Martin Graupner Eine Weihnachtsgeschichte »Sie heißen wirklich

die Sie in Gewahrsam genommen haben, haben halluzinogene Substanzen bei Ihnen gefunden.« »Was würden Sie denn tun, ohne Hoffnung? »Ja, natürlich.« Nach einer kurzen Pause griff S.C. zu der Teetasse, hob sie an seinen Mund, blies hinein und schlürfte ein wenig davon. Als er sie wieder zurückstellte, erklärte er: ...
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Martin Graupner

S.C. Eine Weihnachtsgeschichte

»Sie heißen wirklich Holle? Das ist Ihr Name an der Tür?« »Elisabeth Holle. Dr. Holle. Genau. Ich habe es schon versucht mit den Kissen, aber es funktioniert nicht.« Sie beugte sich etwas herunter und reichte ihm die Hand. »Wie schade«, sagte er. »Hören Sie nicht auf, es zu versuchen!« Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch, nahm einen Kugelschreiber, knipste ihn auf, schlug ein Formblatt um und er fuhr mit seinem Rollstuhl näher an seine Seite des Tisches heran. Das war kein ganz normaler Rollstuhl. Er war provisorisch aus allem möglichen Abfall zusammengeschraubt worden. Die großen Räder stammten von Fahrrädern, die kleinen von Einkaufswagen. Wenn er fuhr, drehten die Kleinen in alle Richtungen. Seine Beine steckten in einem Schlafsack, der wiederum von einem blauen Müllsack umschlossen war. Seinen Kopf bedeckte eine Pudelmütze von der gleichen Farbe. »Wie kann ich Sie nennen? Wir haben keinen Namen. Hier steht S.C. Wir haben das von Ihrem Koffer. Sind das Ihre Initialen?« »Es ist doch mehr eine Marke als ein Name. Aber nennen Sie mich ruhig so!« »Ein Name wäre hilfreich«, erklärte sie. »Namen sind hilfreich«, nickte er. »Hab ich aber vergessen. Zu viele Namen, verstehen Sie?!« »Möchten Sie einen Kaffee? Irgendwas?«, aber er schüttelte nur den Kopf und sah sich in dem kleinen Raum um. »Meinen Koffer hätte ich gern zurück.« Sie reagierte nicht darauf. »Wissen Sie, wieso wir hier sind?«, fragte sie und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Ich soll ein psychologisches Gutachten erstellen. Wo Sie zuletzt übernachtet haben, bevor Sie ins Krankenhaus kamen, gab es ein großes Feuer. Keine der Personen, die in dem Gebäude übernachteten, konnten lebend geborgen werden. Nur Sie. Wissen Sie, was passiert ist?« »Es tut mir wirklich leid«, antwortete er, »aber ich kann mich kaum an diesen Abend erinnern. Das heißt, ich erinnere mich an jeden Abend, aber ich weiß nicht mehr, welches der richtige ist. Es ist mit allem ein bisschen so.« »Okay.«, sagte sie, nachdem sie ein paar Dinge notiert hatte, und atmete hörbar aus. »Sie sind medizinisch untersucht worden!?« Sie blätterte ein paar Seiten in ihrem Bogen um und las ihm

stichpunktartig vor, um ihm zu erklären, dass sie um seinen Zustand wusste. »Einstichstellen überall am Körper. Viele entzündet. … Waren Sie bei Bewusstsein, als der Brand passierte?« »Ich bin immer bei Bewusstsein.« »Und die Einstichstellen?« Er hob die Schultern und sagte wie selbstverständlich: »Vom erweiterten bewusst Sein.« »Aha«, sagte sie und nickte. Dann suchte Dr. Holle wieder die Stelle in ihrem Bogen und las wie für sich: »Zwei Geschwüre am Rücken, wahrscheinlich infolge von Insektenbissen. Die Füße sind Ihnen durch den Diabetes schon vor einiger Zeit abgenommen worden. Wie lang leben Sie auf der Straße, S.C.?« Dann sah sie vom Bogen auf und ihm in das alte Streunergesicht. »Erzählen Sie mir, was Ihnen passiert ist?« »Die Fabrik hat geschlossen«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Oder meinen Sie den Zucker?« Als hätte sie nicht zugehört, ergänzte sie nach ein paar Sekunden, ohne eine Frage zu stellen: »Sie haben den Koffer erwähnt.« Er antwortete kurz: »Ich brauche ihn zurück.« »Er ist voller Knochen«, erklärte sie, als würde er das nicht wissen. »Ja.« »Sie sind forensisch untersucht worden, aber es sind keine menschlichen Überreste darunter. Es sieht so aus, als stammten sie alle von einer Art Hirsch.« »Ren.«, verbesserte er sie. »Wussten Sie, dass das Ren die einzige domestizierte Hirschart ist?« »Wirklich?« »Versuchen Sie mal, einen Hirsch vor einen Schlitten zu spannen. Das wird interessant.« »Was ist denn mit ihm passiert?« »Ist gestorben«, sagte er, als würde er sich über die Frage wundern. »Der Forensiker schreibt hier, es wäre erschossen worden. Die Spuren am Schädel seien eindeutig.« »Ihre Forensiker haben gar keine Ahnung.«

»Ich sage nicht, dass Sie es waren. Ich versuche nur, Sie zu verstehen. Was Sie durchgemacht haben.« »Wollen Sie das? Ich denke, Sie suchen nur nach ein paar Gründen, mich für unzurechnungsfähig zu erklären und in ein Pflegeheim zu bringen. Ich glaube, dass Sie dann sogar denken, Sie hätten mir etwas Gutes getan, mich von der Straße geholt. Ich sage Ihnen, das ist keine Lösung.« Aber sie lächelte ihm verständnisvoll zu, beugte sich vor und sagte beinahe beruhigend: »Sie haben mich durchschaut, S.C. … Okay. Wollen Sie mir vielleicht etwas über die Fabrik erzählen?« Darauf drehte er seinen Kopf zu ihr und sah ihr ins Gesicht. »Was wollen Sie denn darüber erfahren?« »Zum Beispiel, was dort hergestellt wurde«, antwortete sie. S.C. kratzte sich durch den Bart und ein paar feine Schuppen rieselten auf seinen Schoß. »Viele Dinge wurden dort hergestellt. Sehr viele Dinge. Gerüche, Klänge, Lichter, Gelächter, Träume. Aber vor allem anderen: Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Sonne wieder scheinen wird, die Kälte der Wärme weichen wird, dass das Leben wieder erblüht, wie es gewesen war, so wie das Gute im Menschen.« »Ach was?! Das klingt wundervoll. Wie lang ist es her, dass Sie entlassen wurden?«, fragte sie. Wo vorher noch ein Leuchten in seinem Blick gewesen war, darüber zog nun ein Schatten: »Ich wurde nicht entlassen. Ich habe dort auch nicht nur gearbeitet. Es war meine Fabrik. Ich habe sie gebaut, geleitet und ich habe sie auch wieder geschlossen.« »Fühlen Sie sich schuldig deshalb?« »Sie meinen, wegen der Angestellten, oder was?« -- sie nickte -- »Nein. Die hatten schon länger einen Verdacht.« »Lief es nicht so, wie Sie wollten?« Er schüttelte seinen Kopf, als wüsste er nicht, wie er es ihr erklären sollte. »Es lief zu gut.« »Bitte erzählen Sie weiter, S.C.«, sagte sie und stand auf. »Ich mache Ihnen nebenbei einen Tee.« »Danke. Also, Sie müssen verstehen, dass es keine kleine Manufaktur war. Wir haben die Produktion von Hoffnung auf einem Areal von der Größe eines Flughafens im industriellen

Maßstab betrieben. Durch spezialisierte Arbeitsteilung, Förderbänder, die von den modernsten Rolls-Royce-Dieselmotoren angetrieben wurden, die jeder so groß waren wie ein Haus. Die buntgemalten, mit Girlanden verbundenen Schlote ragten weit in den Himmel und erinnerten uns immer daran, dass es genau so immer weiter gehen würde. Immer höher. Mehr Produktion, weitere Distribution.« »Aber das ging nicht, oder?«, fragte sie und stellte ihm eine dampfende Tasse auf den Tisch. »Ach, es war nicht nur, dass die Arbeiter krank wurden durch den körperlichen Verschleiß, ihre Arbeitsmoral sank, verstehen Sie, weil sie immer das Gleiche machten. Manche wurden depressiv, andere tranken. Das ist nicht gut im Geschäft mit der Hoffnung. Wir hätten diese Probleme irgendwie gelöst. Ein paar von ihnen wollten eine Gewerkschaft gründen, aber dann, von einem Tag auf den anderen, war es nicht mehr das Gleiche. Das Ganze war nicht mehr richtig, verstehen Sie?« »Warum? Was hat sich verändert?« »Was sich die Menschen erhoffen, hat sich geändert.« »Weil wir satt sind?«, fragte Dr. Holle. »Ja, es war schon einfacher. Wissen Sie, als Männerkörper im Stacheldraht der Grabenkriege hingen, als Granaten den Boden aufrissen und Giftgas den Himmel entzündete, als trotzdem Deutsche und Franzosen an einem Tag aus dem Graben kamen, zusammenstanden, sich Wurst und Zigaretten reichten, ihre Hände reichten. Ooh, diese Hände. Oder als der ehrlichste Wunsch eines Mädchens es war, ein einziges Mal richtig satt zu sein und alle aus der Familie sich heimlich den Kanten vom Brot schnitten und für sie sammelten. Ich wollte die Fabrik nicht schließen. Ich wollte die Ressourcen nutzen. Es wurde mir klar, dass der Mensch nur dann menschlich sein kann, wenn er nicht im Überfluss lebt. Wir haben mit der Fabrik den Überfluss vergrößert und unser Ziel verraten. Darum musste es zu Ende gehen. »Wie fühlen Sie sich dabei? Wenn Sie darüber reden.« »Unvollendet.« »Interessant. Aber sagen Sie, gibt es denn niemanden mehr, der Hoffnung braucht? Wie ist es zum Beispiel mit Ihnen? Brauchen Sie selbst keine Hoffnung?« »Niemand braucht Hoffnung. Hoffnung hilft nur dem Wirtschaftswachstum. Heute nehmen wir einen Kredit auf, weil wir Hoffnung haben, morgen noch Arbeit zu haben. Heute machen wir die Welt kaputt, weil wir hoffen, dass sie morgen jemand retten wird. Menschen brauchen keine Hoffnung. Hoffnung verhindert, dass sie etwas ändern. Dass sie sich auflehnen. Dafür sollte man die Fabrik benutzen: Menschen aufzuwiegeln, ihnen zu zeigen, wer sie sein könnten. Wie klingt das für Sie?«

»Unmöglich. Riskant«, antwortete sie. »Ja. Ja, Sie haben vermutlich recht.« »Was ist Ihnen passiert, nachdem Sie die Fabrik geschlossen haben? Hier steht, die Beamten, die Sie in Gewahrsam genommen haben, haben halluzinogene Substanzen bei Ihnen gefunden.« »Was würden Sie denn tun, ohne Hoffnung? »Ja, natürlich.« Nach einer kurzen Pause griff S.C. zu der Teetasse, hob sie an seinen Mund, blies hinein und schlürfte ein wenig davon. Als er sie wieder zurückstellte, erklärte er: »Ich brauche den Koffer.« »Er steht nebenan«, antwortete sie und zeigte auf eine Tür. »Sie können ihn wiederhaben. Aber Sie sollten wissen, dass Sie bald sterben werden, wenn Sie so weitermachen.« »Mache ich den Eindruck, dass ich es nicht versucht hätte?« »Ich könnte Sie irgendwo unterbringen.« »Damit ich am Ende auch satt werde? Nein. Bitte, nein.« »War er eigentlich Ihr Freund?«, fragte sie und neigte den Kopf zu der Tür. »Das kann man sagen, ja, er war mein Freund.« »Warum heben Sie die Überreste auf?« »Vielleicht will ich, dass er am Ende bei mir ist.« Dr. Holle stand auf und kniete sich vor ihn. »Die Beamten werden noch ein paar Kleinigkeiten von Ihnen wollen. Aber ich habe keinen Grund, zu empfehlen, Sie festzuhalten. Auch die Menge der Substanzen ist nicht ausreichend, Sie darum anzuklagen. Sie können Ihren Koffer nehmen und gehen.« Er rührte sich nicht. Sie sahen sich beide gegenseitig an. Dann nahm sie seine Hand, hielt sie eine Weile und sagte dann leise: »Das muss eine unglaubliche Fabrik gewesen sein.«