LAURA KNEIDL

Menschen in Kuppeln unter Wasser oder in der Luft. Mit ihren 18 Jahren hat Kenzie noch nie die Sonne gesehen. Sie hasst die strengen ... denn sollte Noël etwas zustoßen, könnte sie sich das niemals verzeihen. Beide Male hatte sie ... sie ihm böse dafür sein, dass er wieder einmal versuchte sie hereinzulegen, dabei ...
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LAURA KNEIDL

Water & Air

TA S C H E N B U C H

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Eintauchen in Spannung pur! Seit dem drastischen Anstieg der Meeresspiegel leben die Menschen in Kuppeln unter Wasser oder in der Luft. Mit ihren 18 Jahren hat Kenzie noch nie die Sonne gesehen. Sie hasst die strengen Normen des Wasservolks und flieht in eine Luftkolonie, um dort ein neues Leben zu beginnen. Doch dann wird Kenzie zur Hauptverdächtigen in einer mysteriösen Mordserie und ausgerechnet Callum, der junge Sicherheitsbeauftragte, hält zu ihr. Aber nicht nur den beiden droht Gefahr, auch das Schicksal der gesamten Kolonie steht auf dem Spiel. • Endlich Neues von Laura Kneidl, einer echten Weltenerfinderin • Autorin mit großer Fangemeinde • Starker Einzeltitel • Über 37.000 verkaufte E-Books und Taschenbücher von »Light & Darkness«

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Prolog

Kenzie saß zusammengesunken in einer Ecke des Lagerraums. Es war dunkel und die Luft um sie herum war ebenso trocken wie ihre Kehle. Sie hatte sich verkalkuliert und ihren letzten Schluck Wasser bereits getrunken, den letzten Proviant gegessen. Ihre Glieder schmerzten von der kauernden Haltung und sie war müde, aber in dieser fremden Umgebung konnte sie nicht schlafen. Sie fühlte sich einsam. Eingesperrt. Allein mit ihren Gedanken, dachte sie über ihre Vergangenheit in der Wasserkolonie und über ihre ungewisse Zukunft nach. Das einzige Geräusch war das Rattern des U-Boot-Motors. Mit seinem monotonen Dröhnen unterbrach er die ansonsten unerträgliche Stille. Kenzie wusste nicht, wie lange sie schon in der Dunkelheit saß und wie lange sie hier noch ausharren musste, aber all das spielte keine Rolle, denn was zählte, war allein ihre Freiheit.

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1. Kapitel

2 Tage vorher Noël japste nach Luft. Er strampelte mit den Beinen, seinen Mund hatte er zu einem Schrei aufgerissen. Doch Kenzie hatte nur ein müdes Lächeln für ihren besten Freund übrig. Er schwamm außerhalb der Kuppel im Meer und war ein Idiot, wenn er dachte, sie würde noch einmal auf diesen Trick hereinfallen. Das erste Mal hatte Kenzie panisch nach Hilfe gerufen. Beim zweiten Mal hatte sie nach kurzem Zögern den Rettungsschwimmer in der Zentrale informiert, denn sollte Noël etwas zustoßen, könnte sie sich das niemals verzeihen. Beide Male hatte sie Ärger für den falschen Alarm bekommen, obwohl Noël ihn verursacht hatte, und ein weiteres Mal würde Kenzie diesen Fehler nicht begehen. Sie sah Noël an und schüttelte den Kopf. Eigentlich sollte sie ihm böse dafür sein, dass er wieder einmal versuchte sie hereinzulegen, dabei wollte er sie nur ablenken. Noël wusste, wie sehr sie es verabscheute, wie eine Gefangene im Inneren der Kuppel zu sitzen, während er außerhalb des Sichtfensters seine Freiheit genoss. Das Meer war in dieser Tiefe bereits

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dunkel und kalt, aber zumindest hatte Noël die Möglichkeit, an die Oberfläche zu schwimmen. Noëls Gesicht wurde ausdruckslos und seine Beine hörten auf zu strampeln. Kenzie konnte erkennen, wie er unter seinem Taucherhelm ein Seufzen ausstieß. Er drückte seine in Neopren gekleidete Hand gegen die Scheibe. Kenzie hob das Funkgerät an ihre Lippen. »Mehr arbeiten, weniger Blödsinn. Die Fenster putzen sich nicht von allein und Nilam wird wütend, wenn du dich verspätest.« »Du siehst mich gerne leiden, nicht wahr?« Noëls Stimme war ein verzerrtes Knarzen aus dem Hörer des Funkgeräts. »Es hat seinen Reiz«, antwortete Kenzie und grinste. Noël ließ die Schultern hängen und löste den Glaswischer, der am Gürtel seines roten Taucheranzuges befestigt war. Er gehörte seit einem Jahr zu den Entdeckern, einer Taucherflotte, bestehend aus vierzehn Männern, die täglich ihr Leben riskierten, um die Tiefen des Ozeans zu erkunden. Sie entnahmen Proben des Wassers, beobachteten Schwankungen in der Temperatur und andere Dinge, die dazu beitrugen, das Meer besser verstehen zu können. Für gewöhnlich begleitete Noël die anderen bei solchen Missionen, aber heute war es seine Aufgabe, die Sichtfenster von Algen zu befreien, damit die Einwohner der Kuppel einen klaren Blick in den Ozean genießen konnten. »Wo sind die anderen heute?«, fragte Kenzie. Noël war an die linke Seite des Fensters geschwommen und fuhr die Scheibe von oben nach unten mit seinem Wischer ab. »Sie untersuchen einen Riss im Boden, etwa eine Meile nördlich von hier. Kaè hat ihn letzte Woche entdeckt.« »Werden sie Gesteinsproben entnehmen?«

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»Wahrscheinlich.« Noël löste eine Wasserschnecke, die sich an der Scheibe festgesaugt hatte. »Glaubst du, ich kann die Proben sehen?« Hoffnungsvoll sah Kenzie Noël an, der in der Bewegung innegehalten hatte und sie durch das dicke Glas musterte. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht riskieren, dich schon wieder in die Zentrale zu schmuggeln.« Kenzie war der Grund für seine heutige Strafarbeit. Er hatte sie von Grey, dem Chef der Entdecker, auferlegt bekommen, nachdem er Kenzie verbotenerweise die Zentrale gezeigt hatte. Die Zentrale war ein großes Gebäude am Rande der Kuppel, neben dem U-Boot-Hafen. Noël hatte Kenzie durch die Räume geführt, ihr die Ausrüstung gezeigt und ihr die Schließluke erklärt, die es erlaubte, die Kuppel zu verlassen, ohne sie mit Wasser zu fluten. Dabei war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Frauen in der Zentrale nicht willkommen waren. Noël hatte dieses Verbot allerdings schon des Öfteren ignoriert. Er wusste, wie sehr sich Kenzie erhoffte, eine Entdeckerin zu werden, und er unterstützte sie in diesem Vorhaben, wo immer er nur konnte, auch wenn die Situation hoffnungslos war. Denn in ihrer Kolonie kümmerten sich Frauen um den Haushalt und die Kinder. Sie halfen auf den Feldern oder in der Fischerei, aber niemals wurden ihnen höhere Posten zuteil. Die wenigsten Frauen störten sich an dieser Aufteilung, denn das weibliche Geschlecht galt als das wertvollste Gut des Wasservolkes und es waren immer die Mütter und Ehefrauen, die innerhalb einer Familie den höchsten Rang einnahmen. Als Mädchen hatte Kenzie von einem solchen Leben ge-

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träumt. Sie hatte sich einen gut aussehenden Ehemann, drei Kinder und ein Haus in der Nähe der Bibliothek gewünscht. Doch heute war dieser Traum ein Albtraum und dieses Leben nicht genug. Sie wollte mehr. Sie wollte die Welt erkunden und Abenteuer erleben wie die Figuren in den Büchern, die sie so gerne las. »Hör auf, dich fertigzumachen«, befahl Noëls blecherne Stimme durch den Funk. »Du kannst nichts dafür. Grey ist selbst schuld, wenn er deine Qualitäten nicht zu schätzen weiß. Du warst die beste Schwimmerin in deinem Jahrgang, du weißt mehr über das Meer als alle anderen. Irgendwann wird Grey das sehen und bereuen, dich nicht engagiert zu haben.« Kenzie lächelte Noël an, aber seine gut gemeinten Worte lenkten sie nicht von der Enttäuschung ab, dass Grey sie im vergangenen Jahr mehrfach abgelehnt hatte, immer mit derselben Begründung: »Du bist eine Frau, deine Pflichten in dieser Gesellschaft liegen nicht am Grund des Meeres.« Grey hatte erst kürzlich seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Trotz seines Alters befehligte er nicht nur die Entdecker, sondern wagte sich noch immer selbst in die Tiefe. Kenzie bewunderte ihn für diese Einstellung und mit den Jahren war er zu ihrem Vorbild geworden. Sie malte sich Szenarien aus, in denen sie mit Noël das Meer erkundete. Gemeinsam würden sie durch Fischschwärme schwimmen und der Gefahr ins Auge blicken, wenn sie einem Hai begegneten. Sie würden neue, noch nie erforschte Tiefen erkunden und wie Grey in seiner Jugend ein Schiffswrack bergen, in dem sich Dutzende Schätze aus alter Zeit befanden. Doch sosehr Kenzie Grey als Entdecker schätzte, so hasste

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sie den Mann, der zwischen ihr und ihrem neuen Traum stand. Grey war altmodisch. Er war seit über fünfundvierzig Jahren mit seiner Frau verheiratet. Er liebte sie und seine Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen, aber sie alle hatten seiner Überzeugung nach ihren Platz in den eigenen vier Wänden. »Kenzie!« Erschrocken blickte sie beim Klang der rauchigen Stimme auf. Konnte dieser Mann Gedanken lesen? Langsam drehte sich Kenzie um und sah Grey an, der geradewegs auf sie zukam. Er trug die offizielle Uniform der Entdecker. Einen dunkelblauen Anzug mit breiten Schultern und goldenen Knöpfen, die mit den Jahren trüb geworden waren. Abzeichen steckten an seiner linken Brust und zeugten von den vielen Jahren Erfahrung. »Sir«, grüßte Kenzie und neigte ihren Kopf in Ehrfurcht. Sie schielte zu Noël, der nun geschäftig das Fenster putzte und so tat, als würde er sie nicht beachten. Grey blieb vor Kenzie stehen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Seine Haltung zeugte von Autorität und gab Kenzie das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein, obwohl sie mit Grey auf Augenhöhe war. »Hältst du Noël mal wieder von seiner Arbeit ab?« »Nein, Sir, ich schaue mir nur das Meer an.« »Tatsächlich?« Grey zog die Augenbrauen leicht nach oben. Es war die einzige Regung in seinem stählernen Gesicht, das trotz seines Alters kaum von einer Falte gezeichnet war. Nur sein dunkelgraues Haar ließ erahnen, dass er nicht mehr der Jüngste war. »Und was versteckst du hinter deinem Rücken?« In Gedanken stieß Kenzie einen Fluch aus. Sie atmete

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tief ein und zog das Funkgerät hervor. Ohne Aufforderung übergab sie es an Grey. »Das ist kein Spielzeug.« Er prüfte das Gerät auf seine Unversehrtheit, bevor er es an seinem Gürtel befestigte. »Ich habe mehr von dir erwartet, Kenzie. Du hast letzten Monat einen sehr guten Abschluss gemacht, den Besten, wenn ich richtig informiert bin. Es schmerzt mich mit anzusehen, wie du deine Zeit verschwendest, anstatt ein wichtiges Mitglied der Kolonie zu werden.« Kenzie biss sich auf die Lippen und ballte ihre Hände zu Fäusten. Wenn sie die Beste ihres Jahrgangs war, wieso sollte sie ihre Zeit damit vergeuden, Fische auszunehmen und Äpfel zu pflücken, wo sie mit diesem Wissen auch Forschungsergebnisse auswerten konnte? Wut keimte in Kenzie auf und am liebsten wäre sie von der Bank aufgesprungen und hätte Grey ihre Meinung ins Gesicht gebrüllt. Sie wäre längst ein wertvolles Mitglied der Kolonie, wenn er ihr erlauben würde, Teil seiner Truppe zu werden. Doch stattdessen hielt er sie zurück und verlangte von ihr, den anderen Frauen nachzueifern. »Hast du dich schon nach einer Aufgabe umgesehen?«, fragte Grey. »Einer realistischen Aufgabe, die den Bedürfnissen der Kolonie gerecht wird?« In anderen Worten bedeutete das: eine Aufgabe, die dich später nicht daran hindern wird, deinen familiären Pflichten nachzugehen? »Nein, das habe ich nicht«, antwortete Kenzie und reckte ihr Kinn in die Höhe, auch wenn sie sicher war, dass ihr Trotz Konsequenzen mit sich bringen würde. »Denn ich habe noch keine Aufgabe gefunden, die meinen Bedürfnissen gerecht wird.«

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Grey stieß ein Schnauben aus und ein feines Lächeln erschien auf seinen Lippen. Es war keines, das von Humor zeugte. Kenzie war mit ihren letzten Worten zu weit gegangen. »Egoismus hat keinen Platz in einer Kolonie, in der alle aufeinander angewiesen sind.« Grey sah zu Noël, der noch immer geschäftig das Fenster putzte, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und es ist ebenso egoistisch Leute abzulenken, die gewillt sind, ihren Beitrag zu leisten. Mit deiner Einstellung hast du dem Jungen schon genug Schaden zugefügt, findest du nicht?« »Ich habe Noël nur etwas Gesellschaft geleistet, Sir.« Grey wollte von ihr hören, dass es ihr leidtat, aber sie würde sich nicht entschuldigen, denn sie bereute nichts von dem, was sie getan hatte. Greys braune Augen verengten sich zu Schlitzen. Er musterte sie eindringlich und ein kalter Schauer lief Kenzie über den Rücken. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, denn sie fürchtete, der ältere Mann könnte in ihrer Innerstes blicken und die Wahrheit sehen. Seit Jahren fürchtete Kenzie den Tag, an dem ihr Geheimnis ans Licht kommen würde, aber ihre Sorge war grundlos, denn nur Noël und sie kannten die Wahrheit. »Komm morgen Mittag in mein Büro«, sagte Grey plötzlich. Ungläubig starrte Kenzie Grey an. Was? Wie? Hatte er seine Meinung geändert? Seine Miene verriet nichts, dennoch konnte Kenzie die Hoffnung, die in ihr aufkam, nur schwer unterdrücken. »Wir werden eine Aufgabe für dich finden«, fuhr Grey fort und nickte entschlossen. »Wenn du nicht bereit bist, selbstständig zu sein, werde ich dich bei dei-

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ner Suche unterstützen. Du bist achtzehn Jahre alt und es ist an der Zeit, dass du deine kindliche Naivität ablegst.« Die Hoffnung erlosch augenblicklich und Kenzie hätte Grey am liebsten angeschrien. Doch sie wollte ihn nicht reizen und seine Wut entfachen, in dem sie Widerstand leistete. Sie verabscheute Grey für die Ablehnung, die er ihr entgegenbrachte, aber er musste ihr wohlgesonnen sein, anderenfalls würde er seine Meinung nie ändern, und aus diesem Grund nickte sie gehorsam. »Ich wusste, du würdest zur Vernunft kommen.« Grey schien nicht zu erkennen, welche Leere seine Worte in Kenzie auslösten. Sie war enttäuscht, nicht nur von Grey, sondern vor allem von sich selbst. »Du wirst deinen Platz in der Kolonie finden«, versicherte Grey mit einem zuversichtlichen Lächeln – doch Kenzie wusste, dass dies nicht stimmte. Greys Blick glitt zu Noël, der noch immer dasselbe Sichtfenster putzte, obwohl es nicht mehr sauberer werden konnte. Für einen Moment wirkte es, als wollte Grey etwas sagen. Schließlich glitt sein Blick jedoch wieder zu Kenzie. In seinen Augen lag etwas, das sie nicht genauer benennen konnte. Vorfreude? Stolz? Ehrgeiz? Was immer es war, es gefiel Kenzie nicht und sie konnte das Unbehagen fühlen, das sich durch ihr Inneres fraß. Grey salutierte und trat einen Schritt zurück. »Wir sehen uns morgen.« Es war keine Frage und doch suchte er ein letztes Mal Gewissheit. »Ja, Sir«, bestätigte Kenzie. »Wir sehen uns morgen.« Er nickte zufrieden und war im Begriff, sich von ihr abzuwenden, als er erneut stehen blieb. »Und noch eine Sache, Kenzie, nenn mich nicht Sir. Dies ist kein Vorstellungsge-

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spräch und ich bin nicht dein Boss. Ich helfe dir, weil wir eine Familie sind.« Kenzie seufzte. »Ja, Großvater.« *** Kenzie beobachtete, wie ihr Großvater sich von ihr entfernte. Einst war sie diesem Mann nahe gewesen, aber sie hatten sich auseinandergelebt. Sie war kein Kind mehr und er nicht mehr ihr strahlender Held. Erschöpft von dem Gespräch ließ sich Kenzie zurück auf die Bank sinken. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief ein. Plötzlich hörte sie ein Klopfen. Sie sah auf und entdeckte Noël, der sie besorgt musterte. Er neigte den Kopf in einer stummen Frage, denn er wusste, wie sehr ihr die Gespräche mit ihrem Großvater zusetzten. Kenzie deutete mit den Daumen nach oben, nun da Grey ihr die Möglichkeit genommen hatte, mit Noël zu sprechen. Er lächelte schwach und drückte seine Hand gegen die Fensterscheibe. Einen Moment verharrte er reglos in dieser Position, ehe er nach rechts zeigte, um anzudeuten, dass er nun zum nächsten Sichtfenster schwimmen würde. Die Kuppel des Wasservolks, die einst auf Festland erbaut worden war, lag inzwischen vierzig Meter unter dem Meeresspiegel. Sie war aus dickem Stahl errichtet worden, um dem Druck des Wassers standzuhalten. Tausende von Strahlern waren am höchsten Punkt des runden Daches montiert und grelles UV-Licht imitierte die Sonne. Am Abend wurde es langsam gedimmt, um den Einbruch der Nacht zu signalisieren, und am Morgen ging die künstliche Sonne wieder auf.

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Es war eine gute Täuschung, welche die Menschen und Pflanzen innerhalb der Kuppel am Leben hielt und antrieb. Vermutlich dachten die meisten gar nicht darüber nach, dass diese Sonne, die ihnen Licht und Wärme spendete, nicht natürlichen Ursprungs war. Auf Kenzie allerdings wirkte so viel Metall beengend. Sie fühlte sich eingesperrt und bedrängt, weshalb sie ihre Zeit am liebsten an den Sichtfenstern verbrachte, die in regelmäßigen Abständen die Stahlwände unterbrachen und den Blick auf das Meer freigaben. Diese Fenster gaukelten nur ein Gefühl der Freiheit vor, denn abgesehen von den Tauchern verließ niemand die Kuppel. Aber manchmal war vorgespielte Freiheit besser als überhaupt keine Freiheit. »Ich gehe in die Bibliothek«, sagte Kenzie. Sie bewegte ihren Mund übertrieben deutlich, damit Noël die Worte von ihren Lippen lesen konnte. »Holst du mich ab?« Sie deutete auf ihn und sich und verhakte ihre Finger miteinander. Kenzie war zu Nilams Feier eingeladen. Seit ihrer Kindheit war sie mit Noël und seiner Schwester befreundet und wurde längst als Teil der Familie angesehen. Noël nickte und winkte ihr zum Abschied, ehe er zum nächsten Fenster schwamm. Kenzie blickt ihm hinterher und musste wieder einmal feststellen, was für ein exzellenter Schwimmer er war. Trotz des Lufttanks auf seinem Rücken waren Noëls Bewegungen anmutig, als wäre er dafür geschaffen, sich im Wasser zu bewegen. Wie alle Bewohner der Kolonie hatte auch Kenzie schon im Kindesalter das Schwimmen gelernt und seit ihrem Abschluss besuchte sie täglich den Pool am Rande der Kuppel, um zu trainieren. Es würde allerdings dauern, bis ihre Bewegungen eine ähnliche Perfektion besaßen.

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Mit einem Seufzen stand Kenzie von der Bank auf und machte sich auf den Weg. Eigentlich hatte sie heute nicht vorgehabt die Bibliothek zu besuchen, aber nachdem Grey einmal mehr ihre Hoffnungen zerschlagen hatte, ertrug sie den Anblick des Ozeans nicht länger. Seine endlose Tiefe löste in ihrer Brust ein schmerzhaftes Ziehen aus, als bekäme sie nicht genug Sauerstoff. Anfänglich hatte Kenzie dieses Gefühl nicht benennen können und sich Sorgen um ihre Gesundheit gemacht, weshalb sie in der Bibliothek recherchiert hatte. Inmitten der hohen Regale, die Tausende von Büchern beherbergten, hatte sie ein altes Lexikon gefunden und darin ein Wort, das im Sprachgebrauch ihres Wasservolkes nicht mehr existierte: Fernweh – die Sehnsucht nach fernen Ländern. Länder gab es jedoch nicht mehr. Italien. Kanada. England. Deutschland. Das Meer hatte diese Nationen verschluckt, übrig waren nur noch die hoch gelegenen Berge. (…)

Zu gerne hätte sie diesen Moment, als sie das erste Mal in den Kegel aus Sonnenlicht trat, zelebriert. Sie hätte die Augen geschlossen und diesen Augenblick mit jeder Faser ihres Körpers genossen. Tief hätte sie die frische Luft in ihre Lunge gesogen und die Wärme auf ihrer Haut kitzeln gespürt. Doch dafür blieb Kenzie keine Zeit. Sie musste verschwinden, bevor die Crew zurückkam und sie entdeckt wurde. Sie stemmte die Plastikkiste auf ihre Hüfte, wie sie es bei Cash

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beobachtet hatte, und hielt sie mit einem Arm gegen ihren Körper gedrückt, während sie sich mit dem anderen langsam die Leiter hochhangelte. Plötzlich griff eine Hand durch die Luke. Kenzie schnappte erschrocken nach Luft und wäre beinahe von der Leiter gefallen, aber die Hand umfasste ihren Arm und zog sie die letzten Sprossen nach oben, über den Rand der Luke und aus dem U-Boot. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Sicht klärte und sie den Mann erkennen konnte, der ihr geholfen hatte. Er war groß, mit breiten Schultern, und unter seinem schwarzen T-Shirt zeichneten sich deutlich drahtige Muskeln ab. Er war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Noël. Doch während Noël eine durch und durch helle Erscheinung war, wirkte der Fremde dunkel und irgendwie bedrohlich, mit seiner gebräunten Haut, den schwarzen Haaren und den tiefblauen Augen, die Kenzie eindringlich musterten. »Danke.« Kenzies Stimme war rau von den Tagen des Schweigens. Sie räusperte sich, um einen ruhigen Tonfall bemüht. »Diese Kisten sind wirklich verdammt schwer.« »Ich habe eurem Kapitän schon gesagt …« Der Fremde redete weiter, aber Kenzie hörte ihm nicht mehr zu. Eine Bewegung hatte ihren Blick eingefangen und nun sah sie alles und der Anblick war überwältigend. Die Sonne, der Himmel, die Kolonie und das Meer. Der Ozean, der unter der Oberfläche so dunkel und kalt erschien, war in Wirklichkeit ein Feld aus funkelnden Kristallen. Das Wasser bewegte sich im Einklang mit dem Wind und aalte sich im Schein der Sonne. Und in diesem Meer spiegelte sich der Himmel wider. Weit und blau und strahlend, wie die Sonne,

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die auf den höchsten Punkt des Firmaments zusteuerte. Ihre Wärme kitzelte auf Kenzies Haut und die Härchen an ihrem Armen reckten sich ihr entgegen. Doch ebenso beeindruckend wie das Meer und die Sonne war der von Menschen geschaffene Würfel, der über dem U-Boot schwebte. Die Kolonie lag gut fünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Die Fläche musste mehrere Quadratkilometer messen und nur ein paar Meter vom U-Boot entfernt tauchte dieser Würfel alles in einen kühlen Schatten. Das gläserne Dach der Kolonie ragte mindestens weitere hundert Meter in die Höhe und bot genug Platz für die drei Ebenen. Allerdings reflektierte das Glas das Sonnenlicht so stark, dass Kenzie nichts anders übrigblieb als ihren Blick abzuwenden. »Du bist das erste Mal an der Oberfläche, nicht wahr?«, fragte der junge Mann. Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen und seine ganze Erscheinung hellte sich auf. Kenzie verspürte auf einmal den Drang sich ihm vorzustellen, aber sie tat es nicht und nickte nur. Sein Lächeln wurde breiter und ohne etwas zu sagen, nahm er ihr die Kiste ab.

Laura Kneidl Water & Air Umschlag: formlabor Ca. 464 Seiten Ab 14 Jahren 13,3 x 19,8 cm, Klappenbroschur 978-3-551-31544-1 Ca. € 12,99 (D) / € 13,40 (A) / sFr. 19,50 Erscheint im März 2017 book