Kant über die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie

Kant über die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie. Ein Kommentar zur Sektion 5 der ... Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III.
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Heiko Puls

Kant über die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie Ein Kommentar zur Sektion 5 der Grundlegung Erschienen in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III ISBN 978-3-89785-078-1 (Print)

mentis MÜNSTER

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Heiko Puls KANT ÜBER DIE ÄUSSERSTE GRENZE ALLER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE Ein Kommentar zur Sektion 5 der Grundlegung Interpretationen des dritten Abschnitts der GMS nehmen in der Regel vor allem die Sektionen 1–4 in den Blick. Sektion 5 wird hingegen fast immer als ein bloßes Anhängsel ohne eigene argumentative Funktion betrachtet und aus diesem Grunde entweder stark vernachlässigt oder sogar ignoriert. 1 Der vor-

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Umfangreichere Interpretationen der Sektion 5 finden sich bei Vossenkuhl (1989, S. 299-314), Allison (2011, S. 348–360) und Timmermann (2007, S. 144–150). Allerdings handelt es sich bei allen drei Darstellungen eher um Zusammenfassungen des Textes als um genaue Auseinandersetzungen mit dessen Detailproblemen. Ross (1954), Duncan (1957), Paton (1962), Wolff (1973), Kaulbach (1988), Schönecker (1999) und Schönecker/Wood (2011) gehen in ihren Kommentaren nur kursorisch auf den fünften Abschnitt der GMS ein. In dem von Horn und Schönecker edierten Kommentar (2006) findet sich gar kein Kapitel über diesen Abschnitt. Zwar bemerken einige Interpreten, dass Kant in dieser Sektion seine Argumentation der vorangegangenen Sektionen resümiert, nehmen daraufhin aber keine gezielte Auswertung dieser konzentrierten Rekapitulation vor. Schönecker (1999, S. 412) hebt z. B. hervor, dass man in dieser Sektion »Zusammenfassungen und Rückblicke« findet, die »sehr wichtig sind und bei der Interpretation der vorhergehenden Sektionen berücksichtigt werden müssen«, eine explizite Auseinandersetzung mit der Sektion 5 in ihrer Funktion als »Zusammenfassung« enthält seine Interpretation aber nicht. Ähnlich lautet die Einschätzung der Sektion 5 im Kommentar von Wolff (1973, S. 212): »In this long subsection Kant clearly and skillfully rehearses the argument of chapter 3«. Und bei Dalbosco (2002, S. 258) heißt es: »Sektion 5 faßt die Probleme und ihre Lösungen zusammen, mit denen sich Kant in der vorhergegangenen Erörterung der GMS beschäftigt hat«. Ähnlich Vossenkuhl (1989, S. 300): »Kant resumiert [sic] die Überlegungen der vorausliegenden Kapitel des ›dritten Abschnitts‹«. Wenn es zutrifft, dass Kant im fünften Abschnitt eine besonders klare und komprimierte Darstellung seiner Argumentationsabsicht der vorangegangenen Sektionen gibt, dann erstaunt es, dass seine Interpreten dieses Kapitel nur ansatzweise zur Erläuterung von Kants Argumentation in den anderen Sektionen herangezogen haben. Ansätze zu einem solchen Versuch finden sich bei Dalbosco (2002, S. 258 ff) und Puls (2011, S. 545–551). Auch wenn Schönecker (1999) die Sektion 5 nicht in ihrer resümierenden Funktion auswertet, liefert er doch die einzige tiefergehende Textanalyse (zumindest einiger Passagen) dieses Abschnitts (vgl. Schönecker 1999, S. 278–295). Eine sehr detaillierte Analyse von 457, 25–458, 5 findet sich zudem in einer späteren Publikation bei Schönecker (2012, S. 119 ff).

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liegende Aufsatz legt einen vollständigen Kommentar 2 zu diesem Abschnitt vor, d. h., die Sektion 5 wird entlang des Textes analysiert. Diese Interpretation kommt zu dem Ergebnis, dass Kants Überlegungen in dieser Sektion von großer Bedeutung für die umstrittene Auslegung der Sektionen 1–4 sind, insbesondere im Hinblick auf die Auflösung des Zirkelverdachts in Sektion 3. Sektion 5 resümiert die Argumentation der vorangegangenen Abschnitte und stellt damit eine Verständnishilfe zu Kants Argumenten in GMS III dar. Nicht nur bestimmt Kant hier die Funktion der in Sektion 3 angeführten »Auskunft des transzendentalen Idealismus« eindeutiger, sondern er definiert auch das Verhältnis zwischen der Vernunftidee der Freiheit und dem in den Sektionen 2–4 opak gehaltenen Begriff eines sittlichen Bewusstseins des Menschen präziser als in den vorherigen Sektionen. 455, 11–16 Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter der Voraussetzung derselben als notwendig vorgestellt werden.

Diese Feststellung beinhaltet eine Mehrdeutigkeit. Die Formulierung »Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei« (455, 11) lässt genau betrachtet nämlich mindestens drei Lesarten zu. Kant könnte an dieser Stelle ausdrücken wollen, dass 1. alle Menschen sich als mit einem freien Willen begabt denken. 2. alle Menschen sich gemäß dem Willen, d. h. einer bestimmten hier vorausgesetzten Qualität des Willens folgend, als frei denken. 3. alle Menschen sich als frei begreifen, weil sie sich so denken wollen. Obwohl alle drei Interpretationsmöglichkeiten mit dem dann folgenden Satz (»Daher kommen alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind«) inhaltlich kompatibel sind, da alle Bedeutungsvarianten dieselbe argumentative Stoßrichtung beinhalten würden, muss diese Mehrdeutigkeit aufgeklärt werden. Der ersten Deutung zufolge würde Kant an dieser Stelle lediglich feststellen, dass sich 2

Dieser Kommentar der Sektion 5 soll einen Überblick über den Aufbau und die zentrale Argumentation dieses Abschnitts bieten, der in der bestehenden Literatur immer noch vernachlässigt wird. Er wendet sich dabei an vielen Stellen auch der Analyse und Diskussion einzelner Textabschnitte zu, kann aber aufgrund von Platzgründen keine befriedigende Textanalyse jedes Abschnitts vorlegen – ich konzentriere mich vielmehr auf diejenigen Stellen, die besonders mehrdeutig sind und interpretationsbedürftig erscheinen. Ebenso kann in dieser Arbeit keine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Literatur stattfinden.

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alle Menschen als mit einem freien Willen ausgestattet, d. h. als frei, begreifen. Eine zweite Bedeutung des Satzes könnte darin liegen, dass man in der Formulierung »dem Willen nach als frei« eine bestimmte Bedingung für das »Sich-selbst-als-frei-Begreifen« vermuten könnte. Damit wäre etwas anderes ausgesagt, als in der bloßen Feststellung ausgedrückt wird, dass Menschen sich als mit einem freien Willen begabt denken. Diese Vorstellung könnte begründet sein in einer bestimmten Qualität des Willens, welche alle Menschen veranlasst, sich als frei zu denken. 3 Schließlich könnte »dem Willen nach als frei« auch bedeuten, dass der Mensch sich seinem Willen entsprechend als frei begreift, d. h., dass er sich als mit einem freien Willen begabt denken will. Betrachtet man Kants ähnliche Äußerungen zur Freiheit des Willens, die der Mensch sich beilegt oder leiht nicht nur in Sektion 5, 4 sondern auch in den anderen Sektionen des dritten Abschnitts 5 der GMS, so liegt es nahe, dass Kant an dieser Stelle feststellt, dass sich alle Menschen als mit einem freien Willen begabt denken, unabhängig davon, ob ein solcher freier Wille tatsächlich existiert. Diese dem eigenen Willen bloß zugeschriebe Freiheit soll dann die Ursache (»daher«) dafür sein, dass Menschen Urteile »über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind«, fällen. Offenbar hat diese – zumindest hier nicht – näher erläuterte Selbstzuschreibung von Freiheit so elementare Konsequenzen für das praktische Selbstverständnis des Menschen, dass daraus eine Art moralische Freiheitserfahrung erwächst: Der Mensch hat Einsicht in eine Moraldifferenz seines Handelns, er urteilt, dass bestimmte Handlungen hätten geschehen sollen, obgleich sie nicht geschehen sind. Kant bringt an dieser Stelle als Analogie und Abgrenzung zugleich den Begriff der Erfahrung ins Spiel. Diejenige Freiheit, die der Mensch sich zuschreibt und aufgrund deren er Handlungen als moralisch geboten vorstellt, ist »gleichwohl« – d. h. trotz der durch die Evidenz des Sollens vermittelten Quasierfahrung derselben – kein Erfahrungsbegriff, also nicht empirisch erklärbar. Diese Freiheit kann kein Erfahrungsbegriff sein, weil – so fährt Kant fort – »er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter der Voraussetzung derselben als notwendig vorgestellt werden« (m.H.). Das Personalpronomen »er« könnte sich rein grammatisch sowohl auf den von Kant zur Abgrenzung bemühten empirischen »Erfahrungsbegriff« als auch auf dessen Analogon, d. h. die von Kant hier geltend gemachte Quasierfahrung von Freiheit bezie3

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»Wille« könnte beispielsweise an dieser Stelle schon in der Perspektive eines sittlichen Bewusstseins verstanden werden, und der Mensch könnte dann so beschrieben werden, dass er sich frei denkt und begreift, weil er der Freiheit im Sinne der Faktumstheorie als ratio cognoscendi der Freiheit unmittelbar inne wird. Vgl. z. B. 452, 35. Vgl. z. B. 448, 10.

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hen. Die erste Variante ist unwahrscheinlich, weil dann der Rest des Satzes (»obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt«) keinen Sinn ergibt. Mit dem Personalpronomen »er« bezieht sich Kant – diese Lesart ist sinnvoller – auf den in theoretischer Perspektive problematischen Begriff einer Erfahrung von Freiheit in praktischer Hinsicht. Dieser Begriff einer praktischen Freiheitserfahrung kann kein Erfahrungsbegriff in dem aus dem Kontext der Erkenntnistheorie vertrauten Sinne sein, weil er nicht auf das, was wir in gewöhnlichem Sinne als Erfahrung begreifen, Bezug nimmt. Zwar ist auch das sittliche Sollen durch die Konstanz seines Forderungscharakters ausgezeichnet und »bleibt« damit ungeachtet der moralischen Qualität der realen Handlung bestehen; jedoch ist gerade durch die Möglichkeit, dass eine Handlung »das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter der Voraussetzung [. . .] [der Freiheit] als notwendig vorgestellt werden« der Vergleich mit der empirischen Erfahrung problematisch. Die Freiheitsannahme des Menschen und die Realität eines sich daraus wie auch immer ergebenden moralischen Anspruchs an das eigene Handeln können mit der Wirklichkeit menschlichen Handelns in Kontrast stehen. 6 Die mögliche Analogie hat also ihre Grenzen. 455, 17–27 Auf der anderen Seite ist es ebenso nothwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnothwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Begriff der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntniß a priori bei sich führt. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntniß der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objective Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und nothwendig beweisen muß.

Das moralische Selbstverständnis eines Wesens, das sich selbst einen freien Willen zuschreibt, ist in spekulativer Perspektive in Gefahr, in Widerspruch zu der Auffassung der Welt als Inbegriff aller Erfahrung zu geraten. Denn so wie dieses moralische Selbstverständnis sich selbst unter einen Sollensanspruch stellt und sich diesem Anspruch gemäß zu handeln bestimmt sieht, ist »es ebenso nothwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei«. Die hier angeführte Naturnotwendigkeit ist »auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Begriff der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntniß a priori bei sich führt« (455, 19–20). Die Vorstellung einer Kausalität aus Freiheit und das damit verbundene mora6

Vgl. 406.