Mario Fuhse - Buch.de

Buntes Getriebe eines Marktes erfüllte ihn. Und mitten auf dem Platze ... ganzen Tag: Schlan- genbeschwörer, Geschichtenerzähler, Tanzäffchen, Wasser- ... ten Marokkos zählt, ist Tatort eines Anschlages geworden». (Alexander).7 Was war ...
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Mario Fuhse

Der Platz des Platzes Gestalt- und raumtheoretische Kontextualisierungen zu Hubert Fichtes Roman Der Platz der Gehenkten

Männerschwarm Verlag Hamburg 2014

Diese Arbeit wurde durch ein Stipendium des Westfield Trust der Queen Mary University of London unterstützt und 2013 dort als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Mario Fuhse: Der Platz des Platzes Gestalt- und raumtheoretische Kontextualisierungen zu Hubert Fichtes Roman Der Platz der Gehenkten © Männerschwarm Verlag, Hamburg 2014 Umschlaggestaltung: diekomplizen, Bremen, unter Verwendung eines Bildes von Pavel Gempler Druck: SoWa, Polen 1. Auflage 2014 ISBN der Print-Ausgabe: 978-3-86300-168-1 ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-86300-177-3 Männerschwarm Verlag Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg www.maennerschwarm.de

Verweilst du in der Welt, sie flieht als Traum; Du reisest, ein Geschick bestimmt den Raum; Nicht Hitze, Kälte nicht vermagst du fest zu halten, Und was dir blüht, sogleich wird es veralten. Goethe (1827, 88)

Was wirkte groß und wirkt, kann in sich seyn nicht nichtig: Solang es dis dir scheint, sahst du es noch nicht richtig. Doch richtig siehst du nie, wo du dich selbst verblendest, Und nichts erkennest du, wo du dich stolz abwendest. Komm, Sohn, und laß uns unbefangen, ohne voran Abzuurtheilen, auch urtheilen übern Koran Rückert (1838, 120)

Inhalt Gemeinplätze Ausgangspunkte und Überblick

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Grabungsplatz I: Sekundärliteratur & Biographisches Der Platz erscheint. Pressestimmen zum Platz Nachhall: Der Platz im wissenschaftlichen Diskurs Erste Hinweise auf eine Editionskritik Biographisches: Vorbereitung auf Marrakesch

20 23 31 33

Bauplatz I: Zur Genese der Geschichte der Empfindlichkeit & des Platzes Vom roman fleuve über Romankreise zur Geschichte der Empfindlichkeit Die Geschichte der Empfindlichkeit Editions- und Werkpläne

55 63 75

Grabungsplatz II: Hörwerke, Fotofilm & Romane Hörwerke Vergleich Djemma el Fna – Platz Fotofilm Romane

91 99 132 145

Bauplatz II: Platz-Inhalte & Architektur Inhalte Architektur Umschlagplatz: Ricardtanten versus Negerjunge

158 214 235

Marktplatz I: Raumdiskurs Spatial Turn Relationaler Raum Heterotopie Exkurs: Borges Exkurs: Ethnopoesie versus Reflexive Turn

238 244 260 265 276

Marktplatz II: Gestalttheorie Ausgangspunkte Gegenraum: Gestalttheorie Exkurs: Goethes West-östlicher Divan

Zusammenfassung

281 290 304 314

Anhang Bibliographische Angaben Editions- und Werkpläne Ricardtanten (Delon) Danksagung

320 341 358 360

Gemeinplätze Ausgangspunkte und Überblick Fremde Länder konfrontieren den Reisenden in der Regel mit Neuem und Unerwartetem. Der bereiste (Kultur-)Raum kann dabei ganz ungewohnt erscheinen, so auch die darin lebenden Menschen. Ja, das Fremde vermag zu irritieren und zu verunsichern. Daher verwundert es nicht, wenn die sichere Hotelanlage einem Ausflug in die verwinkelte Altstadt vorgezogen wird und der hoteleigene Pool dem in Sichtweite liegenden Meer. Hubert Fichte zog bei seinen Reisen vor allem diejenigen Orte vor, die der Pauschaltourist meidet. Dabei war Fichte stets von der Idee geleitet, gerade das Unbekannte zu finden, gerade das, was ihm fern liegen, mit dem er sich eben nicht verwandt fühlen würde (vgl. Laemmle, 1981). Je vielgestaltiger und räumlich divergenter, desto begeisterter äußerte er sich über den ganz anderen Ort. Ein solcher Autor, will er über seine Erfahrungen schreiben, wird sich die Aufgabe stellen müssen, wie die Erfahrungen mit dem Fremden in Formen gefasst werden können. Für den Schreibenden liegt die Schwierigkeit dabei in der Hauptsache darin, dass ihm für seinen Text in der Regel nur Wörter zur Verfügung stehen. Wie also können die Wahrnehmung des fremden Raums in einen Text überführt werden ohne allein Beschreibung zu sein? Hubert Fichte hat mit seinem Roman Der Platz der Gehenk-

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Gemeinplätze

ten den Versuch unternommen, seine Wahrnehmung - hier konkret am Beispiel der Jemâa el Fna, dem Platz der Gehenkten in Marrakesch - anhand räumlicher und gestalttheoretischer Parameter zu untersuchen und abzubilden. Sein Text ist Ausdruck einer Reisebewegung, die dem Fremden nicht nur Respekt zollt, sondern auch Auseinandersetzungen und Konfrontationen nicht scheut. Dies gilt sowohl für den fremden Ort samt seiner Bewohner, als auch den Schriftstellerkollegen, die sich vor ihm mit diesen Kontexten auseinandersetzten. Als frühestes Zeugnis deutscher Reiseliteratur über Marrakesch dürfte Grete Auers (1871–1940) 1910 erschienenes Buch Marraksch gelten.1 Die Autorin reiste im April 1897 (vgl. Auer 1995, 175)2 zu ihrem in Mazagan (auch: El Jadida) lebenden Bruder und blieb sieben Jahre bis 1904 in Marokko. Ihre Erzählung Marraksch entstand 1901 (vgl. Auer 1995, 215), zu einem Zeitpunkt, als europäische Ausländer gerade erst begannen, das Land und die Stadt zu entdecken.3 Gaston Deverdun schreibt 1959: «En 1898, je tiens du général Larras qu’il y avait quatre Européens à Marrakech [...]. Deux ans plus tard, grâce à un rapport de mars 1900, retrouvé dans les archives de la Mission militaire française, nous constatons que la colonie eu1

Über ihre Erlebnisse in Marokko veröffentliche Auer Erzählungen in deutschen sowie schweizerischen Zeitungen und Zeitschriften, die sie später in den Bänden Marokkanische Erzählungen (1904) und Marokkanische Sittenbilder (1905) zusammenfasste; beide Bände erschienen im Verlag von A. Francke in Bern. Marrakesch spielt in diesen Erzählungen nur eine untergeordnete Rolle. Verweise auf Auers Marraksch finden sich kaum; Escher/Petermann (82) stellten fest, dass Hinweise auf Auers Text in keinem Reiseführer zu finden seien.

2

Laut Auers Erinnerungen brach sie im April 1897 in Marseille zu einer 18 Tage dauernden Schiffsreise nach Marokko auf, um dort ihren Bruder Hans Auer (1872–1963) zu besuchen, der bereits einige Zeit als Kaufmann in Mazagan arbeitete. In seiner Einleitung zu Auers Erzählung Marraksch nennt Hans Bloesch als Reisebeginn das Jahr 1898 (vgl. Auer 1910: 6).

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Siehe unten.

Ausgangspunkte und Überblick

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ropéenne ne comprenait plus qu’un seul Français, mais aussi six Allemands [...]».4 Demnach war die Anzahl von Ausländern in Marrakesch Anfang des 20. Jahrhunderts recht übersichtlich; Grete Auer spricht glaubwürdig von «damals höchstens zehn Europäern». Es waren dies «die vier europäischen Ärzte des Sultans, [...] Kaid Mac Lean, und ein paar Missionare» (Auer 1995, 215). Auers Erzählung ist hier in Bezug auf die Jemâa el Fna als Hinrichtungsstätte bzw. Pranger interessant. Die Hauptperson Monika nähert sich «der Dscham el=Fna, dem ansehnlichsten Platze der Stadt» (Auer 1910, 125) nur selten. Der Grund ergibt sich aus der Beschreibung des Platzes: Buntes Getriebe eines Marktes erfüllte ihn. Und mitten auf dem Platze stand, groß und ungeschickt, ein europäisches Haus mit grünen Läden [...]. Gegenüber diesem Hause aber, an der anderen Seite des Platzes, da stand ein Mäuerchen, ein ganz unscheinbares, zweckloses Stück Ruine; fünf formlose, dunkle Gegenstände zeichneten sich dagegen ab, eine Schar Krähen balgte sich darüber: das war die Mauer, an der die Köpfe gefangener Rebellen verwesten, von jedermann neugierig betrachtet, niemand abschreckend. (Auer 1910, 125 f.)5

Der Platz als Hinrichtungsstätte bzw. als ein einem Pranger vergleichbarer Ort hat sich somit bis um 1900 erhalten. Einer der frühesten Berichte vom Platz als Hinrichtungsstätte findet 4

In: Deverdun, Gaston: Marrakech des origines à 1912. 2 Bde. Rabat 1959, Bd. 1, 554 (zitiert nach Escher/Petermann, 33).

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Auer bestätigt dies in ihren Erinnerungen: «In diesen Tagen, da ich mit meinem Koch zu Pferde die Stadt durchstrich, gab es in Marrakesch noch jene besprochene Mauer, an der die Köpfe getöteter Rebellen zur Schau gestellt wurden. Ich habe sie wiederholt gesehen. Sie hatte nichts Abschreckendes, wenn man nicht zufällig die Herren, deren Köpfe da schwarz und eingetrocknet ein niedriges Gemäuer zierten, persönlich gekannt hatte. Die Franzosen sollen den Unfug abgeschafft haben. Niemand schaut nach diesen Köpfen, niemand bleibt dabei stehen, nur daß an dieser Stelle kein Teesieder sein Kohlebecken aufgestellt hatte» (Auer 1995, 220).

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Gemeinplätze

sich schon bei Ibn Battuta (1304–1377), der über seine Reise im Januar 1352 nach Marrakesch schrieb: Sie ist eine der schönsten Plätze der Erde und wird wohl nur noch von Bagdad übertroffen. [...] In der Mitte der Stadt liegt der große ‹Platz der Getöteten›. Ich ließ mir sagen, daß hier die Verbrecher und gefangenen Feinde hingerichtet werden. Man köpft, hängt oder ledert sie, um dann ihre Köpfe auf hohe Stangen zu stecken, gleichsam als Abschreckung für andere Missetäter. Die Geier und Totenvögel reißen Haut und Fleisch von den Köpfen der Hingerichteten, bis nur noch der kahle Schädel übrigbleibt. (Battuta, 296 f.)

Demnach weist die Jemâa el Fna als öffentlicher Hinrichtungsplatz eine mehr als 500-jährige Geschichte auf. Hubert Fichtes Roman Der Platz der Gehenkten reiht sich vordergründig in die jahrhundertelange Reihe von Reiseliteratur über Marrakesch ein;6 ja, er wird in einem aktuellen Reiseführer zu Marrakesch sogar als «unterhaltende und informative Reiselektüre» empfohlen (Därr, 95). Im Frühjahr 2011 rückte der Platz in den Fokus aktueller Berichterstattung: «Der Dschamaa al-Fna in Marrakesch, die ‹Perle des Südens›, gehört zum Pflichtprogramm eines jeden Marokkoreisenden. Reges Treiben den ganzen Tag: Schlangenbeschwörer, Geschichtenerzähler, Tanzäffchen, Wasserträger und Couscous-Garküchen. Ein Festival für Augen, Ohren und Gaumen, denn natürlich bieten der angrenzende Basar und die den Platz umringenden Dachcafés alle Genüsse des Maghreb, des islamischen Westens. Ausgerechnet dieser ‹Platz der Gaukler› in der Stadt am Fuße des Hohen 6

Einen inhaltlichen Überblick liefert die Liste mit Marrakesch- bzw. Jemâa el Fna-Literatur von Ingrid Thurner (homepage.univie.ac.at/ ingrid.thurner/marokko/Marrakesch.html). Grete Auers Text fehlt in dieser Auflistung. 2003 ist ein Band mit einer Sammlung von Texten über Marrakesch erschienen (vgl. Weiss), darunter vier Auszüge aus Fichtes Platz der Gehenkten (30 f., 35–37, 213–215 und 228–230).

Ausgangspunkte und Überblick

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Atlas, die neben Meknes, Fes und Rabat zu den Königsstädten Marokkos zählt, ist Tatort eines Anschlages geworden» (Alexander).7 Was war geschehen? Am 28. April 2011, kurz vor 12 Uhr mittags, zerstörte eine Bombenexplosion vor allem die erste Etage des Cafés Argana direkt an der nordwestlichen 8 in Marrakesch und Ecke des zentralen Platzes tötete 17 Menschen. Zunächst wurde eine Gasexplosion als mögliche Ursache vermutet, doch kaum 30 Minuten später gab der Bundesnachrichtendienst bekannt, es handele sich sehr wahrscheinlich um einen Anschlag. Die Vermutung, und dies ist nicht Teil der Nachricht, resultierte aus einer recht bald am Tatort ermittelten makabren Tatsache: Im Körper der Opfer waren Nägel gefunden worden (vgl. Hackensberger). In der Sprache des Zeitungsartikels offenbart sich deutlich eine romantisierende Sicht auf den Maghreb. Zudem wird nicht nur der Anschlag als solcher dem Bereich kriminellen Handelns, einem «Tatort», zugeordnet; das Adverb «ausgerechnet» bringt Entrüstung über die Ortswahl der Attentäter zum Ausdruck. Der Orient erscheint in der Meldung als mysteriös und bedrohlich. Darin lässt sich ein eurozentrischer Blick ausmachen, den Edward Said als Orientalismus bezeichnet. Said beschreibt in seiner Analyse den westlichen Blick auf den Orient bzw. die arabische Welt als «Stil der Herrschaft, Um7

Um die Anmerkungen und den Text zu entlasten, sind Fundstellen jeweils mit den aus der Bibliographie zu entnehmenden Namen (gegebenenfalls mit Jahreszahl) versehen.

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Hubert Fichtes Umschrift ‹Djemma el Fna› ist möglicherweise eine Neuschöpfung, da ich sie vor 1970 in keiner anderen Quelle ausmachen konnte. Bis heute hat sich noch keine Einheitlichkeit bei der Wiedergabe arabischer Namen und Begriffe herausgebildet. Es finden sich unter anderen folgende Schreibweisen: Jemâa el Fna (Tebbaa/Faïz), Jamaa-el-Fna (Goytisolo 1982, 171), Dscham el=Fna (Auer 1910, 125), Djemaa el-Fna (Kirchhoff, 183), Djema el Fna (Canetti 1967, 81). Für die vorliegende Arbeit habe ich die auch in Marokko häufig auftauchende Phonetisierung Jemâa el Fna gewählt, vor allem auch, um zwischen literarischem und realem Platz unterscheiden zu können.

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Gemeinplätze

strukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient» (Said 1981, 10). Ein solcher orientalistischer Kontext liefert eine plausible Erklärung für die zitierte sprachliche Havarie. «Perle des Südens», «Pflichtprogramm eines jeden Marokkoreisenden», «Festival der Sinne»: Schnell und gern wird auf Bilder zurückgegriffen, die dem Leser die örtliche Situation vor Augen führen sollen, ihn dort implizit als Touris­ten verorten und so als potenzielles Opfer markieren. Der in bunten Farben geschilderte Platz wird dadurch zur medialen Falle, die die Emotionen über den Bombenanschlag in eine bestimmte Richtung lenkt. Doch das Zitat zeigt noch mehr. Ein Lexikoneintrag aus dem Jahr 1940 fand für den Platz recht ähnliche Worte: «La grande curiosité de Marrakech est sa place Djemaa-el-Fna où, du lever au coucher du soleil, les baladines attirent la foule, jongleurs, charmeurs de serpents, acrobates, dansers, conteurs; c’est une fête continue» (Escher/Petermann, 10).9 Der Besucher glaubt sich in eine Märchenwelt versetzt, in einen Traum aus Tausendundeine Nacht. Dem Platz werden Attribute zugeordnet, die ohne Einschränkung auch auf das Paradies bezogen werden können, denn nicht nur der «Platz der Gaukler» (siehe oben), ganz Marrakesch als «Perle des Südens» (Escher/Petermann, 9) «befördert die Europäer angeblich in einen anderen Seinszustand, einen Taumel oder Traum, in eine andere, vorher nicht gekannte Welt und macht sie süchtig danach. Hier erlebt man ein «Fest für die Sinne», die «Farbigkeit der Welt» und den «Taumel des Seins». Ein solcher Zustand ist zudem grenzenlos,10 denn «Marrakech macht Lust und in Marrakech finden die Fremden Rahmen und Möglichkeiten, jede Dimension der Lust zu leben». 9

Escher/Petermann zitieren hier aus: Guernier, E. (Hg.): Le Maroc. Encyclopédie Coloniale et Maritime (Paris: 1940).

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Vgl. das Kapitel zur Heterotopie S. 260 ff..

Ausgangspunkte und Überblick

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Hubert Fichte (1935–1986) bereiste Marrakesch zum ersten Mal im Jahr 1968. Auch er geriet in die Falle vergleichbar paradiesisch klingender Lockrufe eines Freundes, der seit einigen Jahren in Marokko lebte. 17 Jahre und insgesamt fünf Marokkoreisen später spiegelt Fichte inhaltlich wie formal einen äußerst komplexen und gereiften Blick auf Marokko, Marrakesch und dessen zentralen Platz, die Jemâa el Fna. Der 1985 beendete und 1989 postum erschienene Platz der Gehenkten ist der 6. Teil eines nachgelassenen und unvollendet gebliebenen, auf 19 Bände projektierten Werkkomplexes mit dem Titel Die Geschichte der Empfindlichkeit. Hauptfiguren sind der bisexuelle Schriftsteller Jäcki und seine Partnerin, die Fotografin Irma. Die Rahmenhandlung des Platzes der Gehenkten ist in wenigen Worten erzählt. Die beiden Hauptfiguren, der Schriftsteller Jäcki und die Fotografin Irma, unterwegs in Marokko, trennen sich, um unterschiedliche Ziele im Land zu bereisen. Später meldet eine Zeitung den Absturz der Linienmaschine, mit der Irma nach Abschluss ihrer Arbeit nach Paris fliegen wollte. Doch sie hatte, was Jäcki und der Leser erst gegen Ende des Romans erfahren, ihren Plan geändert und sich spontan für eine Busreise entschieden, um mehr von der Umgebung sehen zu können, und war so der Katastrophe entkommen. Diese ‹unerhörte Begebenheit› eines vermeintlichen Todes bzw. einer anscheinend endgültigen Trennung bildet das Gerüst der komplexen Architektur des Romans, der keine ‹Novelle› ist, da zwischen die Gerüstpfeiler der Erzählung weitere Texte unterschiedlicher Art eingefügt sind, die sich immer mehr vernetzen und ein vielschichtiges, subjektivatmosphärisches Stimmungsbild erzeugen. So beginnt der Text z. B. mit der Beschreibung eines Traumes. Den Mittelteil bilden numerische Textblöcke aus zunächst 17 Einzeilern, gefolgt von zwei Zweizeilern, drei Dreizeilern usw. bis hin zu 17 Siebzehnzeilern. Alle zeigen Momentaufnahmen bzw. Szenen

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Gemeinplätze

des zentralen Marktplatzes Jemâa el Fna. Zudem werden vier Zitate aus Suren des Koran in den Gesamttext eingewoben, die jeweils mit einem gleich lautenden Block «Aufwachen» quasi angekündigt werden. Abgeschlossen wird der Roman mit einer Zusammenfassung des Geschehens auf dem Platz und der Abreise Jäckis. Bereits diese kurze Inhaltsübersicht zeigt, dass der Roman mit Reiseliteratur im eigentlichen Sinn – also Ankommen, Begegnungen und Erlebnisse im fremden Land, Abreisen – wenig zu tun hat. Form und Inhalt des Romans bilden eine Einheit, deren Entschlüsselung eine aufmerksame Lektüre erfordert. Bereits die unterschiedlichen Zeiten, in denen der Roman spielt, 1968, 1970 sowie 1985, stiften Verwirrung. Weiterhin wechselt die Erzählperspektive z. B. zwischen ErzählerIch und der Figur Jäcki hin und her. Das Geschehen auf dem Platz wird eingehend beobachtet und innerhalb der formalen Textblöcke versammelt. Ein Überblick über die Rezensionen und die Sekundärliteratur zum Platz der Gehenkten vermag die Missverständnisse und Unschärfen aufzuzeigen, die bei der Analyse eines solchen Romans in Presse und wissenschaftlicher Auseinandersetzung festzustellen sind. Erstaunlicherweise wurde der Platz der Gehenkten recht schnell mit überschwänglichem Lob, selten auch mit Tadel bedacht, meist allerdings ohne dabei genau zu begründen, was daran zu loben bzw. zu kritisieren sei. Vor allem in der Sekundärliteratur zeigt sich, dass selbst prominente Exegeten wie Hartmut Böhme dem Roman zwar umfangreiche Studien widmeten, dabei aber die vielfältigen Bezüge und die dem Text inhärenten sprachlichen Finessen nur ansatzweise aufdeckten. Die für das Verständnis wichtigen Aspekte wie Raumdiskurs und Gestalttheorie wurden so gut wie gar nicht in die Betrachtungen einbezogen. Um die komplexen Lebens- und Werkimplikationen, Fich-

Ausgangspunkte und Überblick

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tes Impulse und mögliche Maskierungen offenlegen bzw. analysieren zu können, wird es nötig sein, biographische Fakten soweit auszubreiten, als daran gezeigt werden kann, wie weit Fakt und Fiktion im Roman zur Deckung zu bringen sind oder nicht. Auch Fichtes Impulse, Marokko und Marrakesch zu bereisen, müssen aufgezeigt werden. Vor der eigentlichen Analyse des Romans muss auch der Kontext, das Gesamtwerk Geschichte der Empfindlichkeit vorgestellt werden, um einige kontextbedingte Fehlanalysen zu korrigieren. Die Analyse von thematisch und formal ähnlichen Vorarbeiten gibt Aufschluss über Fichtes Arbeitsweise und die Genese des Romans. Es wird sich zeigen, dass der Nachvollzug dieser Entstehungsgeschichte für das Verständnis des Romans unerlässlich ist. Im Anschluss daran können und sollen interne Bezüge aufgezeigt und kommentiert werden. Fichte hat zudem einige Pläne zur Geschichte der Empfindlichkeit und zum Platz der Gehenkten hinterlassen, deren Auswertung in Bezug auf den Roman bislang ausgeblieben ist. Dabei deutet bereits die Fülle von unterschiedlichen Bezügen an, welche Schwierigkeiten sich dem Interpreten stellen. Um dieses Beziehungsgeflecht entwirren zu können, sind einige Exkurse innerhalb der jeweiligen Themenkreise zwischengeschaltet. Letztlich soll gezeigt werden, dass Fichte mit seinem Roman eine neuartige Form der Montage entwickelt, um sich dem beschriebenen fremden Raum auf sensible Weise zu nähern. Zudem vollzieht er mit seinem Roman eine Entwicklung des Schreibens nach: vom einzelnen Buchstaben über Kürzestgeschichten hin zur fragmentierten Erzählung bzw. Fortsetzungsgeschichte und zum Roman selbst. Vor allem anhand markierter und nicht markierter intertextueller Bezugnahmen11 kann ein Kompass bzw. eine Karte gefunden wer11

Gemeint ist die bewusste Verwendung von Texten anderer Autoren und werkimmanente Rückgriffe.

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Gemeinplätze

den, die den Weg durch das zunehmende Dickicht des Textes erleichtern. Fichtes Text ist letztlich Ausdruck für die «Einsicht, dass die Zersplitterung kultureller Lebenszusammenhänge keinen direkten Zugang zu fremden Erfahrungszusammenhängen mehr zuläßt, [...] auch [stellt er] die Annahme einer Umsetzbarkeit von Erfahrung in die Form eines Textes massiv in Frage» (Bachmann-Medick, 144 f.). Fichte findet Auswege mithilfe der Gestalttheorie. Immer wieder gilt es dabei, Fichtes additive und subtraktive Bauprinzipien zu erläutern, die von mir als eine Vorwegnahme des Raumdiskurses gelesen werden und sich mit den von Martina Löw für die Raumsoziologie eingeführten Begriffen ‹Spacing› und ‹Syntheseleistung› genauer fassen lassen. Immer wieder soll auch ermittelt werden, inwieweit Fichte literarische Bezugnahmen auf historische und zeitgenössische deutsche und internationale Autoren kontextualisiert und so auf originäre Weise im Platz der Gehenkten reflektiert. Spätestens an dieser Stelle wird sich erweisen, dass der Roman keine bloße intellektuelle Spielerei ist, sondern epistemologisch gesehen ein referenziell literarisches Abbild eines (sprach)empfindlichen Umgangs mit dem ‹Alteren› bzw. der ‹Alteriät›12 zeichnet. Dabei wird auch immer wieder zu entwickeln sein, inwieweit der Roman die Wahrnehmung des ‹Anderen› reflektiert und ob bzw. welche Lösungen er anbietet, Voraussetzungen für ein (friedliches) Neben- oder Miteinander zu schaffen. Diese Fragestellung, die nicht nur im heutigen Terrorismusdiskurs und im Hinblick auf eine Fundamentalismusdebatte fruchtbar sein dürfte, soll auch Aussa12

Der Begriff ‹Alterität› verweist «auf die Dichotomie von Alterität und Identität als einander bedingende Momente. Alter ist dabei kein beliebiger Anderer, ‹alter› ist der zweite von zwei gleichartigen und einander zugeordneten Identitäten» (Babka, Anna). In diesem Sinne ist auch der Begriff des ‹Alteren› zu verstehen.

Ausgangspunkte und Überblick

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gen über den ontologischen Gehalt des Romans stützen, der zudem als eine behutsame Studie über (Sex-)Tourismus gelesen werden kann.

Grabungsplatz I: Sekundärliteratur & Biographisches Der Platz der Gehenkten erscheint – Pressestimmen «Diffuser Sonntag. Herumleserei in allerlei ‹Neuem›: Fichtes Nachlaßroman, angeblich sein ‹kunstvollster›, der PLATZ DER GEHENKTEN, ist das reinste Blabla, EIN Satz auf EINER Seite – Hochstapelei eines Toten; womit er geradezu ein neues Genre geschaffen hat» (Raddatz, 286), notiert Fritz J. Raddatz in beißendem Spott für den 9. April 1989 in seinem Tagebuch, das er gut 20 Jahre später öffentlich macht. Bereits die Wortwahl «Herumleserei» zeigt, dass Raddatz es mit der Lektüre nicht allzu genau genommen haben kann; seine kurzgeschlossene Analyse gehört – wie ein Gutteil seines Buches – weit eher in die Rubrik ‹Klatsch und Tratsch›, als dass sie den ehemaligen Rowohlt- und Fichte-Lektor als profunden Literaturkenner auswiese. Gut einen Monat zuvor, am 1. März 1989, hatte der S. Fischer Verlag weitere Bände von Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit an die Buchläden ausgeliefert. Seit Oktober 1987 waren in halbjährlichem Abstand bereits sechs Titel erschienen;1 die druckfrische Lieferung umfasste den 1

Hotel Garni sowie Homosexualität und Literatur 1 erschienen am 1. Oktober 1987, Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs sowie Homosexualität und Literatur 2 am 1. März 1988, Eine Glückliche Liebe am 1. September 1988 und Schulfunk, ein nicht zur Geschichte der Empfindlichkeit

Pressestimmen

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Roman Platz der Gehenkten sowie den Paraleipomena-Band2 Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão. Doch mit dieser neuerlichen Sendung waren nicht nur die Leser überfordert, auch das Feuilleton hatte weitestgehend kapituliert. War es Hotel Garni, dem Eröffnungsband der Edition, noch gelungen, auf Platz 2 der Bücher-Bestenliste des Südwestfunks vorzurücken und (bis heute als einziger) eine 2. Auflage in der gebundenen Ausgabe zu erreichen, blieb schon Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs hinter diesem Erfolg zurück. Nach drei Romanen und drei Textsammlungen wollten die meisten Kritiker genug gelesen haben, um eine klare Meinung bekunden zu können. So schreibt Uwe Wolff: «Nach den bisher erschienenen Bänden hat sich der Leser daran gewöhnt, neben glänzenden Perlen manche dunkle Austernschale zu finden [...], so ist die Entscheidung der Herausgeber, die fragmentarischen Essayentwürfe ‹Homosexualität und Literatur I› [...] und die jetzt vorgelegten Materialien zum Studium des religiösen Verhaltens ‹Das Haus der Mina in São Luis de Maranhão› zu veröffentlichen, ein bleibendes Ärgernis» (Wolff, 51). Es ist daher nicht verwunderlich, kaum Rezensionen zum Platz der Gehenkten zu finden. Zudem wurden diese meist in weniger auflagenstarken Printmedien platziert und so kaum zur Kenntnis genommen. Eine Rezension erschien gar anonym in der Zeitschrift der Deutschen Postgewerkschaft Deutsche Post. Bis auf die Neue Zürcher Zeitung gab es keine überregionale Tageszeitung, die sich mit dem Roman auseinandersetzte. Dies ist insofern erstaunlich, als die ihm inhärente Auseinandersetzung mit dem Koran und dem Islam damals breit diskutiert wurde. Die deutsche Presse emgehörender Band in gleicher Aufmachung, am 1. Oktober 1988. 2

Fichte benutzte in seiner letzten Verfügung diese Bezeichnung für seine nachgelassenen Textsammlungen; sie gelten nicht als Teil der Geschichte der Empfindlichkeit.

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Grabungsplatz I

pörte sich über die vom iranischen Staatsoberhaupt Ayatollah Chomeini am 14. Februar 1989 verhängte Fatwa gegen Salman Rushdie, dessen Buch The Satanic Verses die Gemeinde der gläubigen Muslime spaltete. Eine deutsche Ausgabe dieses Romans hätte zur Frankfurter Buchmesse 1989 vorliegen sollen, doch das Erscheinen verzögerte sich, da kein deutscher Verlag es wagte, den Roman in sein Programm aufzunehmen. Die Angst vor Racheakten und Imageschädigung war groß. Erst der Zusammenschluss zahlreicher deutscher Publizisten zu einem eigenen Verlag,3 brachte den Roman schließlich in den Buchhandel. Warum in den gut acht Monaten von der Auslieferung des Platzes der Gehenkten bis zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe von Die satanischen Verse trotz aller öffentlichen Diskussionen Fichtes Buch so gut wie keine Beachtung fand, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Hartmut Böhme wagte nicht nur eine Prognose, sondern lieferte auch eine mögliche Erklärung, wenn er schrieb, dieser Roman, «den die Literaturkritik mit Schweigen übergeht, wird als eines der kunstreichsten Werke Fichtes in die Literaturgeschichte eingehen. Doch nicht ohne weiteres. Man benötigt eine andere Art des Lesens» (Böhme 1989, 20; vgl. auch Götzke). Dieser Spur, der Böhme nicht weiter nachging, wird zu folgen sein. 1989, als der Roman der Öffentlichkeit präsentiert wurde, teilten die wenigen Kritiker Böhmes Einschätzung. Nahezu jeder Rezensent lobte es mit mehr oder weniger aussagekräftigen Worten. Fichte habe «die Kunst der aphoristischen Kürze [...] hier zur Meisterschaft geführt» (Stenger). «Kunstvoll und 3

Der Artikel 19 Verlag gründete sich 1990 aus einem Zusammenschluss von nahezu 80 westdeutschen Verlagen. Außerdem beteiligten sich zahlreiche Institutionen und Einzelpersonen. Der Name bezieht sich auf Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (‹Recht auf freie Meinungsäußerung›), beschlossen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 (vgl. Jens, Bd. 14, 483).

Nachhall

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mit auf das Wichtigste reduzierten Sprachmitteln entwirft er die Struktur des Platzes» (Anonymus, 22). Der Platz der Gehenkten sei ein Meisterwerk «der formalen wie inhaltlichen Verdichtung von Erlebnissen», ein «Gleichnis des Lebens» (Wolff, 27) bzw. «der Höhepunkt von Hubert Fichtes Bemühungen um eine Wiedergewinnung der rituellen Funktion von Sprache» (51). Auch attestierte man dem Roman, er sei «das Delta des Roman Fleuve» (Schlösser, 10), Fichtes «ethnopoetisches Vermächtnis» (Tonninger, IX), «eine meisterliche poetische Reportage» sowie «poetische Dokumentation» (Fässler, 6). Ralf Stiftel und Gerd Ueding wagten sich besonders weit vor, wenn sie schrieben: «Fichtes Meisterwerk der Erzählkunst markiert einen Höhepunkt der deutschen Nachkriegsliteratur» (Stiftel) und «die ganze Djemma el Fna [wird] zum Gleichnis, zum Schauplatz eines Lebensspiels» (Ueding). Schließlich lobte Hartmut Böhme den Roman als «eines der kunstreichsten Werke Fichtes» (Böhme 1989, 20) und Werner Pfister bezeichnete ihn als «eine subtil ausgezirkelte Komposition» (Pfister 1990, 28) und als Fichtes «poetisch kühnsten» Roman (Pfister 1991, 197). Diese dem Pathos selten ausweichende Literaturkritik zeigt aber auch die Unschärfe auf, die dem Roman eingeschrieben ist, wenn von ethnopoetischem Vermächtnis, poetischer Reportage und poetischer Dokumentation die Rede ist und so die Kategorien durcheinanderpurzeln.

Nachhall: Der Platz der Gehenkten im wissenschaftlichen Diskurs «Über keinen anderen Nachkriegsautor aus dem Themenbereich ‹Homosexualität und Literatur› wurden mehr wissenschaftliche Aufsätze, Essays, Rezensionen, Dissertationen,

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Grabungsplatz I

Habilitationen, Vortragsbände und Ausstellungskataloge geschrieben als über den schroffen und selbstherrlichen Einzelgänger Fichte» (Hergemöller, 224), heißt es bereits 1998 in Bernd-Ulrich Hergemöllers biographischem Lexikon mann für mann. Und Robert Gilletts kritische Auswahlbibliographie versammelt bis zum Jahr 2007 über 2000 Arbeiten zu Fichte. Die Anzahl der Äußerungen über den Platz der Gehenkten beschränkt sich jedoch auf eine recht überschaubare Gruppe von Autoren; von einem wissenschaftlichen Diskurs über diesen Text kann kaum die Rede sein. Ein Grund dafür dürfte in der von Böhme geforderten «anderen Art des Lesens» liegen. Die erste umfangreichere Analyse zum Platz der Gehenkten war bereits 1987 in Torsten Teicherts Dissertation Herzschlag außen noch vor der Veröffentlichung des Romans erschienen. Zumindest ein Kreis eingeschworener Fichte-Fans dürfte dadurch auf den Roman neugierig geworden sein. Teichert, der noch zu Fichte Kontakt hatte, bekam Einsicht in das weitgehend noch unveröffentlichte Manuskript.4 Seine Interpreta­ tion wollte «auch Lust machen [...] aufs Lesen des Besprochenen» (Teichert, 276). Er nennt den Platz der Gehenkten einen «Treffpunkt» (275); auch zeige der Roman seine eigene Entstehung. Solchen poetisch relevanten Aussagen stehen unverständliche gegenüber, z. B. suche man vergeblich «nach dem, was nach traditionellem Verständnis eine Handlung heißen würde» (275). Zudem spricht Teichert von dem Roman als einem «radikalisierten Konzept des konstruktivistischen Rea4

Auszüge des Romans erschienen zu Lebzeiten Fichtes in: Jung, 74–78. Indem er die letzten vier Zwölfzeiler (Platz, 106–109), den 6. und verlängerten Siebzehnzeiler komplett (Platz, 181 und 182) sowie die beiden letzten Zeilen des letzten Siebzehnzeilers (Platz, 205) auswählte, präsentierte Fichte nicht nur den Kern seines schriftstellerischen Programms, sondern verdeutlichte auch das Dilemma eines bisexuell veranlagten Mannes, der von seiner Partnerin getrennt ist. Er fixierte mit dieser Auswahl bereits einen wesentlichen Impuls des Romans.

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lismus» (276). Teichert geht vor allem auf Fichtes Sprache ein und betont deren Musikalität und Nähe zur Lyrik. Hin und wieder werden bildende Künstler, z. B. Matisse und dessen Maltechnik, bemüht, um Fichtes Schreibweise zu charakterisieren. Insgesamt erweckt die Analyse den Eindruck, sich hauptsächlich aus Assoziationen und gewagten Vergleichen zu speisen, anstatt dem Gegenstand der Betrachtung auf den Grund zu gehen. Seine Arbeit bleibt aber trotz gedanklicher Brüche und einigen Abwegen eine wichtige Quelle für die Forschung, da Teichert auch Aspekte benennt, die Fichte ihm gegenüber geäußert hatte. So berichtet er z. B., dass Fichte ihm mitgeteilt habe, dass «die erste Fassung des Romans ganz anders aussah, in längeren Prosatexten gearbeitet, weit weniger rigide konzipiert» war (287).5 Die erste Analyse nach Erscheinen des Platzes der Gehenkten legte 1991 Hans-Jürgen Heinrichs vor, der mit Fichte befreundet war und als Verleger in schneller Folge mehrere recht unterschiedliche Arbeiten Fichtes veröffentlicht hatte.6 Bereits der Titel des schmalen Bandes Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch oder wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen stellt einen eindeutigen Bezug zum Platz der Gehenkten her. Heinrichs Text erweist sich jedoch als Mogelpackung,7 da er nur auf wenigen Seiten (Heinrichs, 110–112) auf den 5

Bei dieser Textfassung handelt es sich offensichtlich um ein von Fichte an Hans-Jürgen Heinrichs gegebenes Typoskript, dessen Existenz durch eine Liste bezeugt ist und das sich, so Heinrichs, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befinden soll, wo es jedoch bislang nicht aufgefunden werden konnte. Ein Vergleich mit dem abgeschlossenen Roman ist daher bis auf Weiteres nicht möglich.

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Es sind dies: Psyche. Anmerkung zur Psychiatrie in Senegal (1980), der Interviewband Jean Genet (1981), das Hörspiel Zwei Autos für den Heiligen Pedro Claver (1982) sowie zwei Fotokassetten in Zusammenarbeit mit Leonore Mau: Die Mauerbilder des Papisto Boy in Dakar (1980) und Dichter mit Umgebung (1981).

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Im Grunde genommen versammelte Heinrichs in dem Buch nahezu unverändert seine Rundfunkfeatures zu Fichte.

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Roman eingeht. Dabei bezieht er einen «ersten Manuskriptentwurf» (110) mit ein, dessen Titel Djemma el Fna – der Platz der Gehenkten gelautet habe. Der abgebildete Textentwurf (107–109) ist vom Wortlaut her mit den ersten drei Seiten des gleichnamigen Hörwerks von Fichte identisch. Der einzige Unterschied ist, dass drei Stellen im Text geschwärzt und einige handschriftliche Korrekturen erkennbar sind. Diese Änderungen wurden im Feature-Typoskript berücksichtigt, und daher liegt der Schluss sehr nahe, dass Heinrichs den ersten Typoskriptentwurf des Djemma und keine frühere oder gar erste Romanfassung abgebildet hat, es sei denn, beide wären in den reproduzierten Textstellen identisch. Es erstaunt, dass seine Analyse wenig gehaltvoll ausfällt, obwohl der Roman bereits seit zwei Jahren im Handel war und als eine der auffälligsten Kompositionen im Rahmen der Geschichte der Empfindlichkeit gerühmt wurde. Im gleichen Jahr erschien mit Hartmut Böhmes Riten des Autors – Annäherung an Hubert Fichte eine erste umfangreichere Studie zum Platz der Gehenkten, die er in seiner ein Jahr später erschienenen Habilitationsschrift Hubert Fichte – Riten des Autors und Leben der Literatur zu der bislang umfassendsten und ohne Zweifel auch vielschichtigsten Analyse zum Platz der Gehenkten ausbaute.8 Alle Aspekte seiner 47 Seiten umfassenden Analyse aufzuzeigen, würde hier zu weit führen. Es wird die Aufgabe sein, anhand der Quellenlage im jeweiligen Kontext nachzuvollziehen, an welchen Stellen Böhmes Analyse sich als stichhaltig erweist oder eine Neubewertung 8

Böhmes Studien zu Fichte waren institutionell eingebettet. Mit der Gründung einer Arbeitsstelle zu Hubert Fichte an der Hamburger Universität hatte er eine literaturwissenschaftliche Schaltstelle der Forschung zu Fichte geschaffen. Leider versiegten mit Böhmes Hinwendung zur Kulturwissenschaft und seinem Wechsel nach Berlin die Fördergelder und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Arbeitsstelle aufgelöst wurde.

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angezeigt ist. Auch Böhme lenkte seine Analyse bereits in unterschiedliche Richtungen, die er aber auch zugunsten einer Gesamtinterpretation von Fichtes Werk hin und wieder außer Acht ließ. Möglicherweise ist dies ein Grund, warum Böhmes Fazit eher prosaisch ausfällt, wenn er schreibt, die «Arbeit des Romans besteht nur noch darin, das schon (1970/71) Geschriebene neu zu schreiben» und es «vollständig einer Form zu unterwerfen» (413). Bereits im Vorfeld hatte er Fichtes kompositorische Entscheidungen als willkürlich bezeichnet «– wenn man darin nicht eine sexuelle Bedeutung erkennen will» (371). Daraus ergibt sich, dass Böhme Fichtes formalen Rahmen rein ästhetisch begründet. Daher wird zu diskutieren sein, welchen Platz Fichtes Text zwischen reiner Form(ung) (Böhme 1989) und subtil ausgezirkelter Komposition (Pfister) einnimmt. Die Forschungsliteratur gut 25 Jahre nach Fichtes Tod und 15 Jahre nach dem Erscheinen eines Großteils9 der Geschichte der Empfindlichkeit ist recht überschaubar. Insbesondere für den Platz der Gehenkten finden sich nach Böhmes Analyse nur wenige Nachfolger. Chronologisch ist zunächst Sabine Röhr zu nennen. In ihrem bislang unveröffentlichten Vortrag Hubert Fichtes ‹Platz der Gehenkten› – eine neue Form der Montage (1993) übertrug sie die Arbeitsergebnisse ihrer Analyse mit dem Titel Hubert Fichte. Poetische Erkenntnis. Montage – Synkretismus – Mimesis aus dem Jahr 1985 auf den Platz der Gehenkten und benannte dabei wesentliche Gestaltungsmomente 9

Der letzte Band Die zweite Schuld erschien postum 2006 zum 20. Todestag Hubert Fichtes. Testamentarisch war der Roman mit einer 30-jährigen Sperrfrist belegt. Zur vorgezogenen Veröffentlichung vgl. u. a. Bandel 2006, 38 und 142, Anm. 54. Für Roland Spahr, den für Hubert Fichte zuständigen Lektor im S. Fischer Verlag, ist das «Fehlen des Bandes Der blutige Mann [...] sicherlich die schmerzlichste Verletzung von Fichtes Konzeption. Eine nachträgliche Publikation dieses Bandes ist erstrebenswert» (Spahr, 96).

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des Romans. In einem Text über Fichtes Hörstücke bot Andrea Allerkamp 1995 auch eine knappe Analyse des Platzes und konstatierte: «Lautgedicht und Kompositionsformen der Fuge durchziehen die gesamte Struktur des Platz der Gehenkten und unterstreichen grafische, rhythmische und klangliche Gesichtspunkte» (Allerkamp, 128). Peter Bekes analysierte im selben Jahr die Form des Romans als Opposition «gegen das Schriftmonopol des Koran, gegen die Härte seiner Gesetze, die teilweise menschliche Lebensformen diskriminieren und verdammen, einschnüren und verstümmeln» (Bekes 1995, 19). Ein solcher Schluss scheint sich auf der formalen Grundlage des Romans anzubieten, erwies sich aber für Bekes nach genauerer Betrachtung als einseitig und wurde im Jahr 2000 von ihm revidiert (Bekes 2000, 247 f.). So nennt er den Roman nunmehr ein «literarisches Herzstück der Geschichte der Empfindlichkeit» und sieht ihn – formal und inhaltlich – als «profane Kontrafaktur z[u]m heiligen Buch des Islam» (247). 2001 griff Michael Rieger mit seinem Vortrag Hubert Fichte und der Islam. Eine Differenz im Kontext «der durch die Terroranschläge in den USA ausgelösten Diskussionen über den Islam» (Rieger 2001, 29) Fichtes textimmanente Islambezüge auf, um diese als «Alternative zur traditionellen ethnologischen und anthropologischen Forschung [zu] definieren». Rieger zog allerdings vornehmlich die Featurefassungen für seine Überlegungen heran. Abschließend formulierte er drei Momente von Fichtes Wahrnehmung des Islam und Koran: 1. die genaue Dokumentation repressiver Ideologeme und ihrer Verbindung mit einer das Andere ausgrenzenden, statischen sozialen Ordnung; 2. die Anerkenntnis einer kulturellen Differenz, die einer anderen Anordnung von Empfindsamkeiten folgt; und 3. die Opposition zur aufs Dogmatische hin verkürzten Syste-

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matik des Koran, der Fichte seine eigene, exakt gegenläufige Ästhetik gegenüberstellt. (Rieger 2001, 35) Riegers 2009 veröffentlichte Dissertation Die Welt durch sich hindurch lassen – Hubert Fichtes Werk als Medium ästhetischer Erkenntnis ließ auf eine Weiterführung seiner Studien hoffen, doch leider finden sich darin nur ansatzweise vertiefende Gedanken zum Platz der Gehenkten. Im Gegenteil, Rieger unterlaufen bei seinem werkübergreifend angelegten Systematisierungsversuch unverständliche Fehler.10 In der Zwischenzeit hatte Wilfried F. Schoeller vom 16. September 2005 bis zum 8. Januar 2006 im Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg eine erste große Werkschau mit dem Titel hubert fichte und leonore mau – der schriftsteller und die fotografin – eine lebensreise zum zurückliegenden 70. Geburtstag des Autors und bevorstehenden 90. Geburtstag seiner Lebensgefährtin initiiert. Zur Ausstellung erschien eine gleichnamige Publikation, die u. a. anhand von Fichtes Œuvre die Lebensstationen nachzeichnet und einen «Lebensabriß» bietet (465–474). Dieser in einiger Eile produzierte Band enthielt leider eine Fülle von Flüchtigkeitsfehlern, die nicht nur auf das Konto der bewussten Irritationen im Werk Fichtes gehen.11 10

So wird der Platz der Gehenkten z. B. in einer recht kryptischen Übersicht mit dem Titel «‹Reguläre› Bibliographie» nur für das Jahr 1970 angeführt (Rieger 2009, vor allem 30 f.) statt mindestens auch für 1985 (so Rieger 2001).

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In Bezug auf den Platz der Gehenkten greift Schoeller hauptsächlich bereits Publiziertes auf. Ärgerlich sind aber vor allem die z. T. faktisch falschen und frappierend nachlässigen Formulierungen. Ein Beispiel: «Auf der ersten Seite des Romans gibt es nur den offenen Vokal ‹A›, dann folgen einzelne Worte, die immer mehr werden, sich von Stichworten zu einzeiligen Sätzen vermehren und schließlich die leere weiße Fläche anfüllen, bis sie über die Seiten wandern» (Schoeller, 378). Der solitäre Buchstabe ‹A› findet sich auf Seite 15 bzw. der 8. Seite des Romans. Die Formulierung «einzelne Worte, die immer mehr werden»

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Im neuerlichen Bemühen um den Autor hat der S. Fischer Verlag 2005 mit Peter Brauns Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte eine Lektürehilfe vorgelegt, in der Braun jedoch über eine reine Beschreibung der einzelnen Texte der Geschichte der Empfindlichkeit kaum hinauskommt. Über seine These einer komplexen und «ganz spezifischen Poetik der Orte» (Braun 2005, 14) in Fichtes Werk, die sich aus dem Schnittpunkt zweier Bewegungen entfalte, soll hier weiter nachgedacht werden. Sie steht möglicherweise im Widerspruch zu der von Fichte geäußerten linearen Konzeption: Das [Hotel Garni] ist dann so der Anfangsklang, ganz klar und ohne Fisematenten. So, und dann geht’s los, und dann verzweigt es sich. (Lerch/Bielefeld 1986, 5)

2006 erschien Adam Siegels Some Notes on Der Platz der Gehenkten. Fichtes Text scheint Siegel vor allem als Impulsgeber für Assoziationen zu dienen; wie Braun kommt auch er über eine bloße Beschreibung des Inhaltes kaum hinaus. Ein Jahr später näherte sich Andreas Erb in seinem noch unveröffentlichten Vortrag ‹Geräuschkreise› Hubert Fichtes Annäherungen an Marokko einem wesentlichen Kern des Romans, wenn er schreibt: «In dem Maße, in dem der Platz der Gehenkten ein Roman der Stimmen ist, ist er ein Roman über das Schreiben» (Erb, 16).12 Auch diesem Gedanken soll nachgegangen werden. meint sicherlich Wörter im Sinne von Einzelwörtern. Auch spricht die Personifikation am Ende des Satzes («über die Seiten wandern») für sich. 12

Im Zusammenhang mit dem Platz der Gehenkten sei noch auf meine Texte Memory Mapping (Fuhse 2007, 213–224) sowie ‹Meine Gläubigkeit hat einen Knacks bekommen›: Hubert Fichtes Der Platz der Gehenkten als empfindsamer Beitrag einer Korankritik (Fuhse 2010, 183–198) verwiesen. Ersterer greift einen Aspekt Torsten Teicherts auf und betrachtet den Text insgesamt als abhängig von räumlichen Dispositionen. Die Erinnerungsarbeit des Schriftstellers wird darin mit dem Begriff des ‹mapping› gefasst. Der Begriff mapping meint zunächst ‹vermessen› oder ‹kartografieren› bzw. ‹eine Karte erstellen›. In den letzten Jahren