kann ein mensch dabei untätig bleiben?

Zwischenmenschliche Hilfe. 66. Jüdische Selbsthilfe und Widerstand. 73. Hilfe für die Juden aus den okkupierten Gebieten. 77. Hilfsaktionen und Rettungen. 77.
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Iva Arakchiyska

KANN EIN

MENSCH DABEI UNTÄTIG BLEIBEN? Hilfe für verfolgte Juden in Bulgarien 1940–1944

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Iva Arakchiyska Kann ein Mensch dabei untätig bleiben? Hilfe für verfolgte Juden in Bulgarien 1940–1944

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Iva Arakchiyska

KANN EIN

MENSCH DABEI UNTÄTIG BLEIBEN? Hilfe für verfolgte Juden in Bulgarien 1940–1944

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INHALT

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Der politische Kontext: Bulgarien als Deutschlands Verbündeter Die Situation der bulgarischen Juden 19 24 38 45 47

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Spezifika und Dimensionen der Hilfeleistung 52 64 66 73

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Die jüdische Minderheit Das „Gesetz zum Schutz der Nation“ Erste Phase der Deportationen: Beschlüsse und Pläne Zweite Phase: Aussiedeln statt Deportieren Dritte Phase: Der letzte Plan zur Deportation

Hilfe von Politikern, Intellektuellen und Geistlichen Zwischenmenschliche Hilfe Jüdische Selbsthilfe und Widerstand Hilfe für die Juden aus den okkupierten Gebieten

Hilfsaktionen und Rettungen 77

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Dimitar Peschev und die Delegation aus Kjustendil: Die parlamentarische Aktion Die Bulgarische Orthodoxe Kirche: Metropolit Stefan von Sofia und Metropolit Kyrill von Plovdiv Dr. Pavel Gerdjikov und Familie Levi: Untergetaucht in Sofia Nadejda Vasileva: Hilfe für die thrakischen Juden Die Familien Popstefanov und Serchadjiev: Rettung in Skopje Mladen Ivanov: „Verteidiger der Juden“ Rubin Dimitrov: Die jüdische Demonstration am 24. Mai 1943 Samuil Chiprut: Jüdischer Widerstand in Plovdiv Nikola Petsev, Ljuben Zlatarov, Henry Levenson und Nikola Vanchev: Transitvisa für europäische Juden

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Nach 1944: Anerkennung der Helferinnen und Helfer

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Dank

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Literatur

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Abbildungen

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Personenregister

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Impressum

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Zar Boris III. (1894–1943), um 1940 Nach dem Rücktritt seines Vaters im Jahr 1918, des Zaren Ferdinand I., wurde Prinz Boris zum Zaren von Bulgarien ernannt.

DER POLITISCHE KONTEXT: BULGARIEN ALS DEUTSCHLANDS VERBÜNDETER

Während des Zweiten Weltkrieges positionierte sich Bulgarien auf Seiten Deutschlands. Das südosteuropäische Land gehörte somit zu den Staaten, die sich freiwillig dem „Dritten Reich“ angeschlossen hatten. Die politische Konstellation war keineswegs homogen und sowohl das Bündnis mit Deutschland als auch die damit verbundenen Folgen für das politische und gesellschaftliche Leben standen im Zeichen einer gewissen Entscheidungsfreiheit der bulgarischen Machthaber: Die Regierung bewahrte sich ein hohes Maß an Eigenständigkeit, und trotz des Kriegseintritts war weder Bulgariens Armee in Kampfgefechte gegen die Alliierten involviert noch wurden die bulgarischen Juden deportiert und ermordet.1 Das Zarentum Bulgarien befand sich seit 1918 unter der Führung von Zar Boris III. Er bestieg den Thron, nachdem sein Vater, Zar Ferdinand I. aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, zu seinen Gunsten abgedankt hatte. Zur Zeiten Ferdinands erlangte das Land nach der Jahrhunderte andauernden Osmanischen Herrschaft die staatliche Souveränität wieder und setzte sich seit 1908 als unabhängiges Zarentum durch. 1912 und 1913 beteiligte Ferdinand Bulgarien an beiden Balkankriegen: Im Ersten Balkankrieg konnte das Land kurzzeitig territoriale Gewinne erzielen, darunter Teile von Thrakien und Makedonien, doch im unmittelbar folgenden Zweiten Balkankrieg mussten diese gewonnenen Gebieten wieder abgetreten werden. Geschwächt durch die Niederlage ergriff Ferdinand die Gelegenheit des Ersten Weltkrieges auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns zu einer erneuten territorialen Expansion. Nach einem vernichtenden Kriegsverlust Bulgariens dankte Zar Ferdinand ab.

1 Einen kurzen Überblick über Bulgariens Politik vor und in den Jahren des Zweiten Weltkrieges sowie über die Situation der jüdischen Bevölkerung bieten: Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 275–310; Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Südosteuropapolitik,

Stuttgart 1979; Jan Rychlík, Zweierlei Politik gegenüber der Minderheit: Verfolgung und Rettung bulgarischen Juden 1940–1944, in: Wolfgang Benz / Julianne Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Band 7, Berlin 2004, S. 61–98; Nikolaj Todorov, Kurze bulgarische Geschichte, Sofia 1977; Wolfgang Geier, Bulgarien zwischen West und Ost vom 7. bis 20. Jahrhundert. Sozial- und kulturhistorische Epochen, Ereignisse und Gestalten, Wiesbaden 2001.

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Ferdinands Sohn Zar Boris III. übernahm das Land zu einem schwierigen Zeitpunkt. Bulgarien litt 1918 sowohl unter den territorialen Verlusten infolge der Balkankriege als auch unter hohen Reparationszahlungen, die der Katastrophe des Ersten Weltkrieges folgten. Die Rolle des Zaren rückte während der innenpolitischen Unruhen der nachfolgenden Jahre in den Hintergrund, bis 1934 Zar Boris III. nach einem Militärstaatsstreich die politische Macht für sich beanspruchte. Er installierte ein autoritäres Regime ohne politische Parteien und bildete eine Regierung aus seinem vertrauten Umfeld. 1938 ließ Boris III. ein vom Volk gewähltes Parlament zu, das allerdings aus parteilosen Abgeordneten bestand und nur über begrenzte Vollmachten verfügte. In ihrer Mehrheit unterstützten die Abgeordneten den Zaren und die Regierung, der Einfluss der kleinen liberalen und linken Opposition war eher symbolischer Natur.

Der politische Kontext: Bulgarien als Deutschlands Verbündeter

Zar Boris III. vor dem bulgarischen Parlament, 1940

Zar Boris III. bei der Feier seines 23. Jubiläums der Thronbesteigung, 1941

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Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 nahm Bulgarien zunächst eine unparteiische Position ein und betonte seine „Neutralitäts- und Friedenspolitik“. Im Land standen sich verschiedene politische Auffassungen gegenüber: Einerseits herrschte eine starke prorussische Stimmung, andererseits gewannen Deutschlands vielversprechenden Aussichten auf eine Revision der erlittenen Gebietsverluste immer mehr Anhänger. Beide Kriegsparteien waren an einer eindeutigen Positionierung Bulgariens interessiert, um das Land als Verbündeten in die jeweiligen Kriegspläne einzubinden. Im Laufe der Zeit zeichnete sich eine stärkere Bindung an Deutschland ab, zwischen den beiden Ländern bestanden enge Handelsbeziehungen, ab Ende der 1930er Jahren intensivierten sich auch die politischen Beziehungen. Besonders nachdem Bulgarien mit deutscher Unterstützung am 7. September 1940 die Region Süddobrudscha 2 an der Schwarzmeerküste von Rumänien zurückbekam, das die Bulgaren als Revision der nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete betrachteten, wurde die Annäherung ans „Dritte Reich“ offensichtlich. Am 1. März 1941 trat Bulgarien offiziell dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan bei, um erneut zu versuchen, seine territoriale Stellung auf dem Balkan auszubauen. Unmittelbar danach marschierten deutsche Truppen ins Land ein.

2 Der Vertrag von Craiova vom 7. September 1940 wurde unmittelbar von Deutschland, der Sowjetunion, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, Italien und Frankreich anerkannt. Süddobrudscha blieb nach dem Krieg ein rechtmäßiger Teil Bulgariens.

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Der politische Kontext: Bulgarien als Deutschlands Verbündeter

Der Ministerpräsident Bogdan Filov unterschreibt in Wien den Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt, 1. März 1941

Prof. Bogdan Filov (1883–1945) Studium der Philologie, Geschichte und Archäologie in Deutschland, Doktor in Archäologie, 1937–1944 Vorsitzender der Bulgarischen Akademie der Wissen schaften, 1938–1942 Kulturminister, 1942–1943 Außenminister, 1940–1944 Ministerpräsident; 1945 vom kommu nistischen Volksgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

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Über diese Donaubrücke marschieren deutsche Truppen von Rumänien nach Bulgarien, Russe, März 1941

Bulgarische Soldaten rücken in die makedonischen Stadt Skopje ein

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Der politische Kontext: Bulgarien als Deutschlands Verbündeter

Belgrad

Bukarest

RUMÄNIEN Don

Lom

Süddobrudscha au

Varna

JUGOSLAWIEN

Pirot Sofia

BULGARIEN

Burgas

SCHWARZES MEER

Kjustendil Plovdiv

Dupnica

Vardar-Makedonien

Gorna Dschumaja

TÜRKEI

Skopje

West-Thrakien Bitola

GRIECHENLAND

MARMARAMEER

Kavala

ÄGÄISCHES MEER

Bulgariens Grenzen in den Jahren 1940–1944 Im Jahr 1940 bekam Bulgarien das Gebiet Süd dobrudscha von Rumänien zurück, von 1941 bis 1944 wurden die Gebiete West-Thrakien von Griechenland sowie Vardar-Makedonien und die Stadt Pirot vom ehemaligen Jugoslawien okkupiert.

Das bulgarische Territorium wurde aufgrund seiner strategischen und geografischen Lage als Ausgangspunkt für deutsche Angriffe auf Südosteuropa genutzt. Im April 1941 begann die Wehrmacht von hier aus ihre Feldzüge gegen Griechenland und Jugoslawien und beide Länder wurden kurz darauf okkupiert. Bulgarische Truppen beteiligten sich nicht an diesen Feld zügen, rückten aber als Besatzer in die Gebiete West-Thrakien in Griechenland sowie Vardar-Makedonien und die Stadt Pirot in Jugoslawien ein. Dort übernahm Bulgarien die Administration und führte eine bulgarische Gesetzgebung ein, obwohl es keine offizielle Absprache mit Deutschland gab. Diese Gebiete wurden bereits als Teil des eigenen Landes betrachtet, die Regierung nannte sie „neubefreites“ oder „neubulgarisches“ Territorium. Innenpolitisch wurde dies als ein Erfolg gefeiert und sicherte die breite Zustimmung des Volkes für die Regierung und ihr Bündnis mit dem Deutschen Reich. Die endgültigen Staatsverhältnisse

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sollten nach Beendigung des Krieges von Deutschland festgelegt werden. 3 Im Dezember 1941 folgte die Kriegserklärung Bulgariens an England und die USA, jedoch nicht an die UdSSR. Mit der Sowjetunion pflegte das Land, als einziges Mitglied des Dreimächtepakts, weiterhin diplomatische Beziehungen. Trotz mehrfacher deutscher Aufforderungen lehnte es Zar Boris III. entschieden ab, bulgarische Soldaten an die Ostfront zu schicken. Zwischen Bulgarien und der Sowjetunion bestand eine traditionelle Freundschaft. Nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877–1878, der die nationale Befreiung Bulgariens vom Osmanischen Reich herbeiführte, existierten fast brüderliche Beziehungen zwischen beiden Ländern. Zar Boris III. begründete seine Entscheidung mit der Befürchtung, dass bulgarische Soldaten zur Sowjetarmee überlaufen würden, falls sie an der Front gegen die Russen kämpfen müssten. Bulgarien übernahm als Deutschlands Verbündeter zwei Funktionen: Sein Territorium wurde zum Ausgangspunkt für deutsche Angriffe auf dem Balkan und bulgarische Soldaten fungierten als Besatzer in griechischen und jugoslawischen Gebieten. Zar Boris III. hatte mehrmals Hitler besucht und auch bulgarische Regierungsmitglieder unterhielten enge Kontakte zum Machtapparat des „Dritten Reichs“. Dies spiegelten innenpolitische Neuerungen und antidemokratische Gesetze nach nationalsozialistischem Vorbild wider. Das bereits existierende „Gesetz zum Schutz des Staates“ wurde verschärft und verurteilte die mehrheitlich linksgerichtete Opposition sowie alle Gegner der prodeutschen Regierungspolitik und jede Form von Widerstand. Das „Gesetz zum Schutz der Nation“, angelehnt an die Nürnberger Gesetze, trat im Januar 1941 in Kraft und erhielt repressive antijüdische Bestimmungen. Im Jahr 1942 wurde mit dem „Kommissariat für jüdische Fragen“ ein neues Amt ins Leben gerufen, das von Alexander Belev geleitet wurde, einem überzeugten Verfechter der Ansichten Hitlers.

3 Bis auf die Süddobrudscha verlor Bulgarien nach dem Krieg jeglichen Anspruch auf diese Gebiete.