Die Kaution ist nur geschuldet, wenn der Aussenseiter eine allgemeinverbindlich erklärte Bestimmung verletzt. Die vertragsschliessenden Verbände können die Höhe der Kaution frei bestimmen. Übermässig hohe Kautionen können vom Richter, analog zur Regelung bei übermässigen Konventionalstrafen, nach freiem Ermessen herabgesetzt werden. Beim allgemeinverbindlichen GAV im Ausbaugewerbe des Kantons Basel wurde die Kautionspflicht allgemeinverbindlich erklärt. Dieser GAV wurde aber 2010 ausser Kraft gesetzt, weil inzwischen ein überregionaler GAV vom Bundesrat allgemeinverbindlich erklärt worden war. Die kantonale Kautionspflicht galt in diesem Fall nur für Arbeitgeber aus dem Ausland und dem Baselbiet, da das Schweizer Binnenmarktgesetz keine solche für Ausserkantonale zulässt. Laut dieser GAV-Bestimmung hat der Arbeitgebende vor Arbeitsbeginn die Kaution als Bankgarantie zu hinterlegen. Hat der Arbeitgebende nach Ansicht der Kontrollorgane Vorschriften des GAV – insbesondere Mindestlohnvorschriften – missachtet, wird er von der paritätischen Kommission zur Lohnnachzahlung aufgefordert. Kommt er dieser Aufforderung nicht nach, kann die Kommission die Kaution in Anspruch nehmen, um die Löhne nachzuzahlen und die entstandenen Kosten zu decken. Das Kantonsgericht BL, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 28.10.09 die AVE der Kautionspflicht im GAV für das Ausbaugewerbe im Kanton BL für rechtswidrig erklärt. Das Kantonsgericht hat aufgeführt, dass Art. 2 Abs. 2ter EntsG nur zur Anwendung kommen kann, wenn die Allgemeinverbindlichkeit auch im rein inländischen Wettbewerb erforderlich wäre. Das kantonale Urteil wurde an das Bundesgericht weitergezogen. Dieses hat den Entscheid des Kantonsgerichts aufgehoben, weil dessen Argumentation die Bestimmung des EntsG „weitgehend obsolet“ machen würde. Das Bundesgericht hat also festgestellt, dass die Kautionspflicht nicht gegen das Erforderlichkeitsprinzip (Art. 2 Ziff. 1 AVEG) verstossen würde. Es hat auch eine „erhebliche Vollzugsproblematik“ anerkannt. Das Bundesgericht hat sich aber zu den weiteren Bedingungen des AVEG nicht geäussert, da die Streitfrage inzwischen wegen der Ausserkraftsetzung des strittigen GAV gegenstandslos geworden ist. Es hat insbesondere die Frage offengelassen, ob eine solche Benachteiligung von Betrieben mit Sitz in den EU/EFTA-Ländern mit Rechts52 gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot vereinbar ist . Der Bundesrat hat neu die Kaution des GAV des Maler- und Gipsergewerbes in der Deutschschweiz und im Tessin auf den 1. Oktober 2010 für allgemeinverbindlich erklärt. Der Bundesrat hat in seinem Entscheid vom 22.09.2010 aufgeführt, dass eine Kautionspflicht für den Vollzug von GAV-Forderungen im Ausland nötig ist. Eine solche Pflicht muss aber angemessen sein und das Verhältnismässigkeitsprinzip respektieren. Damit müssen ab diesem Zeitpunkt alle Arbeitgeber eine Kaution von 52

BGE 2C_81/2010 vom 7.12.2010, E. 2.2 und 2.3.

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10'000 Franken hinterlegen. Gleichzeitig hat der Bund ausländischen Fachverbänden und Firmen das Recht abgesprochen, gegen schweizerische Branchenverträge Beschwerde einzulegen. Die Kautionspflicht stösst ausserhalb der Schweiz auf Widerstand. Arbeitgeber aus dem benachbarten EU-Raum kritisieren die Einführung der Kautionspflicht als protektionistisches Handelshemmnis, das mit dem Freizügigkeitsabkommen nicht vereinbar wäre. Laut einem Rechtsgutachten der Europarechtprofessorin Astrid Epiney ist eine Kautionspflicht nicht grundsätzlich unvereinbar mit dem Freizügigkeitsabkommen. Sie kann grundsätzlich durch das Anliegen der GAV-Durchsetzung gerechtfertigt werden (Epiney/Zbinden 2009: 26f). Laut der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann die Kautionspflicht sogar als diskriminierende Massnahme gegen ausländische Unternehmen möglich sein, wenn die Vollstreckung von 53 GAV-Forderungen im Ausland erheblich erschwert ist . Je nach Höhe und Hinterlegungsmodalitäten kann eine solche Pflicht aber als Verletzung des Freizügigkeitsabkommen eingestuft werden. Gemäss ihrer Meinung kann die Sicherstellung nur für von aus dem Gesetz oder GAV sich ergebenden Forderungen verlangt werden, und die Kaution muss im Hinblick auf diesen Zweck verhältnismässig sein. Ebenso sieht das Gutachten in der Auferlegung von Kontroll- und Vollzugskosten eine finanzielle Zusatzbelastung für Unternehmen und somit eine Beschränkung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen. Soweit es sich nicht um Gebühren handelt, muss insbesondere im Bereich der Grundbeiträge der Verhältnismässigkeitsgrundsatz gewahrt werden. Die Ausgestaltung der Gebühren darf laut Gutachten die Dienstleistungserbringung nicht illusorisch oder übermässig erschweren. Die Grenzen für eine Kautionspflicht sind also aus europarechtlicher Sicht relativ eng. Die europarechtlichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer Kautionspflicht in GAV sind sowohl bei kantonalen wie auch bei national allgemeinverbindlichen GAV von Bedeutung. b)

Solidarhaftung von Generalunternehmern

Unternehmen leisten oft kurze Einsätze. Bis die aufgedeckten Verstösse geahndet werden, vergeht Zeit. Ausländische Unternehmen sind dann in vielen Fällen bereits wieder aus der Schweiz abgereist. Dementsprechend ist es schwierig, Lohnnachzahlungen zu erzwingen oder Bussen einzutreiben. Mit der Einführung der Solidarhaftung von Generalunternehmen kann diese Problematik abgeschwächt werden. Wenn Erstunternehmer haften müssen, werden sie dadurch in die Pflicht genommen. Sie können sich nicht aus der Verantwortung ziehen beziehungsweise Preise drücken, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Erstunternehmer können mit den Subunternehmern vertraglich vereinbaren, dass sich diese an die

53

EuGH, Rs. C-29/95 „Pastoors“, Slg. 1997, I-285 zit. von Epiney/Zbinden: 2009.

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Schweizer Arbeitsbedingungen halten müssen. Im Sanktionsfall hätten sie dann die Möglichkeit, die Subunternehmer zivilrechtlich für den Verstoss zu belangen. Die Solidarhaftung wird auch von der EU-Kommission als „geeignete Massnahme“ bezeichnet. Die Einführung der Solidarhaftung als Vollzugsinstrument ist sowohl im Bereich der (allgemeinverbindlichen) GAV als auch der Normalarbeitsverträge zu begrüssen. Ein besserer Schutz vor Lohnunterbietungen als der jetzige wäre auch die Einführung von Verbandsklagen, die sich über den Feststellungsanspruch erstrecken.

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2

Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen

2.1. Lohnfestsetzung in Normalarbeitsverträgen Entgegen seiner Bezeichnung handelt es sich beim Normalarbeitsvertrag (NAV) nicht um einen Vertrag. Der NAV ist ein Instrument, mittels welchem der Staat allgemein den Abschluss, den Inhalt und die Beendigung von Einzelarbeitsverträgen für bestimmte Berufsarten regelt. Der NAV reglementiert im Detail die gegenseitigen Verpflichtungen des Arbeitgebenden und des Arbeitnehmenden, so auch (Mindest-) Lohnbestimmungen. Seit der Inkraftsetzung der flankierenden Massnahmen gibt es in der Schweiz zwei Arten von NAV: der gewöhnliche und der NAV mit zwingenden Mindestlöhnen. Für das hier interessierende Themengebiet ist vor allem der NAV mit zwingenden Mindestlöhnen interessant. a)

Normative Kraft der Mindestlohnbestimmungen in Normalarbeitsverträgen

Durch einen gewöhnlichen NAV „werden für einzelne Arten von Arbeitsverhältnissen Bestimmungen über deren Abschluss, Inhalt und Beendigung aufgestellt“ (Art. 359 Abs. 1 OR). Die Vorschriften eines gewöhnlichen NAV stellen durchwegs dispositives Recht dar. Sie können also im Einzelarbeitsvertrag selbst zuungunsten des Arbeitnehmers, allenfalls unter Einhaltung der gemäss dem NAV zur Gültigkeit erforderlichen schriftlichen Form (Art. 360 Abs. 2 OR), abgeändert werden. Mindestlohnbestimmungen in gewöhnlichen NAV sind deshalb nur beschränkt dazu geeignet, höhere Mindestlöhne durchzusetzen. Einseitig zwingendes Recht schaffen hingegen NAV, die zur Bekämpfung von Lohndumping erlassen werden. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen NAV enthalten die NAV mit zwingenden Mindestlöhnen, wie es der Name suggeriert, zwingendes Recht. Diese bei Missbräuchen erlassenen NAV befassen sich nur mit der Frage des Mindestlohns. Allerdings macht nur ein in Abhängigkeit von einer bestimmten Arbeitszeit festgelegter Mindestlohn Sinn. Wird der Mindestlohn also auf monatlicher Grundlage bestimmt, so muss der NAV somit die diesem Lohn entsprechende übliche Arbeitszeit angeben. Die vorgesehenen Mindestlöhne dürfen durch Vereinbarung nur überschritten werden (Art. 360d Abs. 2 OR). Arbeitnehmende können nicht auf diese Mindestlöhne verzichten. Aufgrund dieser Ausgestaltung des NAV wirken die Mindestlohnbestimmungen in solchen NAV gleich wie gesetzliche Mindestlöhne für bestimmte Berufe oder Branchen. b)

Durchsetzung von Mindestlohnbestimmungen in Normalarbeitsverträgen und Sanktionen

Die Lohnbestimmungen in NAV mit zwingenden Mindestlöhnen begründen einen direkten zivilrechtlichen Anspruch, der sich auf individueller Ebene durchsetzen lässt, wie wenn sie direkt zwischen den Einzelvertragsparteien vereinbart worden

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wären. Hierzu stehen den Arbeitnehmenden alle jeweils gegebenen Zivilklagen zur Verfügung, insbesondere die Erfüllungs- und die Schadenersatzklage. Für Lohnbestimmungen in gewöhnlichen NAV gilt das Gleiche, sofern zwischen den Einzelvertragsparteien keine vom NAV abweichende Regelung getroffen wurde. Ist dies der Fall, wird der NAV in diesem Bereich nicht angewendet und die abweichende Regelung geht vor. Ähnlich wie beim GAV können Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände gerichtlich feststellen lassen, dass ein Arbeitgeber den NAV mit zwingenden Mindestlöhnen nicht einhält (Art. 360e OR). Diese Klage ist nur für die Nichteinhaltung von NAV mit zwingenden Mindestlöhnen vorgesehen. Der Anspruch der Verbände ist auch hier, wie beim GAV, auf die Feststellung der Nichteinhaltung beschränkt. Diese kollektive Feststellungsklage kann aber als Vorverfahren dienen bei Einzelklagen von Arbeitnehmenden auf Zahlung von geschuldeten Leistungen. Im Rahmen der Beobachtung des Arbeitsmarktes können die tripartiten Kommissionen die Einhaltung der NAV mit zwingenden Mindestlöhnen kontrollieren. Für die Verletzung dieser NAV sind aber keinerlei staatliche Sanktionen vorgesehen (Brunner et al. 2005: 386). Die tripartiten Kommissionen können keine Verfügungen mit Strafcharakter erlassen. Wenn aber Missbräuche durch ausländische Firmen festgestellt werden, welche Arbeitnehmende in die Schweiz entsandt haben, muss die tripartite Kommission diese Verstösse der zuständigen kantonalen Behörde melden. Diese Behörde kann dann verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen gegen die fehlbaren Arbeitgebenden anordnen (etwa Busse, Ausschluss von öffentlichen Beschaffungsverfahren, Art. 9 und 12 EntsG). c)

Geltungsbereich der Mindestlohnbestimmungen in Normalarbeitsverträgen

Jeder NAV definiert seinen Geltungsbereich selber. Zeitlicher, örtlicher, sachlicher und persönlicher Geltungsbereich des NAV werden von der Behörde festgelegt, die ihn erlässt. Gewöhnliche NAV sind in der Regel unbefristet und gelten bis zum Tag ihrer Aufhebung oder Änderung. NAV mit zwingenden Mindestlöhnen müssen immer befristet sein. So soll sichergestellt werden, dass periodisch und insbesondere vor Ablauf des NAV überprüft wird, ob die Voraussetzungen für dessen Erlass weiterhin erfüllt sind und ob die Mindestlöhne an die Lohnentwicklung anzupassen sind. Ein NAV kann die ganze Schweiz, mehrere Kantone, einen Kanton oder Teile eines Kantons umfassen. Damit ein Arbeitsvertrag unter den örtlichen Geltungsbereich des NAV fällt, muss er eine gewisse räumliche Beziehung zu diesem Gebiet aufweisen; abzustellen ist in der Regel auf den Ort der Arbeitsleistung. Ein NAV mit zwingenden Mindestlöhnen gilt nicht nur für Arbeitnehmende, die gewöhnlich in seinem örtlichen Geltungsbereich tätig sind, sondern auch für Arbeitnehmende, die nur vorübergehend im Geltungsbereich des NAV beschäftigt werden. Dies bedeutet, dass solche NAV

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mit zwingenden Mindestlöhnen auch für entsandte und verliehene Arbeitnehmende gelten. Was den sachlichen Geltungsbereich eines NAV betrifft, so kann er grundsätzlich beliebig ausgestaltet werden, in der Regel werden NAV für eine bestimmte Branche oder Berufsart erlassen. Der persönliche Geltungsbereich des NAV stimmt in der Regel mit dem sachlichen überein. Indem Parteien vertraglich vom gewöhnlichen NAV abweichen, können sie sich aber dem persönlichen Geltungsbereich des NAV entziehen. d)

Voraussetzungen und Verfahren für den Erlass eines Normalarbeitsvertrags

Nach Art. 359a Abs. 1 OR liegt die Zuständigkeit für den Erlass von NAV beim Bundesrat, wenn sich der Geltungsbereich des NAV auf das Gebiet mehrerer Kantone erstreckt, andernfalls ist der Kanton zuständig. Ob ein gewöhnlicher NAV erlassen wird, liegt grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Behörde. Vorausgesetzt wird allerdings der Bestand eines ausreichenden Bedürfnisses. Ein solches ist gegeben bei Arbeitsverhältnissen, für die ein GAV fehlt. NAV finden sich deshalb vor allem dort, wo sich GAV (noch) nicht haben durchsetzen können. Der Erlass von NAV mit zwingenden Mindestlöhnen ist an strengere Voraussetzungen gebunden. Art. 360a Abs. 1 OR verlangt als erste Voraussetzung, dass die orts-, berufs- oder branchenüblichen Löhne innerhalb eines Wirtschaftszweiges oder eines Berufes in missbräuchlicher Weise wiederholt unterboten wurden. Es muss also in einem ersten Schritt geprüft werden, ob die tatsächlich entrichteten Löhne zu einem bestimmten Zeitpunkt tiefer waren als die für die betreffende Branche oder den betreffenden Beruf üblichen. Hierbei ist ausdrücklich auf die üblichen Löhne und nicht etwa auf existenzsichernde Löhne abzustellen. Die zuständige Arbeitsmarktbehörde muss also den üblichen Lohn selber festsetzen. Eine Definition des üblichen Lohns gibt es zum Beispiel im Art. 22 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE, SR. 142.201): Die orts- und berufsüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen bestimmen sich nach den gesetzlichen Vorschriften, Gesamt- und Normalarbeitsverträgen sowie den Lohn- und Arbeitsbedingungen für die gleiche Arbeit im selben Betrieb und in derselben Branche. Die Ergebnisse von statistischen Lohnerhebungen sind ebenfalls zu berücksichtigen. Die Wahl der Methode zur Bestimmung des üblichen Lohns steht der Arbeitsmarktbehörde frei. Das Vorgehen kann von Fall zu Fall variieren, insbesondere je nach Verfügbarkeit der Datenquellen. Zudem weisen die einzelnen Berechnungsmethoden erhebliche Mängel auf und sind also nicht in jedem Fall zuverlässig (Seco 2010: 6 ff.). Dies hat den grossen Nachteil, dass die Praxis von einer tripartiten Kommission zu einer anderen stak unterschiedlich sein kann. Die Festsetzung von Mindestlöhnen zur Bekämpfung von Lohnunterbietung kann also von Kanton zu Kanton

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variieren, nicht weil die Lohnverhältnisse unterschiedlich sind, sondern weil die Arbeitsmarktbehörde eine andere Berechnungsmethode gewählt hat. Die Gefahr uneinheitlicher kantonaler Praxis besteht also. Eine Lohnunterbietung liegt auch vor, wenn bei gleich bleibendem Lohn die Arbeitszeiten verlängert wurden und wenn in einer Branche atypische, für den Arbeitgeber billigere und für die Arbeitnehmenden prekäre Anstellungsformen vermehrt festzustellen sind. In einem nächsten Schritt muss geprüft werden, ob die Lohnunterbietungen wiederholt und in missbräuchlicher Weise vorliegen. Ob eine Lohnunterbietung missbräuchlich ist, ist eine Ermessensfrage und muss je nach den konkreten Umständen und dem Zweck der Gesetzgebung, nämlich der Vermeidung einer die Interessen der inländischen Arbeitskräfte beeinträchtigenden Lohnsenkung, beurteilt werden. Des Weiteren muss es sich um eine wiederholte missbräuchliche Unterbietung handeln, ein Einzelfall genügt grundsätzlich nicht. In speziellen Situationen kann aber die Lohnpolitik eines einzigen Betriebs ausreichen, um einen allgemeinen Lohnsturz in einer Branche oder Region nach sich zu ziehen. Ein einzelner Fall reicht, sofern der Lohnsturz dazu geeignet ist, in der betroffenen Branche eine Kettenreaktion auszulösen (Roncoroni 2009: 346.). Ob dagegen die festgestellten Missbräuche ihre Ursache in der Präsenz einer bedeutenden Anzahl ausländischer Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt oder in rein internen Faktoren haben, ist für die Umsetzung dieser Massnahme unerheblich (Brunner et al. 2005: 374). Durch Art. 360b Abs. 1 OR wurden Bund und Kantone im Rahmen der flankierenden Massnahmen dazu verpflichtet, tripartite Kommissionen einzusetzen, die aus einer gleichen Zahl von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sowie Vertretern des Staates besteht. Diese Kommissionen haben die primäre Aufgabe den Arbeitsmarkt zu beobachten, um allfällige missbräuchliche Lohnunterbietungen im Sinne von Art. 360a Abs. 1 und Art. 1a AVEG festzustellen. Beobachten diese Kommissionen also Missbräuche im oben erwähnten Sinn, so können sie zuerst auf dem Diskussionsweg die direkte Verständigung mit den Arbeitgebenden suchen. Dies gilt aber nicht bei Situationen, die dringliche Massnahmen erfordern. Falls innert höchstens zwei Monaten keine Einigung zustande kommt, stellt die tripartite Kommission einen Antrag an die zuständige Behörde (kantonal oder Bundesrat). Bei der Bestimmung der Höhe der Mindestlöhne in NAV muss darauf geachtet werden, dass sie weder dem Gesamtinteresse zuwiderlaufen noch die berechtigten Interessen anderer Branchen oder Bevölkerungskreise beeinträchtigen. Ausserdem müssen die Mindestlöhne den auf regionalen oder betrieblichen Verschiedenheiten beruhenden Minderheitsinteressen der betroffenen Branchen oder Berufe angemessen Rechnung tragen (Art. 360a OR).

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Sind diese Voraussetzungen gegeben, erlässt die zuständige Behörde den NAV. Kantonale NAV müssen dem zuständigen Bundesamt (seco) gemeldet werden. Anders als beim GAV braucht es aber keine Bundesgenehmigung kantonaler NAV als Gültigkeitsvoraussetzung. Die Kommission kann auch einen Antrag auf Änderung oder Aufhebung des NAV stellen, sofern die Bedingungen sich geändert haben beziehungsweise die Voraussetzungen für einen NAV nicht mehr gegeben sind (namentlich wenn ein neuer GAV mit Mindestlöhnen ausgehandelt wurde). e)

Subsidiarität des Normalarbeitvertrages

NAV mit zwingenden Mindestlöhnen sind im Verhältnis zum GAV eine subsidiäre Massnahme. Der Erlass eines NAV setzt voraus, dass in der betroffenen Branche überhaupt kein GAV, ein GAV ohne Lohnbestimmungen oder ein GAV mit Lohnbestimmungen besteht, der die Voraussetzungen der AVE nicht erfüllt. Die Regelungen des NAV gehen dem Gesetzesrecht vor, solange es sich hierbei nicht um zwingende gesetzliche Vorschriften handelt. Bei einer allfälligen Kollision zwischen einem NAV und einem GAV geht grundsätzlich der GAV vor, insbesondere wenn es sich hierbei um einen allgemeinverbindlichen GAV handelt. Für den in NAV zwingend geregelten Mindestlohn charakteristisch ist also seine Subsidiarität im Verhältnis zu den bisher besprochenen staatlichen Einwirkungen auf die Lohnfestsetzung. Er soll dort zum Tragen kommen, wo alle anderen Massnahmen nicht mehr greifen.

2.2. Verbesserungen von Normalarbeitsverträgen mit Blick auf die Mindestlohnfrage Zahlreiche Missbräuche und Lücken im Vollzug zeigen Handlungsbedarf bei den flankierenden Massnahmen auf. Der Bericht über die flankierenden Massnahmen vom Herbst 2007 (Seco 2007) zeigt auf, dass Missbräuche bestehen und die Verstossquoten in einigen Branchen besorgniserregend hoch sind (beispielsweise im Gastgewerbe, im Bauhaupt- und -nebengewerbe und bei den persönlichen Dienstleistungen). a)

Erleichterter Erlass von NAV

NAV mit zwingenden Mindestlöhnen stellen ein Instrument dar, wie Mindestlöhne in gewissen Berufen oder Branchen eingeführt werden können. Es stellt sich deshalb als erstes die Frage, inwiefern das Zustandekommen von weiteren NAV gefördert werden kann. Dabei sind insbesondere erleichterte Voraussetzungen für die Errichtung eines NAV zu erwägen. So wäre beispielsweise eine Anpassung der Voraussetzungen des NAV mit zwingenden Mindestlöhnen an die Voraussetzungen für einen gewöhnlichen NAV denkbar. Die Bedingung der wiederholten missbräuchlichen Lohnunterbietung könnte fallen gelassen werden. Auf Antrag der tripartiten Kom-

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missionen würde ein NAV erlassen, wobei nur der Bestand eines ausreichenden Bedürfnisses nach NAV mit zwingenden Mindestlöhnen vorausgesetzt wäre. Ein solches Bedürfnis wäre gegeben, sobald für eine Branche ein GAV mit Mindestlöhnen fehlt oder der entsprechende GAV nur einen Teil der Branche oder der jeweiligen Arbeitsverhältnisse abdeckt. Eine solche Regelung könnte gleichzeitig als Druckmittel fungieren bei GAV-Verhandlungen und so zu einer Förderung von GAV beitragen. Um eine allzu starke Regionalisierung und somit eine Fragmentierung der Mindestlohnlandschaft zu verhindern, müsste der Antrag zu solchen NAV sinnvollerweise von der nationalen tripartiten Kommission ausgehen. Diese ist aufgrund ihrer Zusammensetzung durchaus mit ausländischen Gremien für die Mindestlohnfestsetzung zu vergleichen (zum Beispiel mit der „Low Pay Commission“ in Grossbritannien) und hätte dadurch eine erhöhte Legitimität zur Antragstellung. Als zweites sollte man darüber nachdenken, inwiefern der Geltungsbereich eines schon bestehenden NAV – ähnlich wie bei einer AVE – ausgedehnt werden kann. Dies wäre insbesondere im Bereich der persönlichen Dienstleistungen, wo ein GAV kaum erreicht werden kann, sehr interessant. So könnte der Verstückelung der Mindestlohnbestimmungen ebenfalls Einhalt geboten werden. Auf Antrag der tripartiten Kommissionen könnte ein NAV auf verwandte Berufe oder auf die gesamte Branche ausgeweitet werden, sofern in der neu abgedeckten Branche ein ausreichendes Bedürfnis (Fehlen von GAV respektive Mindestlöhnen) nach einer Regelung der Mindestlöhne vorhanden wäre. b)

Sanktionierungsmechanismus

Ein gut ausgebauter Sanktionierungsmechanismus ist essentiell für die Durchsetzung der Mindestlöhne in NAV, da NAV mit zwingenden Mindestlöhnen nur dann zu einem effizienten Mindestlohnschutz beitragen können, wenn sie auch in der Realität umgesetzt werden. Das alleinige Abstellen auf die Zivilklage reicht nicht aus, um Lohnunterbietungen zu bekämpfen. Heutzutage besteht aber keine Möglichkeit, Verstösse von NAV staatlich zu sanktionieren. Die Einführung eines solchen Sanktionierungsmechanismus wäre wichtig, um die Einhaltung von Mindestlöhnen in NAV effizienter durchzusetzen. Ein besserer Schutz vor Lohnunterbietungen als der jetzige wäre, ähnlich wie bei den GAV, auch durch die Einführung von Verbandsklagen, die sich über den jetzigen Feststellungsanspruch hinaus erstrecken, zu erreichen. Durch eine vorgängige Meldung nicht nur der arbeitenden Personen und ihres Einsatzortes, sondern auch der Löhne, wäre die Kontrolle bei entsandten Arbeitnehmer/innen effizienter. Die Kontrollorgane könnten sich dadurch schnell einen Überblick über die Anstellungsbedingungen der Entsandten machen. Zusammen mit

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anschliessenden Stichprobenkontrollen, ob die Lohnangaben korrekt sind, kann dadurch ein hohes Schutzniveau erreicht werden. Die vorgängige Meldung des Lohnes ist in zahlreichen EU-Staaten obligatorisch. Da fundierte Abklärungen, ob die Löhne korrekt sind oder ob Selbständigkeit vorliegt, oft relativ viel Zeit in Anspruch nehmen, sind die Arbeiten vielfach schon weit gediehen oder abgeschlossen, bis die Kontrollorgane durchgreifen können. Dem kann entgegengewirkt werden, indem die Kontrollorgane mit der Befugnis ausgestattet werden, Baustellen oder Arbeitsorte bei starkem Verdacht zu sperren und Scheinselbständigen die Weiterführung der Arbeiten zu untersagen Es müssen Lohnunterlagen eingefordert werden oder müssen Nachweise für eine selbständige Geschäftsführung erbracht werden. Dies auch bereits dann, wenn die Kontrolle vor Ort starke Verdachtsmomente ergibt. Die Einführung der Solidarhaftung der Generalunternehmer, so wie im Abschnitt über die Förderung des Vollzuges von GAV beschrieben, wäre im Bereich der NAV ebenfalls sehr wünschenswert. Eine Zusammenarbeit der verschiedenen Kontrollorgane mit Sozialversicherungen, so wie sie auch im Schwarzarbeitsgesetz vorgesehen ist, ist anstrebenswert. Das Fernziel sollte sein, dass nur eine einzige Arbeitsmarktinspektion alle Arbeitsmarktkontrollen gleichzeitig übernimmt.

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Gesetzliche Mindestlöhne

3.1. Einleitende Bemerkungen Der gesetzliche Mindestlohn ist jene Geldleistung, welche der Arbeitgeber aufgrund eines durch staatliche Behörden erlassenen Gesetzes mindestens zu zahlen verpflichtet ist. Gesetzlich fixierte Mindestlöhne sind weder vom Bundesrecht noch in den Kantonen vorgesehen. Politische Vorstösse zur Einführung staatlicher Lohnfestsetzung kamen periodisch vor, blieben jedoch chancenlos: 1920 scheiterte ganz knapp in der Referendumsabstimmung das Bundesgesetz betreffend der Ordnung des Arbeitsverhältnisses. Das Gesetz hätte nebst der AVE der GAV und den NAV mit zwingender Wirkung ein eidgenössisches Arbeitsamt und auch eidgenössische Lohnstellen mit der Kompetenz zum Erlass verbindlicher Lohnvorschriften eingeführt. Während einige Inhalte des Gesetzesentwurfs später auf anderen Wegen realisiert wurden, blieb die staatliche Lohnfestsetzung unerreicht. Eidgenössische Volksinitiativen, die das Recht auf Arbeit und eine gerechte Entlöhnung forderten, haben Volk und Stände 1946 und 1947 deutlich abgelehnt. Die während den Kriegsjahren eingereichte Volksinitiative der SPS „Wirtschaftsreform und Rechte der Arbeit“ wollte den Bund beauftragen, ein eigenössisches Lohnamt einzurichten. Das Lohnamt hätte zum Ziel gehabt, landesweit Mindestlöhne für alle Berufszweige festzusetzen. Auf kantonaler Ebene gab es ebenfalls Bestrebungen für staatlich festgelegte Mindestlöhne. Der Kanton Genf erliess 1936 ein Gesetz über die AVE von GAV. Laut diesem Gesetz hätte der Regierungsrat für Betriebe, die keinen GAV kannten, einen obligatorischen NAV erlassen können. Das Bundesgericht erklärte jedoch das kantonale Gesetz als unzulässig. 1953 wurde in Basel-Stadt die „Initiative für ein Gesetz zum Schutz der Arbeiter und Angestellten durch Sicherung existenzminimaler Lohnund Gehalts-Ansätze“ eingereicht. Der darin vorgesehene Stunden-Mindestlohn von 2 Franken sah das Bundesgericht als unverhältnismässig und daher als unzulässig 54 an. In der Lehre ist die Frage der Zulässigkeit kantonaler Mindestlöhne nicht entschieden worden. Einige Autoren sind aber der Ansicht, dass solche Mindestlohnvorschriften nur in Ausnahmefällen zulässig sein sollten, insbesondere wenn eine drin55 gende Situation eine solche einschneidende Massnahme erfordere . Die Kantonsverfassung des Kantons Jura sieht im Art. 19 Abs. 3 einen Anspruch auf einen Lohn vor, der einen menschenwürdigen Lebensunterhalt sichert. Die Bundes54 55

BGE 80 I 155. BGE 1C 357/2009 vom 8. April 2009, E. 3.1 a. E. m. w. H.

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versammlung hat ihr die Garantie zugesprochen , trotz Bedenken über die Bundesrechtskonformität dieser Bestimmung. Eine Volksinitiative, welche die noch ausstehende Ausführungsgesetzgebung einführen möchte, wurde Ende 2010 vom kantonalen Parlament für gültig erklärt. Zurzeit sind in fast allen Westschweizer Kantone Volksinitiativen über gesetzliche Mindestlöhne hängig. Nach heftiger Kontroverse (umstrittene Ungültigkeitserklärung durch die Genfer und Waadtländer Kantonsparlamente) hat sich das Bundesgericht zu Gunsten ihrer Zulässigkeit bzw. ihrer Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht ent57 schieden, auch wenn Zweifel bestehen . Das Bundesgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, dass eine kantonale Verfas58 sungsbestimmung, welche Mindestlöhne einführt, nicht „in evidenter Weise“ gegen das Bundesrecht verstösst. Diese kantonalen Mindestlohnvorschriften sind nämlich ein Beitrag zur Armutsbekämpfung und haben aus diesem Grund hauptsächlich ein sozialpolitisches und nicht ein wirtschaftspolitisches Ziel. Sie verfolgen also andere Ziele als die bundesrechtlichen Lohnbestimmungen und sind daher als ergänzende kantonale Gesetzgebung i. S. von Art. 6 ZGB zu verstehen. Zudem stellen kantonale Mindestlohnbestimmungen zulässige Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) dar: Sie verfolgen ein schützenswertes öffentliches Interesse (Sozialpolitik) und sind verhältnismässig, weil sie unterschiedliche Regelungen für die unterschiedlichen Branchen vorsehen. Das Bundesgericht hat aber gleichzeitig den kantonalen Mindestlohnbestimmungen enge Grenzen gesetzt. Es hat bezweifelt, dass die jeweilige Ausführungsgesetzgebung bundesrechtskonform gestaltet werden könnte. Insbesondere sollten die Mindestlöhne eher tief gesetzt werden, damit das sozialpolitische Ziel der Mindestlohnbestimmungen erhalten bleibt. Machbar wären laut Bundesgericht nur Mindestlohnvorschriften, welche sich den Sozialversicherungs- oder Sozialhilfebeträgen annähern. Parlamentarische Initiativen auf Bundesebene, welche einen gesetzlichen Mindest59 lohn einführen möchten, fanden im Parlament regelmässig keine Mehrheit.

3.2. Verfassungsrechtliche Grundlage Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes bedarf wie oben ausgeführt keiner besonderen verfassungsrechtlichen Grundlage (oben 1.3). Sollte aber ein Mindestlohn nicht über den gewöhnlichen Weg der Gesetzgebung (parlamentarische Initiative oder Vorschlag des Bundesrats) sondern über eine Volksinitiative eingeführt 56 57 58

59

FF 1977 II 267. BGE 1C 357/2009 vom 8. April 2009 Die Genfer Kantonsverfassung schreibt aber vor, dass nur diejenigen Initiativen für ungültig erklärt werden müssen, welche „in evidenter Weise“ gegen das höhere Recht verstossen. Als aktuelles Beispiel: Parl. Initiative Zisyadis. Verankerung des Rechtes auf einen Mindestlohnes in der Bundesverfassung (08.411).

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werden, so könnte es sich nur um eine Verfassungsbestimmung handeln, da die Volksinitiative nur eine Total- oder Teilrevision der Bundesverfassung zum Objekt haben darf (Art. 138f BV). Zudem hätte eine ausführliche und präzise Verfassungsbestimmung über Mindestlöhne, auch wenn sie an sich zur deren Einführung nicht nötig wäre, erhebliche Vorteile, welche unten (4.4) dargestellt werden. Thematisch ordnet sich eine Verfassungsbestimmung über Mindestlöhne in den Verfassungsartikel über die Arbeit (Art. 110 BV) ein. Dies im Sinne eines separaten ergänzenden Artikels oder allenfalls auch als zusätzlicher Absatz zu Art. 110 BV. Eine Einordnung innerhalb anderer Verfassungsbestimmungen, namentlich den Grundsätzen der Wirtschaftsordnung (Art. 94 BV) ist hingegen weniger angebracht, da Art. 94 keine Kompetenzen begründet.

3.3. Subsidiarität des gesetzlichen Mindestlohnes Typisch am gesetzlichen Mindestlohn ist sein subsidiärer Charakter: Ein gesetzlicher Mindestlohn darf weder durch Einzel- noch Kollektivvereinbarung unterschritten werden. Gleichzeitig müssen höher gelegene Löhne im GAV oder Einzelarbeitsvertrag vorgehen. Sonst würde ein gesetzlicher Mindestlohn zum gesetzlichen Maximal60 lohn mutieren. Die Subsidiarität des gesetzlichen Mindestlohnes ist jedoch nur gewährleistet, wenn auch entsprechende GAV oder Einzelvereinbarungen mit höheren Löhnen vorhanden sind. GAV-Lohnvorschriften, welche sich stets auf den gesetzlichen Mindestlohn beziehen, sind - abgesehen von den anderen Arbeitsbedingungen - kein Fortschritt, sondern zementieren den Mindestlohn als massgeblichen (Maximal)-Lohn. Damit der subsidiäre Charakter des gesetzlichen Mindestlohnes zum Zuge kommen kann, braucht es zusätzliche Garantien, welche den Abschluss und die Ausdehnung von GAV zum Ziel haben. Der subsidiäre Charakter des gesetzlichen Mindestlohnes muss auch im Zusammenhang mit anderen Lohnfestsetzungsmechanismen zum Tragen kommen. Wo heute auf die orts- und branchenüblichen Arbeitsbedingungen abgestellt wird (z.B. öffentliche Beschaffungen), besteht die Gefahr, dass der gesetzliche Mindestlohn zum Referenzlohn wird, was zu einer Absenkung des betreffenden Lohnniveaus führen würde. Diese Gefahr liegt im Hinblick auf die europäische Rechtsprechung auf der Hand: Laut dem europäischen Gerichtshof müssen europäische Firmen bei öffentlichen Beschaffungen nur die Mindestlohnvorschriften (i. S. der Richtlinie 96/71, „Entsenderichtlinie“) einhalten, eine weitergehende Tarifbindung ist nicht 61 zulässig .

60 61

Dies ist der Fall bei den Minimallöhnen der Genfer „emplois de solidarité“ (siehe Fn 2) Entscheid des Europäischen Gerichtshofs vom 3. April 2008, Rs. C-346/06 „Rüffert/Land Niedersachsen“, Slg. 2008 I-1989.

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Wo das Gemeinwesen als öffentlicher Auftraggeber (Beschaffungen, Auslagerungen) in den Arbeitsmarkt eingreift, müssen GAV dem gesetzlichen Mindestlohn vorgehen. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes muss daher mit der Verpflichtung zur Einhaltung beziehungsweise zum Abschluss des betreffenden GAV gekoppelt sein.

3.4. Inhalt verfassungsrechtlicher Mindestlohnbestimmungen Die Verfassungsbestimmung kann unterschiedlich formuliert sein und die Kompetenz zur Lohnfestsetzung an staatlichen Behörden auf den verschiedenen Stufen delegieren. Denkbar sind offene Formulierungen, etwa in dieser Art: In der Schweiz ist ein Arbeitslohn garantiert, der würdige Lebensbedingungen ermöglicht. Eine solche Vorschrift liegt nahe bei den Sozialzielen und ist stark konkretisierungsbedürftig. Ohne entsprechende Konkretisierung auf Verfassungsstufe hat eine offene Formulierung für einen gesetzlichen Mindestlohn verschiedene Risiken: Wird die Konkretisierung des „würdigen“ oder „angemessenen“ Lohnes dem Gesetzgeber überlassen, ist die Lohnfrage stark politisiert. Zudem dürfte bei der Auslegung das Grundrecht auf Existenzsicherung herangezogen werden, und so würden Löhne auf dem Niveau der SKOS-Richtlinie die Folge sein. Eine ausformulierte Verfassungsbestimmung, welche die Höhe des Mindestlohnes definiert, bietet Rechtssicherheit. Regionale Abstufungen oder Abstufungen nach Qualifikationen können ebenfalls in die Verfassungsbestimmung aufgenommen werden. In der Verfassungsgebung kann vom Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen werden. Bei einer ausformulierten Verfassungsbestimmung über den gesetzlichen Mindestlohn stellt sich die Frage, wie der Mindestlohn definiert beziehungsweise woran er angeknüpft werden sollte. Eine Möglichkeit wäre, dass man den gesetzlichen Mindestlohn an den Medianlohn anknüpft, also einen bestimmten Prozentsatz des Medianlohns als Mindestlohn definiert. Eine andere Variante verbindet den gesetzlichen Mindestlohn mit dem Mischindex der AHV und sieht beispielsweise einen Hundertstel der AHV-Rente als Mindeststundenlohn vor. Ausserdem ist darüber nachzudenken, ob man zusätzlich einen gesetzlichen Mindestlohn für qualifizierte Arbeitnehmer einführen möchte. Die Anpassung des Mindestlohns an die Lohn- und Preisentwicklung sollte auch in der Verfassungsbestimmung vorgesehen werden, zumindest der Grundsatz einer regelmässigen Anpassung. Hier geht es wieder um die Rechtssicherheit: Der Gesetzgeber wäre zwar befugt, den gesetzlichen Mindestlohn ohnehin regelmässig anzupassen. Nur eine verbindliche Anpassungsregel in der Verfassungsbestimmung kann aber garantieren, dass die Indexierung nicht der Willkür der politischen Mehrheiten ausgesetzt wird. Die Festlegung von Mindestlöhnen kann auch den Kantonen übertragen werden. Diese müssten dann für ihr Gebiet Mindestlöhne erlassen, was aufgrund der bundesverfassungsrechtlichen Grundlage zulässig wäre. Anstatt der Kompetenz zur

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vollen Festsetzung der Mindestlöhne kann auch den Kantonen die Kompetenz zugewiesen werden, zwingende Zuschläge auf den nationalen Mindestlohn zu erlassen. Dies ermöglicht ihnen, den unterschiedlichen Preis- und Lohnniveaus der einzelnen Regionen Rechnung zu tragen. Möglich sind auch Verknüpfungen zwischen gesetzlichen Mindestlöhnen und Verpflichtungen zum Abschluss von GAV. Da zwischen GAV und Mindestlöhnen ein enger Zusammenhang besteht, bleibt der Grundsatz der Einheit der Materie gewahrt. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Verknüpfung eine Subsidiarität der verschiedenen Instrumente zum Ausdruck bringen soll. Die Verfassungsbestimmung soll die Möglichkeit vorsehen, gewisse Arbeitsverhältnisse von ihrem Anwendungsbereich auszuschliessen. Dies betrifft vor allem Lehrverträge (nach Art. 344ff OR und Art. 14 BBG) oder Arbeitsverträge mit einem hauptsächlichen Ausbildungscharakter, wie z. B. (gesetzlich geregelte oder nicht gesetzlich geregelte) Praktikumsverträge. Spielt die Ausbildung eine grössere Rolle als die Arbeitsleistung, so sind die Produktivität und die Leistungsqualität des auszubildenden Arbeitnehmenden entsprechend tiefer. Zudem sinkt auch die Produktivität derjenigen Arbeitnehmenden, welche die Auszubildenden betreuen. Dies rechtfertigt einen tieferen Lohn für den Auszubildenden. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Ausbildung eine meist rentable Investition darstellt. Alle GAV-Regelungen und Empfehlungen der Sozialpartner und der Berufsverbände betreffend Lerhlingslöhne sehen also tiefere Löhne als diejenigen für „normale“ Arbeitnehmende vor. Die Ausnahmenbestimmung muss aber vorsehen, dass derjenige Teil des Pensums, bei welchem die Arbeitsleistung überwiegt, nach den Mindestlohnbestimmungen entschädigt wird. Von einer solchen Ausnahmebestimmung könnten auch Löhne im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt (Sozialfirmen, geschützte Werkstätten u.a.) und in Arbeitsmarktsmassnahmen, Löhne für im Familienbetrieb beschäftigte Familienmitglieder oder die gemeinnützige freiwillige „Arbeit“ betroffen sein. Die Liste der Ausnahmen darf aber nicht lang sein, bzw. muss immer restriktiv ausgelegt werden, um die Aushöhlung der Mindestlohnbestimmungen zu vermeiden. Schliesslich soll die Verfassungsbestimmung den Einbezug der Sozialpartner bei Erlass, Anpassung, Anwendung und Durchsetzung der Mindestlohnbestimmungen sicherstellen. Dies soll gewährleisten, dass die Ausführungsbestimmungen von den Erfahrungen der Praxis Rechnung tragen, insbesondere von den vorhandenen GAVMindestlöhnen. Durch die Schaffung eines gesetzlichen Mindestlohns werden Minimalstandards für die Sozialpartnerschaft geschaffen: Es ist also nötig, dass die Sozialpartner im Verfahren mitwirken können. Die Ausführungsgesetzgebung soll weiterhin definieren, was unter den Begriff „Sozialpartner“ fällt. Insbesondere sind die Fragen ihrer Repräsentativität und Legitimität auf geographischer und Branchenebene zu klären. Sinnvoll wäre z. B. eine Begrenzung auf die tariffähigen Organisati-

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onen des kollektiven Arbeitsrechts. Als mögliches geeignetes Mitwirkungsgremium kämen die tripartiten Kommissionen in Frage (welche allerdings in der Bundesverfassung nirgends erwähnt sind und also in einer Verfassungsbestimmung über den Mindestlohn nicht namentlich erwähnt werden sollten). Der Einbezug der Sozialpartner geht von der blossen Konsultation (z. B. bei der Festsetzung des Mindestlohnbetrags) bis auf die Möglichkeit, auf die korrekte Durchsetzung mitzuwirken (z. B. dank einem Verbandsklagerecht). Auch bei einer präzisen Verfassungsbestimmung über den gesetzlichen Mindestlohn wird eine ausführende Gesetzgebung wohl unausweichlich werden. Diese müsste die genauen Zuständigkeiten für den Erlass beziehungsweise Anpassungen regeln sowie einen Sanktionierungsmechanismus vorsehen. Die Erfahrungen mit dem NAV mit zwingenden Mindestlöhnen zeigen, dass einzig der direkte zivilrechtliche Anspruch auf Auszahlung des Mindestlohnes keine wirksame Garantie für die Einhaltung der Mindestlöhne ist. Vielmehr braucht es auch hier staatliche Sanktionierungen sowie Verbandsklagerechte.

3.5. Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns Die Frage der Kontrolle der ausbezahlten Löhne ist entscheidend für die Wirkung des gesetzlichen Mindestlohnes. Insbesondere in Branchen, deren üblichen Löhne heute unter dem Mindestlohn-Standard sind, vermag die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes nicht auf einen Schlag Tieflöhne zu verhindern. Als Konsequenz könnte in diesen Branchen die Schwarzarbeit zunehmen. Es ist daher unausweichlich, dass eine Vollzugsorganisation für die Einhaltung der gesetzlichen Mindestlöhne vorhanden ist. Dabei ist insbesondere an die Erweitung der Vollzugsaufgaben der tripartiten Kommissionen oder der Schwarzarbeitkontrolle zu denken. Dies hätte zur Folge, dass in Branchen mit AVE GAV meist die paritätischen Kommissionen für die Einhaltung der Mindestlöhne zuständig wären - was etliche Arbeitgeber als Anreiz für eine GAV-Lösung sehen könnten.

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Literaturnachweise Aubert, Jean-François und Pascal Mahon (2003). Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération Suisse, Zürich/Basel/Genf. Brunner, Christiane, Jean-Michel Bühler, Jean Bernard Waeber und Christian Bruchez (2005). Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, 3. aktualisierte und ergänzte Auflage, Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel. Epiney, Astrid und Zbinden, Patrizia (2009). „Arbeitnehmerentsendung und FZA Schweiz – EG“, Jusletter vom 31.08.2009 Fent Remigius (1999). Begriff, Gegenstand, allgemeine Voraussetzungen und Wirkungen der AVE nach dem Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG), Dissertation Recht Universität Freiburg, Freiburg. Gächter, Thomas (2008). in: Bernhard Ehrenzeller, et al. (Hrsg.): Die Schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl. Zürich/Basel/Genf/St. Gallen. Geiser, Thomas (1998). „Gibt es ein Verfassungsrecht auf einen Mindestlohn?“ in: Bernhard Ehrenzeller et al. (Hrsg.): Der Verfassungsstaat vor neuen Herausforderungen - FS für Yvo Hangartner, Dike Verlag, St. Gallen. Lepori Tavoli, Luisa (2009). Mindestlöhne im schweizerischen Recht, Dissertation Recht Universität Zürich, Bern. Mahon, Pascal und Matthey, Fanny (2009). Initiative constitutionnelle pour un droit à un salaire minimum, avis de droit à la demande du service de l’emploi de l’Etat de Vaud, Neuchâtel. Portmann, Wolfgang und Jean-Fritz Stöckli (2004). Kollektives Arbeitsrecht, Dike Verlag, Zürich. Roncoroni, Giacomo (2009). „Kommentar zu Art. 1-21 AVEG“, in: Andermatt et al.. Handbuch zum kollektiven Arbeitsrecht, Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel. SECO (2007). Bericht Umsetzung der Flankierenden Massnahmen zur Freizügigkeit im Personenverkehr: 1. Januar 2006 bis 30. Juni 2007, herausgegeben von Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement EVD. SECO (2010). Erläutender Bericht zum Entwurf für einen Normalarbeitsvertrag (NAV) mit zwingenden Mindestlöhnen für Arbeitnehmer/innen und Arbeitnehmer in der Hauswirtschaft, Bern, 08.10.2010. Sewerynski, Michal (2003). Collective agreements and individual contracts of employment, Kluwer Law International, Brisbane.

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