Kaltschnäuzig Margaret Atwooderzählt vomAltern 8 Robinsonade ...

29.01.2017 - mis um den Ermittler Kostas Charitos. Neun Bände der Serie liegen auf Deutsch vor. Man darf diesen engagierten Intel- lektuellen indes nicht ...
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Nr. 1 | 29. Januar 2017

NZZ am Sonntag

Kaltschnäuzig Margaret Atwood erzählt vom Altern 8

Robinsonade Ein Schweizer Pfarrer ist reif für die Insel 4

War da was? Reflexionen zu den Russischen Revolutionen 12

Ungleiche Welt Angus Deaton über Armut und Wohlstand 23

Bücher am Sonntag

N Z Z- LI B RO.C H

Wie wir sehen, hören, tasten, riechen, schmecken NEU

Hören Sie das Gras rascheln? Wie bekannte Geräusche mit artfremden Objekten erzeugt werden: Töne, die in die Irre führen.

Gras

Schmecken

Riechen

Der Geschmackssinn ist der einfachste aller Sinne – unsere Zunge erlaubt uns gerade mal fünf verschiedene Modalitä­ ten wahrzunehmen: süss, sauer, salzig, bitter und umami, was man als herzhaft beschreiben könnte. Manche Forscher glauben, der Mensch verfüge zusätzlich über einen sechsten Geschmackssinn eigens für Fett. Für den Menschen ist der Geschmackssinn zentral, denn er erfüllt eine Art Pförtner­ funktion. Er erkennt giftige Substanzen wie Arsen, die oft bitter sind, oder energiereiche wie Zucker, die süss, oder wie Fleisch, die herzhaft sind.

Der Geruchssinn ist der wohl feinste und intimste Sinn, weil er einem Menschen mit einer geübten Nase erlaubt, Tausende von Düften zu unterscheiden. Der Mensch verfügt über 350 ver­ schiedene Rezeptoren, von denen jeder ein bestimmtes Duft­ molekül erkennt. Das Ganze funktioniert wie ein Duftalphabet mit 350 Buchstaben, aus denen das Riechhirn beliebig lange Wörter, also Düfte, bilden kann. Düfte werden unbewusst wahr­ genommen, und sie wecken Emotionen. Dufterinnerungen werden nämlich im limbischen System gespeichert – in jenem Areal des Gehirns, das auch für die Gefühle zuständig ist. Sinneszellen

Sinneszellen Riechkolben im Gehirn

Nahrungsbestandteile

Geschmackspapille (eine von rund 100) Fadenförmige Gebilde ohne Geschmacksknospen

Siebbeinknochen

Riechzelle Stützzelle

Geschmacksknospen mit Sinneszellen

Duftmolekül Riechschleimhaut Wenn wir durch die Nase einatmen, strömt Luft an der Riechschleimhaut entlang. Die empfindli­ che Struktur ist auf beiden Nasenseiten je etwa so gross wie ein Einfränkler. Sie enthält die Fortsätze von rund 30 Millionen Riechzellen. Diese werden von den Duftmolekülen im Luftstrom angeregt und leiten ihre Eindrücke direkt ins Gehirn.

Unsere Zunge ist geprägt von zahlreichen Ge­ schmackspapillen, die eine regelrechte Kraterland­ schaft bilden. Darin eingebettet sind Geschmacks­ knospen mit den Sinneszellen, die jeweils auf eine Geschmacksrichtung spezialisiert sind. Werden sie durch Nahrungsbestandteile aktiviert, leiten sie Ner­ vensignale ans Gehirn.

Reizverarbeitung

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Die olfaktorischen Reize aus der Nase werden zu­ erst im Riechkolben (1) verarbeitet und gelangen dann ins limbische System (2). Dieser Bereich des Gehirns ist für das Gedächtnis verantwortlich, steu­ ert aber auch unsere Gefühle und Triebe. Bewusst werden dem Menschen Düfte erst, sobald sie in die Riechrinde (3) gelangen.

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Unsere Wahrnehmung schenkt uns sinnliche Augenblicke und schützt uns vor Gefahr. Woher kommen diese Wahrnehmungen? Wann täuschen sie, und wie sieht ein Leben ohne sie aus? Packende Reportagen aus der erfolgreichen Serie der NZZ am Sonntag, erweitert und ergänzt mit Fotoessays von Simon Tanner und Streichel-Labyrinthen von Junko Murayama. René Donzé, Franziska Pfister (Hrsg.), Die Kraft der Sinne Wie wir sehen, hören, tasten, riechen, schmecken 182 S., 48 Abb. u. Graf., Fr. 48.–* / € 48.– ISBN 978-3-03810-198-7

NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected]. * Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung.

Reizverarbeitung

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2 Geschmacksinformationen aus der Zunge werden in verschiedenen Arealen des Gehirns verarbeitet, etwa in der «Insel» (1) und in einer Region nahe der Stirn (2). Hier entscheidet sich, ob ein Geschmack bekömmlich ist. Zudem wird der Geschmack von Essen mit seinem Duft zu einem ganzheitlichen Er­ lebnis kombiniert.

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Inhalt

Mut zur Lücke

Margaret Atwood (Seite 8). Illustration von André Carrilho

Wissen Sie noch, wie das war, damals, als der Schnee selbst im März schier meterhoch lag? Gewiss, vieles verklären wir im Rückblick – Weihnachten war schon immer meist grün, und die Zukunft schien auch früher oft schwarz –, aber diesen März-Schneeberg gab es wirklich. Vor elf Jahren war es; die Stadt stand still, meine Bäckerei war zu, und im Tramtrassee fuhr ein Langläufer, das weiss ich noch ganz genau. Und sonst? Nichts. Keine weitere Erinnerung. Dabei funktioniert mein Kopf so weit normal, ja er verrichtet seinen Dienst sogar ganz ordentlich: Dauernd ist das menschliche Gehirn bemüht, seinen Besitzer durch Prozesse des Vergessens zu entlasten. Damit aber ist seine Arbeit noch längst nicht getan, denn das, was unser Hirn als Erinnerung behält, formt es auch noch ständig um. Mehr über die stupenden Funktionsweisen unseres Gedächtnisses und die (bedrohte) Gnade des Vergessens lesen Sie auf S. 20. Dass Lücken im Wissen nichts Schlechtes sein müssen, zeigt sich diesmal auf vielen Seiten. Die Althistorikerin Mary Beard etwa erklärt in einem kenntnisreichen Buch, dass die Geschichte Roms weitgehend im Dunkeln liege. Andere füllen die Leere mit Phantasie und landen beim (historischen) Roman (S. 16), und die Physiker wiederum spornt das Nichtwissen zu neuer Forschung an (S. 24). – Vieles mag in Schwarzen Löchern verschwinden. In unserem Heft finden Sie hoffentlich ein paar unvergessliche Bücher. Wir wünschen anregende Lektüre. Claudia Mäder

Belletristik 4

Johann David Wyss: Der Schweizerische Robinson Von Stefana Sabin 6 Thomas Mann, Stefan Zweig: Briefwechsel, Dokumente und Schnittpunkte Von Arnaldo Benini 7 Edward St Aubyn: Melrose Von Simone von Büren 8 Margaret Atwood: Die steinerne Matratze Von Gunhild Kübler 9 Jacqueline Moser: Ich wünsche, wir begegneten uns neu Von Sandra Leis Arnold Odermatt: Feierabend Von Gerhard Mack 10 Urs Faes: Halt auf Verlangen Von Charles Linsmayer

Kurzkritiken Belletristik 11 Lisa Elsässer: Fremdgehen Von Gundula Ludwig Petros Markaris: Der Tod des Odysseus Von Manfred Papst Urs Martin Strub: Aufgehobene Zeit. Hundert Gedichte Von Manfred Papst Han Kang: Die Vegetarierin Von Claudia Mäder

Essay 12 War da etwas? 100 Jahre Russische Revolutionen: Der Historiker Carsten Goehrke hinterfragt den geschichtlichen Stellenwert der Ereignisse

Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Elena Ferrante

Peter-André Alt hat eine Biografie über den Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, geschrieben (S.18).

Kurzkritiken Sachbuch 15 Helga F. mit Sabine Weigand: Helga Von Kathrin Meier-Rust Bernd Brunner: Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit Von Claudia Mäder Roger Willemsen: Wer wir waren Von Kathrin Meier-Rust Michael Tsokos: Sind Tote immer leichenblass? Von Simone Karpf

Sachbuch 16 Mary Beard: SPQR Tom Holland: Dynastie John Williams: Augustus Von Kathrin Meier-Rust 18 Peter-André Alt: Sigmund Freud Von Manfred Koch 19 Peter von Matt: Sieben Küsse Von Claudia Mäder Peter Longerich: Wannseekonferenz Von Urs Bitterli

20 Aleida Assmann: Formen des Vergessens Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis Douwe Draaisma: Halbe Wahrheiten Von Angela Gutzeit 21 Franziska Schläpfer: Trudi Gerster Von Erica Maurer Jeremy Black: Metropolis Von Kathrin Meier-Rust 22 Umberto Eco: Pape Satàn Von Janika Gelinek Nicole Strüber: Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen Von Walter Hollstein 23 Angus Deaton: Der grosse Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen Von Michael Holmes 24 Carlo Rovelli: Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint Graham Farmelo: Der seltsamste Mensch Stephen Hawking: «Eine wunderbare Zeit zu leben» Stephen Hawking: Haben Schwarze Löcher keine Haare? Von André Behr 25 Dora Sakayan: «Man treibt sie in die Wüste» Von Martina Läubli Gerald Stieg: Sein oder Schein Von Carlo Moos 26 Fridolin Stähli, Peter Gros, Karl Haltiner (Hrsg.): Die Schweiz – vom Sonderfall zum Normalfall? Von Urs Rauber Das amerikanische Buch Bernie Sanders: Our Revolution Von Andreas Mink

Agenda 27 Otto Käfer: Blindheit in der Kunst Von Manfred Papst Bestseller Januar 2017 Belletristik und Sachbuch Agenda Februar 2017 Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Urs Rauber, Martin Zingg Produktion Daniela Salm, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Barbara Guth (Korrektorat) Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

Belletristik Roman Neu ediert und aufwendig gedruckt: Die Robinsonade des Schweizer Pfarrers und Schriftstellers Johann David Wyss aus dem 18. Jahrhundert ist endlich wieder zugänglich

ReiffürdieInsel Johann David Wyss: Der Schweizerische Robinson. Nachworte von Stefan Zweifel und Hannelore Kortenbruck-Hoeijmans. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. Doppelband, 1176 S., 60 Ill., Fr. 88.–. Von Stefana Sabin Er war zwar nicht der erste Schiffbrüchige in der abendländischen Literatur, aber er ist derjenige, nach dem eine ganze Gattung benannt wurde: Robinson Crusoe, der Held des gleichnamigen Romans von Daniel Defoe, der seinerzeit zu einem Riesenerfolg – und dann zu einem Klassiker – wurde und dem eine Welle von sogenannten Robinsonaden folgte. Defoes Roman, 1719 erschienen, kündigte schon im barock-weitschweifigen Titel eine phantastische Abenteuergeschichte an (den Schiffbruch, das Überleben und die Rettung von Robinson) und den vorgetäuschten autobiografischen Bericht (der Gestrandete als Ich-Erzähler) und legte gewissermassen die Richtlinien für alle folgenden Robinsonaden fest. Als Mischung aus Abenteuer-, Überlebens-, Rettungs- und Erbauungsgeschichte entstanden im Kielwasser von Defoes Erfolg unzählige Nachahmungen, die je nach weltanschaulicher Haltung des Autors mal die Seereise, mal die Naturidylle, mal die Einsiedlerutopie unterstrichen. Diese literarische Mode der Robinsonaden schwappte schnell auf den Kontinent über. Schon ein Jahr nach Erscheinen der Originalausgabe gab es vier deutsche Übersetzungen, ab 1722 gab es schon viele deutschsprachige Robinsonaden, unter denen diejenigen von Johann Gottfried Schnabel (1692–1748) und von Johann David Wyss (1743–1818) die bekanntesten sind. Schnabels Robinsonade, die zwischen 1731 und 1743 unter einem absatzlangen Titel erschien und von einer frühaufklärerischen Gesellschaftskritik geprägt war, gehörte zu den populärsten Romanen des 18. Jahrhunderts (für Arno Schmidt war sie noch 1960 «eines der wichtigsten Werke unserer Literatur»), geriet dann in Vergessenheit und wurde erst in der gestrafften und sprachlich modernisierten Version, die Ludwig Tieck 1828 unter dem Titel «Insel Felsenburg» herausgab, philologisch wieder4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

entdeckt, wenn auch nie mehr populär. Ähnlich erging es auch dem Schweizerischen Robinson von Johann David Wyss: zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Bestseller, dann vergessen, im 20. Jahrhundert wiederentdeckt, ist er bis heute das meistübersetzte Schweizer Buch! Jetzt hat Die Andere Bibliothek dieses Werk als aufwendig gestalteten Doppelband mit allen Illustrationen der Originalhandschrift und mit detailreichen Nachworten versehen herausgebracht.

Reise mit Kind und Kegel

Wyss, der in einer Offiziersfamilie in Bern geboren und, so sein eigener Sohn, mit «altschweizerischem Ernst» erzogen wurde, studierte Philosophie und Theologie und machte Karriere, denn 1777 wurde er Pfarrer am Berner Münster, wo er rhetorisch nüchterne, textimmanente Predigten gehalten haben soll. Es war also wohl weniger seiner Fabulierlust als Erziehungsabsicht geschuldet, dass er seinen Söhnen um 1792 Geschichten er-

Johann David Wyss hat seine Abenteuergeschichte mit Guachen und Aquarellen bebildert, hier die Ansicht einer «Wallfisch-Insel».

zählte, in denen er im Stil der Robinsonade Belehrungen unter Abenteuer mischte. Diese Geschichten waren für den Hausgebrauch bestimmt. Es war erst der älteste Sohn von Pfarrer Wyss, Johann Rudolf, Professor für Philosophie und Oberbibliothekar an der Berner Akademie, der das Manuskript des Vaters edierte und unter dem Titel «Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer-Prediger und seine Familie. Ein lehrreiches Buch für Kinder und Kinder-Freunde zu Stadt und Land» zwischen 1812 und 1827 herausgab. Die Schweizer Robinsonade hat alle Merkmale ihres Genres: die Seefahrt, den Sturm und den Schiffbruch, die Strandung auf einer unbewohnten Insel, das autarke Leben in der Wildnis, schliesslich die Rettung. Auch Details wie das selbstgebaute Floss, mit dem die Überlebenden an Land gelangen, oder die Rettung einer Bibel aus der Kajüte gehen auf das Original von Defoe zurück. Aber anders als bei Defoe ist der

T BURGERBIBLIOTHEK BERN, FA WYSS

Schweizerische Robinson kein Abenteurer, sondern Pfarrer, und er ist nicht allein unterwegs, sondern mit der Familie: mit seiner Frau und den vier Söhnen im Alter zwischen 9 und 14 Jahren – sogar zwei Hunde und mehrere Nutztiere haben sie mit dabei! Denn die Pfarrersfamilie ist unterwegs zu den fernen Gewürzinseln, wo sie ein neues Leben beginnen will, als das Schiff im Indischen Ozean in einen schweren Sturm gerät und kentert. Die Familie überlebt, rettet sich auf eine Insel, holt nach und nach die Tiere und alle brauchbaren Gegenstände aus dem Schiffswrack und richtet sich auf der Insel ein. Wie seinerzeit Robinson erweisen sich der Pfarrer und seine Familie als reif für die Insel. Sie bauen sich ein Baumhaus mit geradezu «gothischen Bögen», das ihnen «kühlen Luftzug und eine vortreffliche Aussicht gegen das Ufer bis weit in die See» verschafft; sie erkunden die Insel und benennen die Orte, an denen sie sich aufhalten, um «die liebliche Täuschung» zu erzeugen, als lebten sie «mitten in einem bevölkerten Lande und zwischen angebauten Ortschaften, die längst uns bekannt wären». Sie jagen und fischen, fangen und domestizieren verschiedene Tiere, pflanzen einen Gemüsegarten an, üben sich in Schreiner- und Kürschnerarbeiten, stellen Kerzen und Zündstoffe her – und führen ein einfa-

Zum naturverbundenen Leben der Aussteigerfamilie gehörte auch die Auseinandersetzung mit allerlei Tieren.

ches, naturverbundenes Leben, für das sie regelmässig Gott loben. «Die Arbeit hatte unsre Kräfte nicht wenig mitgenommen, und als der Abend hereinbrach, fanden wir uns so erschöpft, dass wir, ohne Weiteres, uns nach Essen und Nachtlager umsahen. Beydes wurde genossen mit herzlichem Dank gegen Gott, der uns abermals so gütig einen Tag gefristet.»

Gemeinschaft im Zentrum

Die täglichen Unternehmungen werden durch tägliche Belehrungen begleitet, denn der Pfarrer will die Jungen nicht nur zur körperlichen, sondern auch zur geistigen Ertüchtigung ermutigen. «Die Jugend», so der Pfarrer, «ist da zum Lernen und Sammeln, das Alter zum Anwenden und Brauchen.» Tatsächlich ist dieser Schweizerische Robinson mindestens so sehr Erziehungs- wie Abenteuergeschichte – Johann David Wyss war mit Pestalozzi befreundet! Und da es darin um eine sechsköpfige Familie geht, steht nicht das Überleben in heroischer Einsamkeit im Mittelpunkt der Handlung wie bei Defoe, sondern die Bedeutung der Gemeinschaft. «Das gesellschaftliche Leben und die vereinigte Kraft, das gemeinsame Nachdenken von Vielen ist es erst, was auch dem Einzelnen zum Wohlseyn und zu glücklicher Wirksamkeit hilft», erklärt der Pfarrer seinen Söh-

nen. Der Pfarrer ist der Ich-Erzähler, der zwar namenlos bleibt, aber allwissend und allgegenwärtig ist – jedenfalls fungiert das Ganze als autobiografischer Bericht, der mit der Rettung durch ein englisches Schiff endet. Da entschliesst sich der Pfarrer, mit seiner Frau und zweien der Söhne auf der Insel als einem «Neu-Schweizerland» zu bleiben, während die anderen nach Europa zurückkehren. Vielleicht sollte dieser Entschluss eine Absage an Europa sein, wo die Französische Revolution tobte – vielleicht aber wollte sich Pfarrer Wyss als Erzähler die Möglichkeit einer Fortsetzung offenhalten. Es war dann aber erst Jules Verne (1828–1905), der 1900 den Faden wieder aufnahm und in seinem Roman «Seconde Patrie – Das Zweite Vaterland» die Geschichte einer Schweizer Familie weiterspann, die auf einer entlegenen Insel eine Kolonie gründet. Mit seiner Phantasie von einer neuen Welt am Ende der Welt und von der heilenden Selbstfindung versuchte Pfarrer Wyss, seine Robinsonade jenseits der Kindergeschichte in der phantastischen Abenteuerliteratur zu verankern. Aber spannend oder gar amüsant ist das alles nicht: zu ernst, zu pädagogisch, zu humorlos. Dennoch bleibt der Schweizerische Robinson ein wichtiges literaturund sozialhistorisches Dokument. ● 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5

Belletristik

Briefwechsel Die erstmals edierte Korrespondenz zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig zeigt zwei höchst unterschiedliche Menschen, die sich nicht verstehen konnten und wollten

WederFreundenochFeinde

Thomas Mann, Stefan Zweig: Briefwechsel, Dokumente und Schnittpunkte. Hrsg. von Katrin Bedening und Franz Zeder. Klostermann, Frankfurt 2016. 464 Seiten, Fr. 124.90.

Die erhaltenen Briefe zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig von 1911 bis 1942 sind wenige: 41 von Mann und 17 von Zweig. In einem Brief vom 20. Mai 1942 an Alfred Altmann, den Verwalter von Zweigs Nachlass, schreibt Thomas Mann, dass «von einer Korrespondenz vieler Jahre» nur zwei Briefe «übrig geblieben sind». Der grösste Teil der Korrespondenz ist verschollen. Der Ursachen dürften viele sein, etwa die häufigen Umsiedlungen beider Korrespondierenden von einem Land und Erdteil zum anderen. Es ist aber auch wahrscheinlich, dass Zweigs Briefe Mann wenig berührten und er sie deshalb nicht aufbewahrte. Die 58 Briefe sind nun als Teil eines umfangreichen Bandes erschienen. Katrin Bedenig, Leiterin des ThomasMann-Archivs Zürich, hat sie mit wertvollen Anmerkungen über bekannte und weniger bekannte Personen und Ereignisse kommentiert. Die Briefe mit lobenden Beurteilungen der Werke, die ihm Zweig schickte, und die vernichtenden Anmerkungen in Manns Tagebuch beweisen seine beschränkte Wertschätzung sowie das zwiespältige Verhältnis zwischen zwei Persönlichkeiten, die nicht verschiedener hätten sein können. Manns Tagebucheinträge bestätigen, dass er in einem Ausmass fähig zur Lüge war, das ohne die Tagebücher nicht auffallen würde.

Zu charakterlos für Gram?

An Stefan Zweigs Biografie über Romain Rolland zum Beispiel lobt Thomas Mann am 1. Januar 1921 die «kritische Darstellung», die sich in diesem Werk «noch glänzender bewährt als in früheren Fällen». Einen Tag zuvor hatte er im Tagebuch notiert, aus dem Buch den Eindruck gewonnen zu haben, dass Zweigs «geistige, bleiche, humanitäre Natur» nicht aufhöre, «mir fade zu erscheinen». Zur Biografie über Maria Stuart, erschienen 1935, schreibt Mann dem Autor, dass er sich «sehr Glänzendes davon verspricht», und im Tagebuch, dass «diese Art Schriftstellerei, die die guten Stoffe verhunzt, eine Pest» sei. Die Beziehung zwischen Zweig und Mann blieb die ganze Zeit oberflächlich. Sie waren, schreibt der Mitherausgeber des Bandes, Franz Zeder, «weder Freunde noch Feinde». Während des Ersten Weltkrieges gibt es zwei Briefe von Mann (November 1916 und September 1917). Im ersten Brief bezieht sich Thomas Mann auf die Schrift «Au-dessus de la mêlée», die er «Kriegsbüchlein» nennt. Sie war Ende 1915 erschienen und 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

STEFAN ZWEIG CENTRE SALZBURG

Von Arnaldo Benini

Blieben sich zeitlebens fremd: die Schriftsteller Thomas Mann (links, 1950er) und Stefan Zweig (1936).

stammte aus der Feder des eng mit Stefan Zweig befreundeten Schriftstellers, Nobelpreisträgers und Pazifisten Romain Rolland. Der Einfluss des «Kriegsbüchleins» (ein Welterfolg von über 100 Auflagen) wurde mit Émile Zolas Aufsatz «J’accuse» (1898) im Fall Dreyfus verglichen. Rolland schreibt, Manns «Gedanken im Kriege» von 1914, die ihm Zweig geschickt hatte, seien ein «accès de délire d’orgueil et de fanatisme irrité». Für Mann zeuge das Werk «noch nicht sehr von befreiter Gerechtigkeit» und habe ihm «eine Menge angehängt». Ausführlich setzt sich Thomas Mann in den «Betrachtungen eines Unpolitischen» von 1918 mit dem «Büchlein» auseinander, wo es als rabiate Aggression gegen Deutschland abgetan wird. Die Familie Mann übersiedelte 1938 in die USA. Thomas Manns Kampf gegen Nazideutschland, hauptsächlich mit Vorträgen und Veranstaltungen, war unermüdlich. Der andere «illustrious immigrant», Stefan Zweig, distanziert und spröd, hielt ebenso seit 1938 Vorträge in vielen Staaten, bloss waren sie ausnahmslos unpolitisch. Deshalb richtete Thomas Mann am 26. Mai 1939 mahnende Worte an ihn: «[Es] gibt unsere Pflicht und Schuldigkeit, unseren Einfluss auf die Deutschen zu nutzen. Nur wenn die Deutschen mit Hitler ein Ende machen, kann der Krieg vermieden werden [...]. Die Deutschen müssen zur Raison gebracht werden, und wer sollte es tun, solange wir schweigsam bleiben?» In einem Brief an die amerikanische Freundin und Mäzenin Agnes Meyer beschrieb Thomas Mann Stefan Zweig 1942 als «sorgenfrei und erfolgreich, für politischen Gram war er zu charakterlos».

Zweig neigte zu Schwermut; im Februar 1942 trieb sie ihn und seine junge zweite Frau in den Selbstmord. Mit dem Gedanken an Suizid muss er sich angesichts des scheinbar hoffnungslosen Kriegsverlaufs schon 1940 getragen haben. In einem Brief vertraute er Thomas Mann am 29. Juli 1940 an: «Einmal muss entweder der Sturm enden oder man endet selbst.»

Streitsüchtige Emigranten

Der Aufsatz von Franz Zeder, welcher den Briefwechsel ergänzt, ist ein hochinteressanter Essay über die deutsche Emigration in Europa und in den USA, die schon damals für ihre Streitsucht bekannt war. Es ging um ideologische Differenzen, um Neid und Rivalitäten, aber auch um sinnlose Phantasien wie jene Joseph Roths, dass Thomas Mann im Stande sei, sich mit Hitler zu verständigen, wie er in einem Brief an seinen geduldigen Geldgeber Stefan Zweig schrieb. Zweig erreichte die USA aus England. Er erzählte Thomas Mann in einem Brief vom 29. Juli 1940, mit welcher Sorge er habe wahrnehmen müssen, dass die Engländer «den Krieg im Tempo und der Gelassenheit des Friedens führten, einzig darauf bedacht, das ‹easy going› des privaten Lebens möglichst wenig zu stören [...] – jetzt an die Wand gedrückt, entfalten sie erstaunliche Kräfte, aber was vermögen Nerven wider Tanks?» Die gleiche «selbstbewusst passive Haltung» stellte er nun in den USA fest. Der meisterhaft editierte und kommentierte Briefwechsel zwischen Mann und Zweig zeugt eindrucksvoll von den Irrungen und Wirrungen einer der tragischsten Epochen der Geschichte. ●

Roman-Serie In seinen mitreissenden, autobiografisch geprägten Romanen um Patrick Melrose beschreibt der Brite Edward St Aubyn, wie sich Kindheitstraumata überwinden lassen

WenneinemderVater dasLebenzurHöllemacht

Edward St Aubyn: Melrose. Schöne Verhältnisse. Schlechte Neuigkeiten. Nette Aussichten. Muttermilch. Zu guter Letzt. Deutsch von Ingo Herzke, Frank Wegner, Dirk van Gunsteren und Sabine Hübner. Mit einem Vorwort von Zadie Smith. Piper, München 2016. 880 Seiten, Fr. 52.–, E-Book 38.50. Von Simone von Büren «Manchmal laufen ziemlich widerliche Menschen durch die Welt, und es ist ein Jammer, wenn einer von denen der eigene Vater ist», bemerkt der Protagonist von Edward St Aubyns «Melrose»-Serie. In den fünf autobiografischen Romanen, die nun alle in einem Band auf Deutsch vorliegen, schildert der 56-jährige englische Autor den schweren Weg eines als Kind traumatisierten Mannes durch Jahrzehnte psychischen Leidens zu einer Art von Befreiung. Aus St Aubyns dichtem, sprachgewaltigen Geflecht liessen sich unzählige Fäden herauslösen. Die Romane, die ihre volle Kraft als Zyklus entfalten, sind zugleich Autobiografie, Chronik einer bitteren Abrechnung, Reflexion über Selbst und Selbstverlust, Abhandlung über Sprachmacht und Sprachlosigkeit und ein scharfzüngiges Porträt der englischen Oberklasse.

Nach Jahrzehnten der Qual schafft es der Protagonist in «Melrose», sich vom Selbsthass zu befreien.

ner Eltern wie auch seinem quälend scharfen Selbstbewusstsein zu entkommen. Er erreicht dabei aber höchstens eine distanziertere Perspektive, denkt von sich selbst in der dritten Person und betrachtet sich von aussen, in einer endlosen Wiederholung des Moments der ersten Vergewaltigung durch den Vater, als er sich selbst von der Vorhangstange aus «im Körper einer Eidechse» verschwinden sah. Melrose versucht weiter, seinen unzumutbaren Gefühlen durch «narrative Ermüdung», durch zwanghaftes Reden zu entkommen. Darin ist er geprägt von der englischen Oberklasse, in der er – wie St Aubyn – verkehrt und deren Mitglieder in Rollen gefangen sind, die bis in die Syntax und das Vokabular der Sätze reichen, die sie aussprechen. Sie lenken mit Wilde’schen Sentenzen und druckreifen Kommentaren von allem Persönlichen

ab, zitieren noch im Kokainrausch aus Ezra Pounds «Cantos» und kommen niemals aus ohne Ironie, «dieses tief verwurzelte Bedürfnis, für die Katastrophe einer festgelegten Bedeutung nicht zur Verfügung zu stehen».

Eine Ahnung von Frieden

JONATHAN KNOWLES / GETTY IMAGES

Hilflos ausgeliefert

Mit den Stichworten Trauma, Sprache und Selbst wäre allerdings wohl der Kern dieses beflügelnden Werks erfasst. «Wie sollte sich ein Kind denn ausdrücken, bevor es ein Selbst besass, das es ausdrücken konnte, oder die Worte besass, um auszudrücken, was ihm fehlte?», fragt Edward St Aubyns Alter Ego, Patrick Melrose, im letzten der fünf Romane und verweist so zurück auf den ersten, in dem wir ihn fünfjährig auf dem französischen Landgut seiner Eltern mit einem Plastikschwert gegen «unsichtbare römische Armeen» kämpfen sehen, während er seinem wahren Feind, dem vergewaltigenden Vater, hilflos ausgeliefert ist. Denn seine tablettensüchtige Mutter Eleanor, eine reiche amerikanische Erbin, ist zu verbündet mit dem sadistischen Partner, um ihr Kind zu schützen. Als sich Patrick als Achtjähriger seinem Vater verweigert, vermag das den Kampf gegen diesen ebenso wenig zu beenden wie dessen Tod im zweiten Band, in dem Patrick als 22-jähriger Heroinabhängiger mit der Asche seines Vaters durch Manhattan eilt, um sich den nächsten Schuss zu setzen. Die zwei folgenden Romane, die wie die ersten je an einem Tag in England, der Provence oder den USA spielen, zeigen Versuche Patricks, dem Einfluss sei-

Erst im vierten, für den Booker Prize nominierten Roman «Muttermilch» beginnt Patrick Melrose – depressiv, Alkoholiker, aber unterdessen auch Anwalt, Ehemann und Vater – sich eines Teils seines Selbsts bewusst zu werden, der jenseits von Sprache liegt und den er bisher höchstens von den akustischen, «noch nicht zu Worten organisierten» Halluzinationen seiner Drogentrips kennt. Die Sprachlosigkeit seines neugeborenen zweiten Sohnes und seiner nach mehreren Schlaganfällen verstummten Mutter macht ihn auf einen «Kern des Unsagbaren» in sich selbst aufmerksam. Sein fünfjähriger Sohn, der Patricks Sensibilität und Intelligenz geerbt hat und als eine Art Spiegel für ihn fungiert, versteht bereits: «Sobald man die Wörter kannte, dachte man, die Welt sei all das, was man beschreiben konnte, dabei war sie auch all das, was man nicht beschreiben konnte.» Doch für seinen Vater, der ein Leben lang wie ein Besessener über alles hinweg geredet hat, ist «die Erkenntnis schockierend, dass es da etwas Gewaltiges gab, das er überhaupt nicht erwähnt hatte». Der letzte Roman spielt am Tag von Eleanors Beerdigung. Ein alter Freund des Vaters bringt für einen Moment die bedrohliche Atmosphäre der Kindheit zurück, aber dann bricht auch er zusammen, und die Feinde sind endlich aus Patricks Welt verschwunden. Was für den 46-Jährigen bleibt, ist nicht Hass, sondern die eindringlich vermittelte Bemühung, das Unverzeihliche zu integrieren in ein versehrtes Selbst. Dazu gehört die gnadenlose Einsicht, dass kein Verhalten des Erwachsenen das kindliche Leiden gutmachen kann; dass man sich lösen muss von den Bewältigungsstrategien, die einem geholfen haben, das Trauma auszuhalten; dass man um die Trauer nicht herumkommt und dass man «das Ungetröstetsein üben» muss. Nach Jahrzehnten voller Wut, Selbstekel, Angst und Verzweiflung scheint plötzlich eine Ahnung von Frieden auf und sogar von Versöhnung – nicht als moralische Pflicht, sondern als ungeheure psychische Errungenschaft. Und mit der zu guter Letzt akzeptierten Sprachlosigkeit im Herzen des Selbst endet konsequenterweise der Text. Dass der Autor auch dieses Aufhören von Sprache atemberaubend sprachmächtig beschreibt, gehört zum Wunderbaren dieser «Melrose»-Romane. ● 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Belletristik

Erzählungen Die Kanadierin Margaret Atwood präsentiert neun schonungslose neue Geschichten

Alternistnichts fürFeiglinge Margaret Atwood: Die steinerne Matratze. Erzählungen. Aus dem

Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag bei Piper, München/Berlin 2016. 303 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 20.50. Von Gunhild Kübler Ein Paar sitzt beim Frühstück. Er stochert gerade in seinem Rührei, da eröffnet ihm sein Gegenüber, dass es aus ist mit der gemeinsamen Ehe. «Hey, Moment mal», sagt er und findet, sie hätte wenigstens warten können, bis er seinen Kaffee getrunken hat. Protest hat keine Chance: «Sie will ihm nicht mehr gefallen, ganz im Gegenteil.» Hat er’s nicht kommen sehen? Schade nur, dass er nicht als Erster reagiert und sie ausgebootet hat. Jetzt schlurft er aus der Küche, packt das Wichtigste in Seesack und Computertasche und will raus und in sein Auto. Da entspinnt sich folgender Abschiedsdialog: «Wann sehen wir uns?», ruft sie. «Ich schick dir ne SMS», sagt er. «Schönes Leben noch.» So dezidiert kaltschnäuzig beginnt eine der neun Erzählungen, die Margaret Atwood in ihrem neuen Band unter dem Titel «Die steinerne Matratze» versammelt. Keine erfreulichen Liebesgeschichten, ganz im Gegenteil. Atwoods meist bejahrte Helden («das schüttere Haar ist weiss, der Rücken krumm, die Wampe schlaff») versuchen indes, trotz allem cool zu bleiben. Wie Sam, der eingangs beschriebene Ehemann. Wenigstens einen lockeren Abgang will er seiner Ex hinlegen, nämlich mit quietschenden Reifen und lässig zurückwinkend, «denn wer braucht sie, diese Weiber, die einen runterziehen wie Zementstiefel?» Aber dann springt – wegen eines Kälteeinbruchs – sein Audi nicht an.

Eiskalt mit Fossil ermordet

Das Wetter an der Herstellung atmosphärischer Eindeutigkeit zu beteiligen, ist ein alter, leicht anrüchiger Trick beim Erzählen. In diesem Buch wütet ein Schneesturm, der nach Auskunft der Fernsehnachrichten halb Kanada lahmlegen wird, bereits auf den ersten Seiten. Gefährlich glitzernd fällt Eisregen, als trotz strengster Warnungen der Polizei die betagte, schrullig gewordene Constance ihr Haus verlässt, um Streusalz zu kaufen. Beim Lesen folgt man ihrer mühseligen Expedition in den nächsten Laden und zugleich ihren leuchtenden Erinnerungsspuren. Constance ist ein Star. In ihrer Jugend gehörte sie zur Prä-Hippie-Bohème von Toronto und hat mit ihrem damals verachteten FantasyKitsch, der im Alter erst recht ihren Kopf umwölkt, ihren Ruhm begründet. Der düstere «dauergeile» Dichter Gavin, dem Constance damals als Muse 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

Über Abgründe in Liebesbeziehungen und die Zumutungen des Älterwerdens schreibt Margaret Atwood (77) in ihren Erzählungen.

diente, ist inzwischen altersschwach und wird – wie man in der zweiten Erzählung erfährt – von seiner dreissig Jahre jüngeren Frau mit Ingrimm betreut. Bald wird sie auch noch sein Nachleben organisieren. Das zeigt sich in der dritten Erzählung bei der viel und boshaft betratschten Trauerfeier für den toten Gavin. Mit Verna betritt in der Titelgeschichte ein weiblicher Blaubart die Szene. Sie wurde als Vierzehnjährige vom Footballstar ihrer Schule vergewaltigt und als junge Schwangere sogar von der eigenen kirchenfrommen Mutter geschnitten. Seither hat sie durch Racheakte sich selber zu therapieren versucht und ihre drei betagten Ehemänner nacheinander mit Hilfe von Viagra, Sex und einer Überdosis von Blutverdünnern ins Jenseits befördert. Jetzt will sie sich auf einer Schiffsreise (natürlich in die Arktis) entspannen. Da entdeckt sie unter den Mitreisenden ihren alten Vergewaltiger. Auf einem Landgang kann sie dem hünenhaften Mann einen uralten Stromatolithen (ein algenbasiertes Fossil, dt. «versteinerte Matratze») an den Kopf knallen und ihn so völlig unauffällig ums Leben bringen. – Wer beim Erzählen ab und zu mit einem Bein im Fantasy-Land steht, wie die Autorin in diesem Buch, braucht sich um die realitätsnahe Erzeugung und Entsorgung von Leichen in einer Kriminalgeschichte nicht zu kümmern. «Fackelt die Alten ab» lautet der Titel der letzten Erzählung des Bands. Sie leuchtet hinein in ein gepflegtes Altenheim für Gutbetuchte, deren Angehörige «ein vorwurfsfreies Ende für ihre alten

Fossilien wünschen». Das Leben der Insassen wird vorgeführt als eine Kette von Verlusten und Demütigungen. Eingesperrt in ihre verfallenden Körper, beschäftigen sie sich mit Fingerfarben, während draussen der fanatisierte Mob der internationalen Bewegung «Wir sind dran» randaliert und junge Leute in die angerückten Fernsehkameras brüllen, die Alten hätten genug gelebt und mit ihrer Gier den Planeten zugrunde gerichtet. Zuletzt geht das Heim samt Insassen in Flammen auf.

Bitterböse Darstellung

Margaret Atwood (Jahrgang 1939) ist berühmt für ihren vorurteilslosen, bösen Blick. In Frühzeiten des Feminismus, als der Glaube, dass Frauen die friedlicheren Menschen seien, noch weiter verbreitet war als heute, hat ihr das zu eindrucksvollem, dem Mainstream zuwiderlaufendem Erzählen verholfen – etwa in den Romanen «Katzenauge» (1988) und «Die Räuberbraut» (1993), wo sie klarsichtig weibliche Bosheit analysierte. Wo aber liegt im neuen Buch der Erkenntnisgewinn ihrer bitterbösen Darstellung? Dass Altern nichts ist für Feiglinge, weiss heute jeder. Die kluge Silvia Bovenschen hat in ihrem ÜberraschungsBestseller «Älter werden» (2006) dazu geraten, gegen die bösen Omen des Alters Strategien der Selbstverteidigung zu entwickeln: «Ignoranz gehört zu einem halbwegs frohen Leben.» In diesem Sinn sei hier der geneigten Leserschaft empfohlen, sich die Lektüre von Atwoods jüngstem Erzählband zu ersparen. ●

Roman Lange war es still um die Basler Autorin Jacqueline Moser. Nun legt sie ihren Zweitling vor und erzeugt mit ihrer schlichten Sprache einen ganz eigenen Sound

EineFrauhörtauf, Stehaufmännleinzusein

Jacqueline Moser: Ich wünsche, wir begegneten uns neu. Bilger, Zürich 2016. 365 Seiten, Fr. 35.90. Von Sandra Leis Damals war es eine kleine Sensation: Rainer Weiss, viele Jahre verantwortlich für die Programme im Hause Suhrkamp, gründete 2008 mit Weissbooks einen eigenen kleinen Verlag. Im ersten Programm war auch ein Buch aus der Schweiz dabei: Die Baslerin Jacqueline Moser (Jahrgang 1965) veröffentlichte mit «Lose Tage» ihr Debüt. Darin erzählte sie vom Leben eines Geschwisterpaares, das ohne Mutter aufwächst, und bezauberte mit einer verdichteten, sehr reduzierten Sprache. Publikum und Kritik waren angetan. Doch dann wurde es still um Jacqueline Moser. Verleger und Autorin konnten sich auf kein zweites Buch einigen, sie klopfte bei anderen Verlagen an und ist jetzt bei Ricco Bilger unter Vertrag. Hauptfigur von «Ich wünsche, wir begegneten uns neu» ist Ella: Sie ist Grafikerin und Künstlerin, gut vierzig Jahre alt und Mutter eines kleinen Sohnes. Soeben hat sie sich von ihrem zweiten Ehemann getrennt und ist mit Milo in eine anonyme Hochhaussiedlung gezogen. Dort sind die Tage lang und monoton. Ella verbarrikadiert sich, nimmt keine Aufträge mehr an und reduziert den Kontakt zu Familie und Freunden auf ein Minimum. Stattdessen macht sie ausgedehnte Spaziergänge am nahen Flussufer, sitzt auf ihrem Balkon und beobachtet Vögel. Selbst das Auspacken der Umzugskartons ist ihr zu viel. Ihre Kraft reicht knapp aus für den Buben, der im Kindergarten und oft auch daheim zu einem Störenfried geworden ist. Beispielsweise wenn er seinen Kopf auf den Balkon streckt und ohne Unterlass redet: «Ella kann ihm nicht folgen. Ihre Gedanken sind hartnäckig, sie lassen die Stimme des Jungen kaum dazwischen. Milo macht ihr eine lange Nase.» Vergleicht Ella ihre jetzige Situation mit früher, so kommt sie zur Einsicht, dass ihr Leben davor auch nicht «so viel interessanter» gewesen ist. Der dauernde Termindruck bei den Arbeiten und dazu der Druck der Freunde, die auch immer etwas von ihr forderten, haben ihr zugesetzt. Damit ist nun Schluss; endlos aber dreht das Gedankenkarussell seine Runden. Behauptungen wie «Du siehst Gespenster», «Du warst doch immer ein Stehaufmännlein» oder «Freundschaften muss man pflegen» schiessen ihr unaufhörlich durch den Kopf. Und immer wieder kreisen ihre Gedanken um Bernard, ihren Mann, den sie verlassen hat und von dem es heisst, er sei nie grob oder beleidigend gewesen. Es gebe nichts, was sie ihm vorwerfen

könne. Schliesslich verbietet Ella sich, weiter über Bernard nachzudenken, weil jeder Gedanke die Verwirrung nur noch grösser macht. Mit Momentaufnahmen, Rückblenden und klug gesetzten Leerstellen porträtiert Jacqueline Moser ihre Hauptfigur. Entstanden ist das Protokoll einer weiblichen Identitätskrise. Doch so trist die Situation ist, der Protagonistin ist ein dunkler, manchmal auch verschmitzter Humor eigen. Und der trägt dazu bei, dass die Lektüre trotz einiger inhaltlicher Längen und Wiederholungen eine lohnende ist. Ein beherztes Lektorat hätte aus diesem guten Buch ein sehr gutes gemacht. Denn die Autorin beherrscht die Kunst der sprachlichen Verknappung. Jacqueline Moser sagte einmal, sie möge

die einfache Sprache, weil sie niemanden ausschliesse und allen zugänglich sei. Ihr unaufgeregter und nüchterner Ton erzeugt einen ganz eigenen Sound, der fasziniert. Wie lange Ellas Lebenskrise dauert, bleibt offen. Doch am Ende des Romans eröffnen sich neue Perspektiven, und auf Bernards Frage, ob sie glücklich sei, meint sie: «Glücklich – was hätte ich darauf antworten sollen? Ja. Immer wieder einmal glücklich. Diese kleinen Momente im Alltag, zwischendurch, immer wieder.» Moser sind psychologische Analysen genauso fremd wie Urteile: Sie beobachtet ihre Figuren und hält präzise fest, was ist. Vielleicht gelingt ihr gerade deshalb eine ergreifende Tiefenzeichnung ihrer Hauptperson. ●

Arnold Odermatt Beschwingt in die Freizeit

Es waren die Jahrzehnte, in denen man mit Freizeit noch Ländlerkapellen verband, die Gute-Laune-Musik spielten und den Menschen das Gefühl gaben, dass die Welt in Ordnung sei. In Bewegung vielleicht, aber eher beschwingt als in voller Fahrt. Der Kalte Krieg war noch im Gange, die Globalisierung dämmerte noch nicht am Horizont. Was könnte diese Stimmung besser ausdrücken als die Nidwaldner Kapelle Remy Näpflin aus Beckenried in einer Lastentransportgondel der Seilbahn Oberstmühle-Untere Stöckmatt: Urchiger, betulicher konnte sich die ländliche Schweiz kaum darstellen. Arnold Odermatt hat diese Szene wie viele andere festgehalten

und auf dem Dachboden versorgt. Er war Fotograf der Nidwaldner Kantonspolizei und wurde als deren Vizekommandant 1990 pensioniert. Eine eigentliche Ausbildung hatte er nicht, er erwarb sich seine Fertigkeiten durch die Anforderungen des Dienstes – und gewann daraus einen eigenen Blick auf seine Zeit. Sein Sohn Urs, Regisseur für Film und Theater, hat die Aufnahmen hervorgeholt und darin das Porträt eines Landes mit feinen Rissen entdeckt. «Feierabend» ist bereits der vierte Band aus dem Archiv des Vaters. Gerhard Mack Arnold Odermatt: Feierabend, hrsg. v. Urs Odermatt. Steidl, Göttingen 2016. 348 Seiten, 375 Abb., Fr. 94.90. 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

Belletristik

Autobiografie In «Halt auf Verlangen», das er ein «Fahrtenbuch» nennt, zieht der Erzähler Urs Faes auf eindrückliche Weise die Summe aus Leben und Werk

Unterwegs mit unbestimmtem Ziel Urs Faes: Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch. Suhrkamp, Berlin 2017. 200 Seiten, Fr. 28.90. Von Charles Linsmayer «Wie einer, der barfuss geht und mit nackter Hand schreibt», kommt er sich vor, der «Fahrtenschreiber durch Zeit und Dunkelheit», der mit dem Tram von Zürich Aussersihl auf den Hügel mit den Spezialkliniken fährt, vierzigmal hin, vierzigmal her, um sich in vierzig Sitzungen jene Höchstdosis in den Unterleib applizieren zu lassen, die – vielleicht – sein Leben retten wird. In einem Schulheft beschreibt er, was er erlebt, aber auch, woran er sich erinnert: die frühen Fahrten mit dem Vater, der Tramführer war, die ersten literarischen Versuche, Liebesbegegnungen aller Art. Und natürlich spiegelt sich auch die Krebstherapie in dem Heft: das «Kommen Sie!» der Assistentin, ihr «Vorbei!» und das Drum und Dran der vielfachen Hadesfahrt in den Keller der Klinik. Den Roman «Paarbildung», die Wiederbegeg-

nung eines Therapeuten mit seiner inzwischen an Krebs erkrankten ehemaligen Geliebten, hat 2010 «einer geschrieben, den es nicht getroffen hatte. Noch nicht. Aber nun ging es ihn an: Er erzählte nicht, es war seine Diagnose, seine Krankengeschichte, nicht mehr Fiktion, sondern Realität, seine Realität.» Wer in Urs Faes’ «Fahrtenbuch» eine larmoyante Selbstbetrauerung vermutet, sieht sich allerdings bald eines Besseren belehrt. Hier nutzt ein Autor auf der Höhe seines Könnens einen erzwungenen Halt, um wie in einer vielstimmigen Coda nochmals die Themen und Figuren seines Werks vorzuführen und angesichts der Unwägbarkeit der Situation in ein finales Inventar einzubringen.

Frauenparade im Tram

Silaski, der Lektor, warnt ihn, dass «Erinnerung überhöht», gesteht ihm aber auch zu: «Alles ist autobiografisch…» Und so erinnert sich der Erzähler in aller Nüchternheit nochmals an das, was in Romanen wie «Sommerwende», «Und Ruth», «Augenblicke im Paradies» und «Liebesarchiv» dargestellt ist: die Kind-

heit im ländlichen Krämerladen mit dem kranken Vater und dem behinderten Bruder, die ersten Schreibversuche und die meist melancholisch endenden Liebesversuche aus einem existenziellen, nun in Frage gestellten Begehren: «Wer nicht liebt, lebt nicht, und Du?» Ganz bewusst evoziert der Roman zu Beginn eine lange nachklingende leidenschaftliche Liebesnacht mit der ausgelassenen, fröhlichen Simone. Und während der Tramfahrten tauchen vor dem inneren Auge des Chronisten all die Frauen wieder auf, die sein Leben geteilt, seine Geschichten alimentiert haben: Mile, die Schülerliebe, deren grosse Augen ihm unverhüllt in Erinnerung geblieben sind – und auf die sich vordergründig denn auch der Buchtitel bezieht, hätte der Junge doch aus Verlangen nach Mile, die da wohnte, das väterliche Tram liebend gern auch in Thalheim Nord anhalten lassen. Dazu kommen Meret, die wiedergefundene Studentenliebe aus «Paarbildung», Ruth, die Titelfigur aus dem Internatsroman «Und Ruth», Anna aus «Webfehler», Simone aus «Als hätte die Stille Türen» und Claudine, die verlorene

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Der neue Roman von

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Martin Suter »Vor ihm lag ein perfekt geformter Elefant. Keine zwanzig Zentimeter hoch. Er war pink. Und ein heiliger Schein ging von ihm aus.« Ein Roman über die ungeheuerlichen Möglichkeiten der Wissenschaft und über ein kleines Wunder in einer Welt, in der alles machbar scheint.

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Diogenes 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

Freundin aus «Paris. Eine Liebe». Und jedes Mal geht es um den Abschied, den Verlust von Unwiederbringlichem. Am erschütterndsten vielleicht in den Szenen, die einer gewissen Iris gewidmet sind, einer Frau, die in keinem Roman vorkommt, deren Weggehen aber unmittelbar mit der für sie unerträglich gewordenen Krankheit des Chronisten zusammenhängt, dem sie zu verstehen gibt: «Es ist besser, wenn du jetzt gehst.» «Halt auf Verlangen» ist nicht nur ein Buch des Begehrens und seiner Gefährdung, es ist in vielerlei Facetten auch ein richtiges Fahrtenbuch durch die Stadt Zürich und gerade in dieser Hinsicht auch wieder ein Buch über das Schreiben – die Chronik eines Fahrtenschreibers, «der noch da war, wenn auch nur in Worten, an denen er ging wie an Krückstöcken». Nicht zuletzt ermöglicht die Konstellation des Unterwegsseins mit unbestimmtem Ziel auch die abgründige Poetologie, die im Gespräch mit dem Lektor Silaski entwickelt wird und die in das folgende, das Autobiografische wieder zurücknehmende Konzept mündet: «Erzähle von einem, der du auch sein könntest, der aus der alltäglichen Fassung geraten, ein wenig neben den Schuhen ist.»

CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

Kurzkritiken Belletristik

«Halt auf Verlangen» ist unter anderem auch ein «Fahrtenbuch» durch die Stadt Zürich.

Lisa Elsässer: Fremdgehen. Rotpunkt, 2016. 192 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 21.50.

Petros Markaris: Der Tod des Odysseus. Deutsch von M. Prinzinger. Diogenes, 2016. 214 S., Fr. 31.90, E-Book 24.50.

Wir schätzen Lisa Elsässer seit vielen Jahren als sensible Lyrikerin und lakonische Erzählerin. Geduldig treibt die 1951 im Kanton Uri geborene, in Walenstadt wohnhafte Autorin ihr Werk voran, ohne auf den kommerziellen Erfolg zu schielen. Nun legt sie ihren ersten Roman vor. Er ist erwartungsgemäss ein stilles, aber auch eindringliches Buch. Ein Mann und eine Frau, die seit Jahren in festen Beziehungen leben, lernen sich auf einer literarischen Tagung kennen. Mails setzen die flüchtige Begegnung fort und stürzen sowohl die Buchhändlerin Julia als auch den Übersetzer Lino in Liebesnöte. Die Fernliebe erlaubt nur wenige Begegnungen. Missverständnisse lauern in jedem geschriebenen Wort. Eifersüchte spielen dagegen fast keine Rolle. Man ist modern, weich, tolerant. Lisa Elsässer liefert keinen klassischen Ehebruch-Roman. Dramatik sucht man vergeblich. Auch hier zählt das Poetische. Das aber trägt. Gundula Ludwig

Der griechische Autor Petros Markaris ist ein Mirakel. Mit jugendlicher Spannkraft tritt uns der bald 80-Jährige, in Istanbul geborene Erzähler, der Autoren wie Goethe und Brecht ins Neugriechische übertragen hat, entgegen. Berühmt geworden ist er mit seinen zahlreichen süffigen Krimis um den Ermittler Kostas Charitos. Neun Bände der Serie liegen auf Deutsch vor. Man darf diesen engagierten Intellektuellen indes nicht auf die Rolle des Lieferanten spannender Konfektion reduzieren. Gewiss: Dieses Genre meistert er – aber er entwickelt es auch weiter. Zudem zeigt er in seinen Erzählungen und Essays noch ganz andere Facetten. Zum Beispiel hier: Die sieben neuen Geschichten des Altmeisters bewegen. In der Titelerzählung geht es um einen alten Bettwarenhändler namens Odysseus, der seine Katzen ins Tierheim gibt, Athen verlässt und seinen Lebensabend in Istanbul verbringt. Packend!

Urs Martin Strub: Aufgehobene Zeit. Hundert Gedichte. Edition Howeg, 2016. 190 Seiten, Fr. 38.–.

Han Kang: Die Vegetarierin. Deutsch von Ki-Hyang Lee. Aufbau, 2016. 192 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 19.50.

Der gebürtige Oltener Urs Martin Strub (1910–2000) war von Beruf Psychiater. Nach Stationen im Burghölzli und in der Rheinau war er von 1947 bis 1963 Chefarzt am Sanatorium Kilchberg. Sein Leben lang schrieb er in seinen Mussestunden Lyrik. Sieben Gedichtbände hat er zwischen 1930 und 1990 herausgegeben. Sie zeigen ihn als formstrengen, an der Tradition orientierten Dichter, der aber auch in freien Formen auf die Zeitgeschichte reagieren konnte. Gedankentiefe zeichnet Strubs Texte aus. Ihre Nähe zur Mystik verleugnen sie nicht. Charles Linsmayer und Gerhard Piniel haben es unternommen, das Beste aus dem Werk dieses dichtenden Seelenarztes auszuwählen. Holzschnitte von JeanJacques Volz, die für Strubs Schaffen eine ähnliche Bedeutung haben wie die Arbeiten von Heinz Egger für die Bücher von Klaus Merz, begleiten den Band.

Anders als der Titel vermuten lässt, ist dieser Roman keine leichte Kost: Die gebürtige Südkoreanerin Han Kang erzählt, wie eine Frau schrittweise das Essen aufgibt. Mit einem gefühlskalten Mann verheiratet, stellt sie eines Tages urplötzlich den Fleischkonsum ein. Als ihr Vater, ein Kriegsveteran, der Frau eine fleischbeladene Gabel in den Mund zwingt, schneidet sie sich die Pulsadern auf und versucht danach zunehmend konsequenter, zur Pflanze zu werden – sprich von Licht und Wasser und ohne das Auslöschen und Aufnehmen fremder Existenzen zu leben. Das zumindest ist die Interpretation, die sich die Leserin aus den drei ineinander verzahnten Buchteilen zusammensetzt. Han Kang selbst deutet nichts, sondern schildert nur in schnörkelloser Prosa brillant und eindringlich den körperlichen Verfall eines Menschen, der aller Gewalt zu entkommen sucht.

Manfred Papst

Leben ist närrisches Hoffen

Bei aller Leichtigkeit und Ironie – mit der in der Stadt ausgebrochenen Lese-Epidemie zeitigt die Erzählung sogar eine surreal-visionäre, groteske Satire – ist aber der Tod gleichwohl nicht ausgeblendet. Silaski spricht – unbedacht! – davon, dass der Einzelne «von Hoffnungen genarrt, dem Tod entgegentanzt», und das Thema Abschied ist am Ende, obwohl der Patient als geheilt entlassen wird, doch so bedeutungsschwer, dass nichts es endgültig aufzuhellen vermag. Im Roman selbst wird eine Spur zu Gottfried Kellers «Landvogt von Greifensee» gelegt, wo die Titelgestalt die früheren Geliebten zum Treffen einlädt. Der Bezug weist allerdings kaum über das Anekdotische hinaus. Wenn Urs Faes’ «Fahrtenbuch» mit anderen Werken in eine Reihe gestellt werden soll, dann unbedingt mit Hugo Loetschers «War meine Zeit meine Zeit» (2009) und Urs Widmers «Reise an den Rand des Universums» (2013), zwei Romanen, in denen auf ebenso eindrückliche Weise die Summe aus einem Leben und Werk gezogen wird. ●

Manfred Papst

Claudia Mäder

29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11

Essay

Die Russischen Revolutionen jähren sich heuer zum 100. Mal. Grund zum Feiern ist das nicht: Anstatt das Land auf einen neuen Weg zu führen, haben die Bolschewiki es innert kürzester Zeit zurück in die alten autokratischen Strukturen manövriert. Von Carsten Goehrke

Wardaetwas?

«Wir haben versucht, alles anders zu machen, aber schliesslich kam es heraus wie immer.» Diese resignierte Bilanz eines russischen Reformers der Jelzinjahre könnte als Motto über dem Rückblick auf die Oktoberrevolution stehen, die sich nunmehr zum hundertsten Mal jährt. Aber dieses Motto könnte ebenso sehr auch allen Versuchen gelten, welche die Entwicklung Russlands auf ein neues Gleis schieben wollten – von Zar Peter dem Grossen (1672–1725) bis hin zu Boris Jelzin. Zunächst daher ein kurzer Blick auf die Reformversuche, die den Revolutionen von 1917 vorangingen. Seit Iwan «dem Schrecklichen» (1547–1584) war das Russländische Zarenreich zu einem politischen System geworden, in welchem ein mit nahezu absoluter Macht ausgestatteter autokratischer Zar im Bunde mit dem Adel, der orthodoxen Kirche und der allmählich sich entfaltenden Staatsbürokratie die gesamte Gesellschaft vom Bauern bis zum Kaufmann den fiskalischen und Machtinteressen des Staates dienstbar machte. Daraus erwuchs eine sozialökonomische Immobilität, die Russland im machtpolitischen und wirtschaftlichen Umfeld Europas stets aufs Neue ins Hintertreffen brachte. Selbst der als «Reformzar» gefeierte Kaiser Alexander II. (1855–1881) schreckte vor dem – aus heutiger Sicht entscheidenden – Schritt zurück: ein Reichsparlament einzuberufen und das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln. Dabei ging vergessen, dass Gesellschaft und Wirtschaft Russlands sich mittlerweile in einem beschleunigten Wandel befanden. Es entstand

Revolutionsjahr 1917 Vor 100 Jahren kam es in Russland in kurzer Folge zu zwei Revolutionen: Zunächst brachte die Februarrevolution (nach gregorianischem Kalender brach dieselbe am 8. März aus) das Ende der Zarenherrschaft, und im Oktober (respektive Anfang November) übernahmen die Bolschewiki gewaltsam die Macht. Anlässlich des Jubiläums erscheinen dieses Frühjahr zahlreiche neue Bücher, die das Thema aus unterschiedlichen Warten beleuchten und kürzere oder längere Zeiträume in den Blick und lokale oder globale Perspekiven einnehmen. So etwa: • Thomas Lindenberger et al. (Hrsg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. (Ch. Links, Februar 2017). • Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. (S. Fischer, März 2017). • Stephen Smith: Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Krise, 1890–1928. (Philipp von Zabern, Mai 2017). Das Landesmuseum Zürich stellt die Beziehungen zur Schweiz ins Zentrum und zeigt ab dem 24. Februar die Ausstellung «1917 Revolution. Russland und die Schweiz.»

eine westeuropäisch geprägte Bildungsschicht, deren junge Angehörige nach politischer Mitsprache drängten; in den wenigen neuen Industriezentren wuchs eine Arbeiterschaft heran, die ihre erbärmlichen Lebensbedingungen verbessern wollte; und die Unternehmer verlangten eine Liberalisierung der Wirtschaft. Da der Staat den Dialog mit all diesen gesellschaftlichen Kräften verweigerte, provozierte er die Entstehung einer liberalen Opposition und einer revolutionären Bewegung. Als 1905 der RussischJapanische Krieg schmählich verloren ging, nutzten die revolutionären Kräfte diesen Prestigeverlust der Autokratie und wagten den Aufstand. Diese «Revolution von 1905» vermochte das Regime nur mit äusserster Mühe niederzuschlagen. Doch selbst jetzt noch war es nicht bereit, daraus die notwendigen politischen Konsequenzen zu ziehen.

Einmalige Chance

Trotz seiner Schwächen wagte es das Zarenregime, sich 1914 am Ersten Weltkrieg zu beteiligen, weil es glaubte, im Bunde mit Grossbritannien und Frankreich unbesiegbar zu sein. Als der Krieg sich aber hinzog, kamen die wirtschaftlichen Schwächen des Landes und die Inkompetenz seiner Herrschaftselite erneut zum Vorschein. Militärische Misserfolge und zunehmende Versorgungsschwierigkeiten schürten die allgemeine Unzufriedenheit. Die Regierung versuchte, Streiks und Demonstrationszüge gewaltsam niederzuschlagen, doch am 26. und 27. Februar 1917 verweigerte die Armee den Gehorsam. Mit dem Verlust seiner Machtmittel war das Regime am Ende. Die erste Revolution des Jahres 1917 war geboren, die «Februarrevolution». Nach der Februarrevolution lag die Macht auf der Strasse – eine einmalige Chance, um die überkommenen politischen Strukturen aufzubrechen und Russland entweder in eine parlamentarische Republik (so das Konzept der Liberalen) oder in eine föderative, demokratisch fundierte Räterepublik umzuwandeln (so die ansonsten divergierenden Konzepte der Linksparteien). Warum kam es aber ganz anders? Zum ersten etablierte sich nach dem Sturz des autokratischen Systems eine völlig ineffiziente Doppelherrschaft; sie wurde einerseits repräsentiert durch eine aus dem letzten Parlament hervorgegangene «Provisorische Regierung», die durch Wahlen jedoch nicht legitimiert war, und andererseits durch den Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, welcher der

Regierung mit äusserstem Misstrauen begegnete. Zum zweiten verblieb Russland dem Widerwillen der Massen zum Trotz weiterhin im Krieg. Zum dritten brachen im Lande Recht und Ordnung zunehmend zusammen, gab es Putschversuche von rechts wie links, breiteten sich chaotische Verhältnisse aus. Diese Situation nutzte Lenin als charismatischer Führer der Bolschewiki, um mit drei eingängigen Parolen die Werktätigen für seine Partei zu gewinnen: Sofortiger Friede! Alle Macht den Räten! Alles Land den Bauern! Damit gelang es ihm seit dem Spätsommer 1917, die gemässigten Linksparteien auszumanövrieren, die sich durch ihren Eintritt in die Provisorische Regierung selber die Hände gebunden hatten. Lenin und sein Mitstreiter Leo Trotzki ergriffen ihre Chance, und die Bolschewiki übernahmen in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober (6./7. November neuen Stils) ohne grösseren Widerstand in der Hauptstadt die Macht. Im Laufe der folgenden Wochen und Monate vermochten sie diese Machtposition kraft Lenins eingängiger Parolen auf die meisten Städte und Eisenbahnknotenpunkte des Landes auszuweiten, ohne dass sie über grössere militärische Machtmittel verfügt hätten. Die Regierung war hilflos, denn der Petrograder Rat hatte ihr schon früh den Zugriff auf die Armee entzogen. Dass die Wahlen zu einer Verfassunggebenden Nationalversammlung, welche die Provisorische Regierung noch vor ihrem Sturz anberaumt hatte, im November 1917 den Bolschewiki nur ein Viertel der Stimmen einbrachten, änderte an dieser Situation nichts mehr, denn als die Konstituante im Januar 1918 zusammentreten wollte, liess Lenin sie zersprengen.

Mehr Zentralisierung denn je

Erst seit dem Frühjahr 1918 begann sich der antibolschewistische Widerstand zu regen. Wenn in dem mit äusserster Brutalität ausgetragenen Bürgerkrieg zwischen Rot und Weiss die Bolschewiki schliesslich den Sieg davontrugen, dann vor allem, weil sie für Lenins schlagkräftige Parolen fochten, als diese noch nicht durch die spätere Praxis diskreditiert waren. Die Gegenseite hingegen – wegen ihrer Unterstützung durch ausländische Interventionstruppen als angebliche Marionetten der Alliierten diskreditiert – geriet mehr und mehr in autoritäres Fahrwasser und setzte sich dem Verdacht aus, die vorrevolutionären Strukturen wiederherstellen zu wollen. Lenin war sich dessen bewusst, dass die Macht der Bolschewiki sowohl von innen wie von aussen gefährdet blieb. Das westliche Ausland war alarmiert. Man befürchtete, dass Sowjetrussland mittels der überall entstehenden kommunistischen Parteien seine Revolution in alle Welt exportieren würde. Doch allgemeine Kriegsmüdigkeit, die wirtschaftlichen Probleme und inneren Konflikte, die nach dem Ersten Weltkrieg in den westlichen Demokratien



12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

«Lenin gewann die Werktätigen mit eingängigen Parolen: Sofortiger Friede! Alle Macht den Räten! Alles Land den Bauern!»

AKG-IMAGES

Propagandaplakat der Bolschewiki , das die Arbeiter zum Sprengen ihrer Fesseln aufruft. 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13

Essay aufbrachen, verhinderten einen Krieg gegen die Sowjetunion. Was die Gefährdung im Inneren betraf, so war die KPdSU wegen der anfänglich noch zahlenmässigen Schwäche ihrer sozialen Basis – der Arbeiterschaft – auf Duldung durch die Bauern angewiesen, die sie eigentlich als Klassenfeinde betrachtete. Daher sah Lenin nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: die Staatsmacht hinter der Hülle eines föderativen Staates strikt zu zentralisieren sowie das ursprünglich basisdemokratische Rätesystem in der Hand der Parteiführung zu monopolisieren, damit aber in sein Gegenteil zu verkehren – als blosse Fassade einer «Vertikale der Macht». Zudem entstand ein Polizeistaat, der den des Zarenreiches weit in den Schatten stellte. Stalin blieb es vorbehalten, die letzte von den drei Parolen Lenins, die zum Sieg der Bolschewiki 1917 beigetragen hatten, zu diskreditieren, als er 1929 die Landwirtschaft kollektivieren liess. Zu diesem Zeitpunkt sass die Sowjetmacht schon so fest im Sattel, dass sie den Widerstand der Bauern gnadenlos brechen konnte. Damit waren die Bolschewiki entgegen ihren ursprünglichen Versprechungen zu den politischen Strukturen zurückgekehrt, gegen die sie während der Zarenzeit selber gekämpft hatten.

Alle Macht den Eliten

Stalin, hier auf einem Fahndungsfoto um ca. 1900, wird in Putins Russland wieder salonfähig.

Ich ziehe Bilanz. Allen Versuchen, Russland aus der Sackgasse seiner traditionalen Strukturen zu befreien – von den vorsichtigen Reformen Peters des Grossen bis hin zum sowjetischen Staatsund Gesellschaftsmodell –, ist eines gemeinsam: Sie wurden von oben aufgepfropft und blieben daher Stückwerk. Hauptsorge sowohl des Zarenals auch des Sowjetregimes war es, mit polizeistaatlichen Mitteln die Macht der herrschenden Elite zu sichern und «das Volk» politisch unmündig zu halten. Dies war aber nur deshalb möglich, weil eine Zivilgesellschaft als Korrektiv erst spät und nur ansatzweise entstand, in sowjetischer Zeit wieder verschwand und sich erst seit den sechziger Jahren neu zu regen begann. Als nach dem Ende der Sowjetunion Boris Jelzin die überkommenen Kontrollmechanismen weitgehend ausser Kraft setzte, brach erneut ein Chaos aus, das die neuen Prinzipien von Demokratie und Marktwirtschaft diskreditierte. Die Zivilgesellschaft erwies sich als zu schwach, um

«Die Massen verlangten nach einer Führerpersönlichkeit, welche die Ordnung wiederherstellte. So kam Wladimir Putin an die Macht.»

dieses Vakuum zu füllen. Daher verlangten die traditionell ohnehin auf ein «Väterchen» an der Staatsspitze fixierten Massen nach einer Führerpersönlichkeit, welche die Ordnung wiederherstellte. So kam Wladimir Putin an die Macht, und mit ihm das Wiederaufleben der altbekannten politischen Strukturen.

Zarenpomp und Sowjetstärke

Wie der 100. Geburtstag der Oktoberrevolution im November gefeiert werden wird, und welchen Stellenwert das Putinregime diesem revolutionären Umbruch im Rahmen seiner Deutung der russischen Geschichte zuweisen wird, ist noch unklar. Schwerlich wird er die zentrale Rolle spielen wie in der Sowjetzeit, denn das gegenwärtige Regime versteht sich nicht als marxistisch. Aber dass 1917 Weltgeschichte geschrieben wurde, bietet genügend Anlass, um Russlands internationale Bedeutung erneut zu betonen und zugleich die sozialen Errungenschaften der Revolution zu feiern. Um das Regime zu legitimieren, das Wladimir Putin verkörpert, knüpft er jedoch lieber an Glanz und Gloria der Zarenzeit an. Damit hat schon sein Vorgänger Boris Jelzin begonnen, als er die Kremlwachen in Uniformen aus der Zeit des «Vaterländischen Krieges» von 1812/13 gegen Napoleon einkleiden liess, den Zarenadler als Staatssymbol aus der Versenkung holte und die prunkvollen Kremlsäle

für öffentliche Auftritte nutzte. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass unter Putin die Erinnerung an Stalin, der in grossen Teilen der Bevölkerung immer noch eine gewisse Verehrung geniesst, zunehmend wieder salonfähig zu werden beginnt. Dabei ist man geneigt, seine Untaten zu verdrängen und stattdessen hervorzuheben, dass er mit dem opferreichen Sieg über Hitlerdeutschland im Jahre 1945 die Sowjetunion zu einer gefürchteten Weltmacht erhoben hat. Zwischen den beiden Polen russischer Weltgeltung – der Zarenzeit und der Sowjetzeit nach 1945 – erscheinen die Oktoberrevolution und die von Entbehrungen, Terror und der Rolle eines internationalen Paria gekennzeichnete Zwischenkriegszeit der Sowjetunion als eine zwar notwendige, aber wenig glanzvolle Episode. Man darf gespannt sein, wie das offizielle Erinnern an das Hundertjahrjubiläum der Oktoberrevolution sich einfügen wird in Wladimir Putins Konzept eines russischen Machtstaates von Weltgeltung, bei dem die historische Kontinuität zählt, und nicht die Diskontinuität. ●

Carsten Goehrke (* 1937) war von 1971 bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Zuletzt von ihm erschienen: Lebenswelten Sibiriens. Aus Natur und Geschichte des Jenissei-Stromlandes. (Chronos, Zürich 2016).

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Kolumne

Charles LewinskysZitatenlese

LUKAS MAEDER

Die, die unten sind, wollen nach oben, die, die oben sind, wollen oben bleiben, und so oder so endet es immer damit, dass man sich ins Gesicht spuckt oder tritt.

Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Andersen» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen.

Kurzkritiken Sachbuch Helga F. mit Sabine Weigand: Helga. Mein Weg vom Mann zur Frau. S. Fischer, 2016. 285 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 18.50.

Bernd Brunner: Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit. Galiani, 2016. 240 Seiten, Fr. 23.90.

Hermann kommt 1931 als «lediges Kind» in Nürnberg zur Welt und wächst bei grausamen Pflegeeltern auf. Man ist bitterarm, es ist Krieg, das Kind hungert und wird täglich geprügelt. Und doch quält den Jungen etwas ganz anderes, das noch viel schlimmer ist: Er möchte halt einfach «das blöde Zipfelchen net haben». Später wird er heiraten, selbst zwei Buben bekommen, in der Wirtschaftswunderzeit endlich Geld verdienen – doch «des verdammte Zeug in mir drin» zerstört sein Leben. Bis 1971 eine Operation in Casablanca den Hermann zur Helga macht – womit ein Leben als Frau beginnt, das dann allerdings kaum weniger turbulent verläuft. Wie Hermann-Helga in fränkischer Dialektfärbung von ihrem langen Leben erzählt, von der Historikerin Sabine Weigand aufgezeichnet, ist ergreifend und erst noch bewundernswert. Humorvoll, lebensklug, ehrlich und zutiefst menschlich.

Hundslappadrífa – ein Wort wie ein Wintertraum: Die Isländer verwenden es, um den Niedergang von dicken Flocken bei ruhigem Wetter zu bezeichnen. Gemeinhin gelten zwar die Inuit als der Volksstamm mit den meisten Wörtern für den Schnee. Aber ob das stimmt, ist mit Blick auf das isländische Wintervokabular ungewiss. Sicher ist jedoch, dass der Schnee genügend Facetten hat, um ein ganzes Buch zu füllen. Die Kulturgeschichte des Winters, die Bernd Brunner verfasst hat, geht indes nicht nur dem Schnee, sondern allen Aspekten der (ehemals) kalten Jahreszeit nach. Von Tieren im Winterschlaf und solchen, die sich wie die Schneeschuhhasen mit der weissen Saison arrangiert haben, liest man ebenso wie von den Menschen, die jahrhundertelang unter der Kälte litten, ehe sie, auch dank besserer Heizsysteme, begannen, die winterliche Ruhe zu romantisieren. Lektüre für den Cheminée-Abend.

Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. Hrsg. von Insa Wilke. S. Fischer, 2016. 64 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 11.50.

Michael Tsokos: Sind Tote immer leichenblass? Droemer, 2016. 192 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 14.50.

«Wer wir waren» sollte sein neues Buch heissen, aber als der im Februar letzten Jahres verstorbene Roger Willemsen von seiner Krankheit erfuhr, hörte er auf, daran zu arbeiten. In seiner letzten öffentlichen Rede im Juli 2015 hatte er gerade noch die ersten Ideen zum Buch skizziert – nun ist dieser Redetext sein letzter geblieben. Willemsen – Autor und Kritiker, hierzulande als lebhafter «Literaturclub»-Teilnehmer in bester Erinnerung – unternimmt darin eine Diagnose unserer Gegenwart aus dem Blickwinkel von fassungslosen Nachgeborenen: Wie nur konnten wir so indifferent, so verzettelt und gehetzt leben, «unrettbar in der Kapitulation» vor den grossen Aufgaben der Zeit verloren. Ein anspruchsvolles, überraschend pessimistisch getöntes Vermächtnis von einem, den wir als sprühend vitalen Beobachter seiner Zeit in Erinnerung haben.

Im Alltag so gut wie unsichtbar, hat der tote Körper im Fernsehen seit Jahren Hochkonjunktur. Etwa im sonntäglichen Tatort auf dem Tisch eines skurrilen Gerichtsmediziners oder als Beweisstück in amerikanischen Serien, in denen Forensiker zugleich Verbrecherjäger sind und die Täter anhand von Laborergebnissen überführen. Mit der Realität hat dies freilich wenig zu tun. Der deutsche Rechtsmediziner Michael Tsokos räumt in seinem Buch mit Klischees rund um die Gerichtsmedizin und tote Körper auf. Er entlarvt Mythen und gibt auf unterhaltsame Weise Einblick in sein Berufsfeld. So erfahren wir zum Beispiel, was der Unterschied zwischen einem Pathologen und einem Rechtsmediziner ist, warum Angehörige von Verstorbenen jene nicht im Leichenschauhaus identifizieren oder wieso Leichen eben meistens nicht blass sind.

Elena Ferrante (Eine Rangliste der fünfhundert wichtigsten Intellektuellen ist zwar völliger Unsinn. Die Zeitschrift «Cicero» hat sie trotzdem publiziert.) Herr Lewinsky, Sie sind nun also der vierhundertsiebenundfünfzigstwichtigste Intellektuelle deutscher Sprache… Der vierhundertsechsundfünfzigste! Haben Sie nicht gesehen, wie ich Elisabeth Bronfen im Endspurt noch überholt habe? Im Gedränge vor der Ziellinie war das schwer zu erkennen. Gedränge? Was manche Kollegen da angestellt haben, war schon Rempelei. Eindeutig regelwidrig. Aber die Schiedsrichter haben ja Tomaten auf den Augen. Sie meinen: Wenn es nach den Regeln gegangen wäre, hätten Sie eine bessere Platzierung erreicht? Vierhundertfünfundfünfzig, mindestens. Wenn nicht vierhundertvierundfünfzig. Aber den Platz hat sich ja Judith Schalansky ertrickst. Was sagen Sie zu Ihrem eigenen, doch recht schwachen Abschneiden? Schwach? Ich muss doch sehr bitten! Immerhin habe ich es – im Gegensatz zu einem Haufen Kollegen, die ich nicht nennen will – bis in die Liste geschafft. Nicht jeder hat in seinem Kleiderschrank ein T-Shirt mit der Aufschrift «Einer von 500»! Aber aufs Siegerpodest sind Sie nicht gekommen. Noch nicht einmal in die Nähe des Seriensiegers Martin Walser. So etwas wie Eifersucht kenne ich nicht und will deshalb auch niemanden verdächtigen – aber hat mal jemand eine Urinprobe von Walser gesehen? Hä? Sie meinen … Doping? Der Mann wird dieses Jahr neunzig! Da fragt man sich schon, wie er ohne Hilfsmittel… Aber ich will nichts gesagt haben. Und Peter Sloterdijk auf dem zweiten Platz? Wie gesagt, ich gönne jedem seinen Erfolg. Aber dieser Name… Sein Vater soll ja Holländer sein. Warum wird so jemand überhaupt zugelassen? Auf dem dritten Rang ist Peter Handke. Ein lieber Kollege. Wirklich ein sehr lieber Kollege. Und an den Gerüchten, dass er beim Vordenken heimlich Wikipedia benutzt haben soll, ist bestimmt nichts dran. Sie meinen, dass Handke…? Nein, natürlich nicht. Ich sage nur: Es gibt Gerüchte. An die ich natürlich nicht glaube. Denn so etwas wie Eifersucht – das kennen wir Intellektuellen überhaupt nicht.

Kathrin Meier-Rust

Kathrin Meier-Rust

Claudia Mäder

Simone Karpf

29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Sachbuch Geschichte Die Geschichte Roms sei eine einzige Baustelle, befindet die englische Althistorikerin Mary Beard. Das Wissen über das antike Imperium ist sehr gering – zu berichten aber gibt es unendlich viel. Das zeigen auch die neuen Bücher von Tom Holland und John Williams

RömischeRätsel

Mary Beard: SPQR. Die tausendjährige Geschichte Roms. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2016. 651 S., Fr. 39.90, E-Book 27.50. Tom Holland: Dynastie. Glanz und Elend der römischen Kaiser von Augustus bis Nero. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 508 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 30.90. John Williams: Augustus. Dtv, München 2016. 475 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 21.90. Von Kathrin Meier-Rust Gleich zwei gewichtige englische Autoren legen zurzeit neue Bücher zur Geschichte Roms vor: Zum einen Mary Beard, Althistorikerin der Universität Cambridge und in Grossbritannien als Autorin von TV-Serien und Kolumnen eine öffentliche Instanz. Mit «SPQR» – will heissen Senatus Populusque Romanus (Senat und Volk von Rom, ein bis heute benutztes Kürzel) – legt die renommierte Historikerin eine Art Summa ihrer lebenslangen Beschäftigung mit der römischen Geschichte vor. Zum anderen der Bestsellerautor Tom Holland. Zwar hat Holland einen Bachelor in Geschichte der Universität Cambridge, er verwandelte aber dann schon seine geplante Dissertation über Lord Byron in einen Roman mit dem Titel «Vampir». Nach weiteren Romanen erfand er das Genre, das ihn zum Markennamen werden liess: Er schreibt als Schriftsteller populäre historische Sachbücher. Ob es um die Perserkriege der alten Griechen oder um das Jahr 1000 a.D. geht – seine Geschichtsdarstellungen sind allesamt Bestseller geworden und selbst skeptische Fachhistoriker konzedieren, dass Hollands Fakten «stimmen». Mit «Dynastie» über das julisch-claudische Kaiserhaus – also über die fünf ersten römischen Kaiser Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero – schliesst der Autor inhaltlich direkt an sein hochgelobtes Werk «Rubi16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

kon» (deutsch 2004) an, in welchem er den Untergang der römischen Republik schilderte. Die beiden neuen Rom-Bücher haben einiges gemeinsam. Beide sind bei grosser historischer Sorgfalt vorzüglich lesbar geschrieben, beide bieten einen ergiebigen Illustrationsteil. Und kurioserweise beginnen auch beide Autoren ihre Erzählung in der Mitte der Geschehnisse: Beard im Jahr 63 v.Chr. mit der Verschwörung des Catilina, Holland im Jahr 40 n.Chr. mit Kaiser Caligula, der seine Legionäre am Ärmelkanal Muscheln sammeln lässt, eine rätselhafte Episode, die von jeher als Beweis für die Verrücktheit dieses Kaisers diente.

Erfolgsrezept: Integration

Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Schon im Vorwort betont Mary Beard, wie dramatisch sich die wissenschaftliche Sicht auf die römische Geschichte in den letzten Jahrzehnten verändert habe: Sowohl archäologische Funde als auch wachsende Quellenskepsis haben liebgewordene Gewissheiten und Urteile nachhaltig erschüttert. Gegenwärtig sei die römische Geschichte deshalb eine einzige «Baustelle», schreibt Beard. Immer wieder betont sie die Grenze zwischen Legende und historischer Gewissheit, zwischen altem Scheinwissen und neuen Zweifeln. Die gesamte Frühgeschichte Roms, die Königszeit, die Entstehung der Republik und der römischen Institutionen, nennt Beard eine einzige «Geschichte von Mythen», aus der wir zwar viel über die Ängste und Hoffnungen der Römer lernen können, aber sehr wenig über die tatsächlichen historischen Ereignisse. Auch für spätere, ungleich besser dokumentierte Zeiten, ruft Mary Beard bei jeder Gelegenheit in Erinnerung, wie spärlich unser gesichertes Wissen ist: Gab es wirklich eine Verschwörung des Catilina, wo wir doch einzig die Version

seines Gegenspielers Cicero kennen? Waren die «Muscheln», die der verrückte Caligula sammeln liess, vielleicht nicht doch Schwemmholz? War Caligula überhaupt verrückt? Selbst die Christenverfolgung unter Nero bezweifelt die heutige Forschung. Und doch beschenkt Beard ihre Leser auf Schritt und Tritt mit einem ungeheuren Wissen. Ob zur Familie, zur Stellung der Frau, zum Privatleben, zu Geld und Steuern, Reichtum und Armut, zur Religions-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ob zu neuesten archäologischen Erkenntnissen oder alten Rom-Historikern: Immer wieder nimmt die Autorin ein Detail zum Anlass, um den grossen Hintergrund zu erklären. Wir erfahren, dass es im alten Rom keine Gefängnisstrafe gab, sondern nur Busse, Verbannung oder Tod. Dass nur die Hälfte der Kinder damals mehr als zehn Jahre alt wurde und Säuglinge auf dem Abfallhaufen landeten. Dass Sklaven rund 20 Prozent der römischen Bevölkerung ausmachten. Dass wir keine Ahnung haben, warum sich die römischen Männer ab etwa 300 v.Chr. rasierten, damit aber um 100 n.Chr. wieder aufhörten. Aus diesem enormen Wissen speist sich die grosse Analysekraft dieser Autorin. Für die Skandalgeschichten der römischen Kaiser etwa interessiert sich Beard nicht nur deshalb wenig, weil diese auf Gerüchten beruhen, die meist von politischen Feinden oder Nachfolgern stammten und zudem erst viele Jahrzehnte später aufgezeichnet wurden. Sie hält sie überdies für unwesentlich, weil für sie mit Augustus, dem ersten römischen Kaiser, die römische Geschichte «stillsteht»: von nun an gab es weder Wandel noch strukturelle Veränderung. Mit Kaiser Caracalla, der im Jahr 212 n.Chr. das römische Bürgerrecht auf alle Bewohner des Imperiums ausdehnte, lässt sie deshalb ihre tausendjährige Geschichte Roms enden. Und während

die Welt seit Jahrhunderten an der Frage nach dem Untergang Roms herumrätselt, sieht diese Autorin das wirkliche Rätsel in seiner Entstehung: Warum stieg ausgerechnet diese Kleinstadt am Tiber zur Weltherrschaft auf? Beards Antwort, in notwendiger Verkürzung: Mit der seit Romulus betriebenen Integration von besiegten Feinden in den Militärapparat standen Rom schlicht und einfach mehr Soldaten zur Verfügung als jeder rivalisierenden Macht. 10–25 Prozent aller erwachsenen Männer standen im römischen Imperium beständig unter Waffen – was immerhin der Einberufungsrate zu Beginn des Ersten Weltkrieges entspricht. Tom Hollands «Dynastie» bietet ein Gegenprogramm zu Beard: Da sind sie wieder, die «Alten Römer», in ihrer ganzen Pracht. Schon der Titel «Dynastie» erinnert an eine TV-Serie, und der Autor selbst betont, wie sehr die gesammelten Skandale um Luxus, Sex und Verbrechen der ersten römischen Kaiser an die Boulevardpresse erinnern, sowohl was ihre Funktion als Projektionsfläche fürs einfache Volk als auch was ihre Glaub-

würdigkeit anbelangt. Auch lässt er uns im Vorwort wissen, wie viel Skepsis die heutige Forschung dem Klatsch aus der legendären römischen Gerüchteküche entgegenbringt, auch wenn dieser – viele Jahrzehnte post factum! – von einem Tacitus oder Sueton berichtet wird. Und doch stürzt sich Holland dann nicht nur mit grösstem Vergnügen in die altbekannten Schauergeschichten, Sexskandale, Perversitäten und Intrigen der fünf julisch-claudischen Kaiser. Er stützt seine detailreiche Darstellung, zumindest was die Fussnoten betrifft, auch noch ausschliesslich auf die antiken Quellen, allen voran Tacitus und Sueton, und dies obwohl sein Literaturverzeichnis 300 Titel Sekundärliteratur auflistet.

Etwas für jeden Geschmack

Kommt dazu, dass hier ein Schriftsteller mit einer allwissenden Perspektive am Werk ist, der seine Figuren bis in ihr intimes Denken und Fühlen zu kennen vorgibt und damit die historischen Fakten beständig mit seiner Interpretation verflicht. Zu den Sexspielchen etwa, an denen sich ein voyeuristischer alter Tibe-

Brutale Gladiatorenkämpfe wie auf dem Borghese-Mosaik (3. Jh. n.Chr.) prägen unser – stark mythisiertes – Bild des alten Rom.

rius auf Capri angeblich ergötzte, schreibt er: «Das entwürdigende Spektakel war eine abscheuliche Entweihung alles dessen, was dem Mann, der dabei zusah, immer das Wichtigste gewesen war. Aber selbstverständlich war es auch genau das, was den Princeps daran so erregte. Und natürlich verabscheute er sich selbst dafür. …» Nur die ebenso Holland-typische Ironie markiert da noch Distanz zum historischen Roman, den dieser Autor im Grunde schreibt. Welches der beiden Rom-Bücher soll man nun also lesen? Die Antwort muss dem persönlichen Geschmack überlassen werden. Immerhin sei auf eine dritte Möglichkeit hingewiesen: auf das literarische Porträt des Kaisers Augustus des amerikanischen Autors John Williams, das jetzt auf Deutsch vorliegt. Ein historischer Roman also, zudem ausschliesslich über zum Teil fiktive, zum Teil echte Quellenzitate erzählt, der uns das alte Rom samt der rätselhaften Figur des Augustus so plastisch, menschlich und neu vor Augen führt, als wären wir seine Zeitgenossen. Aber nicht als Geschichtsschreibung, sondern als Roman. ● 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

Sachbuch

Biografie Peter-André Alt porträtiert Sigmund Freud als genussfeindlichen Leistungsethiker

VaterderPsychoanalyse, MeisterderEnthaltsamkeit Peter-André Alt: Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2016. 1036 Seiten, Fr. 44.90, E-Book 33.50.

Nahezu jede Freud-Biografie beginnt mit Freuds Aversion gegen Biografien. So zitiert auch Peter-André Alt den Brief aus dem Jahr 1885, in dem Freud, damals noch ein unbekannter Assistenzarzt, erklärt, er werde seine künftigen Lebensbeschreiber planmässig ärgern, indem er ihnen wichtiges Material vorenthalte. Tatsächlich hat Freud immer wieder persönliche Dokumente geradezu lustvoll vernichtet. Fatale Auswirkungen hatte dieses Spurenverwischen vor allem für die Erforschung seiner frühen Jahre. Über Freuds Kindheit weiss man wenig, wodurch sich ein merkwürdiger Effekt ergibt: Ausgerechnet Freud kommt man mit Freud nicht bei. Der Kern seiner Lehre ist ja, dass die Sexualität, die entscheidende Seelenmacht, ihre Urprägung in der frühen Kindheit erfährt und wir als begehrende Wesen im Grunde lebenslang Kinder bleiben. Freud hat zwar vereinzelt Einblicke in die Intimgeschichte seiner Familie gewährt (die verfänglichsten in den Briefen an Wilhelm Fliess, die gegen seinen Willen erhalten blieben). Es gibt Andeutungen über sexuellen Missbrauch seiner Geschwister durch den Vater, Hinweise zu frühen erotischen Reizungen durch das katholische Kindermädchen. Und natürlich den Bericht über die Urszene, in der seine «Libido gegen matrem» erwacht sei, als er sie im Alter von zweieinhalb Jahren erstmals «nudam» erblickt habe (das musste er latenisch sagen). Aber dies Persönliche interessierte Freud offenbar nur auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der seelischen Entwicklung. Auf eine genauere Ausleuchtung seiner Kindheit, vor allem seiner starken Mutterbindung, verzichtete er lieber. So bleibt das Kernstück der Psychoanalyse, der Ödipuskomplex und seine Überwindung, bei ihrem Schöpfer eine Leerstelle.

Männergilde mit Musen

Aber ist es überhaupt sinnvoll, Freud psychoanalytisch ergründen zu wollen? Alt verneint diese Frage. Zwar können wir uns dem Einfluss seiner Lehre nicht entziehen; nach Freud kann niemand mehr eine Biografie schreiben, die nicht auf die Sexualität der porträtierten Person einginge. Und natürlich interessieren wir uns für Freuds Ängste, seine Obsessionen – kurz: das neurotische Moment seiner Genialität – und versuchen, es mit seinen Theorien zu verknüpfen. Aber es empfiehlt sich auch, Distanz zu 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

PRIVAT ARCHIV

Von Manfred Koch

Der 82-jährige Sigmund Freud in seinem Arbeitszimmer in London (1938).

halten, das Zeitbedingte seines Denkens, seine «Irrtümer, Fehleinschätzungen und Dogmen» festzuhalten. Alt, selber Literaturwissenschafter und Präsident der Freien Universität Berlin, setzt auf konsequente Historisierung. Sein Freud ist ein epochemachender Denker, der in der entscheidenden Umbruchphase um 1900 das Selbstverständnis der Menschen so nachhaltig verändert hat, dass sie dadurch erst zu modernen Individuen wurden (darauf zielt der Untertitel: ein Arzt, der die Moderne auch schuf). Die sorgfältige Verortung Freuds in der Geschichte der Literatur, der Philosophie und der Psychiatrie macht denn auch die Stärke dieses Buches aus. An den erzählerischen Schwung und die blitzartig erhellenden Pointierungen, mit denen ein Peter Gay in seiner wunderbaren FreudBiografie (dt. 1995) aufwartet, kommt Alt allerdings nicht heran. Freud begegnet uns von Anfang an als «Leistungsethiker». Im antisemitischen Klima Wiens war der Sohn zugewanderter galizischer Juden zwangsläufig ein Aussenseiter, der die soziale Benachteiligung durch geistige Überlegenheit wettmachen musste. Aus dem Klassenprimus wird der ehrgeizige Spitalarzt und schliesslich der niedergelassene Doktor, der eine völlig neue Art von Nervenkur erfindet: ein Mediziner, der auf körperliche Berührung sowie Medikamente verzichtet und stattdessen nur mit Sprache heilt. Mit Wörtern und Sätzen, die sogar ganz überwiegend von den Kranken selbst kommen müssen! Alts Rekonstruktion der Entstehung der Psychoanalyse zeigt, wie Freud seine kühne Theorie auf der Grundlage einer sehr traditionellen Geschlechterordnung entwickelte. Sein – böse gesagt – Material

waren neurotische Frauen (man könnte aber auch von seinen Musen sprechen). Was ihm an ihnen auffiel, diskutierte er ausschliesslich im Gespräch mit geistig respektierten Männern (Josef Breuer, Wilhelm Fliess). Auch die psychoanalytische Bewegung, die er nach dem Durchbruch mit seinen ersten aufsehenerregenden Werken, allen voran der «Traumdeutung» von 1900, begründete, war anfangs eine reine Männergilde. Wenn Alt im zweiten Teil die Kämpfe schildert, die Freud mit seinen abtrünnigen Ziehsöhnen Jung und Adler ausfocht, wird auf der anderen Seite deutlich, wie viel Glück er mit den Frauen hatte, die er gegen seine konservative Grundhaltung schliesslich doch als Analytikerinnen anerkannte: Lou Andreas-Salomé, Marie Bonaparte, Helene Deutsch, um nur einige zu nennen. Tochter Anna wurde gar zur «Vestalin» der Bewegung.

Nach dem Kinderzeugen

Ein – abgesehen vom Rauchen – genussfeindlicher Leistungsethiker war Freud auch in Sachen Sex. Er zeugte, wie es sich für einen ordentlichen Bürger gehörte, sechs Kinder und stellte danach, so jedenfalls sieht es Alt, den Verkehr mit seiner Gattin komplett ein, vornehmlich aus Angst vor nervösen Irritationen durch den Gebrauch von Verhütungsmitteln. Beweisen lässt sich diese These nicht, so verlockend das Modell der Triebsublimierung durch geistige Arbeit ist. Auffällig ist immerhin, dass die Theoriebildung gewaltig Fahrt aufnahm, als er 1895, wie er selber schrieb, «mit dem Kinderzeugen fertig» war. Und würde dies nicht auch passen zu seiner Neigung, den rätselhaften Komplex Frau/ Mutter unangetastet zu lassen? ●

Literatur Von Kleist bis Duras: Peter von Matt spürt sieben literarischen Kussszenen nach

LippenbringenGlück

Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. Hanser, München 2017 (erscheint am 30. Januar). 288 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 25.50. Von Claudia Mäder Eine Glastür kann Welten voneinander trennen, muss aber nicht den Weg zum Glück versperren. In Franz Grillparzers Novelle «Der arme Spielmann» steht sie zwischen einer burschikosen Bäckerstochter und einem verliebten Sonderling, doch lässt der sich von dem Hindernis nicht beirren und küsst beherzt das Glas. So schafft sich der Aussenseiter den «Glückstag [s]eines Lebens» – und der lesenden Welt schenkt er «den seltsamsten Kuss der deutschen Literatur», wie Peter von Matt befindet. Sieben literarische Küsse untersucht der Doyen der Schweizer Germanistik in seinem neuen Buch, das im Kern vom Glück handelt. Mit diesem Gefühl sei die Literatur als «Unternehmen der Welterklärung» natürlicherweise befasst, und als Instanz, die «in Szenen denkt», lasse sie es immer auf konkrete Weise auftreten – häufig eben

in Gestalt zweier Menschen, die sich in einem Kuss begegnen. Zweier Menschen? Es können, wie in Gottfried Kellers Legende «Die Jungfrau als Ritter», auch drei sein, und das ist nur der Anfang der Komplexität, denn was die Küssenden als Glück erleben, ist immer eine Frage der jeweiligen Figuren, der Individualität ihrer Autoren und dem Geist ihrer Epochen. Im 19. Jahrhundert etwa lautete das Credo, dass der fleissige Tatmensch sein Glück selber schmiede, und unvermeidlich hallt das in literarischen Werken nach – wenn auch bisweilen leicht verzerrt oder ganz gebrochen: Während bei Keller ein träumerischer Held dank zwei resoluten Frauen in die Arme der Geliebten, zum tüchtigen Leben und mithin zum Glück findet, legt der Tor in Grillparzers «Spielmann» nahe, dass die «Unvernünftigen» in ihrer bedingungslosen Hingabe an Menschen oder Dinge eine ungleich höhere Form der Seligkeit erleben als die berechnenden Bürgersleute. In der Moderne zeigt von Matt bei Virginia Woolf und Marguerite Duras zwei Protagonistinnen, die das akute Glück eines Kusses mit dem Tod engführen

Das flüchtige Glück, im Kuss kurz gebannt.

und damit die Unbeständigkeit jeder radikalen Glückserfahrung demonstrieren. Die Nähe zwischen der höchsten Wonne und dem Ende des Lebens ist ein Motiv, das sich durch die Jahrhunderte zieht, eine wahrlich singuläre Kussszene findet sich dagegen in Kleists «Marquise von O…», die von ihrem Vater derart tierisch geküsst wird, dass der Leser fragend vor dem Text sitzt. Überzeugend steckt von Matt hier den Interpretationsspielraum ab, führt wie anderswo quasi en passant in die Gedankenwelt des Autors ein und öffnet einem mit seinen wortgenauen Analysen die Augen für die Präzision der Texte. Man wird beim Lesen dieses feinen Buchs bemerken, dass nicht nur Küsse glücklich machen. ●

Geschichte Vor 75 Jahren fand die Wannseekonferenz statt. Peter Longerich analysiert ihr Protokoll

Die administrative Sorgfalt des Mordens Peter Longerich: Wannseekonferenz. Der Weg zur «Endlösung». Pantheon, München 2016. 224 S., Fr. 22.90, E-Book 13.90. Von Urs Bitterli Es ist eines der schauerlichsten Quellendokumente der Weltgeschichte: das Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942. An diesem Tag trafen sich auf Einladung von Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, fünfzehn hochrangige Vertreter des NS- Regimes in einer luxuriösen Villa im Westen von Berlin. Im Zentrum der Besprechung stand die Verbesserung der Koordination aller für die Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden benötigten Instanzen. Das Datum der Zusammenkunft bezeichnet nicht, wie zuweilen fälschlich behauptet, den Anfang des systematischen Massenmords an den Juden. Dieser setzte nach Beginn des Russlandfeldzugs im Juni 1941 mit den Massakern der «Einsatzgruppen» in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion ein. Bei der Wannseekonferenz ging es darum, über die «Endlösung der Judenfrage», die geplante Ermordung von elf Millionen europäischen Juden, zu beraten und die oberste Zuständigkeit für dieses Projekt klarzustellen. Das Protokoll der Konferenz, ein Text von fünfzehn Schreib-

maschinenseiten, ist vom wichtigsten Organisator des Judenmords, Adolf Eichmann, verfasst und von Heydrich autorisiert worden; von dreissig Kopien hat sich eine erhalten. Dieses Dokument ist nicht nur als Zeugnis eines mit aller Deutlichkeit vorgetragenen Mordplans wichtig; es ist in seiner Art einzigartig, weil es auf kurzem Raum Einblick in den Entscheidungsprozess zur «Endlösung» gibt, der sich über mehrere Jahre hinzog und seinen Niederschlag selten schriftlich, sondern meist in geheim gehaltenen Absprachen gefunden hat. Dem Protokoll der Wannseekonferenz hat Peter Longerich, Professor für Neue Deutsche Geschichte an der Universität London und Verfasser von vielbeachteten Biografien über solch düstere Leitfiguren des NS-Regimes wie Himmler und Goebbels, eine umfassende Studie gewidmet. In einem ersten Teil gibt der Autor einen Abriss der Geschichte der Judenverfolgung vom Machtantritt Hitlers bis zu den Deportationen nach Osteuropa im Herbst 1941. Das folgende Kapitel untersucht die Gründe für die Einberufung der Konferenz und befasst sich eingehend mit Stellung und Funktion der Teilnehmer. Der Text des Protokolls wird in verkleinertem Faksimile wiedergegeben und minuziös kommentiert. Es ist das Verdienst von Longerichs Studie, die Wannseekonferenz in den historischen Kontext der nationalsozialisti-

schen Judenverfolgung zu stellen und eine Interpretation vorzulegen, die ein bisher kontrovers diskutiertes Thema überzeugend klärt. Der Text des Protokolls ist in seiner intelligenten administrativen Sorgfalt und seinem menschenverachtenden Zynismus eine beklemmende Lektüre. Im Wortlaut zitiert sei hier die zentrale Passage, die sich mit dem Mordplan «Vernichtung durch Arbeit» befasst: «Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In grossen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden strassenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein grosser Teil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus anzusprechen ist.» Der Protokollführer Adolf Eichmann, 1961 vor einem jüdischen Gericht wegen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» angeklagt, erklärte, in allen Anklagepunkten unschuldig zu sein und bloss auf Anordnung höherer Instanzen gehandelt zu haben. ● 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Sachbuch

Wissenschaft Das Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war. Drei Bücher zeigen, wie selektiv es funktioniert – und wie wichtig das ist

WahreErinnerungen kannmanvergessen

Wissenschafterin, die an der London South Bank University lehrt, vergessen wir etwas zu unserer Entlastung, so oft wir uns an etwas erinnern. Jede Erinnerung aber, die wir selbstverständlich als wahr und wirklich geschehen ansehen, wird gehirnphysiologisch im Prozess des Zurückholens überprüft, bearbeitet, ergänzt, unter Umständen sogar neu erschaffen und erneut abgespeichert. Erinnerung ist also immer auch und überwiegend Fiktion. Bewusst ist uns dieser Prozess der ständigen Umformung in der Regel nicht. Und dabei könnte man es eigentlich belassen. Denn wie immer unser Gehirn unsere Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitet, es konstituiert unsere individuelle Persönlichkeit. Warum sollten wir diesen offensichtlich sinnvollen Vorgang hinterfragen oder gar problematisieren, wie uns die Titel der beiden Bücher nahelegen?

Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Wallstein, Göttingen 2016. 224 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 13.50. Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Hanser, München 2016. 304 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 25.50. Douwe Draaisma: Halbe Wahrheiten. Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung. Galiani, Berlin 2016. 256 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 16.50. Von Angela Gutzeit Er hätte nie etwas schreiben können, vertraute Goethe seinem eifrigen Mitschreiber Eckermann an, wenn er gewusst hätte, wie viel Vortreffliches schon verfasst worden sei. Nicht nur der Gewinn und Zustrom von Wissen, gerade auch sein Verlust und Entzug könne unter bestimmten Bedingungen wichtig oder heilsam sein, kommentiert die Kulturwissenschafterin Aleida Assmann den weisen Altersspruch des Dichterfürsten in ihrem Buch «Formen des Vergessens». Nichtwissen und Vergessen als Voraussetzung für Kreativität, im Sinne von Reduzierung von Komplexität, aber auch von Leid und traumatischen Erfahrungen sind hier gemeint. So ist nach ihren Ausführungen nicht das Erinnern, sondern das Vergessen der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Trotzdem führte das Vergessen gegenüber dem Erinnern lange Zeit ein Schattendasein. Auf Literatur und Geisteswelt im Allgemeinen trifft das zwar nicht zu, wie die Autorin selbst mit zahlreichen Zitaten belegt. Die Gedächtnisforschung jedoch hat nach Assmann erst seit wenigen Jahren den Schwerpunkt vom Erinnern auf das Vergessen verlagert. Das Erinnern ist seitdem im öffentlichen Diskurs ins Zwielicht geraten.

Falsche Zeugenaussagen

Fiktionsleistung des Hirns

Die Gründe dafür sind wohl in gesellschaftspolitischen Wandlungen, medientechnischen Umbrüchen sowie neurowissenschaftlichen und evolutionspsychologischen Erkenntnissen zu sehen. Zumindest liegt diese Einsicht nahe, wenn man zu Assmanns Buch, das «die sozialen, kulturellen und politischen Kontexte rekonstruiert, in denen sich Vergessen vollzieht», zwei weitere aktuelle Veröffentlichungen hinzunimmt: «Das trügerische Gedächtnis» der Rechtspsychologin Julia Shaw und «Halbe Wahrheiten» des Psychologieprofessors Douwe Draaisma. Beide stellen den Wahrheitsgehalt des menschlichen Erinnerungsvermögens grundsätzlich infrage. Nach einer biochemischen Theorie, so die 36-jährige 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

Im Räderwerk des Kopfs konstituiert sich unsere Persönlichkeit. Aber die Erinnerungen, die das Gehirn generiert, sind unzuverlässig und manipulierbar.

Weil wir mit falschen Erinnerungen Schlimmes bewirken können. Um das zu belegen, arbeiten beide Autoren mit Fallbeispielen. Wobei die Rechtspsychologin Julia Shaw nicht nur sehr kundig und anschaulich Einblick in die neueste Hirnforschung gibt, sondern sich auch auf eigene Versuchsanordnungen berufen kann. Shaw berät speziell Justiz und Polizei, die sie für «falsche Erinnerungen» von Zeugen sensibilisiert. Um die Fragwürdigkeit von Zeugenaussagen zu belegen, hat sie Versuchspersonen Filme von Verbrechen vorgespielt. Kurze Sequenzen, nach denen diese Personen die Täter beschreiben sollten. Heraus kamen so viele verschiedene Beschreibungen, wie Menschen an den Versuchen teilnahmen. Aber nicht nur das, die Probanden meinten auch, Details beobachtet zu haben, die im Film gar nicht vorkamen, die Shaw aber in ihren Befragungen nachträglich eingestreut hatte. Erinnerungen sind unzuverlässig, manipulierbar und können zu falschen Urteilen führen, so das Resümee in Julia Shaws eindrucksvollem Buch. «Mit dem Heraufbeschwören einer Erinnerung kommt nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart – auch die Gegenwart drängt sich in die Vergangenheit», schreibt in ganz ähnlichem Sinne Douwe Draaisma, Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen. In seinem Buch versammelt der 53-Jährige in eher lockerer Verbundenheit Geschichten über Täuschungen des menschlichen Erinnerungsvermögens. Im Mittelpunkt und etwas länglich geraten: Der Fall Ted Kaczynski, bekannt als der «Unabomber», der ab Ende der 1970er Jahre in den USA Briefbomben vornehmlich an Wissenschafter verschickte. Douwe Draaisma rollt den Fall

auf, um zu zeigen, wie sehr die Aussagen von Familie und Freunden über Persönlichkeit und mögliche Motive Kaczynskis rückblickend von seiner Tat her beeinflusst wurden. Diese Beeinflussbarkeit des Gedächtnisses dürfte künftig zunehmen, steht doch die Entwicklung einer «Vergessenspille» bevor, die, so Draaisma, unerwünschte Erinnerungen einfach auslöschen könnte. Ähnlich wirkende Medikamente gibt es bereits. Als ob der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal diesen bedenklichen Eingriff in das menschliche Bewusstsein vorausgeahnt hätte, ist in einem seiner Briefe an Richard Strauss zu lesen: «An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben, nicht zum gedächtnislosen Tier herabsinken.» Dieses schöne Zitat ist bei Aleida Assmann zu finden. Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Kulturwissenschafterin hat sich in vielen ihrer Arbeiten mit Erinnerungspolitik ausein-

Biografie Politikerin, Schauspielerin, Grossmutter, Geschichtenfee: Über Trudi Gerster gibt es eine Menge zu erzählen

Aus dem Leben der Märchentante Franziska Schläpfer: Trudi Gerster. Ein facettenreiches Leben. Stämpfli, Bern 2016. 176 Seiten, Fr. 39.–. Von Erica Maurer «Märchen sind keine Angelegenheit für Tanten, sondern eine Königsdisziplin! Ich bin kein Kinderhütedienst, ich erzähle keine ‹Gschichtli›. Ich gebe eine Vorstellung, trete auf.» So hat Trudi Gerster als ältere Dame ihre Tätigkeit beschrieben. Angefangen hat alles Jahrzehnte vorher mit einem Nebenjob. Von St.Gallen nach Zürich gekommen, um Schauspielerin zu werden, fand Trudi Gerster an der Schweizerischen Landesausstellung 1939 einen Job als «Märchenfee». Anstatt die Geschichten vorzulesen, trug die 20-Jährige sie frei vor – und dies mit ungeahntem Erfolg. 78000 Kinder hörten ihr während der sechsmonatigen «Landi» zu. Trudi Gerster erfand eine eigene Kunstform, prägte während siebzig Jahren das Geschichtenerzählen und wurde zu einer Ikone der Schweizer Popkultur. Franziska Schläpfer, Kulturjournalistin und Sachbuchautorin, nähert sich in

zehn Kapiteln der Frage: Wer war die Frau mit der unverkennbaren Stimme, die 2013 als 93-Jährige gestorben ist? Die Autorin erläutert ihre Vorgehensweise gleich zu Beginn in der Einleitung: «So wie man Trudi Gerster über Jahrzehnte fasziniert zugehört hat, so liest man sie auch gern. Deshalb bringt diese Biografie sie oft wörtlich zur Sprache.» Ob man Trudi Gerster als Schauspielerin, Märchenerzählerin, Radiosprecherin und Grossrätin von Basel-Stadt oder als alleinerziehende Mutter und unternehmerische Grossmutter einer musischen Familie kennenlernt – in jedem Kapitel zeigt sich ihre Präsenz, Engagiertheit und Zielstrebigkeit. Ihre pointierten Zitate verwebt Schläpfer mit Anekdoten der Familie, mit Ausschnitten aus Medienberichten sowie mit Erinnerungen von Kulturschaffenden, Journalisten, Politikern und ihrem Publikum. Diese Vielstimmigkeit wirkt stellenweise leider etwas angestrengt. Nicht nur die Wiederholungen hätte man reduzieren können, sondern auch die Materialfülle. Trotzdem ist es ein ganz besonderes Erlebnis, nach dieser unterhaltsamen und aufschlussreichen Lektüre Trudi Gerster wieder «im Ohr» zu haben. ●

INTERFOTO

Karten Metropolen und ihre Stadtpläne

andergesetzt. Immer wieder spielte dabei der Holocaust als das konstitutive Ereignis im Gedächtnis der Deutschen und Europas eine zentrale Rolle. Besonders deutlich wird nun in «Formen des Vergessens» ihr Anliegen, der Verwandlung das Wort zu reden, nicht der Zementierung von Erinnerung. Was absinkt in Archive, kann unter anderen psychologischen, sozialen und politischen Bedingungen verwandelt wieder hervortreten, Abgegoltenes oder auch Störendes zu Recht vergessen werden. Dieses Zusammenspiel von Erinnern und notwendigem Vergessen sieht Assmann in ihrem lehrreichen Buch durch die Speicherfähigkeit des Internets in Unordnung geraten. Wir müssen uns mit dem Widerspruch auseinandersetzen, dass neue Medien auf Informationsvermehrung, Wissensansammlung und Vernetzung angelegt sind, während das menschliche Gedächtnis «von Vergessen grundiert, von Verknappung bestimmt und mit Identitäten liiert ist», so Aleida Assmann. Sich – wie bereits Goethe – dieser wertvollen menschlichen Verfasstheit bewusst zu sein, ist wichtiger denn je. ●

Wie so viele einst nützliche Dinge – Telefonbücher, gedruckte Zeitungen – brauchen wir auch keine Stadtpläne mehr, seit wir mit dem Smartphone durch die City laufen. Von der langen prädigitalen Zeit, in der sich die Menschen mit Stadtplänen nicht nur orientierten, sondern sich daran ergötzten und sie vor allem mit ungeheurem Fleiss erstellten, erzählt der grandiose Bildband «Metropolis». Von Nippur im alten Mesopotamien bis zur utopischen Ökostadt der Zukunft versammelt und erklärt der Historiker Jeremy Black die Pläne, Skylines und Panoramen von Städten der Welt und der

Weltgeschichte. In unserem Bild die Inselstadt Tenochtitlan des alten Mexico, ein Holzschnitt von 1524, den der Eroberer Hernan Cortés einem Brief an König Karl V. beilegte. Die Karte verschmilzt einheimisch-mexikanisches Wissen mit europäischem Raumverständnis und entzückt mit dem bis heute erhaltenen zentralen Platz – damals mit Tempel, heute mit Kathedrale – von Mexico-City. Kathrin Meier-Rust Jeremy Black: Metropolis. Die Stadt in Karten von Konstantinopel bis Brasilia. Theiss, Darmstadt 2016. 224 Seiten, 217 Abbildungen, Fr. 68.–, E-Book 42.90. 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Sachbuch

Kolumnen In seiner letzten Aufsatzsammlung räsonniert Umberto Eco über Gott und die Welt

AbschiedvomscharfenBeobachter Umberto Eco: Pape Satàn. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen. Deutsch von Burkhart Kroeber. Hanser, München 2017 (erscheint am 30. Januar). 224 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 23.50. Von Janika Gelinek In Italien, wo Umberto Ecos letzte Aufsatzsammlung kurz nach seinem Tod im Februar 2016 erschien, ist dem Buch ein Poster beigegeben: Es zeigt die Umschlagszeichnung von Tullio Pericoli, auf der Eco als rauschebärtiger Gelehrter, einen Bleistift im Mundwinkel, mit verschmitztem Lächeln hinter den Brillengläsern in die Welt schaut. Einer also, der weiss, wie der Hase läuft, ohne ihn deswegen allzu ernst zu nehmen – und damit vielleicht Ermunterung und Trost ist in einer unübersichtlichen und befremdlichen Gegenwart. So oder so ähnlich muss man wohl Cover und Fanartikel verstehen, so oder so ähnlich das ganze Buch, das den selbstgefälligen Untertitel «Die Kunst, die Welt zu verstehen» trägt und aus Kolumnen besteht, die Eco von 2000 bis 2015 für die Wochenzeitung «Espresso» verfasst hat. Doch trotz der Auswahl, die Burkhart Kroeber aus dem doppelt so umfangreichen italienischen Band getroffen hat und trotz der mühelosen Übersetzung, hätte man sich doch ein gehaltvolleres Vermächtnis des grossen italienischen Schriftstellers und Intellektuellen gewünscht. Eco beruft sich eingangs auf Zygmunt Baumans Theorie einer «flüssigen Gesellschaft», die unser Zeitalter am Ende der Ideologie, des Staates und der Postmoderne kennzeichne, doch ist dies ein eher notdürftiges Dach für die disparaten

Umberto Eco, 2016 verstorben, lebt im Buch nochmals auf.

Kolumnen, die von Umberto Ecos Aversion sowohl gegen Handys als auch gegen die Lega Nord handeln, vom Wert der Kalligrafie, von Liebe, Hass, Kopftüchern und Literaturfestivals. Wenig überraschend zeigt sich, dass die kleine, der spontanen Inspiration verpflichtete und rund ums Tagesgeschehen herum angesiedelte Form der Kolumne in Buchform leicht Schaden nimmt: Was eine feinsinnige, erheiternde oder nachdenklich stimmende Beobachtung am Ende der anspruchsvollen «Espresso»Lektüre war, verliert in der Masse ähnlicher Texte das Alleinstellungsmerkmal und muss auch noch überzeitliche Gültigkeit beanspruchen.

Gerade bei Texten, die sich mit dem Internet und dem Verlust der Privatheit beschäftigen, funktioniert das nur sehr eingeschränkt: Eco schreibt nicht über Google oder Facebook, sondern über Big Brother, nicht von Apple und der Cloud, sondern von Fernsehshows, in denen sich arme Schweine lächerlich machen, um für einen Moment berühmt zu sein. Und auch zehn Jahre alte Überlegungen, wie man etwa gute von schlechten Texten im Internet unterscheidet oder von Webseiten kopiert, ohne sich erwischen zu lassen, wirken nach diversen Plagiatsskandalen überholt. Wie gewinnbringend es hingegen gewesen wäre, wenn Umberto Eco sich unter veränderten politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen noch einmal mit seinen Kolumnen beschäftigt hätte, zeigt ein Text von 2010, der einzige, dem eine «Nachschrift nach fünf Jahren» beigegeben ist. Er behandelt die Allgegenwart der Pornografie und kommt zu dem moralisierenden Schluss, dass man sich nicht über pädophile Priester wundern dürfe, wenn das Begehren so permanent aufgestachelt würde. Fünf Jahre später räsonniert Eco noch einmal über das riesige Pornoangebot, wobei er sich diesmal auf die sichtbar schlechten Zähne der weiblichen Darstellerinnen konzentriert, die eigentlicher Beweis dafür seien, mit welch verzweifelt unterbezahltem Personal man es hier zu tun habe. Dieser Perspektivenwechsel zeigt Eco als den scharfen Beobachter, als der er über 50 Jahre lang die italienische Gegenwart begleitet hat, und sie zeigt auch, dass es gut tut, dem eigenen Urteil hie und da eine Revision oder zumindest Erweiterung zuzumuten – womit aus einer Handvoll jovialer Kolumnen sofort ein interessantes Buch geworden wäre. ●

Gesellschaft Die Neurobiologin Nicole Strüber zeigt, was frühe Bindungen in Kinderköpfen bewirken

Liebe lässt das Gehirn reifen Nicole Strüber. Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 345 S., Fr. 26.90, E-Book 25.90. Von Walter Hollstein Die Zeiten haben sich geändert. 1968 war es Zeitgeist, alles Familiäre zu verdammen. Horst-Eberhard Richter schrieb vom «Patient Familie». Heute konstatieren die Sozialwissenschafter Andreas Lange und Kurt Lüscher: «Die Familie ist der bevorzugte Ort der Entstehung von Humanvermögen.» Ein signifikantes Beispiel für die Rückwendung zu einst kritisierten Wert- und Lebenshaltungen ist die Einordnung des englischen Psychologen John Bolwby. Wurde er noch vor einem Jahrzehnt als zu konservativ abge22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

lehnt, sind heute seine Forschungsergebnisse wieder hochaktuell. Die mütterliche Fürsorge – so Bowlby –, die ein Kind in den ersten Lebensjahren empfängt, ist für seine spätere psychische Entwicklung und Gesundheit prägend. Erhält ein Kind diese Zuwendung nicht, ergeben sich Deprivationssymptome. Das ist auch der Rahmen, innerhalb dessen die Bremer Neurobiologin Nicole Strüber in ihrem Buch plädiert: «Erfahren Kinder eine feinfühlige Betreuung und eine sichere Bindung, dann haben sie ein sicheres Fundament für eine gesunde und glückliche psychische Entwicklung und die Fähigkeit, im späteren Leben selbst liebevoll und fürsorglich Kinder aufzuziehen.» Bei dem Buch handelt es sich um keinen Erziehungsratgeber. Die Autorin ist Wissenschafterin und legt die neuesten Erkenntnis der

Neurobiolgoie vor. Das geschieht aber auf eine sehr lesbare, sehr eingängige und sehr kluge Weise. Der Ertrag dieser Lektüre ist denn auch wesentlich höher als jener leicht verdaulicher Ratgeber. Nicole Strüber zeigt detailliert auf, wie eine frühe Bindung das soziale Gehirn reifen lässt. Sie argumentiert nicht nur individualistisch, sondern bedenkt auch Gesellschaftliches mit. «Jede Gesellschaft würde von einer Zunahme des Anteils sicher gebundener, sozial kompetenter, psychisch gesunder und bindungsfähiger Menschen erheblich profitieren.» Dabei liegt sie nicht unbedingt im Zeitgeist. So kritisiert die Autorin den bedenkenlosen Ausbau der öffentlichen Erziehung auf Kosten der Bindung und fordert eine Gesellschaft, in der Fürsorge wieder als Wert und Haltung geschätzt wird. ●

Gesellschaft Während die Armut zurückgeht, steigt die Ungleichheit: Der Nobelpreisträger Angus Deaton analysiert unsere paradoxe Weltwirtschaft

Vielisterreicht,vielbleibtzutun Angus Deaton: Der grosse Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 448 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 28.90.

Die heutige Weltwirtschaft erscheint verwirrend, seltsam, fast paradox. Die Weltbank schätzt, dass das erste Mal in der Geschichte weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut leben. Oxfam aber beklagt eine historisch beispiellose Vermögensungleichheit. Das reichste Prozent der Menschheit besitze so viel wie die restlichen 99 Prozent zusammen. Wie hat sich diese ebenso chancenreiche wie gefährliche Weltlage entwickelt? Der Princeton-Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton schildert in seinem Opus Magnum «Der grosse Ausbruch» den erbitterten Kampf gegen Armut und Krankheit rund um den Globus sowie das «ewige Spannungsverhältnis zwischen Fortschritt und Ungleichheit». Für seine «globale Bestandsaufnahme von Wohlstand und Gesundheit» analysiert er entscheidende Entwicklungen in allen Weltregionen und Zeitaltern. Sein besonderes Augenmerk gilt Indien, wo er viele Jahre mit den Armen gearbeitet hat. Der Autor unterstreicht, dass das menschliche Wohlbefinden ausser Geld und Gesundheit zahlreiche weitere Aspekte umfasst. Doch könne die Glücksforschung klassische Indikatoren wie das Pro-Kopf-Einkommen oder die Lebenserwartung lediglich ergänzen, keinesfalls ersetzen. Er beweist, dass das Wirtschaftswachstum auch in reichen Ländern die Lebenszufriedenheit erhöht, obwohl es zunehmend an Bedeutung verliert. Er bespricht die Stärken und Schwächen aller im Buch verwendeten Indikatoren. So senkt eine hohe Säuglingssterblichkeit die durchschnittliche Lebenserwartung eines Landes ungleich viel stärker als hohe Sterberaten anderer Altersklassen.

Superreiche bestimmen

Deaton resümiert, wie bittere Not und früher Tod die Menschheit über Jahrtausende hinweg gefangen hielten. Bis 1750 lag selbst die Lebenserwartung englischer Herzöge bei unter 40 Jahren. Noch 1820 lebten 84 Prozent aller Menschen in extremer Armut. Erst in den letzten 250 Jahren sprengte eine wachsende Zahl von Ländern «die Ketten von Tod und Entbehrung». Der Autor belegt, dass in nahezu allen Ländern das Pro-KopfEinkommen, die Lebenserwartung und die Körpergrösse deutlich gestiegen sind – trotz Rückschlägen wie der Grossen Hungersnot in China oder der Aids-Epidemie in Afrika. Deaton betrachtet die ungleiche Fortschrittsgeschwindigkeit als Hauptursache der «immensen Unter-

UMGLMAST IRHAM / KEYSTONE

Von Michael Holmes

Wo die Ungleichheit sichtbar wird: Alltag im Slum vor der Skyline von Jakarta (2017).

schiede in den Lebensstandards». Zudem würden die mächtigen Länder seit Kolonialzeiten ihre Interessen zum Schaden der Armen durchsetzen. Der Autor warnt auch vor der wachsenden internen Ungleichheit der meisten Länder, die immer weniger aus Leistungsunterschieden resultiere. Die politische Einflussnahme reicher Eliten untergrabe die Chancengleichheit, das Wirtschaftswachstum und die Demokratie. In den USA fürchtet der Autor eine Plutokratie, in der die Superreichen mit Lobbyarbeit und Wahlkampfspenden das System zunehmend zu ihren Gunsten manipulieren. Er zeigt, dass die Einkommen der Unterschichten seit Jahrzehnten stagnieren, da sie kaum politische Macht besitzen. Mit Feingespür für wichtige Details legt Deaton dar, wie globale Märkte, Wissenszugewinne sowie staatliche Gesundheits- und Sanitärsysteme gewaltige Siege über Armut und Krankheit errangen. Er analysiert die «positive Synergie zwischen sich gegenseitig aufschaukelnden Einkommens- und Gesundheitsverbesserungen». Gesundheit kostet Geld, und gesunde Körper leisten mehr. Deshalb liegt die Lebenserwartung in den reichsten Ländern doppelt so hoch wie in den ärmsten Ländern. Die Gesundheit hängt aber auch stark von der Qualität der Gesundheits- und Bildungssysteme ab. So bestand nach 1950 kein Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem Rückgang der Kindersterblichkeit. Deshalb erreichen auch Chile und Costa Rica die gleiche Lebenserwartung wie die USA –

mit wesentlich geringeren Gesundheitsausgaben pro Kopf. Deaton beschreibt bedeutsame Erfolge der Auslandshilfe im Gesundheitsbereich. So hätten etwa die grossen Kampagnen gegen die Pocken, die Polio, Aids und Malaria viele Millionen Menschenleben gerettet.

Kritik an Entwicklungshilfe

Daher verwundert Deatons radikale Polemik gegen die Entwicklungshilfe in anderen Bereichen, die er stark reduzieren möchte. Fast die Hälfte der Gelder hätte dazu gedient, korrupte Diktaturen aus aussenpolitischen Gründen zu stützen. Das ist freilich keine «Tyrannei wohlmeinender Helfer», sondern zynische Machtpolitik. Aber auch die restliche Hilfe hätten Machteliten als Geldquelle genutzt. Beweise? Fehlanzeige. Deaton nennt umfassende Analysen des Experten Roger Riddell als wichtige Quelle. Riddell dokumentiert grosse Korruptionsskandale. Er belegt jedoch, dass der Grossteil der Hilfsgelder viel Gutes bewirkt hat, selbst in korrupten Ländern. Dennoch: Angus Deaton träumt von einer Globalisierung für die Armen. Er kämpft für die Beseitigung aller Zölle, Subventionen, Migrationsschranken und Waffenexporte, die den Armen schaden. Zudem fordert er, mehr Geld für die Erforschung von Armutskrankheiten auszugeben und weniger Rohstoffe von Diktaturen zu kaufen. Dieses faktenreiche und inspirierende Buch verdeutlicht, dass der Kampf gegen Armut und Krankheit die Zusammenarbeit armer und reicher Menschen in aller Welt erfordert. ● 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Sachbuch

Was wir da draussen sehen, ist ein Gewebe von schleifenförmig verbundenen Körnchen. Vielleicht.

Physik Relativitäts- und Quantentheorie passen nicht zusammen. Das spornt die Forschung an

ReflexionenüberRaumundZeit

Carlo Rovelli: Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint. Rowohlt, Reinbek 2016. 314 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 22.50. Graham Farmelo: Der seltsamste Mensch. Das verborgene Leben des Quantengenies Paul Dirac. Springer, Berlin 2016. 614 Seiten, Fr. 48.90, E-Book 13.90. Stephen Hawking: «Eine wunderbare Zeit zu leben». Ein Lesebuch. Rowohlt, Reinbek 2016. 144 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 11.50. Stephen Hawking: Haben Schwarze Löcher keine Haare? Rowohlt, Reinbek 2016. 55 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 11.50. Von André Behr Schaut man auf das Jahr 2016 zurück, war aus Sicht der Physik vor allem der experimentelle Nachweis von Gravitationswellen ein Höhepunkt. Albert Einstein hatte solche sich wellenartig ausbreitenden Störungen der Raumzeit vor hundert Jahren vorausgesagt, vergangenen Februar brachte eine standardmässig wissenschaftlich überprüfte Publikation der 1992 gegründeten Internationalen Kollaboration LIGO Gewissheit. Einsteins Interpretation der Gravitation als Geometrie der vierdimensionalen Raumzeit erwies sich somit einmal mehr als korrekt, allerdings haftet dieser Erfolgsgeschichte ein Makel an. Die Relativitätstheorie passt nicht mit der Quantentheorie zusammen, die empirisch ebenso gut abgesichert ist und uns lehrt, dass die klassischen Bilder von Teilchen und ihren Bahnen im mikroskopischen Bereich ihre Gültigkeit verlieren. Diese Problematik verstörte schon Einstein und durchzieht die gesamte Geschichte der modernen Physik. Sie wird auch in allen vier hier besprochenen Neuerscheinungen thematisiert, allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Radikal und sehr explizit geht Carlo Rovelli die Sache an. Als Italiener, der dem Mittelmeerraum nahesteht, knüpft der in Marseille lehrende, 60-jährige Physikprofessor an das antike Denken an, insbesondere an Anaximander (um 610 bis 547 v.Chr.), einen der wichtigen 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

Exponenten der ionischen Aufklärung im kleinasiatischen Milet. Dort lokalisiert Rovelli den Beginn des wissenschaftlichen Denkens, das über Leukipps und Demokrits Hypothese, dass die Welt aus Atomen besteht, und manche Irrungen und Wirrungen bis zu den sich konkurrenzierenden heutigen Bildern des Universums führt.

Das schüchterne Genie

Wie Rovelli diesen Erkenntnisweg beschreibt, ist nicht nur sehr vergnüglich zu lesen, sondern auch äusserst lehrreich. Insbesondere die Genese der erst 1905 ebenfalls von Einstein bewiesenen Atomhypothese diskutiert der Autor historisch ausführlich, weil sie ins Zentrum unserer Vorstellungen von der physikalischen Wirklichkeit führt. Denn entscheidend für die Aufgabe, die Gravitationskraft mit den von der Quantentheorie einheitlich beschriebenen elektromagnetischen, der schwachen sowie der starken Wechselwirkungen zu vereinen, ist eine adäquate Neudefinition der Begriffe von Raum und Zeit. Bis anhin wurden diverse Ansätze entworfen, eine sogenannte Theorie der Quantengravitation zu finden. Am meisten Öffentlichkeit bekam die «Stringtheorie», um die es allerdings inzwischen merkwürdig still geworden ist. Sie interpretiert alle Elementarteilchen als winzige, schwingende Saitengebilde. Rovelli entwickelte in seinen Jahren in den USA zusammen mit Lee Smolin und anderen die «Schleifenquantengravitation». In dieser Theorie setzt sich der Raum aus Körnchen zusammen, die Milliarden Mal kleiner sind als Atomkerne. Sie sind nicht isoliert, sondern mit ihresgleichen schleifenförmig verbunden und bilden ein Netzwerk, eine Art «Gewebe des Raumes». Darüber hinaus gibt es auch keine Zeit, «an der entlang» die Ereignisse stattfinden. Es existieren nur elementare Prozesse, in denen Raum und Materiequanten kontinuierlich miteinander wechselwirken. Rovelli hat das Talent, unkonventionelle Gedankengänge sehr plausibel

darzulegen. Diese Fähigkeit ist lange nicht allen tiefschürfenden Physikern gegeben, wie der voluminösen Biografie von Graham Farmelo über Paul Dirac zu entnehmen ist. Der englische Professor und Wissenschaftsvermittler rekonstruiert Diracs Lebens- und Forschungsweg bis in kleinste, teils erschütternde Details. Nur schade, dass dieser ersten Biografie in deutscher Sprache so wenig Fotomaterial beigegeben wurde. 1902 als Sohn eines sehr strengen Schweizer Französischlehrers in Bristol geboren, war Dirac als 26-Jähriger mit der Quantisierung des Elektromagnetismus ein Coup gelungen, der dem Programm einer Vereinheitlichung der Kräfte den Weg wies. Viele Physiker sehen seine Leistungen auf der Höhe eines Einsteins, doch seine ausgeprägte Schüchternheit, die Wortkargheit und Schrulligkeit verhinderten, dass sein Genie über die Fachkreise hinaus strahlte.

Rund um Schwarze Löcher

Was Paul Dirac in Bezug auf seine wissenschaftliche Bedeutung an öffentlicher Wertschätzung viel zu wenig bekam, wird Stephen Hawking im Überfluss zuteil. Die beiden zu seinem 75. Geburtstag am 8. Januar erschienenen Bändchen allerdings sind sehr lesenswert, insbesondere auch aufgrund der editorischen Ergänzungen. Hawkings Forschungsschwerpunkt sind die Schwarzen Löcher. Die Rätsel, die diese implodierten Sterne aufgeben, sind eng verknüpft mit den offenen Fragen zum Wesen von Raum und Zeit. In «Haben Schwarze Löcher keine Haare» kann man zwei Vorträge nachlesen, die Hawking 2016 für die BBC gehalten hat. Und unter dem etwas befremdlichen Titel «Eine wunderbare Zeit zu leben» wurden verschiedene biografisch aufschlussreiche Texte versammelt, in denen der an amyotropher Lateralsklerose leidende Hawking auch seine Erkrankung thematisiert. Darüber hinaus bieten die Nachdrucke einiger seiner Aufsätze weitere gut lesbare Einblicke zum Stand der Forschung. ●

Geschichte 1915 beobachtete ein Schweizer Paar den Genozid an den Armeniern. Das Tagebuch, das die Ehefrau damals geführt hat, ist jetzt ediert worden: ein erschütternder Augenzeugenbericht

«DieKinderwelkenhinwieGras»

Dora Sakayan: «Man treibt sie in die Wüste». Clara und Fritz Sigrist-Hilty als Augenzeugen des Völkermordes an den Armeniern 1915–1918. Limmat, Zürich 2016. 304 S., Fr. 35.90, E-Book 28.90.

«Wohl Tausende von Armeniern gehen durch», notiert Clara Sigrist-Hilty am 16. September 1915. Am kommenden Tag geht sie mit ihrem Mann Fritz «schnell ins Dorf hinunter, das Lager der hier über Nacht bleibenden Armenier zu sehen: ein typisches Bild einer Völkerwanderung. Von Adana sollen nun alle Armenier fort sein.» Zwei Tage später schreibt sie: «Der Durchzug der Armenier nimmt kein Ende. Priester und Nonnen sind diesmal dabei, und abends erzählt uns ein Arbeiter von all den Gräueltaten, die an ihnen begangen wurden.» Am 4. Oktober sieht sie «ein dreijähriges, ganz nacktes Meiteli, mutterseelenallein in der weiten Wüste». Dieser Tagebucheintrag schliesst mit der Feststellung: «Hier sterben täglich ca. 130 Menschen.» Das Schweizer Ehepaar Clara und Fritz Sigrist-Hilty lebt in Keller, heute Fevzipaşa, im Südosten der heutigen Türkei. Fritz Hilty arbeitet als Ingenieur für die Bagdadbahn. Er ist für die Strecke Islahiye-Radjou und den Bau des 905 Meter langen Tunnels durch das Amanusgebirge verantwortlich. Das Paar wohnt am Rand des Gebirges mit Aussicht auf die Strasse in Richtung Aleppo. Dies ist auch die Route der Vertriebenen. «Ein Gesetz verbietet, Nahrung abzugeben; man treibt sie in die Wüste, und um ihre Kraft zu schwächen,

ARCHIV ZEITGESCHICHTE ETH

Von Martina Läubli

Clara Sigrist-Hilty vor ihrem Haus im türkischen Fevzipaşa.

führt man sie in tagelangen Wanderungen wieder in die Nähe dieser Standorte zurück.» Der Genozid hatte im April 1915 mit Massenverhaftungen und Hinrichtungen armenischer Intellektueller begonnen. In den folgenden Monaten wurde er von der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches systematisch vorangetrieben, durchaus mit Wissen der westlichen Mächte. Die Deportationen waren eigentliche Todesmärsche. Dies bezeugen Clara Sigrist-Hiltys erschütternde Aufzeichnungen. Die Schweizerin ist eine zufällige, politisch unvoreingenommene Augenzeugin. In ihrem Tagebuch hält sie Beobachtungen und ihr zugetragene Informationen knapp und verdichtet fest, erzählt vom Völkermord ebenso wie von ihrem Alltag; dem Kampf gegen Ungeziefer

oder einem Ausritt in die Berge. SigristHilty bemüht sich um Nüchternheit, verbirgt aber Schrecken und Empörung über die «himmelschreiende Ungerechtigkeit» nicht. Im längeren Bericht «Sommer 1915» stellt sie die Leiden der Vertriebenen und die Gewalttaten ausführlich dar: «Die Kinder welken hin wie Gras, die Männer wurden meist vom Zuge getrennt, in einem Felstal meuchlings abgeschlachtet oder im Euphrat ertränkt.» Dass dieses einzigartige Zeugnis des Genozids an den Armeniern nun als Buch zugänglich ist, ist Dora Sakayan (*1931) zu verdanken. Die armenische Germanistin, die heute in Kanada lebt, hat alle Aufzeichnungen aus dem Nachlass der Sigrist-Hiltys (heute im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich) sorgfältig aufgearbeitet und mit kenntnisreichen Einführungen versehen. Das Buch enthält auch Schriften von Claras Ehemann Fritz. Eindrücklich ist sein «Brief an die armenischen Freunde» von 1953. Bei der Bagdadbahn hat Fritz immer wieder Armenier angestellt, in der – letztlich vergeblichen – Hoffnung, sie vor der Deportation zu bewahren. Doch zumindest in einem Fall gelang es Fritz und Clara, Leben zu retten. Die beiden verhalfen dem Sekretär Haig Aramian zur Flucht. Unter dem Decknamen Georges Panos entkam er nach Aleppo, später nach Deutschland und Österreich. In seinen Memoiren beschreibt Aramian den Genozid sowie die spannende Geschichte seiner Flucht – die ihm nur gelang, weil er sich im entscheidenden Moment, als die Polizei vor der Tür stand, unter dem Bett der hochschwangeren Clara versteckte. ●

Geschichte Gibt es eine österreichische Identität? Der Historiker Gerald Stieg geht der Frage nach

Spurensuche im Land der Zauberflöte Gerald Stieg: Sein oder Schein. Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss. Böhlau, Wien 2016. 283 Seiten, Fr. 45.40. Von Carlo Moos Der Autor präsentiert im ersten Teil seines Buches, der danach fragt, ob es eine österreichische Nation gibt, in einem längeren Kapitel unter dem Titel «Persönliches Vorspiel» sich selber und liefert damit eine Erklärung des interessanten «Essay» und wie er ihn interpretiert haben will. Geboren 1941 in Salzburg in einer katholisch-nationalsozialistisch geprägten Familie, löste er sich von ihr, indem er ein Theologiestudium abbrach und zur Germanistik und als Lektor nach Frankreich in eine Universitätskarriere wechselte, die er an der Sorbonne-Nou-

velle als Professor für deutsche und österreichische Kulturgeschichte beschloss. Sein Buch, das 2013 auf Französisch erschien, handelt von dem, was ihn ein Leben lang beschäftigte: vom Entwicklungsweg der Idee «Österreich», die er als vom «Anschluss» bewirkt sieht. So wird Hitler, der Österreich als Staat auslöschte, ex negativo zum Kreator der österreichischen nationalen Identität. Diese fällt freilich – sofern man so sagen darf – nicht mit Hitler vom Himmel, sondern bereitet sich über längere Zeit vor, in der Optik des Autors seit Maria Theresia. Im zweiten Teil des Buches erscheint sie denn auch als Folge des historischpolitischen Machtspiels in der HabsburgHohenzollern-Rivalität und damit als klare Abgrenzung von Deutschland, während der dritte Teil verschiedenen kulturellen Identitätskonstruktionen nachgeht, die in Mozarts «Zauberflöte»,

der Musik gewordenen österreichischen «Seele», und emblematisch im «Nestbeschmutzer» Karl Kraus gipfeln. Das Buch ist ein Wurf, geschrieben auf der Basis eines stupenden Wissens und als Resultat vielfältiger sehr genauer Lektüre. Es ist für alle, die sich für eine zwischen Schein und Sein mäandrierende Österreich-Idee interessieren, ein Gewinn und liest sich gut. Irritierend ist eine leichte Sprunghaftigkeit, weil manche Einschübe nicht ausgeführt werden und der Gedankengang eine andere Stringenz erfordert, weiter eine gewisse Forcierung der grossdeutschen Haltung der österreichischen Sozialdemokratie und schliesslich eine Bagatelle, die bei einem differenzierten Autor aber stört, nämlich die Vereinnahmung von Elias Canetti als österreichischen Nobelpreisträger. Da schiesst ein gelehrter homo austriacus etwas über sein Ziel hinaus. ● 29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25

Sachbuch

Schweiz Wieder einmal steht der Sonderfall zur Debatte. Oder eher der Normalfall

Einzigartiges Gebilde, tausendfach vernetzt Fridolin Stähli, Peter Gros, Karl Haltiner (Hrsg.): Die Schweiz – vom Sonderfall zum Normalfall? Ein Land in der Identitätskrise. NZZ Libro, Zürich 2016. 169 Seiten, Fr. 38.90, E-Book 22.90. Von Urs Rauber Der «Sonderfall Schweiz» ist unerschöpfliches Gesprächsthema: für die einen Glaubensbekenntnis und sakrosankt, für andere Ausdruck eines verbohrten Nationalismus und permanentes Ärgernis. Warum diese Bipolarität? Im Grunde ist es viel einfacher: Einerseits bildet die Schweiz mit ihren Alleinstellungsmerkmalen (direkte Demokratie, Föderalismus, Neutralität und Mehrsprachigkeit) einen Sonderfall – wo um alles in der Welt gibt es ein zweites derartiges Gebilde?

Anderseits ist sie vertraglich, aber auch historisch, wirtschaftlich und kulturell in ein Netz von Staaten eingebettet, mit denen sie viele Interessen und Ähnlichkeiten teilt – die Schweiz ist auch eines der offensten, am meisten globalisierten Länder der Welt, also ein Normalfall. Wer den politischen Pulverdampf wegpustet, hat keine Mühe, beide – sich ergänzenden – Sichtweisen der Schweiz zu verbinden. Dass das Land mithin in der «Identitätskrise» stecke, wie die Herausgeber in ihrem lesenswerten Reader schreiben, ist eine kühne Behauptung. Doch sie widersprechen sich in ihrer Einleitung gleich selbst, da sie das Land richtigerweise «zwischen Globalisierung und Sonderfalldenken» positionieren. Aber auch andere Beiträge, die auf eine öffentliche Vorlesungsreihe an der Fachhochschule Brugg-Windisch 2015

zurückgehen, argumentieren dagegen. Alt Botschafter Paul Widmer zum Beispiel zitiert den französischen MitterandBerater Jacques Attali, der das Schweizer System weltweit als «ein Modell für ein gutes Staatswesen» preist. Der Berner Historiker André Holenstein kommt zum Schluss: «Die Schweiz ist das europäischste Land des Kontinents.» Und auch die Beiträge von Kaspar Villiger, Günter Verheugen und Ursula Pia Jauch gehen alle von der «Dialektik von Verflechtung und Abgrenzung» aus. Nur die Philosophin Katja Gentinetta und der Autor Adolf Muschg (letzterer in einem historisch skurrilen Exkurs) suchen, etwas krampfhaft, den Antagonismus zwischen dem «Mythos» einer unabhängigen Alpenrepublik und den Erfordernissen der Globalisierung herauszuarbeiten. Vergebliche Mühe! ●

Das amerikanische Buch Bernie Sanders ruft zur Revolution Die Menschheit steht an einem Scheideweg. Will sie weiter den Pfad hin zu Gier, Konsumwahn, Oligarchie, Armut, Krieg, Rassismus und Umweltzerstörung beschreiten? Oder eine bessere Zukunft anstreben? Diese Alternative stellt Bernie Sanders in seinem Bestseller Our Revolution (St. Martin’s Press, 450 Seiten) auf. Er hat das Buch nach der Niederlage gegen Hillary Clinton bei den Vorwahlen der Demokraten im Frühsommer geschrieben. Dabei halfen ihm zwei langjährige Mitarbeiter. So konnte der Titel schon kurz nach dem Sieg von Donald Trump im November erscheinen.

Wichtiger scheint ihm die Vermittlung der Erfahrungen, die er an der demokratischen Basis nach dem Triumph der Republikaner bei den Zwischenwahlen 2014 gemacht hat. Nur von ein, zwei Vertrauten begleitet, unternahm Sanders damals eine ausgiebige Schnuppertour durch das Land. 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2017

MIKE SEGAR / REUTERS

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst gibt Sanders Auskunft über seine Vita und die Präsidentschaftsbewerbung. Der Aufstieg des heute 75-Jährigen aus den ärmlichen Verhältnissen einer jüdischen Familie in Brooklyn über Studienjahre in Chicago bis zur unwahrscheinlichen Karriere als beliebter Bürgermeister und Senator in Vermont bleibt eine spannende Geschichte. In diesen Passagen klingt der «demokratische Sozialist» so ehrlich und lebhaft wie im Wahlkampf. Diese Authentizität hat vor allem junge Stimmbürger überzeugt. Nun übt Sanders bei der Schilderung der Vorwahlen zwar Kritik an unfairen Manövern der demokratischen Parteiführung, die eindeutig Clinton favorisiert hat. Aber bitter oder nachtragend wirkt er nicht.

Herbst eine Basisorganisation gegründet, die ebenfalls den Namen «Our Revolution» trägt.

Anhänger von Bernie Sanders (unten) am Demokratischen Parteitag in Pennsylvania (2016).

Bei Auftritten demokratischer Parteikader und Mandatsträger stellte er allerorten einen frappierenden Mangel an Begeisterung fest. Energie und Engagement für tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft nach links-progressiven Vorstellungen fand er indes bei kleineren Basisgruppen unter Minoritäten, Umweltaktivisten oder Gewerkschaftern. Dies habe ihn zu der zunächst von den Medien verspotteten Kandidatur gegen Clinton ermutigt, so Sanders. Dass er die EstablishmentFavoritin praktisch aus dem Stand beinahe geschlagen hat, gibt ihm die Hoffnung zur Fortsetzung seiner «politischen Revolution». Dafür haben er und eine Handvoll Gleichgesinnter im

Das Buch will der Bewegung einen Wegweiser mit Fakten und Argumenten an die Hand geben. Dazu dient der zweite Teil, der mit einer Grundsatzkritik am Zustand von Politik und Gesellschaft in den USA beginnt. Davon leitet Sanders detaillierte Reformvorschläge ab. Diese sind als Schlagworte aus dem Wahlkampf ebenso bekannt wie die zentrale These des «demokratischen Sozialisten»: Konservative Milliardäre und deren Helfer in der Politik haben die amerikanische Demokratie korrumpiert und zu einem Instrument der Umverteilung von Vermögen, Macht und Lebenschancen an die «One Percent» degradiert. Als Voraussetzung dafür sieht Sanders das System der Parteienfinanzierung, das Lobbyisten und vermögenden Spendern enormen Einfluss gestattet. Zumindest diese Einschätzung wird von unabhängigen Experten geteilt und weithin beklagt. Neu sind auch die übrigen Thesen und Vorschläge von Sanders nicht. Relevant ist das Buch aber dennoch. Es stellt die einzige kohärente Gegenposition der Linken zu der nun in Washington tonangebenden Agenda der Konservativen dar. Problematisch wird «Our Revolution», wenn Sanders von seinen kostspieligen Reformen wie einer kostenlosen Universitätsausbildung zu deren Realisierung kommt. Dafür umreisst er zwar Steuererhöhungen für die «Millionäre und Milliardäre». Aber auf 450 Seiten lässt Bernie Sanders konkrete Zahlen über die Kosten seiner «Revolution» ebenso vermissen wie konkrete Ansätze zu deren Umsetzung und Finanzierung. ● Von Andreas Mink

Agenda

Kunstwissenschaft Wie stellt man Blindheit dar?

Agenda Februar 17 Basel Donnerstag, 2. Februar, 19 Uhr Jaroslav Rudiš: Nationalstrasse. Lesung. Moderation: Georg Escher, Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Info und Tickets: www.literaturhaus-basel.ch. Dienstag, 7. Februar, 19 Uhr Kathy Zarnegin: Chaya. Buchvernissage und Gespräch. Moderation: Christine Lötscher, Fr. 18.–. Literaturhaus (s.oben). Donnerstag, 16. Februar, 19 Uhr Klaus Merz: Helios Transport. Lesung mit Musik. Cello: Alexandra Schweighofer. Moderation: Martin Zingg, Fr. 18.–. Literaturhaus (s.oben).

Thun

Im Jahr 1568 malt Pieter Bruegel das erschütternde Bild «Der Blindensturz». Das Museo di Capodimonte in Neapel zählt es zu seinen kostbarsten Schätzen. Es zeigt eine Gruppe von blinden Männern, die auf einen Abgrund zutaumeln. Der vorderste ist schon gefallen und reisst die übrigen mit. Wie jedes grosse Kunstwerk lässt sich dieses Bild auf mehreren Ebenen lesen. Man kann es theologisch, historisch und philosophisch deuten. Es stellt aber auch die Frage: Wie stellt man Blindheit mit visuellen Mitteln dar? Dieses Paradox nimmt sich Otto Käfer, Professor der Augenheilkunde im Ruhestand, in

einer umfassenden Untersuchung vor. Sie überspannt die gesamte Kunstgeschichte von der Antike bis zur Moderne und findet doch Zeit fürs Detail. So schreibt Käfer Bruegels Blinden verschiedene Verletzungen und Krankheiten zu. Neben Ikonen wie Rembrandts «Blendung» und Picassos «Mahl des Blinden» hebt der Autor auch viele weniger bekannte Werke ans Licht. Über 300 Abbildungen, darunter 64 Farbtafeln, illustrieren seine originellen Überlegungen. Manfred Papst Otto Käfer: Blindheit in der Kunst. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2016. 460 Seiten, Fr. 84.90.

Bestseller Januar 2017 Belletristik

Sachbuch

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Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp. 540 Seiten, Fr. 31.90. Alex Capus: Das Leben ist gut. Hanser. 240 Seiten, Fr. 28.90. Paulo Coelho: Die Spionin. Diogenes. 192 Seiten, Fr. 23.90. Sebastian Fitzek: Das Paket. Droemer/Knaur. 368 Seiten, Fr. 23.90. Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens. Suhrkamp. 624 Seiten, Fr. 29.90. Lucinda Riley: Die Schattenschwester. Goldmann. 608 Seiten, Fr. 22.90. Simon Beckett: Totenfang. Wunderlich. 560 Seiten, Fr. 31.90. Pedro Lenz: Di schöni Fanny. Cosmos. 448 Seiten, Fr. 21.90. Christoph Ransmayr: Cox. S.Fischer. 304 Seiten, Fr. 25.90. Alain de Botton: Der Lauf der Liebe. S.Fischer. 288 Seiten, Fr. 28.90.

Philipp Gurt: Schattenkind. Literaricum. 422 Seiten, Fr. 31.90. Eckart von Hirschhausen: Wunder wirken Wunder. Rowohlt. 496 Seiten, Fr. 28.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90. René Hildbrand: Schweizer Politik zum Lachen. Weltbild. 176 Seiten, Fr. 21.90. Guy van den Lagenbergh: Fabian Cancellara. Werd & Weber. 176 Seiten, Fr. 47.90. Daniele Ganser: Illegale Kriege. Orell Füssli. 320 Seiten, Fr. 28.50. Ronald Gohl: Unser Weltrekord-Tunnel Gotthard. Weltbild. 144 Seiten, Fr. 35.90. Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Rowohlt. 576 Seiten, Fr. 35.90. Barbara Lukesch: Bauernleben. Wörterseh. 256 Seiten, Fr. 39.90. Bruce Springsteen: Born to Run. Heyne. 672 Seiten, Fr. 39.90.

Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 17.01.2017. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

Freitag, 24., bis Sonntag, 26. Februar 12. Thuner Literaturfestival: Mit Matthias Nawrat (Bild), Andy Fischli, Matteo Kämpf, Michelle Steinbeck u.a. Einzelticket: Fr. 15.–, Festivalpass: 110.–. Verschiedene Veranstaltungsorte. Info und Tickets: www.literaare.ch.

Zürich Mittwoch, 1. Februar, 19.30 Uhr Über das Schreiben sprechen: Mit Dorothee Elmiger, Michael Fehr, Friederike Kretzen u.a. Podiumsgespräch. Moderation: Gesa Schneider, Fr. 20.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Reservation: 044 254 50 00. Montag, 6. Februar, 20 Uhr Charles Lewinsky und Sacha Batthyany: Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit – biografisches Schreiben. Gespräch. Moderation: Mona Vetsch und Röbi Koller, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz. Infos: www.kaufleuten.ch. Dienstag, 7. Februar, 19.30 Uhr Margarete Stokowski: Untenrum frei. Lesung und Gespräch. Moderation: Natascha Wey, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Freitag, 17. Februar, 20 Uhr Jonas Lüscher: Kraft. Buchpremiere. Lesung und Gespräch. Moderation: Martin Ebel, Fr. 30.–. Schiffbau/Matchbox, Giessereistrasse 5. Info: www.literaturhaus.ch. Freitag, 17., bis Sonntag, 26. Februar Tage russischer Literatur: Lesungen und Gespräche. Mit Ljudmila Ulitskaja, Ilma Rakusa (Bild), Dorothea Trottenberg, Sergej Lebedev, Michail Schischkin, Viktor Martinowitsch, Ulrich Schmid, Maria Stepanova u.a. Einzelticket: 20.–, Kombiticket: 90.–. Literaturhaus (siehe oben).

Bücher am Sonntag Nr. 2 erscheint am 26.02.2017 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

29. Januar 2017 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

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DONNERSTAG 23.02.2017 20 UHR IM KLUBSAAL

Ticketpreise: 30.–/20.– (mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank, AHV/IV oder mit Legi) Spezialangebot: 75.– (inkl. 2-Gänge-Menü) Unser ganzes Programm finden Sie auf kaufleutenliteratur.ch. Besuchen Sie uns auch auf Twitter und Facebook.

Gebührenfreie Ticket-Reservation:

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In Kooperation mit:

literaturhaus.ch

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Foto © Peter-Andreas Hassiepen

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