Die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie - Buch.de

Erschienen in: Dieter Schönecker (Hrsg.),. Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III. ISBN 978-3-89785-078-1 (Print) mentis. MÜNSTER ...
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Frederick Rauscher

Die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie und die Einschränkungen der Deduktion in Grundlegung III

Erschienen in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III ISBN 978-3-89785-078-1 (Print)

mentis MÜNSTER

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Frederick Rauscher DIE ÄUSSERSTE GRENZE ALLER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE UND DIE EINSCHRÄNKUNGEN DER DEDUKTION IN GRUNDLEGUNG III Der letzte Satz der Grundlegung III endet mit Kants Berufung auf eine »Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt« (4:463). Die lange Sektion vor dem endgültigen Schlußabsatz ist dem Thema »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie« gewidmet. Die meisten Kommentatoren, die die Deduktion diskutieren, versäumen es, ihre Analyse im Detail auf diese letzten Sektionen zu beziehen, 1 und sie vernachlässigen Kants eigene Reflexionen über den Status und die Ergebnisse der Deduktion. Ich behaupte, dass Erfolg und Umfang der versuchten Deduktion in Grundlegung III unter Bezugnahme auf Kants Diskussion über diese Grenze beurteilt werden muss. Insbesondere werde ich argumentieren, dass es eine starke Parallele zwischen der hier diskutierten Grenze und der Grenze für mögliche Erkenntnisse in der theoretischen Philosophie gibt, so dass die praktische Philosophie fast den gleichen Einschränkungen wie die theoretische Philosophie unterliegt. Diese Einschränkungen zeigen, dass die in Grundlegung III präsentierte Deduktion ein schwächeres Ergebnis hat als gewöhnlich angenommen wird.

I. Die Stelle der »Grenze« im ganzen Argument Meine Behauptung in Bezug auf den besagten Abschnitt der Grundlegung III (4:455–63) ist diese: Er erinnert daran, dass die gerade abgeschlossene Deduktion in einem limitierten, praktischen Sinn anstatt in irgendeinem theoretischen oder spekulativen Sinn mit ontologischen Implikationen verstanden werden muss. Da ein Großteil von Grundlegung III theoretische Behauptungen über die menschliche Natur zu enthalten scheint, ist diese Vorsicht 1

Siehe u. a. Schönecker /Wood (2002, S. 198), welche ihre Analyse am Ende der Deduktion (4:455) abschließen. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Henry Allison (2011, S. 342–344), dessen jüngster Kommentar eine ausführliche Diskussion dieser Sektionen enthält. Ich werde meine Zustimmung und Ablehnung zu seiner Interpretation in weiteren Fußnoten diskutieren.

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geboten. Kant hat mehrmals behauptet, dass die Menschen Mitglieder der Verstandeswelt (4:453) oder Dinge an sich (4:451) oder Wesen sind, deren reine Tätigkeit von der sinnlichen Welt (4:451) unterschieden werden muss. Er liefert ein grundlegendes Argument, um dem berühmten Zirkelverdacht zu entkommen, und dieses Argument beruft sich auf den transzendentalen Idealismus als Grund für die Teilung des Selbst in das, was erscheint und das, was nicht erscheint (4:451–452). Der Mensch, sagt Kant, besitze ein reines Tätigkeitsvermögen der Vernunft, das uns zu der Annahme berechtige, dass wir nicht nur zur Sinnenwelt gehören, sondern auch zu einer unabhängigen intelligibelen Welt. 2 Kants Sektion »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?« führt zu einer ontologischen Behauptung, nämlich: dass »die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält« (4:453). Alle diese und viele andere Passagen deuten auf eine theoretische Aussage über die eigentliche Natur des Menschen, auf eine ontologische Behauptung über die Wirklichkeit. Viele Kommentatoren betonen diese Passagen in ihren Interpretationen von Grundlegung III. Dieter Henrich gibt den Ton in einer Reihe von Artikeln an, wenn er behauptet, dass Kant eine Begründung für die »moralische Einsicht« erbringen wolle, die »im wesentlichen ontologisch« sein müsse. 3 Dieter Schönecker macht das, was er Kants »ontoethischen Grundsatz« nennt, zum Angelpunkt seiner ontologischen Interpretation des Arguments. 4 Paul Guyer glaubt, dass Kant ein metaphysisches Argument anbietet. 5 Auf der anderen Seite ist Henry Allison bekannt für seine Argumente gegen die Gültigkeit der metaphysischen Interpretation. 6 Die richtige Art, die Deduktion in Grundlegung III zu verstehen, ist, sie im Kontext zu sehen. Dieser Kontext liegt in den ersten Sektionen der Grundlegung III, die das Problem vorstellen; die Kommentare nehmen diese

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Ich halte die Bedeutung der Ausdrücke »intelligibele Welt«, »Verstandeswelt«, und »intellektuelle Welt« für einerlei und werde sie als austauschbar verwenden. Siehe Henrich (1973, S. 223–254). Siehe Schönecker (1999, S. 198f). Siehe Guyer (2009, S. 176–202), der eine stark metaphysische Interpretation des Arguments präsentiert, ohne sich mit dem Material über die Grenze der praktischen Philosophie eingehend zu befassen. Siehe auch Guyer (2007). Allison (2011, S. 342–344) arbeitet sich sorgfältig durch die verschiedenen Ansprüche und die Terminologie von Grundlegung III. Er trennt die Passagen, die eine metaphysische Interpretation des transzendentalen Idealismus zu untermauern scheinen, von dem, was in seine eigene Zwei-Aspekte-Interpretation passt. Allison gibt zu, dass viel von Kants Terminologie ontologisch zu sein scheint, aber er argumentiert, dass eine plausiblere Interpretation nichtmetaphysisch ist.

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Sektionen detailliert in den Blick. Die Fortsetzung des Kontexts befindet sich in der Sektion über die Grenze, im Anschluss an die Deduktion selbst. Das Wort »Grenze« kann sich auf zwei verschiedene Dinge beziehen: auf eine innere oder eine äußere Grenze. Man kann die Atmosphäre der Erde u. a. so betrachten, dass sie eine innere Grenze ungefähr auf der Höhe des Meeresspiegels hat, und eine äußere Grenze, wo sich die Atmosphäre lichtet und der Weltraum beginnt. Entsprechend kann man sich die eigene Person so vorstellen, als ob sie aus dem Meer stiege, die Grenze zwischen Wasser und Luft durchsteche, durch die Luft steige, die Luft hinter sich ließe und schließlich in den leeren Raum eintrete. Ebenso bezieht sich eine Person, obwohl eine Staatsgrenze die territoriale Ausdehnung an jedem Ort auf die gleiche Weise begrenzt, auf diese Grenze anders beim Betreten und beim Verlassen eines Landes, als es bei einer touristischen Fahrt durch ein Land, um ein anderes zu erreichen, geschehen würde. Die bestimmte Formulierung, die Kant benutzt (»Grenze der praktischen Philosophie«), bezieht sich auch auf zwei verschiedene Dinge. Erstens kann sie sich auf eine Grenze zwischen der theoretischen oder spekulativen Philosophie und der praktischen Philosophie beziehen, d. h. auf die konzeptionelle Einteilung, wo theoretische Ansprüche enden und praktische Ansprüche beginnen. Diese Bedeutung nenne ich die »innere Grenze«. Kant diskutiert sie in Absatz 5 der Sektion (4:456), wenn er danach fragt, wo die Grenze der praktischen Philosophie beginnt. Zweitens kann sie sich auf den extremen legitimen Gebrauch der praktischen Philosophie selbst beziehen, über den sich die praktische Philosophie nicht hinauswagen kann. Das letztere ist das, was Kant »die äußerste Grenze« nennt. Ich werde die innere Grenze und ihre Implikationen für die Deduktion betrachten, bevor ich die äußere Grenze und Kants endgültiges Urteil über die Deduktion betrachte.

II. Die innere Grenze und die Natur der praktischen Philosophie Die allgemeine Struktur von Kants Sektion über die Grenzen der praktischen Philosophie ist die folgende: Die ersten Absätze (1–5) erläutern den Unterschied zwischen dem Praktischen und dem Spekulativen, um zu zeigen, dass das Praktische beginnt, wenn die ontologische Spekulationen endet und die praktische Anwendung infolge der Spekulation anfängt. Die mittleren Absätze (6–8) erklären die Natur des Praktischen als Setzung einer Ordnung der Dinge, die von der Natur unterschieden ist; das ist der legitime Raum für das Praktische hinter ihrer inneren Grenze. Die letzten Absätze (9–15) enthalten die Festlegung der äußersten Grenze und die Diskussion besonderer