Jakob Arjouni Cherryman jagt Mr. White

27.02.2011 - Neuorientierung Deutschlands nach dem verlorenen Krieg machten, die An- wendung von Gewalt jedoch, im Gegen- satz zu den Männern des ...
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Nr. 2 | 27. Februar 2011

Louise Erdrich Schattenfangen | Jakob Arjouni Cherryman jagt Mr. White | Hans Fallada Jeder stirbt für sich allein | Sybille Steinbacher Wie der Sex nach Deutschland kam | Alfred Grosser im Interview | Helmuth James und Freya von Moltke Briefe und Biografien | Weitere Rezensionen zu Heinrich von Kleist, Walter Kohl, Karl Lüönd u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese

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10 Literaturklassiker zum Thema Geld zusammengefasst zum Probelesen: zum Beispiel «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull» von Mann. Als kostenlose Beilagen vom 27. März bis zum 29. Mai 2011 exklusiv in der «NZZ am Sonntag». Jetzt an 10 Sonntagen für nur 20 Franken kennenlernen: Telefon 044 258 15 30, www.nzz.ch/klassiker oder SMS mit Keyword ABO8 sowie Namen und Adresse an Nr. 959 senden, 20 Rp./SMS.

Weltliteratur – 10 Klassiker zum Thema Geld in kompakter Form.

William Shakespeare «Der Kaufmann von Venedig»

Gotthold Ephraim Lessing «Minna von Barnhelm»

Mit Unterstützung von

Johann Wolfgang von Goethe «Faust II»

Alexandre Dumas «Der Graf von Monte Christo»

Gustav Freytag «Soll und Haben»

Fjodor M. Dostojewski «Der Spieler»

Richard Wagner «Das Rheingold»

Pearl S. Buck «Die gute Erde»

Arthur Miller «Tod eines Handlungs­ reisenden»

Thomas Mann «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull»

In Kooperation mit

Mit Verstand zu geniessen.

Inhalt

Wenn der Drang nach Freiheit sich Bahn bricht

US-Autorin Louise Erdrich, 57, die unser Titelblatt ziert, verarbeitet in ihrer Literatur viel aus ihrer eigenen Geschichte. Einer ihrer Grossväter war deutscher Metzger, der andere Indianerhäuptling. Als sie den irischen Anthropologen Michael Dorris heiratete, galten die beiden als Vorzeigepaar multikultureller Literatur. Doch die Ehe scheiterte, und der dem Alkohol verfallene Ehemann nahm sich das Leben. Nach Romanen wie «Liebeszauber» und «Der Club der singenden Metzger» legt Erdrich mit «Schattenfangen» einen Psychothriller vor: Irene denkt sich ein grausames Spiel aus, als sie bemerkt, dass ihr Mann Gil heimlich ihr rotes Tagebuch liest. Sie beschafft sich ein neues blaues, das sie im Banksafe versteckt. Diesem vertraut sie ihre tiefen Ehezweifel an. Im fiktiven Journal «betrügt» sie Gil und verachtet ihn. Das Glamour-Paar hält in Wirklichkeit nur noch Hassliebe zusammen. Den Mix aus rasender Eifersucht, Sex, Alkohol und Gewalt hat Erdrich zu einer meisterhaften Story verarbeitet (Seite 7). Um Sex geht es auch in anderen Neuerscheinungen. Eine davon – die «zornigen Bekenntnisse» von Joumana Haddad, Herausgeberin des ersten arabischen Erotik-Magazins (Seite 22) – führen ins Zentrum der Aktualität dieser Wochen. Denn sie legen die Wurzeln des arabischen Aufstandes in Nordafrika und im Nahen Osten frei: den unbändigen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Urs Rauber

Louise Erdrich (Seite 7). Illustration von André Carrilho

Von Kathrin Meier-Rust

18 Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam Von Fritz Trümpi 19 Walter Kohl: Leben oder gelebt werden Von Gerd Kolbe 20 Thomas Welskopp: Amerikas grosse Ernüchterung

Von Kathrin Meier-Rust



Belletristik

Kurzkritiken Sachbuch

4 Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White Von Manfred Papst 6 Wolfgang Schlüter: Die englischen Schwestern Von Martin Zingg Musa Beksultanow: Ferne Gestade des Lebens

15 Ulrike Stamm: Der Orient der Frauen Von Geneviève Lüscher Peter F. Drucker: Ursprünge des Totalitarismus

7 Louise Erdrich: Schattenfangen Von Angelika Overath 8 Jean-Philippe Toussaint: Wahrheit über Marie



9 Gwendoline Riley: Joshua Spassky

Sachbuch 16 Helmuth James und Freya von Moltke:

Von Irena Brežná

Von Stefana Sabin

Von Simone von Büren

Katharina Henkel, Lena Nievers: Franz Radziwill

Von Gerhard Mack

10 Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein Von Regula Freuler 11 Andrea Camilleri: Streng vertraulich Von Christine Brand



Wolfgang Schmidbauer: Das kalte Herz

György Dalos: Gorbatschow. Mensch und Macht

Nathalie Henseler: Gipfelgeschichten

Von Kathrin Meier-Rust

21 Peer Teuwsen: Wohin treibt die Schweiz?

Von Urs Rauber



Von Beatrix Mesmer

Von Beat Kappeler

22 Joumana Haddad: Wie ich Scheherazade tötete

Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel Frauke Geyken: Freya von Moltke Sylke Tempel: Freya von Moltke

Von Susanne Schanda

Karl Lüönd: Erfolg als Auftrag

Von Charlotte Jacquemart

23 Viktor E. Kelner: Simon Dubnow

Von Kathrin Meier-Rust

Von Klara Obermüller

24 Günter Blamberger: Heinrich von Kleist Peter Michalzik: Kleist Von Andreas Tobler 25 Tâdsch os-Saltane: Memoiren. Im Harem des persischen Sonnenthrons

Kurzkritiken Belletristik 11 Katharina Born: Schlechte Gesellschaft



Von Regula Freuler

Von Geneviève Lüscher

Konrad Paul Liessmann: Das Universum der Dinge

Von Manfred Koch

Georges Rodenbach: Das tote Brügge

Von Manfred Papst

26 Willi Winkler: Der Schattenmann

Von Manfred Papst



Ali Baba und die vierzig Räuber Jens Steiner: Hasenleben Eamonn mccabE / camEra PrEss / KEystonE

Von Regula Freuler

Interview 12 Alfred Grosser, Politologe

«Kein Witz, ich bin Moralpädagoge» Von Urs Rauber

Kolumne 15 Charles Lewinsky

Das Zitat von Gustave Flaubert

Joumana Haddad rechnet mit dem Patriarchat ab.



Von Urs Rauber

Das amerikanische Buch Stephanie Coontz: A Strange Stirring. The Feminine Mystique and American Women at the Dawn of the 1960s

Von Andreas Mink

Agenda 27 Frank Wonneberg: Grand Zappa Von Manfred Papst Bestseller Februar 2011

Belletristik und Sachbuch Agenda März 2011

Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]

27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

Belletristik Rechtsextremismus Der deutsche Erzähler Jakob Arjouni packt im neuen Roman ein heikles Thema an. Und meistert seine Aufgabe souverän

Pakt mit dem Teufel Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White.

Diogenes, Zürich 2011. 168 Seiten, Fr. 33.90. Von Manfred Papst

Rick Fischer ist gerade einmal achtzehn Jahre alt, doch sein Leben ist so gut wie vorbei. Er sitzt im Knast, und da wird er wohl noch lange bleiben. Denn es werden ihm fünf Tötungsdelikte zur Last gelegt. Und er ist geständig. In dieser hoffnungslosen Situation schreibt er an den ihm zugeteilten Kriminalpsychologen, einen Doktor Layton. Er will sich nicht herausreden. Er will sich nicht rechtfertigen. Er will nur seine Geschichte erzählen. Die Erzählperspektive ist weder neu noch originell. Ein Angeklagter berichtet. Wie oft haben wir das schon gelesen! Doch das Rezept funktioniert – zumal, wenn man es mit einem so souveränen Autor wie Jakob Arjouni zu tun hat. Rick zeichnet Comics. Er versetzt sich in einen Helden namens Cherry-

Jakob Arjouni

Regine MosiMann

Der 1964 in Frankfurt geborene Autor Jakob Arjouni machte sich zunächst als Verfasser von Krimis einen Namen. Mit 22 Jahren veröffentlichte er den Roman «Happy Birthday, Türke», das erste seiner insgesamt vier Bücher um den Privatdetektiv Kemal Kayankaya. Seither hat er in rascher Folge Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele geschrieben. Mehrere Jahre verbrachte er in Berlin. Heute lebt er mit seiner Familie im Languedoc.

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

man, der Verbrecher jagt und zur Strecke bringt. Auch solche, die sich in die verschiedensten Gestalten verwandeln können. Die unangreifbar sind wie Phantome in Albträumen. Natürlich wird er im Verlauf der Ermittlungen mit dem Verdacht konfrontiert, seine Zeichnungen seien ein Hinweis auf seine Gewaltbereitschaft, doch er wehrt sich heftig gegen diese Unterstellung: Das Zeichnen, sagt er, habe ihn die längste Zeit davor bewahrt, in seiner trostlosen Realität tätlich zu werden.

Dreiste Jugendbande

In seinem realen Leben steht Rick nämlich auf der Schattenseite. Er ist zwar intelligent, sensibel und ehrgeizig. Aber er kommt aus armen Verhältnissen und hat nur die Hauptschule besucht. Beruflich hat er kaum eine Perspektive. Er lebt in Storlitz, einem trostlosen Kaff unweit von Berlin, bei einer Tante, umgeben von Verlierern der Wiedervereinigung und Globalisierung. Seine ehemaligen Schulkameraden hängen tagein, tagaus vor dem Supermarkt herum, klopfen rassistische Sprüche und saufen sich voll. Sie leben von Schutzgeldern. Auch Rick nehmen sie aus. Anfangs hat er sich noch gewehrt – bis sie vor seinen Augen seine Katze totgeschlagen haben. Seither zahlt er. Er hasst die so trübe wie dreiste Bande und geht ihr nach Möglichkeit aus dem Weg. Doch letztlich bleibt er ihr ausgeliefert. Und eines Tages machen die Kumpane ihm ein Angebot, das er nicht abschlagen kann. Er soll tatsächlich eine Lehrstelle bekommen. Bei einem Gärtner in Berlin. Das war schon immer sein Traum. Doch die Anstellung ist an eine Bedingung gebunden: Rick soll sich in den Dienst einer angeblich harmlosen Organisation namens «Heimatschutz» stellen. Sowohl der Mann, der ihm die Stelle vermittelt, als auch der Lehrmeister gehören ihr an. Die Gruppierung ist ausländerfeindlich und antisemitisch, deklariert sich aber als gewaltfrei. Sie wolle, sagt sie, mit Propaganda erreichen, dass

Verlierer der Wiedervereinigung und Globalisierung: Jugendliche in Brandenburg.

Deutsche vom Staat nicht schlechter behandelt würden als Zuwanderer. Rick ist nicht wohl bei der Sache, doch er geht den Pakt mit dem Teufel ein. Anfangs denkt er, es wird wohl alles nicht so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Er bekommt die Aufgabe zugeteilt, im Rahmen seiner Arbeit einen jüdischen Kindergarten in unmittelbarer Nachbarschaft des von ihm bearbeiteten Geländes zu observieren und entsprechende Berichte abzuliefern. Wer geht dort aus und ein, wie und von wem wird die alte Villa bewacht? Rick freundet sich über den Zaun hinweg mit einem kleinen Buben aus dem Kindergarten an und glaubt, mit gelegentlichen nichtssagenden Rapporten davonzukommen. Doch da täuscht er sich gewaltig. Die Organisation nimmt ihn immer fester in die Zange. Sie observiert ihn ebenso wie seine Geliebte. Die geringste Pflichtverfehlung zieht drako-

RAINER WEISFLOG

nische Strafen nach sich. Und schliesslich nötigt der «Heimatschutz» den Erzähler, zu einer festgesetzten Stunde eine Tasche mit Propagandamaterial im jüdischen Kindergarten zu deponieren. Rick ahnt, dass da ein übles Spiel mit ihm gespielt wird. Und im letzten Moment entdeckt er, dass die Tasche vertauscht wurde. Sie enthält nicht mehr Broschüren rechtsextremen Inhalts, sondern einen Sprengsatz. Das aber heisst: Seine Gruppe wollte ihn als unfreiwilligen Selbstmordattentäter einsetzen. Welch eine Infamie! Diese Erkenntnis lässt Rick ausrasten. Zunächst bewahrt er zwar einen kühlen Kopf. Er zündet den Sprengsatz an einem ungefährlichen Ort. Doch dann kehrt er zu seinen Auftraggebern zurück und bringt fünf von ihnen auf bestialische Weise um. Kurz darauf wird er verhaftet. Und aus dem Knast erzählt er uns seine Geschichte.

Jakob Arjouni kommt vom Kriminalroman her. Seine vier Bücher um den türkisch-deutschen Privatdetektiv Kemal Kayankaya machten ihn berühmt. In ihnen zeigte sich der junge deutsche Erzähler (sein exotischer Name ist ein Pseudonym) als selbstironischer Adept der hartgesottenen Klassiker Dashiell Hammett und Raymond Chandler.

Leser in der Zwickmühle

Bei diesem Rezept hätte er bleiben können. Doch genau das tat er nicht. Sobald er bemerkte, dass er das Genre beherrschte, sagte Arjoini ihm Ade und versuchte sich auf neuen Gebieten. Mit «Magic Hoffmann» legte er eine originelle Berliner Geschichte vor, mit «Hausaufgaben» einen meisterhaften Schulroman, mit «Chez Max» ein launiges Buch aus der Zukunft, mit «Der heilige Eddy» einen so heiteren wie rasanten Schelmenroman. Und auch diesmal

überrascht uns Jakob Arjouni. Er schildert die Tristesse von Storlitz aufs Überzeugendste. Er porträtiert seine Figuren, ohne sie voreilig zu verdammen. Und er zeigt, in welche Bredouille ein ahnungsloser junger Kerl wie Rick gelangen kann. Vor allem aber bringt er uns als Leser selbst in eine Zwickmühle. Zunächst sorgt er dafür, dass wir seinen Helden lieben. Wir bangen, hoffen mit ihm. Wünschen uns, dass er seinen Widersachern das Handwerk legt oder ihnen mindestens entrinnt. Aber dann geschieht etwas, das wir nicht erwartet haben. Der sympathische Rick wird zum Rambo. Er geht nicht zur Polizei, sondern greift zur Selbstjustiz und zur Kettensäge. Er richtet ein unsägliches Blutbad an. Und im Bericht an seinen Kriminalpsychologen notiert er scheinbar ungerührt: «Wenn die Zeitungen schreiben, ich hätte meine Opfer verstümmelt, ist das Unsinn. Es ist nun mal keines ruhig sitzen geblieben, um sich einen sauberen Schnitt verpassen zu lassen.» Schon im Roman «Hausaufgaben» (2004) hat Arjouni uns mit einem Helden konfrontiert, der nicht so unbescholten ist, wie es zunächst den Anschein macht. Das gelingt ihm auch jetzt wieder. Wir folgen ihm im Glauben, einfach eine spannende Geschichte zu lesen, und sitzen plötzlich moralisch in der Klemme. Arjouni schreibt mit leichter Hand, präzis und unprätentiös, nah an der Umgangssprache. Seit jeher agiert er mit einer Leichtigkeit und Eleganz, von der viele seiner Zeitgenossen nur träumen können. Seine Dialoge sitzen. Seine Schilderungen sind so knapp wie anschaulich. Doch er benutzt diese Virtuosität, um uns an Abgründe zu führen. Auch an unsere eigenen. Am Ende dieses eingängigen, scheinbar durchsichtigen Buchs lassen uns die Fragen nach Ricks Schuld und unserer eigenen Gewaltbereitschaft nicht mehr los. ● Jakob Arjouni liest am 14. März, 20 Uhr, im Kaufleuten-Saal, Pelikanplatz 1, in Zürich. Moderation: Manfred Papst. 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5

Belletristik

Roman Geschichte einer Glasharmonika quer durch die Jahrhunderte

Wolfgang Schlüter: Die englischen Schwestern. Eichborn, Berlin 2011.

408 Seiten, Fr. 33.50. Von Martin Zingg

Der kunstvolle Spagat zwischen den Epochen ist eine seiner Spezialitäten. Wolfgang Schlüter kann sich in seinen Romanen allein per Erzählphantasie und Sprachgewalt in allen Zeiten niederlassen. Und immer geht es dabei um Musik und um das, was Musik mit den Menschen anstellt. Sein letzter Roman, «Anmut und Gnade», handelte von einer Oper von Jean-Philippe Rameau und hatte den Grundriss einer Oper. In Schlüters jüngstem Werk, «Die englischen Schwestern», werden die Kapitel durch eine Tonleiter gegliedert, C-Dur – und durch die Glasharmonika zusammengehalten. Dieses etwas merkwürdige Instrument hat weder Tasten noch Saiten, aber nebeneinander gefügte, gewölbte Glasschalen, eine pro Halbton. Mit feuchten Fingern werden dem rotierenden Glas Töne entlockt. Mozart komponierte für das Instrument, später auch Haydn und Beethoven. Heute ist das Instrument weitgehend in Vergessenheit geraten, aber es wird noch immer gebaut und gespielt. Wolfgang Schlüter macht es zum geheimen Zentrum seines durch die Zeiten vagierenden Erzählunternehmens. Zu Beginn des Romans treten zwei Berliner auf, Schorse, der eigentlich Georg heisst, und Werner. Die beiden

Zeitgenossen ereifern sich in eloquenter Schnoddrigkeit über alles Mögliche. Stadtzerfall oder Klopstock-Erstausgaben, alles kann zum Thema werden. Am Ende des Romans werden wir den beiden wieder begegnen. Dazwischen steigt der Roman, Kapitel für Kapitel, von einem Halbtonschritt zum nächsten. Erst in die Tiefen der Geschichte, liefert die eine Hälfte einer Erzählung, und geht dann, mit der jeweils zweiten Hälfte, wieder hoch, zurück in die Gegenwart. Im Jahr 1973 macht ein Berliner Student Ferien in Neapel und berichtet seiner Geliebten von bizarren Begegnungen mit einem «Herrn im Panamahut», der ihm wiederum ein Papierkonvolut überlässt, mit dem der Roman, durch einen kühnen Sprung, im 18. Jahrhundert landet: Es erzählt Marianne Kirchgessner, zu Zeiten Mozarts geboren und seit zweihundert Jahren am Leben, wenn auch erblindet. In ihren frühen Jahren konnte sie grosse Triumphe feiern mit der Glasharmonika. Bald darauf sind wir im Jahr 1798 und lesen den Bericht eines jungen Militärarztes, der mit Admiral Nelson unterwegs ist und die Seeschlacht bei Abukir überstanden hat. Und 1785 erfahren wir allerhand aus den Aufzeichnungen des deutschen Landschaftsmalers Johann Peter Hofmeister, der sich nach Italien aufmacht. 1761 schliesslich informiert der amerikanische Politiker Benjamin Franklin, wie er die Glasharmonika erfunden hat. Zwei Nichten Franklins, die Schwestern Anne und Cecily Davies, haben viel zur Ver-

SUEDDEUTSCHE ZEITUNG / KEYSTONE

Im Halbtonschritt

Literarisches Leitmotiv: Benjamin Franklin spielt auf der Glasharmonika.

breitung des Instrumentes beigetragen, sie sind die zwei «englischen Schwestern», die dem Roman den Titel geben. Jede der sechs Erzählungen ist in einer anderen Sprache, in einem anderen Duktus gehalten. Dabei werden Fakten und Fiktionen auf unterhaltsame Weise amalgamiert, so dass sie sich wechselseitig einfärben, und am Ende hat man einen ziemlich ungewöhnlichen Roman gelesen. Das letzte Wort haben die beiden Berliner Schnauzen. Sie geben noch jovial einige Tricks preis, mit denen der ausserordentliche Erzähler Wolfgang Schlüter operiert – aber natürlich bleibt dieser Roman ein kleines Wunder. ●

Erzählungen Archaische Themen wie Tod, Blutrache und Liebe aus Tschetschenien

Wenn das Herz explodiert Musa Beksultanow: Ferne Gestade des Lebens. Erzählungen und Novellen aus

Tschetschenien. Deutsch von Marianne Herold, Ruslan Bazgiev. Kitab, Klagenfurt 2010. 190 Seiten, Fr. 24.50. Von Irena Brežná Die zeitgenössische tschetschenische Literatur ist eingebettet in kollektive Traumata und traditionelle Bräuche. Das zeigt auch der Erzählband «Ferne Gestade des Lebens» des Schriftstellers Musa Beksultanow. Seine Helden haben die stalinistische Deportation 1944 nach Zentralasien (der Autor selbst wurde 1954 in Kasachstan geboren) sowie zwei russische Kolonialkriege erlebt. Es geht um Archaisches: Tod, väterliche Autorität, Ungehorsam, Gebot der Gastfreund6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

schaft, unerfüllte Liebe, Blutrache und Barmherzigkeit. Dass diese Gesellschaft streng kodiert ist, zieht sich als Konstante durch die Texte. Wenn der Mann nur am Begräbnis seiner Mutter und seines Bruders weint, hält er sich an den ungeschriebenen nordkaukasischen Verhaltenskodex «adat». In dieser patriarchalen Welt sind zwischengeschlechtliche Gefühle kanalisiert. Im Keller, wo sich Menschen vor den Bomben verstecken, sucht eine Mutter eilig einen Bräutigam für ihre minderjährige Tochter, als Schutz vor der drohenden Vergewaltigung durch die russischen Militärs. Dem Wahnsinn des Krieges stellt sie den Wahnsinn der arrangierten Heirat als Ordnung entgegen. Weder die Verbannung noch die Kriegsgewalt haben die Bräuche ganz durcheinandergewirbelt.

Die Erzählungen, die nun auf Deutsch vorliegen, sind eine ethnologische Fundgrube. Das Übersetzerpaar Ruslan Bazgiev, ein tschetschenischer Islamwissenschafter, der in der Schweiz lebt, und die Zürcher Historikerin Marianne Herold gewährt uns Einblick in eine raue Welt, die gleichsam zart ist. «Das Herz explodierte», sagt ein Protagonist. In der Tat fliegt hier alles durcheinander wie Granatsplitter – Gefühle, Gedanken und Familien, die auseinandergerissen werden. «Gute Menschen streben nicht nach Macht», sinniert ein Erzähler über die Sowjetzeit, doch das Entstehungsjahr des Textes ist 2009. Eine Chiffre? In Diktaturen sind historische Stoffe unverfänglich. Der Autor lebt nämlich in Grosny unter dem grausamen Personenkult des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. ●

Roman US-Autorin Louise Erdrich erzählt furios den Rosenkrieg eines Paars aus der Kunstszene

Mit einem fiktiven Tagebuch täuscht sie ihren Mann Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Suhrkamp, Berlin 2011. 239 Seiten, Fr. 27.50. Von Angelika Overath Minneapolis im Jahr 2007. Irene und Gil sind ein attraktives Paar. In Haus und Atelier führen sie (er der erfolgreiche Maler, sie die um 13 Jahre jüngere Kunsthistorikerin) zusammen mit ihren wunderbaren Kindern Florian (13), Riel (11) und Stoney (6) ein finanziell unbeschwertes, kreatives Familienleben. So sehen es die anderen. Doch die Ehe steht vor dem Scheitern. Mutter und Vater agieren alltagstapfer noch als funktionierende Alkoholiker, und die Kinder wittern die kommende Katastrophe. «Schattenfangen» von Louise Erdrich, die in North Dakota aufgewachsen und wie ihre Protagonisten indianischer Abstammung ist, führt in das Psychodrama eines tragisch-bösen Ehekriegs. Die Hölle, das sind nicht die andern, wie Sartre einst meinte; die Hölle sind die, die wir lieben. Und Gil liebt. Er liebt die sinnliche Irene, und seit er sie malt, geht es mit seiner Karriere aufwärts. Zunächst malte er den «Abdruck seines Mundes auf ihrem Mund». Dann ihre Reife: «Irenes weiches, erschöpftes Fleisch nach der Entbindung, ihre fieberheissen Brüste, als die Milch einschoss, gewaltig angeschwollen und so empfindlich …» Und wenn Irene im Atelier stillte, arbeitete er an zwei Staffeleien gleichzeitig

wieder momenthaft erliegt. Betrügt Gil, der treu Liebende, nicht seine Frau, weil sie Mittel seiner Kariere ist? Und missbraucht die Frau nicht den Mann, wenn sie sich im roten Tagebuch – einen Geliebten erfindend – in eine Erzählerotik hineinschreibt, die sie quasi postkoital zurücklässt?

und wechselte die Leinwand mit der dem Kind jeweils dargebotenen Brust: «Das war Glück.» Das war Symbiose. «Hätte er nur eine einzige Katzenwimper als Pinsel gehabt und eine einzige Leinwand für sein ganzes Leben – es wäre ein Bild von Irene geworden.» Auf die Dauer konnte das nicht gut gehen. Irene fühlt sich von Gil aufgesogen, ausgesaugt, ja missbraucht. Er akzeptiert keine Distanz, und hier setzt das Buch ein: Heimlich liest er in ihrem roten Tagebuch. Eine gemeine Rache, eine subtile Manipulation beginnt. Denn Irene mietet sich ein Schliessfach in einer Bank und schreibt ein blaues Tagebuch für sich. Das rote aber führt sie für ihn. Er soll leiden.

Erotische Gewaltszenen

Ist blinde Liebe auch Hass?

Louise Erdrich ist eine Meisterin des unmittelbaren Erzählens. Man könnte «Schattenfangen» als Kabinettstück in einer Unterrichtseinheit «storytelling» lesen. Alles stimmt: der Countdown der Handlung (Vernichtung des Gatten) und das Wechselspiel der Motive: Schatten als Bild der Seele, Bilder als Stellvertreter des bedrohten Ich, Malen als Missbrauchen, die Tierszenen als Abglanz der Sehnsucht der Menschen. Aber auch die retardierenden Elemente (die Kinder), die Komik (das Paar solidarisiert sich vor der Paartherapeutin) und immer wieder das dramatische Umschlagen in den einen unerwarteten Augenblick, der jede Gewissheit relativiert. Hasst Gil nicht auch, wenn er blind liebt? Liebt Irene Gil nicht doch, weil sie der Macht seiner Leidenschaft immer

Louise Erdrich, 57, ist deutsch-indianischer Abstammung und lebt in Minneapolis (USA). Ihr neuer Roman «Schattenfangen» pendelt zwischen Dokumentation und Fiktion.

BETTINA STRAUSS

Louise Erdrich: Schattenfangen.

Louise Erdrich öffnet seltsame Winkel in der Seelenfaltentiefe eines alten Paares, in denen Verachtung in Erregung fliessen kann, bis dieses unreine Gemisch in glühender Wut sich entlädt. Und manchmal treibt sie es weit. Als Irene nach vielen Kämpfen endlich die Scheidungspapiere auf den Esszimmertisch legt, verweigert sich Gil der Realität, zieht seine Frau statt dessen auf den Boden und vergewaltigt sie: «Er stiess ihre Jeans nach unten, über ihre Knie, starrte sie hasserfülllt an, dann drang er in sie ein und fickte sie wie ein Berserker, quer über den Fussboden, und als sie mit dem Kopf gegen die Wand stiess, kam er.» Und gleich der Umschlag: «Sie kam erst später». Sie schleppt sich nämlich hinauf ins Badezimmer und onaniert nach dieser Erfahrung in der Badewanne «so viele Male, dass ihre Hand einen Krampf bekam und sie lachen musste.» Spätestens als sie sich jetzt von Gil ein Tablett mit Champagner ins Badezimmer schieben lässt und das teure Getränk als phallisches Zitat über die Brust schäumen lässt, könnte es sein, dass auch der Leser lachen muss. Aber wer zuletzt lacht, ist doch die Autorin. Denn im kurzen Schlusskapitel bekennt sich Irenes Tochter Riel nun als Autorin. Sie hat das blaue und das rote Tagebuch und die kunsthistorischen Notizen ihrer Mutter zum Indianermaler George Catlin zusammengefügt und das Ganze als ihre Masterarbeit an der University of Minnesota eingereicht. Nun dankt sie den Schreib-Mentoren: ein souveräner poetologischer Kommentar, der mit dem Machen von Kunst und Kitsch spielt. Gil, der Maler, war stolz darauf, der figürlichen Malerei die Treue zu halten. Seine Beherrschung der altmeisterlichen Techniken wirke «schon fast wieder radikal». So wirklichkeitstäuschend, zwischen Dokumentation und Fiktion schillernd, ist Louise Erdrichs Erzählen. Sie tränkt modernen amerikanischen Alltag mit archaischem Liebesirresein und schafft den Sprung von der quietschigen Kinderkrempelecke in die offene Vagina. Das Schlussbild ist ein schattenloser Moment unter der hohen Mittagssonne, während die Sirenen des Rettungsdienstes Madeline Island laut auf- und abheulen. Und mit der Ankunft verstummen. ● 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Belletristik

Roman Liebe, Sex, Tod und Feuer sind die Ingredienzen einer erotischen Geschichte des Verlangens, geschrieben hat sie der französische Autor Jean-Philippe Toussaint

Marie geistert gleich doppelt durch Regen und Nacht

mir in der Dunkelheit erschien, als habe sie sich aus dem Reich meiner Träume verabschiedet, um hier in Fleisch und Blut in meiner Wirklichkeit zu erscheinen, als habe sie den Limbus meiner Phantasie verlassen, wo ich mir gerade vorstellte, was sie tat, denn jetzt stand sie hier vor mir als Wirklichkeit aus Fleisch und Blut. Marie durchquerte das Zimmer und schlüpfte zu mir ins Bett, schmiegte sich an mich. Ich spürte ihre warme Haut an meinem Körper.» Und damit erhält der Roman von Toussaint ein erotisches Happyend.

Jean-Philippe Toussaint: Die Wahrheit über Marie. Aus dem Französischen von

Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2010. 190 Seiten, Fr. 30.50. Von Stefana Sabin

Auch in diesem Roman von Jean-Philippe Toussaint bleibt der Erzähler ohne Namen. Dafür aber gibt es zwei Frauen, die beide Marie heissen. Die eine ist die langjährige Geliebte des Erzählers, eine überdrehte Modedesignerin, mit der er Trennungen und Versöhnungen ausprobiert. Zuletzt hatten die beiden sich in einem Luxushotelzimmer in Tokio – so erzählt der frühere Roman «Sich lieben» von 2003 – getrennt, nachdem sie derart leidenschaftlich miteinander geschlafen hatten, dass «der Boden erzittert ist und die Wände gewackelt haben». Dann aber – so erzählt der nächste Roman «Fliehen» von 2007 – rief sie ihn an, während er in China mit einer anderen Frau schlafen wollte, und verhinderte nicht nur den sexuellen Vollzug, sondern auch seine emotionale Entfremdung von ihr.

Überladene Handlung

Tatsächlich hängt der Erzähler des Romans so sehr an Marie, dass auch seine neue Geliebte – so erzählt der jetzige Roman – Marie heisst. «Sicher konnte ich zwischen Marie und Marie unterscheiden – Marie war nicht Marie –, aber ich hatte plötzlich die Eingebung, dass es mir nicht gelingen würde, mich in zwei Hälften aufzuteilen, um gleichzeitig derjenige zu sein, der ich für jene Marie war, die in meinem Bett lag, und derjenige, der ich für Marie war – ihre Liebe.» Schon nach wenigen Seiten verschwindet also die eine Marie aus seinem Bett und überlässt den Roman der anderen Marie. Dieser Roman fängt mit einer doppelten Liebesszene an: Marie und der Erzähler schlafen in ihren jeweiligen Wohnungen mit ihren jeweiligen momentanen Geliebten. Während Maries Geliebter nach einer schweren Herzattacke im Notarztwagen weggebracht wird, eilt der Erzähler zu Marie. Die Nacht ist schwül und regnerisch, Marie ist immer noch nackt und anlehnungsbedürftig, und der Erzähler ist ihr zärtlich zugeneigt. Marie ist zwar «hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen, zwischen Leidenschaft und Zurückhaltung», gibt ihrem «körperlichen Verlangen» nach und widersetzt sich ihm 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

SZENE AUS DEM FILM «THE NOTEBOOK» / DDP IMAGES

Von einem Bett ins andere

gleichzeitig – so kommen sie und der Erzähler sich näher, nur um sich gleich wieder zu trennen. Aber schon wenig später kommen sie wieder zusammen. Denn Marie lädt den Erzähler nach Korsika ein, wo sie den Sommer im väterlichen Haus verbringt. Nach mehreren gemeinsamen Tagen und getrennten Nächten, bricht auf dem Anwesen Feuer aus, und Marie ist wieder verstört, hilflos und anlehnungsbedürftig. Auch diesmal regnet es, auch diesmal ist Marie fast nackt. Anders als zu Beginn sind ihre Gefühle diesmal eindeutig. «… ich hörte die sich nähernden Schritte, und ich sah, wie sich meine Schlafzimmertür öffnete und Marie vor

Literarischer Kitsch: Leidenschaft im Regen.

Zwischen dem Anfangsregen in Paris und dem Endregen auf Korsika gibt es den Regen in Tokio. Denn zusammen mit einem Pferdebesitzer, mit dem sie nach der Trennung vom Erzähler eine Affäre beginnt, verlässt Marie an einem regnerischen Abend Tokio in einem Frachtflugzeug, in dem das Rennpferd transportiert wird. Diese Episode fungiert als Verlangsamungsmoment in der vorhersehbaren Wiederannäherungsgeschichte zwischen Marie und dem Erzähler und liefert nach der Herzattacke und vor der Feuerbrunst ein zusätzliches Drama, in dem ein Pferd vor der Einschiffung ausbricht und erst mühsam wieder eingefangen wird. So ist die Handlung überladen (Liebe, Sex, Tod, Regen, Feuer), und bleibt ohne jede Spannung. Das liegt an der psychologischen Unglaubwürdigkeit der Figur Marie, die oft die Augen niederschlägt, unvermittelt weint und meistens nackt ist. Eine bemüht umständliche Syntax und unzählige Antinomien («Ich beschleunigte meine Schritte und verlangsamte sie gleichzeitig» oder «Es ist vielleicht sehr unpräzise zu sagen, dass ich sie liebte, aber nichts anderes könnte präziser sein») sind von jener vielsagenden Belanglosigkeit, die literarischen Kitsch kennzeichnet. Dazu passt, dass das Erotische nie sinnliche Kraft entfaltet, sondern zumeist ins Ordinäre abgleitet: «… als mir blitzartig bewusst wurde, dass ich zum zweiten Mal in dieser Nacht meinen Finger in den Körper einer Frau gesteckt hatte.» Dass vom ersten Satz an der französische Ausdruck «faire l’amour» als «Liebe machen» wiedergegeben wird, mag ein Zugeständnis an den Jugendjargon sein – und ist ein ständiger stilistischer Stolperstein. Die derart unbeholfene Übersetzung trägt das ihre dazu bei, unter der hochtonigen Oberfläche die inhaltliche Bedeutungslosigkeit zu erkennen. ●

Roman In Gwendoline Rileys drittem Buch taumeln junge Protagonisten in immer neue Affären

Fliehen hilft nicht weiter mit ihrer Aufmerksamkeit bald nah bei sich – bei ihrem unangenehm schlagenden Herz oder der Anspannung, die sie «wie ein Jucken irgendwo hinter meinem Brustbein» empfindet – und dann wieder ganz aussen, beim Himmel «mattweiss wie ein sauberer Knochen», beim Gespräch zweier Mädchen in der Bar, bei Joshuas sommersprossiger Haut und schmalem Rücken.

Gwendoline Riley: Joshua Spassky.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Schöffling, Frankfurt a.M. 2011. 168 Seiten, Fr. 30.50. Von Simone von Büren Ohne Alkohol ging in Gwendoline Rileys international gefeierten Romanen bisher gar nichts. Die jungen Protagonistinnen in «Cold Water» und «Krankmeldungen» arbeiten nachts in Manchesters Bars und betrinken sich bis zum Vergessen. Sie sind sensibel und sehnen sich nach Geborgenheit, geben sich aber trotzig-cool und taumeln von einer jämmerlichen Affäre zur nächsten. Ihre Vergangenheit liegt in Pappkartons unter dem Bett. Von einem besseren Leben in Cornwall oder New York träumen sie höchstens. Im neuen Roman der 1979 geborenen Engländerin blitzt der Alkohol aber fast nur noch in Erinnerungssequenzen auf. Im Unterschied zu ihren literarischen Vorgängerinnen lässt Natalie, eine 27-jährige Autorin, Pubs, Gin und Regennächte hinter sich und bricht auf nach den USA. Sie hat schon oft versucht wegzugehen, und ist doch immer wieder in ihrer Wohnung gelandet: «Jeder Fluchtweg führte zurück.»

Coolness und viel Alkohol

Dabei ist sie eindeutig weniger abgebrüht und trotzig als Rileys frühere Figuren. Sie behauptet zwar anfangs noch, «nur zufällig» in die USA gekommen zu sein, aber als sie am zweiten Tag mit Joshua ins Kino geht, ist schon «alles er». Das mag zu tun haben mit dem akuten Bewusstsein von Endlichkeit, das den ganzen Roman durchzieht. Natalie liest alte Briefe und erinnert sich an den Tod

ihrer Eltern; sie trifft sich mit Joshua in Asheville, wo Zelda Fitzgerald bei einem Krankenhausbrand ums Leben kam; sie überhört das Gespräch zwischen einem alten Mann und einem Soldat auf Heimurlaub aus Afghanistan. Sie denkt darüber nach, «wie Menschen enden müssen» und kann nicht schlafen, weil sie sich vorstellt, wie im Alter «mein Körper wie Nudelteig aussieht.» Natalie ist nicht mehr zwanzig. Zeit ist nicht endlos vorhanden. Cool- oder Betrunkensein sind keine Dauerrezepte gegen Verletzlichkeit. Die ewige Flucht taugt nicht. Die Alternative ist noch unklar. Sie hat zu tun mit Sich-Einlassen, mit dem Wieder-Lebendig-Werden aus dem Dostojewski-Zitat am Anfang des Romans und mit Verletzlichkeit – aber das alles würde die junge resolute Frau doch nur mit einer sarkastischen Bemerkung abtun. ●

Magischer Realismus Was in der Welt geschieht

Doch dieses Mal geht sie weniger von etwas weg als auf etwas zu: auf den titelgebenden Joshua Spassky, mit dem sie Erinnerungen an zu viel Alkohol und «aufgeblasenes Gerede in der eisigen Nachtluft» verbinden und mit dem sie bei aller Skepsis noch nicht abgeschlossen hat. Romantiker sind beide nicht: «Von allen Häusern tropft die Fäulnis gescheiterter Liebe», lautet der erste Satz von Natalies neuem Buch. Joshua arbeitet an einem Stück über «die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Mann und Frau». Und doch treffen sie sich – in Asheville, North Carolina. Natalie hat das Trinken unterdessen aufgegeben, Joshua möchte «tendenziell nüchtern» sein, sieht aber schon bei seiner Ankunft aus «wie das letzte Stückchen Eis, das gleich vom Stiel fällt», und trägt die WhiskeyFlasche im Rucksack mit sich. Im Hotelzimmer, im Park, in Gesprächen über Literatur, Familien und F. Scott Fitzgeralds exhumierte Leiche beginnen die beiden die Erinnerung an klammkalt durchzechte Nächte mit der Gegenwart heisser, klarer Tage zu überschreiben. Riley lässt Natalie aus der Ich-Perspektive erzählen, in einem lakonischen spröden Ton, der manche Passagen wie ein Edward-Hopper-Bild anmuten lässt. Sie schildert Intimes ironisch und getarnt mit Verweisen auf Dostojewski, Sartre und Denis Johnson. Dadurch holt sie den Leser gleichzeitig an sich heran und hält ihn auf Distanz. Sie selbst ist

PRO LITTERIS

Intimes ironisch erzählt

Der Himmel ist in tiefes Rot getaucht. Flieger kreisen bedrohlich über den Häusern. In einer Wolke schweben engelsgleiche Erscheinungen. Die ländliche Szenerie ist ein gigantisches Spektakel. Und dennoch scheint einzig die Frau in dem winzigen Häuschen davon Notiz zu nehmen. Sie hat die Hände fast wie zum Gebet gefaltet und schaut ergeben nach oben. Die beiden Männer sind in die Lektüre vertieft. «Der Zeitungsleser sieht die Welt nicht mehr», hat Franz Radziwill das Gemälde von 1950 benannt. Die surreale Szene steht für vieles im Werk des 1895 in der Wesermarsch geborenen Malers. Mit seinem magischen Realismus hat er in den 1920er-Jahren Otto Dix fasziniert und die Neue Sachlichkeit bereichert, die dem Jahrzehnt zwischen den beiden

Weltkriegen einen unterkühlten Ausdruck gab. Vor allem aber hat er sich auf seinen Bildern einen spätromantischen Fluchtraum aus der harten Realität geschaffen. Der in sich gekehrten Frau gibt er einen Blick für das, was in der Welt geschieht, die auf Informationen versessenen Zeitgenossen lässt er die Bedrohungen der Industriegesellschaft wie das, was sie daraus erretten könnte, verkennen. Dabei hat Radziwill auf der Suche nach einem Raum hinter der Wirklichkeit, diese persönlich verfehlt. Er war trotz Malverbot bis zur Denunzierung von Mitbürgern überzeugtes NSDAP-Mitglied. Gerhard Mack Katharina Henkel, Lena Nievers (Hrsg.): Franz Radziwill. Wienand, Köln 2011. 208 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 56.90. 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

Belletristik

Roman Über sechzig Jahre nach Hans Falladas Tod wird eines seiner Bücher zum internationalen Bestseller und erscheint nun erstmals in ungekürzter Fassung

Mitmachen, schweigen oder dagegenhalten? Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein.

Hrsg. und Nachwort von Almut Giesecke. Aufbau, Berlin 2011. 704 Seiten, Fr. 30.50.

Es sind eigenartige Wege, die manch ein Buch bis zu seiner Anerkennung nimmt. Der während der Besatzungszeit entstandene Roman der jüdischen Autorin Irène Némirovsky «Suite française» wurde nach über 60 Jahren veröffentlicht: ein Bestseller. Ähnliches, wenn auch weit weniger Spektakuläres widerfuhr einem Buch von Rudolf Ditzen, berühmt als Hans Fallada (1893–1947), dem 1932 mit «Kleiner Mann – was nun?» der Durchbruch gelang. Über 60 Jahre nach dem Tod Falladas und ebenso lange seit dem ersten Erscheinen des Buches 1947 wurde «Jeder stirbt für sich allein» letztes Jahr zum internationalen Bestseller. In England sind bisher über 300 000 Exemplare verkauft worden. Sogar auf die hebräische Bestsellerliste gelangte dieses Werk eines Mannes, der während des zwölf Jahre dauernden Tausendjährigen Reichs zwischen Mut, innerem Exil und Anpassertum changierte und erst zuletzt, so scheint es, eindeutige Worte fand. Das zeigt das nach jahrelanger Entzifferungsarbeit 2009 publizierte Tagebuch, das Fallada 1944 während einer Haftstrafe in Geheimschrift geschrieben hatte. Eine Regierung von «Hysterikern, Psychopathen, Monomanen und Sadisten» nennt er darin das Hitler-Regime – ein Satz, der ihn den Kopf gekostet hätte.

Von Angst und Mut

Eindeutig seine Worte auch in «Jeder stirbt für sich allein». 1945 hatte Johannes R. Becher, Dichter und späterer DDR-Kulturminister, Fallada die Gestapo-Akte eines bemerkenswerten Falles gebracht. Darin ging es um das Berliner Ehepaar Elise und Otto Hampel, das von 1940 bis 1942 Anti-NS-Parolen auf Postkarten schrieb und diese in der Stadt verteilte. 1942 wurden die beiden verhaftet, fünf Monate später hingerichtet. Im Roman heissen sie Anna und Otto Quangel. Das Buch verhandelt auch ihren Fall, aber weit mehr als das. Die 866 Typoskriptseiten sind das erste Buch eines deutschen Schriftstellers zum Thema Widerstand gegen Hitler; ein Buch, das in die Hinterhäuser Berlins schaut, in die Fabriken. Angst ist sein grosses Thema. Angst und Mut. «Jeder stirbt für sich allein» erzählt in Short-Cut-Manier die Schicksale mehrerer Menschen, deren Wege sich immer 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

DAS BUNDESARCHIV, NJ

Von Regula Freuler

Vorlage für Falladas Roman: Elise und Otto Hampel nach ihrer Verhaftung durch die Gestapo im September 1942. Sie wurden 1943 hingerichtet.

wieder kreuzen. Neben dem Arbeiterehepaar Quangel ist da die Briefträgerin Eva Kluge und der von ihr getrennt lebende Mann Enno, ein schamloser Nichtsnutz. Da ist die Jüdin Rosenthal, der in absoluter Zurückgezogenheit lebende Kammergerichtsrat a. D., die Partei-fleissigen Widerlinge der Familie Persicke, der Kleinkriminelle und Denunziant Emil Barkhausen und sein Sohn Kuno-Dieter. «Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet», beginnt die erste Postkarte, welche die Quangels schreiben, zuerst jeden Sonntag eine, dann mehrere. Ihr Inhalt indiziert die Perspektive des Romans: jene der einfachen Leute, deren Söhne nicht verschont werden wie der Nachwuchs der Parteibonzen. Mitmachen, Widerstand leisten, schweigen und ausharren – welche Haltung ist die richtige in dieser ungerechten Welt? Diese Frage ist Thema vieler Dialoge. «Ich nehm keinem was dadurch, dass ich glücklich bin», sagt an einer Stelle ein junger Mann, der sich aus allem Politischem raushalten will. «Doch, du stiehlst!», widerspricht ihm seine Frau. «Du stiehlst Müttern ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Mädchen ihren Freund, solange du duldest, dass die täglich zu Tausenden erschossen werden, und machst nicht einen Finger krumm, um dem Morden Einhalt zu tun.» Wie Herausgeberin Almut Giesecke im kundigen Nachwort festhält, wollte Fallada das Roman-Projekt anfangs «je länger je weniger» schmecken. Zu «trostlos» der Stoff und seine Protagonisten. Nach einem Spitalaufenthalt infolge eines Nervenzusammenbruchs kam er jedoch rasch voran: Zwischen September und November 1946, in we-

niger als vier Monaten, verfasste Fallada «die gewünschte Schmonze», wie er am 5. November 1946 an den Leiter des Aufbau-Verlages schrieb. Und nicht ohne Stolz: «Endlich wieder ein Fallada!» Bevor man sich mit dem Lektorat über eine Fassung letzter Hand einigte, starb Fallada an Herzversagen, nicht zuletzt an den Folgen jahrelanger, immer wiederkehrender Alkohol- und Drogensucht. Die Gutachten, die vor der Publikation entstanden sind, fielen alle negativ aus. Was jetzt bei dem späten internationalen Erfolg so gelobt wird, nämlich eine hochgradige Realitätsnähe, wurde damals vermisst. Eine solche sei ausgeblendet worden, das Buch «ein Zuhälterroman mit politischem Aufputz. Damit will niemand in Deutschland etwas zu tun gehabt haben.» Das Buch erschien trotzdem, wenngleich mit politisch orientierten Glättungen. So wurde fast ein ganzes Kapitel gestrichen, das die anfänglich Hitlerfreundliche Haltung der Quangels enthält. «Sie waren sich immer einig gewesen», liest man jetzt im vollständigen Text, «als er [Otto] mit seiner kleinen Tischlerwerkstatt verkracht war, dass der Führer den Karren aus dem Dreck gerissen hatte.» Einer der beiden Gründe, weshalb sie nicht der Partei beigetreten waren, war ihr Geiz: Es reute sie der Beitrag. Anna war freiwillig Mitglied der NS-Frauenschaft geworden und hatte dort einen Posten übernommen.

Ein Stück Selbstkritik

Schwanken in der politischen Haltung und bequemes Mitläufertum waren in einer Zeit der Entnazifizierung, wie Giesecke schreibt, nicht erwünscht. Doch genau das interessierte Fallada am Stoff, und er hat es in durchaus unterhaltungsschriftstellerischer Weise zu vermitteln gewusst, die viele kleine Gemeinheiten in Form gnadenloser Beobachtungen enthält: «Jeder stirbt für sich allein» ist ein gruseliger Pageturner. Aufgrund des späten, aber fulminanten internationalen Erfolgs gibt der Verlag nun erstmals das Originalmanuskript, das in der Staatsbibliothek liegt, von dessen Existenz aber bisher nichts bekannt war, heraus. Wer das Buch zum ersten Mal liest, staunt über seine Offenheit in jeder Hinsicht. Wer es bereits kennt, mag es laut Giesecke als «rauer und derber» empfinden. Für Fallada ist es wohl auch ein gutes Stück Selbstkritik. Den Namen Fallada lieh der Schriftsteller sich aus dem Grimm-Märchen «Die Gänsemagd», in dem ein Pferd namens Falada vorkommt, das auch nach seinem Tod noch die Wahrheit sagt. ●

Belletristik

Roman Krimiautor Andrea Camilleri macht einen Abstecher in die Geschichte

Mussolini und der schwarze Prinz

Kurzkritiken Belletristik Katharina Born: Schlechte Gesellschaft. Eine Familiengeschichte. Débutroman. Hanser, München 2011. 268 Seiten, Fr. 29.90.

Georges Rodenbach: Das tote Brügge. Roman. Deutsch von Dirk Hemjeoltmanns. Reclam, Stuttgart 2011. 130 Seiten, Fr. 14.50.

Die 37-jährige Katharina Born ist die Tochter des früh verstorbenen, postum zu Ehren gekommenen Nicolas Born, dessen Werk sie seit 2003 herausgibt. Nun legt die Übersetzerin und Journalistin ihren ersten Roman vor, aus dem sie 2009 in Klagenfurt vorlas und dafür den Ernst-Willner-Preis gewann. Es sind grosse Themen, die Katharina Born verhandelt: Inzest, Krieg, Liebe, Wahnsinn. Dreh- und Angelpunkt ist die postume Herausgabe des Manuskripts eines früh verstorbenen Autors. Nicht nur da kann die Autorin aus der eigenen Erfahrung schöpfen. Man kann nur bewundern, wie souverän sie in vier Erzählsträngen, die ab 1865, 1933, 1967 und 2007 chronologisch geführt werden, durch das Buch navigiert. Nirgendwo entdeckt man sprachliche Unsicherheit. Die Gefahr, die historischen Romanen in Form von Klischees innewohnt, weiss sie mit kühlem Erzählton zu umschiffen. Regula Freuler

Dieser kleine symbolistische Roman, der immer einmal wieder neu entdeckt wird, ist ein typisches Werk des Fin de Siècle. Die nebelverhangene belgische Stadt, die melancholische Natur entsprechen der Seelenverfassung des Helden. Hugues Viane, ein Witwer, ergibt sich in Brügge der Trauer um seine verstorbene Gattin. Er betreibt einen regelrechten Kult um sie – bis er in der Schauspielerin Jane Scott einem Ebenbild der Verblichenen begegnet und in eine Affäre mit fatalem Ausgang gerät. Das 1892 erstmals erschienene Buch ist reiner Jugendstil. Es besticht durch die Eleganz seiner Sprache, die seinen hemmungslosen Weltschmerz ins Ästhetische erhebt. Und nicht zuletzt ist das charmante kleine Werk eine Hommage an die wunderbare Stadt Brügge mit ihren Grachten, Kirchen, Museen, malerischen Häuserzeilen und legendären Gasthäusern. Manfred Papst

Ali Baba und die vierzig Räuber. Erzählungen aus 1001 Nacht. C. H. Beck, München 2011. 391 Seiten, Fr. 34.90.

Jens Steiner: Hasenleben. Débutroman. Dörlemann, Zürich 2011. 287 Seiten, Fr. 30.50.

Natürlich gibt es exaktere deutsche Übersetzungen der Erzählungen aus Tausend und einer Nacht. Vollständigere sowieso: Man denke nur an die gewaltige Leistung von Enno Littmann. Dennoch hat auch diese Neuausgabe der orientalischen Geschichten ihre Berechtigung: Johann Heinrich Voss (1751–1826), der Übersetzer Homers und Vergils, hat eine Auswahl der persisch-arabischen Erzählungen, die auf indische Quellen zurückgehen, ins schmiegsame Deutsch seiner Epoche übertragen. Er ging von der französischen Übertragung aus, die Antoine Galland Anfang 18. Jahrhundert vorgelegt hatte. Seine Nacherzählung, die nun in gepflegter Auswahl vorliegt, bietet dem philologisch toleranten Leser in der kundigen Edition von Ernst-Peter Wieckenberg eine unbeschwerte Wiederbegegnung mit einem unerschöpflichen Werk der Weltliteratur. Manfred Papst

Jens Steiner, 36, in Zürich als Verlagslektor tätig, wagt viel in seinem Début: ungewöhnlich das Thema, eigenwillig die Sprache. Im Zentrum des ersten Teils steht Lili, die mit 17 Mutter wurde und mit 19 gleich noch einmal. Als Alleinerziehende führt sie fortan ein Nomadenleben. Ihr Wahlspruch: «Mir wird doch noch was einfallen!» Aber wie ergeht es den Kindern dabei? Vieles erfährt man aus der Sicht der zu Beginn 11-jährigen Emma, kaum etwas vom introvertierten Werner. Die zweite Hälfte des Buches spielt zehn Jahre später. Feinfühlig erzählt Steiner, wie sich das Schicksal von Eltern in Kindern wiederholen kann. Es ist eine zögerliche, distanzierte Sprache, die der Autor für seinen Stoff entwickelt hat. Und durch den Wechsel der Hauptfiguren entsteht eine Lücke, die unbefriedigt lässt. Keine einfache Lektüre, aber eine nachdenklich stimmende. Regula Freuler

Andrea Camilleri: Streng vertraulich.

Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt. Nagel & Kimche, München 2011. 263 Seiten, Fr. 29.90.

IPP / CINETEXT

Von Christine Brand Die Geschichte beginnt mit einem Brief. Absender ist das italienische Aussenministerium, Adressat der Rektor der Bergbauschule Vigàta. Der Betreff über der delikaten Anfrage lautet: «Prinz Grhane Solassie». Der Prinz, Neffe des äthiopischen Kaisers Negus, beabsichtigt, im faschistischen Sommer 1929 in Sizilien Bergbau zu studieren. Eine diplomatisch heikle Angelegenheit! Doch der exotische Gast ist trotz seiner dunklen Hautfarbe im Land des Duce hoch willkommen: Denn zur gleichen Zeit plant dieser die Expansion seiner Kolonien in Afrika und wittert im kaiserlichen Neffen einen Fürsprecher. Eine Konstellation, die etliche Getreue Mussolinis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringt. Denn der Prinz, ein Bonvivant, der am Laufmeter Herzen bricht, schröpft nicht nur die Kasse des Duce, sondern weigert sich gleichzeitig, nach dessen Pfeife zu tanzen. Nicht nur der Inhalt, auch die Form des neuen Romans von Andrea Camilleri ist abenteuerlich: Es gibt keine erzählte Handlung, der Leser muss sich die Geschichte aus einzelnen Puzzlestücken – aus Briefen, Gesprächsprotokollen, Zeitungsartikeln – selber zusammensetzen. Was am Anfang etwas mühsam erscheinen mag, wird schliesslich zum Vergnügen. Und obwohl Camilleri seinen Hauptprotagonisten mit dem unsteten Lebenswandel nicht ein einziges Mal selbst zu Wort kommen lässt, gewinnt der schwarze Prinz letztlich auch das Herz des Lesers. Andrea Camilleri, dessen erfolgreichste Figur Commissario Montalbano ist, gelingt mit «Streng vertraulich» ein humorvolles Spiel aus Realität und Fiktion. Denn den äthiopischen Prinzen gab es tatsächlich. Doch die grösste Portion der Geschichte entstand in Camilleris Kopf – was nicht bedeutet, dass die Vorkommnisse aus der Luft gegriffen sind. Camilleri sagt dazu: «Wenn auch die wichtigsten Geschehnisse frei erfunden sind, wahr bleibt dennoch das Klima echter, allgemeiner Dummheit, die halb Farce, halb Tragödie, jene Zeit geprägt hat.» Gleichzeitig trifft Camilleris Kritik mitten ins Herz des heutigen Italien. ●

27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11

Interview

Seit 60 Jahren bemüht sich der Politologe Alfred Grosser um die deutsch-französische Verständigung, kritisiert als Jude die israelische Politik und schreibt als Atheist für katholische Zeitungen. Urs Rauber hat den geistreichen Aufklärer in Paris besucht

«Kein Witz, ich bin Moralpädagoge» Bücher am Sonntag: Herr Grosser, Sie sind am

1. Februar 86 geworden. Wie haben Sie Ihren Geburtstag gefeiert? Alfred Grosser: Ich war eingeladen als Gast zu einem Abendessen im Palais des Präsidenten der französischen Nationalversammlung, das er zu Ehren von Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, gegeben hatte. Lammert hat mich zu meiner Überraschung mit dem Hinweis angekündigt, dass heute mein Geburtstag sei. Gab’s in Ihrem Leben einen Geburtstag, an dem Sie gedacht haben: Nun wirst du aber alt? Nein. Ich behalte die Devise des Hauses Krupp: Rast ich, so rost ich! Ihr neues Buch heisst «Die Freude und der Tod». Warum ein so heiterer Titel? Die Freude durchzieht das Buch, da ich mein ganzes Leben mit Freude gelebt habe, auch mit einigen Schwierigkeiten. Und der Tod war mir seit dem Tod meines Vaters, als ich neun Jahre alt war, jeden Tag ein Ansporn. Ein Ansporn? Es bleibt wenig Zeit – also nicht mit Kleinigkeiten den Alltag vergeuden. Das habe ich mir gesagt, als ich 20 wurde.

Alfred Grosser Alfred Grosser, geboren 1925 in Frankfurt a. M., flüchtete mit seiner jüdischen Familie 1933 nach Frankreich, wo sie später die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Von 1956 bis zu seiner Emeritierung 1992 war er Professor am Institut d’études politiques in Paris. In Deutschland wurde Grosser, der sich um die deutschfranzösische Verständigung verdient gemacht hat, vor allem durch seine Radio- und Fernsehauftritte (u.a. in Werner Höfers «Internationalem Frühschoppen») bekannt. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen «Die Bonner Demokratie» (1960), «Geschichte Deutschlands seit 1945» (1974), «Politik in Frankreich» (1980) und «Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen» (2005). Grosser erhielt 1975 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Am 11. März erscheinen bei Rowohlt seine Lebenserinnerungen «Die Freude und der Tod» (292 Seiten, Fr. 30.50). 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

Bedrückt Sie nichts am Älterwerden? Ich hatte letztes Jahr zwei kleine Operationen – eine davon als Folge einer Entzündung durch Krankenhaus-Bakterien. Ansonsten war ich nie krank. Möglicherweise geht alles gut. Fürchten Sie sich vor dem Tod? Überhaupt nicht. Das trennt mich von meiner Frau, die eine gläubige Katholikin ist. Für mich

«Eine meiner Rollen ist diejenige, die Juden davon zu überzeugen, dass Israel nicht immer recht hat.» bedeutet der Tod nach dem Diktum eines alten Griechen: Wenn ich da bin, ist der Tod nicht da – und wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr. Und Angst vor dem Leiden? Das ja. Seit ein paar Jahren habe ich Alpträume, mehr als in jungen Jahren. Was hätte geschehen können, wenn mich die Gestapo geholt hätte? Den letzten Alptraum beschreibe ich im Buch: Ich bin mit anderen Männern irgendwo. Es kommt die Gestapo herein und sagt: «Hosen herunter – alle Beschnittenen abführen.» Solche Träume verfolgen mich erst, seit ich 80 bin. Hatten Sie immer Glück im Leben? Mein Vater ist gestorben, als ich Kind war, meine Schwester, als ich 16 war. Nach der Befreiung von Marseille im Krieg haben meine Mutter und ich etwas gehungert. Das alles haben wir überstanden. Erst später habe ich bemerkt, welche Risiken der Direktor der katholischen Schule eingegangen ist, der mich als Lehrer aufgenommen hatte. Sie wurden mit 22 Beamter auf Lebenszeit und mit 31 Jahren Professor in Paris. Was ist der Schlüssel zu Ihrer Erfolgssträhne? Ich weiss es nicht. Ich war auch ein Jahr bei der Unesco und vier Jahre Assistent an der Sorbonne. Das habe ich alles gern gemacht, bei der Unesco weniger, weil man da nicht reden darf. Im deutschsprachigen Raum sind Sie vor allem als Redner und Debattierer bekannt geworden. Ich erinnere mich, dass mein Vater in den 60er Jahren am Sonntag kurz vor 12 jeweils den Fern-

seher einschaltete, während die Mutter in der Küche den Braten zubereitete. Im «Internationalen Frühschoppen» von Werner Höfer kommentierten fünf Journalisten aus vier Ländern das Weltgeschehen. Sie sassen bei uns zu Tisch! Ja, da war ich oft dabei. Dazu eine kleine Geschichte: Ich war an einer Tagung in München, die fast bis Mitternacht dauerte. Danach hatte ich Hunger und ging zum Würstchenverkäufer. Der sieht mich an und sagt: «Ich kenn Sie doch – bei Höfer!» Höfer war überglücklich, als ich ihm das später erzählt habe. Das schönste aber war, dass mir später nach der Wiedervereinigung Leute aus der DDR wie etwa Dieter Althaus, der lange Ministerpräsident in Thüringen war, gesagt haben: «Für uns waren Sie ein Begriff. Sie traten immer mutig für die Bevölkerung ein und waren hart mit dem Regime – anders als viele Sozialisten und Protestanten.» Reisen Sie immer noch viel? Viel mehr in Deutschland als in Frankreich. In Deutschland bin ich ein Teil des öffentlichen Lebens geworden. Ihre Lieblingsbeschäftigung, haben Sie einmal gesagt, sei reden vor einem Publikum. Dabei verschonen Sie dieses nicht mit Kritik. In Ihren Erinnerungen schreiben Sie: «Es ist mir immer eine Freude, ein Publikum durch eine Bosheit zu provozieren.» Was steckt dahinter? Der Wille, dass die Leute einsehen, worin sie schlecht sind. Am Jahrestag des Kriegsbeginns war ich Gast der katholischen Kirche in Köln. Dabei habe ich sehr kritisch über die Haltung der Kirche im Jahr 1933 gesprochen. Am nächsten Tag war ich eingeladen vom Deutschen Gewerkschaftsbund nach Dortmund. Dort habe ich sehr böse über die Rolle der Gewerkschaften 1933 gesprochen. Das ist pädagogisch. Hätte ich den Katholiken gesagt, wie schlecht die Gewerkschaften, und den Gewerkschaften, wie übel die Kirchen waren, wäre das demagogisch gewesen. Empfinden Sie sich als Erzieher des Menschengeschlechts? Bei einer Karl-Jaspers-Tagung in Heidelberg musste sich jeder vorstellen: der Theologe stellte sich als Theologe vor, der Soziologe als Soziologe und so weiter. Dann drehten sich alle zu mir und fragten: Und was bist Du? Ich antwortete: Moralpädagoge. Alle haben gelacht, aber ich bleibe dabei.

Jerome SeSSini / Le Figaro / DukaS

Das Herz des europäischen Intellektuellen Alfred Grosser schlägt für Frankreich: «Ich bin total Franzose – auch weil ich mich selbst überschätze.» 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13

Interview Flugzeug schnipseln. Die geht durch alle Kont­ rollen. Und was passiert mit den Ausschnitten? Die wandern in verschiedene Schubladen zu­ hause – nach ein paar Monaten geht dreiviertel in den Papierkorb, weil es überholt ist. Ganz weniges behalte ich in Ordnern auf. Auch für dieses Buch habe ich viele Ausschnitte benutzt.

Timur EmEk / AP

Vielleicht noch ein Wort zum Aufstand in den arabischen Ländern … Das ist sehr schwer zu beantworten. Die Situa­ tion verändert sich jeden Tag. Da wage ich nicht zu antworten. Immerhin wird in diesen Ländern nun gegen die Korruption gekämpft. Auch in Frankreich gibt es das – auch wir könn­ ten eines Tages eine Revolution erleben.

«Ein bisschen heuchlerisch»: Alfred Grosser begrüsst Dieter Graumann in der Frankfurter Paulskirche, 9.11.2010.

Ein Stichwort für Ihr Wirken ist Aufklärung. Alle meine Bücher sind dazu da, um aufkläre­ risch auf die Leser zu wirken. Aber Aufklärung mit Wärme. Keine kalte Vernunft. Ein weiteres zentrales Anliegen ist Ihre Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich. Bei der Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels hiess es: Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen Ungläubigen und Gläubigen und zwischen Eu­ ropäern und Menschen anderer Kontinente. Das letztere ist allerdings etwas übertrieben. Wenn Sie zwischen Frankreich und Deutschland wählen müssten, wofür schlägt Ihr Herz mehr? Für Frankreich! Ich bin total Franzose, spreche auch besser französisch als deutsch. Im neuen Buch schreiben Sie, die französische Kultur habe den Hang zur Selbstüberschätzung, die deutsche den zur Selbstbemitleidung. Ich bin ja auch Franzose, weil ich mich selbst überschätze. Eine andere Rolle, die ich eben­ falls gerne spiele, ist jene, Juden davon zu über­ zeugen, dass Israel nicht immer recht hat. Das haben Sie am 9. November letzten Jahres mit Ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche getan. Ja, ich habe zum Gedenken an die Reichs­ pogromnacht gesprochen. Ich war allerdings ein bisschen heuchlerisch. Dieter Graumann, designierter Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat mich in seiner Rede davor angegriffen, ohne mich namentlich zu er­ wähnen. Nach meiner Rede bin ich auf ihn zu­ gegangen, habe ihm die Hand geschüttelt und ihm auf die Schulter geklopft. Und die Fotogra­ fen waren glücklich. Ich kann nicht hassen. Aber Sie lieben die kleinen Provokationen? Ich habe mich auch in der Schweiz öfters schlecht benommen. Der Polizeivorstand von Zürich drohte sogar, mich auszuweisen. Aus welchem Anlass? Der Ringier Verlag hatte mich 1981 aus Anlass der Lancierung von «Die Woche» und «L’Hebdo» eingeladen, in Zürich und Lausanne zu sprechen. Damals habe ich gesagt, die Schweiz sei nie neutral gewesen. Sie habe immer gewollt, dass Hitler besiegt und Stalin in Schach gehalten werde, aber sie wollte einfach, dass andere dafür sterben. Die andere Provoka­ tion habe ich in St. Gallen begangen vor Banki­ ers, als ich sagte, die Schweiz sei ein Land der 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

Hehlerei. Wenn hinterzogene Steuergelder auf Schweizer Banken liegen, ist das Hehlerei. Sie machen ein ganzes Land für etwas haftbar, was einige wenige Banken tun. Aber die Schweiz lebt von diesem Geld. Nicht die Schweiz, sondern einige Bankinstitute. (lacht verschmitzt). Bei solch kleinen Boshaftigkeiten schimmert Ihre Freude am Meinungsstreit durch. Natürlich. Schlimm wird’s erst, wenn es ge­ schrieben wird. Wenn ich eine Bosheit vor einem Publikum sage, lächle ich dazu, mache eine Handbewegung – und alle wissen, dass es wohlwollend gemeint ist. Beim Niederschrei­ ben muss es etwas abgeschwächt werden.

«Die Schweiz war nie neutral. Sie wollte immer, dass Hitler besiegt wird, aber sie wollte, dass andere dafür sterben.» Wollen Sie die Welt verändern? Das macht jeder. Ich habe es etwas mehr getan als andere. Wenn Sie in der Metro die Leute an­ lächeln statt stur dazusitzen, haben Sie schon ein bisschen die Welt verändert. Auf welchen Gebieten haben Sie die Welt verändert? Vor allem im gegenseitigen Verständnis zwi­ schen Deutschland und Frankreich. Dann durch die Pädagogik bei meinen Studenten. Laurence Parisot, die Präsidentin unseres nationalen Un­ ternehmerverbandes Medef, hat neulich gesagt, ich hätte ihr die Ethik beigebracht. Aber da ich finde, sie habe eine schlechte Ethik, ist dies ein unverdientes Kompliment. Sie sind leidenschaftlicher Medienkonsument, lesen täglich zwei deutsche und vier französische Tageszeitungen und ein halbes Dutzend Wochenmagazine. Haben Sie eine spezielle Lesetechnik? Ich habe das Glück, sehr schnell lesen zu kön­ nen. Wenn ich zum Beispiel auf der letzten Seite der «Süddeutschen» drei Zeilen entdecke, die etwas Interessantes enthalten, schneide ich sie aus. Sehen Sie, hier habe ich eine Spielzeug­ schere aus Plastic, damit kann ich sogar im

Eine Revolution in Frankreich? Immer mehr Menschen ganz unten erkennen, wie die Lage ganz oben ist. Wenn jemand einen Betrieb schlecht führt und dann mit ein paar Millionen Euro abgefunden wird, registriert man das. Auch in unseren Vororten. Dazu gibt’s ein Sprichwort: Was ist der Unterschied zwi­ schen Ordnung und Unordnung? Unordnung ist dort, wo nichts am rechten Platz ist. Ord­ nung, wo am rechten Platz nichts ist. Die jun­ gen arabischen Franzosen in den Banlieues haben nicht die geringste Chance. Sie sind ar­ beitslos, werden diskriminiert und kennen die Polizei nur durch Kontrollen. Wieso sollen sie sich an die Ordnung halten? Natürlich wird eine Revolte hier nicht so gewaltig sein wie in Tune­ sien oder Ägypten, weil sie begrenzt bleibt. Sie sind kein Gruppenmensch, sondern bezeichnen sich als moralisierenden Einzelgänger – wie Albert Camus: «solidaire et solitaire». Was verstehen Sie darunter? Ich habe immer gesagt, man solle einer Partei beitreten, obwohl ich nie in einer Partei war. Man solle in die Gewerkschaft eintreten, auch wenn ich nie Mitglied einer Gewerkschaft war. Es gibt zwei Gemeinschaften, denen ich nicht angehöre, in denen ich aber mitwirken darf: als Franzose in Deutschland und als Atheist im französischen Katholizismus. Ich bin seit 1955 ständiger Mitarbeiter der einzigen grossen ka­ tholischen Zeitung «La Croix». Was ist jüdisch an Ihnen ausser Ihrer Herkunft? Furchtbar wenig. Ein Mitempfinden für die Opfer der israelischen Politik. Weil meine vier Grosseltern Juden waren, bin ich mehr davon berührt, wenn Israel schlecht handelt, als wenn es Australien tut. Sie schreiben, dass Ehrfurcht eine zentrale Tugend für den Humanismus sei. Was heisst das? Die Ehrfurcht vor den Schwachen. Viele Intel­ lektuelle verachten einfache Leute, die sich nicht so gut ausdrücken können. Ich habe immer Respekt gegenüber meinen Studenten empfunden. Ehrfurcht nicht nach oben, nicht gegenüber meinem Präsidenten. Wohl aber Treue gegenüber den Institutionen, das schon. Im Gegensatz zu den meisten meiner Kollegen, die als Professoren sehr individualistisch den­ ken. Ich war zum Beispiel lange Vorsitzender des Elternrats der Grundschule in unserem Viertel. Das gehört zu meiner Verantwortung gegenüber dem Staat. Aus jeder Zeile Ihres Buches spricht Optimismus. Erstaunlich angesichts der Probleme dieser Welt. Ich bin intellektuell Pessimist und genetisch Optimist. Verglichen mit unseren Hoffnungen von 1950 ist in Europa nicht alles erfüllt worden. Von der damaligen Wahrscheinlichkeit her ist mehr als erhofft erfüllt worden. l

Kolumne

GAËTAN BALLY / KEYSTONE

Charles Lewinskys Zitatenlese

Charles Lewinsky, 64, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Seine Adventsparodie «Der Teufel in der Weihnachtsnacht» ist 2010 bei Nagel & Kimche neu aufgelegt worden.

Lebe dein Leben ordentlich und so gewöhnlich wie ein Spiessbürger, damit du in deinem Werk wild und originell sein kannst.

Kurzkritiken Sachbuch Ulrike Stamm: Der Orient der Frauen. Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen. Böhlau 2010. 368 S., Fr. 70.90.

Peter F. Drucker: Ursprünge des Totalitarismus. Karolinger Verlag, Wien 2010. 238 Seiten, Fr. 38.90.

Bücher über Frauen, die im 19. Jahrhundert allein oder als Begleiterinnen ihrer Männer durch den Orient reisten, sind populär – seien es Bildbände mit sepiabraunen Fotos oder neu aufgelegte Reisebeschreibungen. Die vorliegende Studie widmet sich den Frauen, die ihre Erfahrungen als Schriftstellerinnen verarbeitet haben. Es waren Frauen, die sich den damals üblichen gesellschaftlichen Konzeptionen von Weiblichkeit auf radikale Weise entzogen hatten. Aus Zürich stammte z. B. Regula Engel-Egli (1761–1853), die ihren Mann auf den napoleonischen Kriegszügen bis nach Ägypten begleitete; ihr Reisebericht war ein Erfolg und erschien in zwei Auflagen. Als wissenschaftliche Untersuchung eher ein Fach- denn ein Sachbuch, ist «Orient der Frauen» in einem entsprechenden Jargon gehalten, der das Lesen des an und für sich interessanten Textes nicht eben erleichtert. Geneviève Lüscher

Auch Bücher haben ihr Schicksal. Lange bevor Peter Drucker, geboren 1909 in Wien, zum bekannten Ökonomen und Management-Theoretiker wurde, hatte er als junger Mann ein Buch zur Machtergreifung Hitlers geschrieben. «The End of Economic Man» erschien 1939 in den USA und wurde ein Grosserfolg. Nun liegt diese frühe Analyse des Totalitarismus zum ersten Mal in deutscher Sprache vor. Mit dem Homo oeconomicus, dessen Ende Drucker sieht, ist das Vertrauen in die rationale Ordnung der Welt gemeint und die Hoffnung auf Fortschritt durch rationales Verhalten. Im Zusammenbruch dieses Vertrauens sieht Drucker den Grund für Hitlers Sieg. Eine erstaunlich frühe «Dialektik der Aufklärung» also, lange vor jener der linken Denker Horkheimer und Adorno, und lange vor der grossen Katastrophe, die der junge Peter Drucker vorausgesehen hat. Kathrin Meier-Rust

Wolfgang Schmidbauer: Das kalte Herz. Von der Macht des Geldes. Murmann, Hamburg 2011. 214 Seiten, Fr. 30.50.

György Dalos: Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie. C. H. Beck, München 2011. 288 Seiten, Fr. 30.50.

«Angenehm kühl» sei ein Herz aus Stein, erklärt der Holländer-Michel dem armen Kohlemunk-Peter, denn weder Angst noch Schrecken oder törichtes Mitleiden poche an ein solches Herz. Im neuen Buch des Münchner Psychotherapeuten Wolfgang Schmidbauer führt Wilhelm Hauffs Märchen «Das kalte Herz» als roter Faden durch eine Erkundung der Fähigkeit zur Empathie. Eine stark an Geld, Konsum und Leistung orientierte Gesellschaft schade der Umwelt und der Innenwelt des Menschen, sagt Schmidbauer. Sein kluges Buch handelt von den Ursachen für steigende Ängste und Depressionen, von zunehmendem Mobbing und Stalking als Anzeichen fehlender Empathie, von einem schwachen Selbstgefühl, das die Kränkungen des Lebens nicht mehr aushält und in den Teufelskreis narzisstischer Perfektionsansprüche gerät. Kathrin Meier-Rust

Am 2. März wird Michail Gorbatschow 80. Mit der von kritischer Sympathie getragenen Biografie des ungarischen Autors György Dalos liegt erstmals eine Würdigung des letzten sowjetischen Partei- und Staatschefs vor, die sich weitgehend auf russische Quellen stützt. Auf Erinnerungen engster Mitarbeiter wie Alexander Jakowlew, Anatolij Tschernjajaew, Walentin Falin, Nikolaj Ryschkow und seiner 1999 verstorbenen Frau Raissa. Dalos ist ein glänzender Stilist, der die teils operettenhaften Szenen im Moskauer Politbüro mit Ironie und Sarkasmus schildert und gleichzeitig das Geschehen an der sowjetischen Peripherie, in den Satellitenstaaten, im Auge behält. Gorbatschows Aufstieg und Fall sowie der Zusammenbruch des «Reichs des Bösen» (Ronald Reagan) bietet immer noch Stoff für eine faszinierende Lektion der Zeitgeschichte. Urs Rauber

Gustave Flaubert

Es war einmal ein Schriftsteller, der sah aus, wie ein Dichter auszusehen hat. Obwohl er schon viele Jahrzehnte sein ausschweifendes Leben führte, waren seine Haare noch nicht ergraut, und seine Frisur war rund um die Uhr so fotogen zerwühlt, als habe er gerade zehn Runden mit seiner Muse gerungen und sie nur ganz knapp nach Punkten besiegt. Er trug immer eine Sonnenbrille, die war in einer legendären Schlägerei zu Bruch gegangen und er hatte sie – so uneitel war er! – mit Leukoplast geflickt. Wenn er die schwarzen Gläser aber abnahm, und des Dichters Aug, in holdem Wahnsinn rollend, in die Runde blitzte, dann fielen junge Damen beiderlei Geschlechts reihenweise in Ohnmacht. Einmal war er mit einer Schönheitskönigin verheiratet gewesen, nur gerade so lang, wie man braucht, um von der Hochzeitskapelle in Las Vegas nach Reno zum Scheidungsrichter zu fahren, und einmal hatte eine echte Prinzessin aus unerwiderter Liebe zu ihm Selbstmord begehen wollen. (Oder er hatte zumindest nicht dementiert, dass sie die Überdosis Schlafmittel seinetwegen geschluckt hatte.) In Bayreuth schritt er als Einziger in Jeans über den roten Premierenteppich, und in Hafenkaschemmen kannten ihn raubeinige Gesellen beim Vornamen und erinnerten sich an wilde Abenteuer, die sie gemeinsam auf hoher See erlebt hatten. Wenn ihn aber ein Reporter dort aufstöberte – niemand wusste zu sagen, wo die anonymen Tipps immer wieder herkamen – dann gab es schon einmal eine handfeste Prügelei, und so mancher Fotograf trug am nächsten Tag stolz sein blaues Auge wie einen Orden ins Pressehaus. Es wurden viele Geschichten über ihn erzählt, und wenn ein Mikrofon in der Nähe war, erzählte er sie auch gern selber. Einmal hatte er ein Jahr in einem tibetanischen Kloster gelebt und ein anderes Mal ein paar Monate wegen Drogenhandels in einem algerischen Gefängnis gesessen. Auf seiner HarleyDavidson fuhr er mit den Hells Angels übers Land, und wenn ihn jemand in seiner Privatmaschine zu einer Galerieeröffnung nach New York mitnehmen wollte, bestand er darauf, dass drei Flaschen seines persönlichen Whiskys mit an Bord waren. Er führte ein bewegtes Leben, und nicht nur die Feuilleton-Seiten, sondern auch die Klatschspalten waren voll davon. Nur zum Schreiben, das muss man verstehen, zum Schreiben kam er überhaupt nicht.

27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Sachbuch Zweiter Weltkrieg Unveröffentlichte Briefe und zwei Biografien zeigen die Opposition des adligen Ehepaars Freya und Helmuth James von Moltke gegen den deutschen Nationalsozialismus

Vereint im Widerstand Helmuth James und Freya von Moltke: Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel.

September 1944–Januar 1945. Hrsg. Helmuth Caspar von Moltke und Ulrike von Moltke. C. H. Beck, München 2011. 608 Seiten, Fr. 43.50. Frauke Geyken: Freya von Moltke.

Ein Jahrhundertleben 1911–2010. C. H. Beck, München 2011. 287 Seiten, Fr. 30.50. Sylke Tempel: Freya von Moltke.

Ein Leben. Ein Jahrhundert. Rowohlt, Berlin 2011. 220 Seiten, Fr. 30.50. Von Klara Obermüller Eigentlich deutet wenig darauf hin, dass aus diesen beiden jungen Menschen einmal etwas so Besonderes werden würde. Sie, eine behütete Bankierstochter aus Köln, er, ein adliger Gutsherrensohn aus Niederschlesien, lebten ihr Leben zunächst ganz im Rahmen ihrer Herkunft und ihres Standes. Er studiert Jura und bereitet sich auf die spätere Übernahme des Familiensitzes Kreisau vor, sie verlässt die Schule mit der Mittleren Reife, ohne recht zu wissen, was einmal aus ihr

Deutscher Widerstand Die Opposition gegen das nationalsozialistische Regime bestand aus vielen Gruppierungen. Zu den bekanntesten gehören: die Bekennende Kirche um Pastor Niemöller, die Weisse Rose um Hans und Sophie Scholl, die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis um Helmuth James von Moltke und Peter York von Wartburg. Am meisten publiziert wurde in letzter Zeit über die Offiziere des 20. Juli 1944 um Ludwig Beck und Claus Graf Schenk von Stauffenberg, die als einzige neben dem Einzeltäter Georg Elsner ein Attentat gegen den Führer wagten. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

werden soll. Charakterlich sind sie sehr verschieden: sie ist voller Optimismus, den Menschen und dem Leben zugewandt, er eher skeptisch, reserviert und der Tradition seiner Familie verpflichtet. Was sie verbindet, ist ihre demokratische Gesinnung, der Glaube an christliche Werte – und eine grosse innere Freiheit. Als die beiden sich im Sommer 1929 zum ersten Mal begegnen, ist für Freya Deichmann augenblicklich klar: dieser Mann oder keiner. Wenig später spricht auch er in einem Brief an sie von «der Überzeugung, dass Sie alles, was ich Ihnen sagen könnte, schon wissen und daher verstehen». Damit nahm eine Liebe ihren Anfang, der nichts, keine räumliche Trennung, keine politische Bedrohung, ja nicht einmal der Tod etwas anhaben konnte. Gemeinsam entschlossen sie sich zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Gemeinsam bereiteten sie sich darauf vor, die Konsequenzen ihrer politischen Haltung zu tragen. Die sichere Hinrichtung schon vor Augen schrieb er ihr: «Trotzdem nehme ich keinen Abschied von Dir, mein sehr liebes Herz, weil ich zu sehr das Gefühl habe, nun werde ich Dir auch im Tode so verbunden bleiben, dass ein Abschied eine Gotteslästerung wäre.» Helmuth James von Moltke und seine Frau Freya waren Kopf und Seele des sogenannten Kreisauer Kreises, einer Vereinigung von Gegnern des Nationalsozialismus, die sich Gedanken über eine Neuorientierung Deutschlands nach dem verlorenen Krieg machten, die Anwendung von Gewalt jedoch, im Gegensatz zu den Männern des 20. Juli, grundsätzlich ablehnten. «Wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben», schreibt von Moltke in einem Brief aus der Haft. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Stolz und bestärkte ihn in der Gewissheit, dass die Nazis ihm gegenüber letztlich machtlos waren. Sie

konnten ihm das Leben nehmen, das ja, nicht aber seine Überzeugung, seinen Glauben – und seine Liebe zu Freya. In Briefen, die sie von seiner Verhaftung am 19. Januar 1944 bis zu seiner Hinrichtung am 23. Januar 1945 fast täglich wechselten, hat das Paar sich dessen gegenseitig versichert. Dank der Unerschrockenheit des Gefängnispfarrers Harald Poelchau haben diese Briefe ihren jeweiligen Bestimmungsort erreicht. Freya von Moltke selbst gelang es, sie bis Kriegsende in den Bienenstöcken von Kreisau zu verstecken. Später hat sie Teile davon zur Veröffentlichung freigegeben. Die sogenannten Abschiedsbriefe aus dem Gefängnis Tegel jedoch hielt sie als ganz persönlichen «Schatz» bis zu ihrem Tod vor einem Jahr unter Verschluss. Jetzt aber sind sie, sorgfältig ediert von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter, in Buchform erschienen, zeitgleich mit zwei ihr gewidmeten Biografien, die sie ebenfalls erst nach ihrem Tod veröffentlicht sehen wollte. Zusammen mit von Moltkes Gefängnistagebuch sowie früheren Briefen aus der Haft stellt diese Korrespondenz ein einmaliges Zeugnis politischer Intelligenz und menschlicher Integrität dar.

Schreiben um den Tod

Zentrale Themen des Briefwechsels zwischen Freya und Helmuth von Moltke sind, neben Fragen der Verteidigung und Problemen des täglichen Lebens, die Liebe, die Gegenwart Gottes und der unmittelbar bevorstehende Tod. Dieser vor allem. Denn aller religiösen Gewissheit zum Trotz ist von Moltke immer wieder schweren Anfechtungen ausgesetzt. «Diese Stunden sind so, dass ich mich nach dem Henker sehne», schreibt er einmal. Und auch Freya war wohl öfters verzagt, als sie in ihren Briefen an ihn zugeben wollte. Beide empfanden sie die Tatsache, dass Helmuth fast ein

Jahr lang inhaftiert blieb und auch nach seiner Verurteilung nicht sofort hingerichtet wurde, zwar als Geschenk von ganz besonderem Wert. Doch die Ungewissheit, das dauernde Hin und Her zwischen gläubiger Todesbereitschaft und kreatürlicher Todesangst, machte ihm vor allem schwer zu schaffen. Jeder Brief, den sie sich schrieben, konnte der letzte sein und den andern unter Umständen schon nicht mehr erreichen. Hätte er im Angesicht des Todes nicht zu diesem tiefen Gottvertrauen gefunden und wäre für beide nicht dieses fast mystisch zu nennende Gefühl der Verbundenheit gewesen, es wäre wohl nicht so oft von «Glück» die Rede, wie dies in den letzten Briefen vor der Hinrichtung der Fall ist.

Nachlass Joachim WolfgaNg voN moltke

Weibliche Perspektive

Freya und Helmuth von Moltke (1. und 2. von links) heiraten im Oktober 1931 in Köln. Hier mit ihren beiden Müttern.

Dass es jetzt dank der beiden Biografien möglich ist, auch mehr über Freya von Moltke selbst zu erfahren, ist sehr zu begrüssen. Sie war, wie viele andere Frauen des Widerstands auch, nicht einfach nur die Gattin an seiner Seite; sie war von allem Anfang an in all seine Aktivitäten einbezogen und hat alle seine Entscheidungen aus innerer Überzeugung mitgetragen. Anders hätte sie es wohl nicht geschafft, inmitten der Kriegswirren zwischen Berlin und Niederschlesien hin und her zu pendeln, ihn mit Lebensmitteln und Büchern zu versorgen, seine Verteidigung zu organisieren und gleichzeitig die beiden Kinder zu betreuen und in Kreisau zum Rechten zu sehen. Sie tat es mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit und einem Lebensmut, der ihr später vermutlich half, nicht in der Erinnerung zu erstarren, sondern das Vermächtnis ihres Mannes im internationalen Begegnungszentrum von Neu Kreisau für die Nachwelt fruchtbar zu machen. Unabhängig voneinander zeigen die beiden Biografien eine Frau, der eine Art innerer Kompass den Weg wies und die in ihrer lebensbejahenden Art auch noch aus dem grössten Schmerz Kraft für sich und andere zu schöpfen vermochte. Die beiden Autorinnen gehen allerdings auf recht unterschiedliche Weise vor: Frauke Geyken legt eine gründlich recherchierte und wissenschaftlich einwandfrei dokumentierte Arbeit vor, während Sylke Tempel sich mehr als Erzählerin versteht, die geschickt arrangiert und vor allem anschaulich machen will, was die bis anhin männliche Perspektive auf den Kreisauer Kreis ausser acht gelassen hatte. Dabei geschieht bei der Lektüre der zwei Biografien über Freya von Moltke etwas Ähnliches wie bei denjenigen Helmuths: Den Zauber, der von diesen beiden Menschen ausging, spürt man eigentlich erst dann so richtig, wenn sie selbst das Wort haben und zueinander sprechen: von ihren politischen Überzeugungen, von ihren religiösen Gewissheiten und von ihrer Liebe, die er einmal in die Worte fasste: «Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind ein Schöpfungsgedanke.» l 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

Sachbuch

Zeitgeschichte Wie der Erotikboom nach 1945 die Bundesrepublik eroberte

Mit den Sexheftchen meldeten sich die Sittenwächter Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um

Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik. Siedler, München 2011. 575 Seiten, Fr. 42.90. Von Fritz Trümpi «Sex sells» – das war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch in Deutschland die Devise, die dem kriegsversehrten Land erst einmal einen wahren Sexheftchen-Boom bescherte: Sechs Millionen sollen davon bis Ende der 1940er-Jahre auf den Markt gekommen sein, die von rund 140 verschiedenen Erotikverlagen gedruckt und verlegt wurden. Doch mit dem Erotik-Boom meldeten sich auch Deutschlands Sittenwächter zu Wort und machten sich daran, ein auf Kaiserreich und Weimarer Republik zurückgehendes «Schmutzund-Schund»-Gesetz neuer Wirksamkeit zuzuführen. Dieses Spannungsfeld hat die deutsche Zeithistorikerin Sybille Steinbacher in akribischer Feinarbeit ausgelotet und fördert weit über das Kernthema hinausreichende Erkenntnisse zutage, die für das historische Verständnis der jungen Bundesrepublik von zentralem Interesse sind. Über die Sexualitätsdebatten lassen sich nach Steinbacher nämlich grundlegende gesellschaftspolitische Ausgangspositionen erkennen: «Sittlichkeit versus Freiheitsrechte lautete früh die Kernkonstellation.» Während die einen überzeugt davon waren,

kaum ein Zufall, dass der Aktionismus in Sachen Schmutz und Schund zeitlich mit der Wiedereingliederung einstiger Nationalsozialisten in den Beamtenapparat der Bundesrepublik zusammen gefallen sei, meint Steinbacher. Denn die Strafverfolgung von «Schmutzverlegern» habe angesichts des grossen Booms auf dem Erotikmarkt einen Tätigkeitsbereich für ehemalige NS-Beamte geschaffen, die ab 1951 ihren Dienst wieder aufnehmen konnten. In der Tat dürften sie einiges zu tun gehabt haben, zumal die Autorin in der jungen Bundesrepublik nicht weniger als drei «mediale Sexwellen» ausmacht. Ausser dem bereits erwähnten Sexheftchen-Boom war dies zunächst der Wirbel um den amerikanischen Sexforscher Alfred C. Kinsey, der zu Beginn der 1950er-Jahre in Europa ebenso populär wie umstritten war. Kinseys Diagnose: Die sexuellen Normen entsprächen längst nicht mehr der Realität. Daran anknüpfend forderte er die Aufhebung der bis anhin sakrosankten Unterscheidung von «normalem» und «abnormalem» sexuellen Verhalten und redete der Entpathologisierung von Homosexualität das Wort. Eine dritte «Sexwelle» entspann sich 1966 um die anachronistische Indexierung des 200 Jahre alten Erotikromans «Fanny Hill» – zu einem Zeitpunkt, als an Plakatwänden längst freizügige Werbung prangte und zahlreiche Illustrierte allwöchentlich spärlich bekleidete Frauen auf ihr Titelbild setzten. Diese sich völlig zuwiderlaufenden Gleichzeitigkeiten – eine zunehmend aufgeklärt-liberalistische Praxis im Umgang mit Sexualität sowie die umso rigider eingeklagten Sittlichkeitsnormen – waren für die junge Bundesrepublik symptomatisch.

eine «befreite Sexualität» zeuge von einer fortschrittlichen und liberalen Gesellschaft, sahen andere im Festhalten an der Sittlichkeit eine sozial heilende Kraft und damit die Basis für den geistigen Wiederaufbau des Landes. Dass die Sittlichkeitsdebatten im Deutschland der frühen Nachkriegsphase besonders leidenschaftlich ausgetragen wurden, sieht die Autorin darin begründet, dass sich damit der «moralische Reflexionsbedarf in Bezug auf die NS-Vergangenheit» habe abarbeiten lassen. In diesem Zusammenhang verweist sie auf den «literarischen Jugendschutz» als einer zentralen Figur in der Rhetorik der Sittenwächter und der Justiz. Dadurch nämlich liess sich auf kulturellem Gebiet wiederherstellen, was politisch nach Kriegsende kaum möglich war: moralische Unbescholtenheit.

Kampf gegen Unzüchtiges

In ihren Ausführungen greift die Autorin zeitlich weit zurück, bis ins Kaiserreich. Denn zumindest um eine Institution kommt nicht herum, wer sich mit deutscher Sexualitätsgeschichte befasst: Der «Volkswartbund» kämpfte seit seiner Gründung 1898 an vorderster Front mit, wenn es darum ging, gestrenge Sittlichkeitsnormen zu prägen und in die Praxis umzusetzen. Und er war es auch, der sich unmittelbar nach dem Ende der NS-Diktatur wiederum besonders aktiv um eine strenge Normierung der Sittlichkeit und um die Bekämpfung alles «Unzüchtigen» bemühte. Damit arbeitete er der Justiz in die Hände: Es sei

Vom Versandhandel zu Selbstbedienungsläden: In den 1970erJahren baute Beate Uhse Europas grössten Erotikkonzern auf.

FRIEDRICH RAUCH / INTERFOTO

Kulturelle Modernisierung

18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

Die Liberalisierung der sexuellen Sphäre konnten die Sittlichkeitswächter indes genauso wenig verhindern wie den damit eng verknüpften Aufstieg der Erotikindustrie. Beate Uhse ist hierfür ein beredtes Beispiel. Von sexualreformerischen Gedanken inspiriert agierte die ehemalige Kampffliegerin zunächst als Beraterin für Verhütungs- und Abtreibungsfragen, stieg jedoch alsbald ins Erotik-Versandgeschäft ein, eröffnete Selbstbedienungsläden mit einem vielfältigen Sexartikel-Sortiment und begründete damit Europas grössten Konzern der Erotikbranche. Die Kommerzialisierung des Sex, so Steinbachers Resümee, stand eben in unmittelbarer Beziehung zur gesellschaftlichen Modernisierung: «Fortschritt war die kulturelle Orientierungsnorm der Zeit, und Erotikkonsum entwickelte sich zum Symbol gestiegenen Lebensstandards.» ●

Deutschland Wie Kinder unter der Politik-Versessenheit der Väter leiden. Für Sohn Walter war Helmut Kohl nie Familienvater, sondern Clanchef der CDU

Immer nur «Der Sohn vom Kohl» Walter Kohl: Leben oder gelebt werden.

Schritte auf dem Weg zur Versöhnung. Integral, München 2011. 273 Seiten, Fr. 29.90.

Es ist Mode geworden. Söhne schreiben über ihre Väter, und keineswegs zu deren Vorteil. Walter Jens widerfuhr es posthum. Lars Brandt, der zweite Sohn von Willy Brandt, griff zur Feder. Walter Kohl, Helmut Kohls Ältester, folgt jetzt. Doch während der junge Brandt ironisch und literarisch anspruchsvoll auf Distanz zum Vater ging, bringt Walter Kohl seinen Zorn und seine ganze Verzweiflung über das gestörte Verhältnis zum Übervater, dem weltweit angesehenen Bundeskanzler, zu Papier. Er liefert ein Psychogramm des Vaters, aber mehr noch seiner selbst, seiner Selbstzweifel und seiner Neigung, sich in die Opferrolle zu fügen. Nun kann man darüber streiten, ob das Privatleben prominenter Politiker an die Öffentlichkeit gezerrt gehört. Jede Generation sieht das anders. Das Phänomen aber existiert. Familienleben findet bei den Grossen der Politik nicht statt, es fehlt an der Hinwendung zu den Kindern zumal in einer Zeit, da sie den Vater als grosses Vorbild und Ratgeber brauchen. Sohn Walter bringt es auf die kurze Formel: «Seine wahre Familie heisst CDU, nicht Kohl.» Sein Vater fühle sich in einem archaischen Sinne als der Clanchef eines Stammes, der sich CDU nenne. Das Desinteresse des Vaters verführt den Autor zu subtiler Rache. Über weite Strecken referiert er über Helmut Kohl, als urteile er über einen weitgehend Unbekannten, den er nur aus dem Fernsehen kennt. Bei Lars

SVEN SIMON / ULLSTEIN BILD

Von Gerd Kolbe

Szenen für den Fotografen: Vater und Sohn Kohl 1973 beim Fussballspiel.

Brandt findet sich Ähnliches. Der Vater wird bei ihm nur mit dem Kürzel «V.» erwähnt. Sohn Lars berichtet vom gemeinsamen Frühstücken, bei dem sie aber das Sprechen weitgehend dem Papagei überliessen. Walter Kohl schmerzt bis heute, dass der Vater mit den Kindern sonntags zwar die Kirche besuchte, aber nach der Messe nur Zeit für treue Anhänger, Autogrammjäger und ein kleines Bad in der Menge hatte. Der junge Kohl wollte seiner selbst wegen

geachtet werden, wollte «der Walter» sein, war aber stets nur der «Sohn vom Kohl», und das im negativen Sinn. Schon am ersten Schultag liessen ihn die anderen Sechsjährigen ihre Abneigung spüren. Oft setzte es Hiebe. Bei der Bundeswehr wird der Gefreite Kohl von einem Fähnrich dreimal über die Hindernisbahn gejagt statt einmal wie seine Kameraden. Am schlimmsten war für Kohls Kinder die Zeit des RAF-Terrors. Keinen Schritt konnten die beiden ohne Bewacher tun. Die Eltern wussten nicht, wie sie es ihrem Sohn sagen sollten. Bis eines Tages drei hochrangige Sicherheitsbeamte erschienen, um Walter mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er entführt werden könne. Man werde auf jeden Fall versuchen, ihn freizukaufen, erfuhr der damals 13-Jährige, aber nur «so bis maximal fünf Millionen Mark». Das Trauma, nur diese Summe wert zu sein, hat Walter Kohl aber nie überwunden. Es gab Zeiten, da wollte er seiner unheilbar kranken Mutter in den Freitod folgen. Trotz allen Spannungen betreute er alsdann den Vater, beklagte aber, dass dieser ihn so behandle «wie in Kanzlerzeiten seine Mitarbeiter». Es kam zum Bruch. Walter Kohl hat sich gedanklich mit dem Vater versöhnt, dieser aber wohl nicht mit ihm. Das engste Verhältnis zueinander hatten die beiden kurioserweise zur Zeit des Mauerfalls. Sohn Walter begleitete den Kanzler beim ersten Gang durchs Brandenburger Tor. Als wütende DDR-Bürger gegen den Ostberliner Ministerpräsidenten Hans Modrow handgreiflich wurden, rief die Stasi den hochgewachsenen jungen Mann an Kohls Seite zu Hilfe. Man hatte ihn für einen Kollegen vom Bundeskriminalamt gehalten. Mehr als dies aber gibt Walter Kohls Buch an Anekdotischem nicht her. ●

Eine Hommage an den Theatermagier des 20. Jahrhunderts! Herbert Wernicke Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner 10CAsNsjY0MDAx1TU0NjQ2sgAAih34EQ8AAAA=

Visionäre, grandiose und suggestive Bühnenräume von Herbert Wernicke zeigt dieser reich bebilderte Band. 10CEXKIQ6AMAwF0BOt-b9bw0olDLUggHACgub-igSDeO71Hib4TG092hYEiiVmZq1hXkRVg04ZyICyKMgR1ZzFM-LfaZrTDizACcpz3S9Uod0xXQAAAA==

Christian Fluri (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Iris Becher und Marianne Wackernagel. 2011. 260 S., 350 Abb., Leinen mit Schutzumschlag. sFr. 119.–. ISBN 978-3-7965-2590-2 Schwabe Verlag Basel 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Sachbuch

Kulturgeschichte Der Versuch, in Amerika den Alkoholkonsum zu verbieten, führte zu neuen Problemen: Schmuggel und florierende Verbrecherorganisationen

Das Experiment der Prohibition ist misslungen band enorme Summen und führte zu einer engen Verflechtung illegaler und legaler Geschäfte. 1931 zählte die Schattenwirtschaft doppelt so viele Beschäftigte wie 1919 der gesamte Alkohol- und Gastwirtschaftssektor.

Thomas Welskopp: Amerikas grosse Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der

Prohibition. NZZ Libro, Zürich 2010. 660 Seiten, Fr. 70.90. Von Beatrix Mesmer

Gepantschte Getränke

Da weder Produzenten noch Konsumenten sich mit den rigorosen Verboten abfanden, entwickelten sich bereits in den ersten Jahren der Prohibition verschiedene Strategien, wie die trinkfreudigen Amerikaner trotzdem versorgt werden konnten: Neben dem Schmuggel von hochprozentigem Alkohol auf dem Seeweg und über die kanadische Grenze florierte die Herstellung von teils giftigen Surrogaten, die in einem klandestinen Vertriebsnetz an kaufkräftige Privatleute oder in Nachtlokale gelangten. Diese «Ökonomie der Prohibition» 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

Gangstersyndikate boomen

Die Kriminalisierung des Trinkens veränderte die amerikanische Gesellschaft grundlegend. Die hohen Risikoprämien im Geschäft mit der Prohibition liessen kleine Strassengangs zu eigentlichen Gangstersyndikaten aufsteigen, die in Städten wie Chicago und New York auch die Politik infiltrierten. Bestechung und Korruption wurden alltäglich, zugleich verwischten sich die Grenzen zwischen verbotenen und tolerierten Vergnügungen. Die «goldenen Zwanzigerjahre» boten dem Jazz und

Schweizer Berge Wie die Gipfel zu ihren Namen kamen

ROMAN KOCH

Das in den USA von 1920 bis 1933 geltende nationale Alkoholverbot ist ein Musterbeispiel dafür, dass gut gemeinte Eingriffe in das Konsumverhalten der Bevölkerung meist zu neuen Problemen führen. In seiner Kulturgeschichte der Prohibition zeigt der an der Universität Bielefeld lehrende Historiker Thomas Welskopp auf, was für Kollateralschäden der Versuch anrichtete, den Amerikanern das Trinken abzugewöhnen. Er nimmt einerseits die Akteure ins Visier, die den Verbotsgesetzen den Boden bereiteten, anderseits die Profiteure, die mit der Umgehung dieser Gesetze zu Geld und Einfluss kamen. Die Kampagne gegen den Alkohol wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert von einer Koalition aus christlichen Temperenzvereinen und einer politisch motivierten Bewegung gegen Trinkstuben geführt, die vor allem von Neueinwanderern als Treffpunkt genutzt wurden. Mit ihrem vordergründig moralund sozialreformerischen Argumentarium, das tiefer liegende Ressentiments einer durch Integrationsschwierigkeiten verunsicherten Gesellschaft bediente, gewann die «Anti-Saloon League» rasch Breitenwirkung. Schon bevor sie auf nationaler Ebene die Festschreibung des Alkoholverbots in einem Verfassungszusatz durchsetzte, hatte sie in einer Reihe von Einzelstaaten Erfolg. Erst mit der Formulierung der Ausführungsgesetzgebung, die Herstellung, Transport und Verkauf von alkoholischen Getränken verbot, wurde jedoch deutlich, wie tief die Prohibition in die Grundrechte und die Eigentumsgarantie eingriff.

freizügigeren Moden eine Bühne, aber auch Repression und Gewaltexzessen. Je offensichtlicher das Scheitern der Verbotspolitik wurde, desto deutlicher zeichnete sich ein Umschwung der öffentlichen Meinung ab. Einzelne Bundesstaaten liessen ihre Ausführungsgesetze auslaufen, und nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise wurde der Ruf nach Streichung des Verfassungszusatzes lauter. 1932 gewannen die Demokraten mit dem Wahlslogan «Repeal» (Aufhebung) die Präsidentschaftswahlen. Welskopps Buch ist nicht nur als Darstellung eines misslungenen Experiments eine lohnende Lektüre, es vermittelt auch aufschlussreiche Einblicke in die Mechanismen der amerikanischen Innenpolitik. ● Beatrix Mesmer ist emeritierte Professorin für Zeitgeschichte der Uni Bern.

Wie Holzspäne ragen seine Felsnadeln in den Himmel. Doch der «Gross Spanort» (siehe Bild) könnte seinen Namen auch vom mittelhochdeutschen Wort «span» für Streit bekommen haben, liegt er doch im Urner Reusstal ganz hinten, fast an der Grenze zu Obwalden, und Grenzen führen bekanntlich zu Streit. Späne oder Span – wie so oft lässt sich die Herkunft eines Namens nicht eindeutig bestimmen. Berggipfel haben ihre Namen als letzte in der Familie der Flurnamen bekommen, die Zahl der schriftlichen Quellen ist schmal, oft bleibt nur der Volksmund. Die

Schwyzer Germanistin und Journalistin Nathalie Henseler hat 70 Bergnamen, ihre Deutung und Geschichte zusammengetragen. Das Ergebnis ist eine Zeitreise in die Schweizer Bergwelt mit Bildern von heute, von den Mythen über den Dammastock, Schimbrig, das Sidelhorn und den Rofeien bis zum Matterhorn, das seinen Namen ganz unspektakulär von der Matte im Tal hat. Kathrin Meier-Rust Nathalie Henseler: Gipfelgeschichten. Wie die Schweizer Berge zu ihren Namen kamen. Faro, Lenzburg 2010. 178 Seiten, Fr. 44.90.

Zukunft Kühne Visionen erwiesen sich in der Vergangenheit oft als Fehlprognosen. Auch eine neue Sammlung von Zukunftsentwürfen verheddert sich im Helvetozentrismus

Die Schweiz von morgen Peer Teuwsen: Wohin treibt die Schweiz?

Zehn Ideen für eine bessere Zukunft. Nagel & Kimche, Zürich 2011 (erscheint am 7. März). 160 Seiten, Fr. 22.90.

Vor genau einem Jahr stellte man 10 Vortragsrednern die Frage: Wohin treibt die Schweiz? Diese hoffentlich sorgfältig ausgewählten Schweizer müssen ausgesprochene Umstandskrämer sein, weil ausser zweien alle weit in der Vergangenheit graben, längst Gesagtes und Geschriebenes wiederholen, aber die Frage der Zukunft in drei Zeilen beantworten, wenn überhaupt. Doch es gibt zwei Ausnahmen. Diese nach vorne blickenden Autoren vorweg. Der Architekt Jacques Herzog nennt eines der wirklichen Probleme, das wie alle grossen gesellschaftlichen Herausforderungen den Rahmen der Schweiz weit übersteigt. Wie soll die Schweiz mit dem immer knapperen, überbeanspruchten Raum, mit der Landschaft umgehen? Die Schweiz habe kein Bild von sich und schwanke daher ohne Konzept in dieser Frage. Doch Herzog gibt Verfahrensrezepte. Die Gemeindeautonomie mit ihren alle drei Kilometer ausgeschiedenen kleinen Bauzonen ist die Schwelle gegen die Verdichtung, gegen die urbane künftige Schweiz. Positives Gegenbeispiel bleibt immer noch die S-Bahn Zürich, welche der metropolitanen Region den Wettbewerb mit den anderen europäischen Zentren aufzunehmen erlaubte. Für Basel sähe Herzog zum einen eine ähnlich auszubauende Zentralfunktion, zum andern etwa einen städtebaulichen Neuanfang in einer Seenlandschaft aus den nahen Kiesgruben und dem Rhein. Ein neuer Föderalismus kann diese grösseren Ordnungen schaffen, und Herzog spricht das stets Verdrängte gelassen aus, dass man dann eben auch in gewissen Randgebieten und Tälern nicht mehr investieren solle.

Herzog & Gugerli

Den zweiten, brauchbaren Zukunftsbeitrag bringt David Gugerli, Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich. Er schwört allen bombastischen Visionen ab und äussert Skepsis gegenüber der Prognostizierbarkeit. Seine Beispiele verfehlter Zukunftsentwürfe sind umwerfend – atomar betriebene Autos oder Weltraumstädte aus den 60er-Jahren, der hochgejubelte und zehn Jahre später schon kränkelnde Euro. Dann kommt der Hammersatz: «Zukunftsentwürfe sagen nichts über die Zukunft aus, aber sie sprechen Bände über die Gegenwart, in der sie entstanden sind.» Die Schweiz

KARL MATHIS / KEYSTONE

Von Beat Kappeler

gesamt «eine offene, einflussreiche und selbstbewusste Schweiz». So viel Diplomatie wird sicher niemand widersprechen. Jakob Tanner ächzt als Historiker den alten 68erTraumata entlang. Aufgescheucht werden die «geistige Landesverteidigung», die Söldner, die Kuh, «Festung Schweiz», Steueroase, Bankgeheimnis, Christoph Blocher und Martin Ebner. Das und viel anderes aus der Requisitenkammer wars dann. Wohin diese schlimme Schweiz denn treibe, bleibt offen. Immerhin stellt Tanner in diesen Sachen eine «Lernblockade» und eine helvetozentrische Sicht fest und dürfte durchaus selbstkritisch sich damit eingeschlossen haben. Roger de Weck seinerseits muss tief in der Vergangenheit graben, um sich den EUBeitritt zu wünschen. Wer es wagt, dagegen zu sein, «verteufelt» Europa, pflegt «Steuerchauvinismus» und verbreitet «Tabus». Die Parade zu diesen Lamentos findet Gugerli, indem er sagt, «die Angriffe auf die gängigen Selbstbilder der Schweiz hatten oft den eigentümlichen Effekt, dass sie – ihrer kritischen Stossrichtung zum Trotz – ganz wesentlich» zur Verhärtung beigetragen haben. Die meisten Autoren verheddern sich im «Helvetozentrismus», sie können sich nicht vom real existierenden Ländchen, von seinen Tagesdebatten lösen und die Meere oder Flächen sichten, in welchen es treibt, treiben wird.

Braves Modell der Schweiz: Bundeshaus im Swssminiatur-Park in Melide (TI).

ist kein einmal beschlossenes und ausgeführtes Projekt, sondern sie ist das Produkt immer wieder aufgeworfener und parallel laufender Debatten. Seit der Verfassung von 1848 waren solche, nicht von Anfang an geplante Projekte das Zivilgesetzbuch, das Obligationenrecht, die Sozialversicherungen, der Proporz, das Arbeitsrecht. Gugerli gibt dann seinerseits Verfahren vor, nicht Ziele: eine sorgfältige Gegenwartsanalyse, der Abwurf von Ballast – darunter auch bei ihm die Autonomie kleinster Gemeinden – und dann eben «Gedankenexperimente», um diese vorwärts führenden, vielen Bereichsdebatten anzustossen. Ehrlicherweise muss man auch der Aussenministerin und gegenwärtigen Bundespräsidentin Micheline CalmyRey zubilligen, in ihrem Beitrag Vorschläge zu bringen. Allerdings keine neuen. Denn einerseits wünscht sie dem Lande künftig ein aussereuropäisches Standbein, andererseits einen Platz auf dem europäischen Kontinent, und ins-

Der Boden wird knapp

Dazu gehören ganz klar der Boden, der Raum, von Herzog angesprochen, sowie die anderen knappen Umweltressourcen, dann aber auch die neue Welt der Netze, wie sie Medien, Strom, Bahn, Geschäftsmodelle, Standorte zerstören und neu gewichten. Sodann das grandiose Scheitern aller Grossstaaten des Westens, bankrott nach 50 Jahren Umverteilung und Nachfragesteuerung, EU und USA eingeschlossen. Dazu gehören auch Europas Alterung und Bedeutungslosigkeit gegenüber den aufstrebenden Ländern. Diese Fragen treiben die meisten Staaten künftig um. Die Schweiz sollte eigene, zündende Antworten finden. Dieses Buch bietet nur wenig dazu. ● 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Sachbuch

Libanon Joumana Haddad schreibt furios gegen islamische Doppelmoral

Eine arabische Frau liest de Sade Joumana Haddad: Wie ich Scheherazade tötete. Bekenntnisse einer zornigen

arabischen Frau. Verlag Hans Schiler, Berlin 2010. 124 Seiten, Fr. 27.90.

«Scheherazade war mir noch nie sonderlich sympathisch», schreibt Joumana Haddad in ihren autobiografischen «Bekenntnissen einer zornigen arabischen Frau». Die Erzählerin aus der ursprünglich persischen Märchensammlung «1001 Nacht» gilt als literarische Heldin, ist es ihr doch gelungen, den König, der sie töten wollte, mit ihren Geschichten Nacht für Nacht von seiner Absicht abzuhalten und so ihr Leben zu retten. Scheherazade wird für ihre List im Osten wie im Westen gleichermassen verehrt. Nicht so von der 1970 in Beirut geborenen libanesischen Autorin und Journalistin Joumana Haddad. Sie habe Scheherazade mit blossen Händen erwürgt, schreibt sie. Mit der ganzen Wut einer arabischen Frau über die Verbote, Einschränkungen und Lügen, mit denen sie aufgewachsen ist. Sie sieht in Scheherazade keine Heldin, sondern «nichts weiter als ein nettes Mädel mit einer lebhaften Fantasie und einem ausgeprägten Verhandlungsgeschick», kompromissbereit und sanft, kurz: das Klischee einer Frau. «Wo bleibt da der Widerstand?», ruft die streitbare Autorin, die zuletzt mit der Herausgabe des ersten arabischen Erotik-Magazins «Jasad» provoziert hat. Den fehlenden Widerstand gegen patriarchalische Strukturen und den Man-

SOPHIE HENKELMANN / LAIF

Von Susanne Schanda

gel an Zivilcourage macht sie ihren arabischen Geschlechtsgenossinnen zum Vorwurf. Zugleich räumt sie in ihrem Essay mit den gängigen Vorurteilen über «die arabische Frau» auf, indem sie von sich schreibt und provokativ erklärt: «Eine arabische Frau … liest de Sade.» Obwohl Haddad in einem konservativen christlichen Elternhaus aufwuchs, fanden sich in der Bibliothek des Vaters Bücher wie «Justine», «Lolita» und «Sexus», wenn auch gut versteckt im obersten Regal. Die Lektüre von verbotener erotischer Literatur im Alter von zwölf Jahren hat die Autorin für Tabus und Doppelmoral in ihrer Gesellschaft sensibilisiert und zugleich ihr

Brechen Tabus: moderne junge Frauen in Teheran.

eigenes Schreiben geprägt. So kritisiert sie die im Nahen Osten nach wie vor praktizierte Verheiratung minderjähriger Mädchen mit erwachsenen Männern als «institutionalisierte Pädophilie». Religion, und zwar die christliche ebenso wie die islamische, hält sie für ungesund, wenn sie aus dem spirituellen Bereich in den privaten und öffentlichen Bereich des Lebens vordringe. Heftig wendet sich Joumana Haddad gegen den «religiösen Exhibitionismus» und die «Obszönität der Religion» und führt aus: «Wer sich vor aller Augen der Liebe hingibt, wird wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bestraft oder landet sogar im Gefängnis. Ich träume von einer säkularen, unverseuchten Welt, in der man allen, die ihre religiöse Überzeugungen zu einem Karneval ausarten lassen, die gleiche Behandlung zukommen lässt.» Das sind deutliche Worte, die der Autorin viel Feindschaft einbringen. Eine tiefgehende gesellschaftliche Analyse liefert Joumana Haddad in ihrem Essay nicht. Dafür schreibt sie viel zu subjektiv. Doch gerade in ihrer radikalen Selbstbezogenheit und ihrem Furor wirkt sie glaubwürdig, weil sie die eigene Erfahrung als Basis ihrer Erkenntnisse offenlegt. Mit ihrem auf Englisch verfassten Text spricht sie einerseits ein westliches Publikum an und korrigiert Klischees über die arabische Frau. Andrerseits appelliert sie an den Widerstandsgeist der arabischen Leserinnen, sich nicht kleinkriegen und einlullen zu lassen durch Gehirnwäsche und Geschichten wie diejenige von Scheherazade. ●

Firmengeschichte Unter Christoph Blocher stieg die Ems-Chemie zum Weltkonzern auf

Arbeitsplätze an der Peripherie Karl Lüönd: Erfolg als Auftrag.

Ems-Chemie: Die Geschichte eines unmöglichen Unternehmens. Stämpfli, Bern 2011. 168 Seiten, Fr. 39.–. Von Charlotte Jacquemart Das neue Buch über die Ems-Chemie ist ein Auftragswerk der Besitzer-Familie. Angeregt von der aktuellen Ems-Chefin Magdalena Martullo-Blocher, hat Autor Karl Lüönd Zugang gehabt zu Dokumenten, die einem Aussenstehenden wohl verwehrt gewesen wären. Der Preis dafür: Das Buch ist keine kritische Auseinandersetzung mit der Ems-Geschichte oder deren Exponenten, sondern tendiert dazu, die Geschehnisse leicht glorifizierend zu erzählen. Dass Lüönd die Leistungen der Firmenspitze als überdurchschnittlich einordnet, scheint allerdings richtig. Zweifellos 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

gehört der ehemalige Besitzer der EmsChemie, Christoph Blocher, zu den erfolgreichsten Unternehmern der jüngeren Schweizer Geschichte. Der wirtschaftshistorische Inhalt des Buches nimmt dadurch allerdings keinen Schaden. Im Gegenteil: die Lektüre, die von vielen Bildern aus dem Firmenarchiv bereichert wird, lohnt sich. Das Buch ist nicht nur lebendig geschrieben, sondern zeichnet die Geschichte eines Industrieunternehmens nach, die aussergewöhnlich ist und deren umsichtigen Strategen Lob gebührt. An peripherer Lage im Kanton Graubünden haben es der Gründer Werner Oswald und später Christoph Blocher nicht gescheut, erhebliche finanzielle Risiken auf sich zu nehmen, um industrielle Arbeitsplätze nicht nur zu schaffen, sondern auch langfristig zu erhalten. Seit den ersten Tagen im Jahr 1936, als die Holzverzuckerungs AG (Hovag) ge-

gründet wurde, war dauernde Innovation nötig, um das Überleben zu garantieren. Keine Woche verging, in der man nicht vorwärts schaute und Überlegungen traf, wie die Welt von morgen aussehen würde, welche Nischenprodukte mit hoher Wertschöpfung nachgefragt würden und in welchen Teilen der Welt Produktionsstätten aufzubauen seien. Rund die Hälfte der Produktion befindet sich heute noch in der Schweiz. EmsKunststoffe finden sich nicht nur in diversen Industrieprodukten, sondern auch in vielen Gütern des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Kosmetika. Dass der Chemiekonzern heute dabei verstärkt auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist, entbehrt angesichts des Kampfes des Politikers Blocher gegen die Überfremdung nicht einer gewissen Ironie. Den Verdiensten des Unternehmers Blocher aber wird das Buch von Karl Lüönd gerecht. ●

Biografie Der grosse jüdische Historiker Simon Dubnow (1860–1941) teilte das Schicksal des russischen Judentums, aus dem er stammte

Assimilation als Verrat Biografie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 661 Seiten, Fr. 115.–. Von Kathrin Meier-Rust «Ich wärme mich nicht nur, sondern verbrenne mich am Scheiterhaufen der Geschichte.» Die Worte, die der jüdische Historiker, Politiker und Theoretiker Simon Dubnow im Januar 1918 im kalten, hungernden Petrograd in sein Tagebuch schrieb, sind nicht nur prophetisch. Sie treffen auch ins Herz des Dilemmas dieses grossen Gelehrten, der Zeit seines Lebens fast zerrissen wurde zwischen gesellschaftspolitischem Engagement und wissenschaftlicher Arbeit. Der russische Historiker Viktor E. Kelner, der an der Europäischen Universität in St. Petersburg lehrt, präsentiert eine erste umfassende Gesamtdarstellung seines Lebens und Wirkens, die nun mit Unterstützung des Simon-Dubnow-Institutes in Leipzig, auch auf Deutsch vorliegt. Simon Dubnow kam 1860 im Schtetl von Mstislaw in Weissrussland zur Welt, sein Vater war Holzhändler, der Grossvater Talmudgelehrter. Er besucht den Cheder, die orthodoxe Gemeindeschule mit ihrem rigide-abstrakten TalmudDrill – er wird lebenslang vehement gegen die «widernatürliche ignorante Chedererziehung» und für eine weltliche jüdische Schule kämpfen. Bald liest der wissbegierige Knabe heimlich die verbotene Literatur der jüdischen Aufklärung, welche die russischen Juden

Weder in einer Rückkehr zur Tradition, noch in der Assimilation, noch in Zionismus und Emigration – so die damals heftig diskutierten Positionen unter den russischen Juden – sah Dubnow nämlich eine Lösung für die von Pogromen und wachsendem Antisemitismus immer stärker bedrängte «russländische Judenheit», damals etwa sechs Millionen Menschen. Vielmehr war er überzeugt, dass einzig jener «geistige Nationalismus», der das Judentum über Jahrhunderte in der Diaspora hatte überleben lassen, es auch in Zukunft erhalten werde. Nur eine kulturell-geistige Autonomie könne den Juden Immunität verschaffen gegen den «Bazillus der Assimilation», den «der Wind der Diaspora» in sich trage. Dass seine drei Kinder, wie so viele Juden damals, der sozialistischen Bewegung beitraten, bereitete ihm als überzeugtem Gegner des Sozialismus grossen Schmerz. Die Heirat seiner Tochter Olga mit einem Russen jedoch verwand er nie – Assimilation war und blieb für Dubnow ein Verrat. Im sicheren Gespür für den kommenden Terror gelingt Dubnow 1922 die Ausreise nach Berlin. Hier, im Zentrum der jüdisch-russischen Diaspora, vollendet Dubnow sein eigentliches Lebenswerk, eine zehnbändige «Weltgeschichte des jüdischen Volkes», die gleichzeitig in mehreren Sprachen erscheint. Doch schon 1933 muss der inzwischen weltweit geehrte 73jährige Gelehrte abermals fliehen. Er wählt Riga, trotz Einladungen nach Amerika und Palästina. Hier schreibt er noch seine Autobiografie, in Riga teilt er schliesslich das Schicksal des osteuropäischen Judentums, dem seine lebenslange Forschung und Sorge galt: Im Dezember 1941 wird der 81jährige Dubnow beim Abtransport aus dem jüdischen Ghetto ermordet. Seine letzten Aufzeichnungen aus dem Ghetto sollen vergraben worden sein – sie wurden nie gefunden.

damals, hundert Jahre nach den westeuropäischen, gerade zu erreichen begann. Nur zwei Jahre kann Dubnow eine russische Dorf-Schule besuchen, alle Versuche, in ein russisches Gymnasium zu kommen, das den Zugang zur Universität ermöglicht hätte, scheitern. Dubnow stillt seinen Bildungshunger als Autodidakt, lernt französisch, deutsch und englisch, liest sich jahrelang durch die Klassiker der Weltliteratur.

Rastloser Arbeiter

Kaum 20 zieht der Provinzler nach St. Petersburg, ohne Aufenthaltserlaubnis, die nur akademisch gebildete Juden zusteht, beginnt in jüdischen Zeitschriften zu publizieren und an den politischen Debatten der jüdisch-russischen Intelligenzia teilzunehmen. Er gründet eine Familie, die er fortan mit rastloser geistiger Arbeit unterhalten muss: 15 Stunden habe er täglich in seinem Arbeitszimmer gearbeitet, kein lautes Spiel seiner Kinder geduldet, selbst in den Sommerwochen auf dem Lande, erinnert sich die älteste Tochter Sofia. Über Jahrzehnte ist Dubnow als Publizist, Kritiker, Herausgeber und Historiker des Judentums tätig, zunächst in Odessa, dann im litauischen Wilna, ab 1906 wieder in St. Petersburg, wo er an den politischen Ereignissen lebhaft teilnimmt und die Jüdische Volkspartei gründet. Er kämpft politisch für die rechtliche Emanzipation der Juden, wissenschaftlich für eine säkularisierte jüdische Geschichtschreibung, korrespondiert und disputiert mit dem gesamten gebildeten Judentum seiner Zeit.

Simon Dubnow beim Verpacken seiner Bücher vor der Ausreise aus der Sowjetunion nach Deutschland (1922).

Ausufernd und anspruchsvoll THE ARCHIVES OF THE YIVO INSTITUTE FOR JEWISH RESEARCH, NEW YORK

Viktor E. Kelner: Simon Dubnow. Eine

Viktor Kelner präsentiert eine gewaltige intellektuelle Biografie: zahllose Werkzitate und Dokumente, lange Briefe werden im Haupttext abgedruckt, die nicht nur Dubnows Gedankenwelt, sondern auch die innerjüdischen und politischen Debatten jener Zeit akribisch abbilden. Die realen Lebensumstände – Familie, Alltag, Reisen – verschwinden nahezu in diesem Kompendium, das manchmal ausufernd wirkt und entsprechend anspruchsvoll zu lesen ist. Und doch sind es gerade die hier so reichhaltig versammelten Quellen, die das enorme geistige Universum der ostjüdischen Intelligenzia zum Leben bringen. Denn, so sagte es Simon Dubnow: «Das wahre Schaffen eines Historikers zielt auf die Erinnerung an die Toten.» ● 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Sachbuch

Literatur Heinrich von Kleist war nach eigenem Bekunden «auf Erden nicht zu helfen». Er beging Selbstmord

Leben in Projekten Günter Blamberger: Heinrich von Kleist.

Die Biografie. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2011. 597 Seiten, Fr. 37.90. Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Propyläen, Berlin 2011. 576 Seiten, Fr. 41.90. Von Andreas Tobler

Werk der Superlative

Michalzik hat seine Kleist-Biografie für «den ganz normalen Leser» geschrieben, also fürs breite Publikum. Ihm will er Kleists Leben und Werk so anschaulich wie möglich nahebringen: Wie sah Kleist aus? Wie sprach er? Wie hatte er es mit dem Geld? Das sind Fragen, denen Michalzik in kurzen Exkursen nachgeht. In der eigentlichen Biografie geht er so vor, dass er das Leben seines Protagonisten aus dem Jahr 1799 heraus zu erklären versucht, in dem Kleist den Entschluss fasste, Abschied vom Militär zu nehmen. Alle weiteren Etappen – die Beziehung zu Wilhelmine von Zenge, die Würzburger Reise, die Kant-Krise, das Ansiedlungsvorhaben in der Schweiz – versteht er dann als Schritte auf dem Weg zum Schriftsteller. Eingeflochten in die Lebensbeschreibungen sind Interpretationen, in denen Michalzik mit Superlativen die besondere Qualität von Kleists Werken zu vermitteln versucht: In der «Penthesilea» sieht er «den heftigsten Lustmord der Literaturgeschichte», die «Hermannsschlacht» ist «wahrscheinlich das gewaltbereiteste Kriegspropagandadrama, das je verfasst worden ist», und der Artikel über den «Mönch am Meer» ist der «inspirierteste Aufsatz zu Caspar David Friedrich, wahrscheinlich zur deutschen Romantik überhaupt». Michalziks zugute halten kann man, dass es ihm als ers24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

Das noch heute gepflegte Grab des Schriftstellers Heinrich von Kleist (1777–1811) in Berlin Wannsee, wo sich der 34-jährige Autor das Leben genommen hat.

MAX BOOM / AKG IMAGES

Wie vor vier Jahren, als Gerhard Schulz und Jens Bisky mit ihren ausgezeichneten Lebensdarstellungen um den Lorbeer fochten, steigen auch zum 200. Todestag zwei hochkarätige Kleist-Biografen in den Ring. Diesmal treffen aufeinander: Günter Blamberger, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Köln, Präsident der Heinrichvon-Kleist-Gesellschaft und Herausgeber des Kleist-Jahrbuchs. Ihm gegenüber: Peter Michalzik, Theaterkritiker und Redaktor bei der «Frankfurter Rundschau», Autor einer umstrittenen Biografie des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld und Verfasser eines lesenswerten Buches über den Schauspieler und Regisseur Gustaf Gründgens.

tem aufgefallen ist, dass sich Kleist und Henriette Vogel bei ihrem Doppelselbstmord in eine Position begaben (auf Knien und in Rückenlage), die an die «Sterbende heilige Magdalena» von Simon Vouet erinnert, ein Gemälde, das Kleist 1807 in der Kirche Saint-Loup in Châlons-sur-Marne gesehen hatte. Leider verheddert sich Michalzik in seinen apodiktischen Urteilen wiederholt in Widersprüche. Über die von Kleist herausgegebenen «Berliner Abendblätter» schreibt er: «Die erste Tageszeitung Berlins, wie immer behauptet wird, waren die ‹Abendblätter› […] nicht.» Was hier widerrufen wird, behauptet Michalzik zwanzig Seiten zuvor: «Sozusagen im Alleingang führte er [Kleist] die Tageszeitung in Berlin ein.» Ob Kleist die Tageszeitung in Berlin eingeführt hat, ob er in der Schweiz oder erst in Königsberg zum Schriftsteller wurde und ob die «Abendblätter» als eine Feuilleton- oder eine BoulevardZeitung anzusehen sind, darüber wird sich Michalzik nicht einig. Anders ausgerichtet ist Günter Blambergers Kleist-Biografie: Blamberger bettet Kleists Leben in den historischen Kontext ein. So kann er deutlich machen, dass Kleists beständige Unbeständigkeit typisch ist für seine Generation, die in eine Zeit hineinwuchs, in der «die ständische Gesellschaft allmählich entsichert» wurde. Es kam zu einem Zuwachs an Möglichkeiten, aber auch zu Unsicherheiten und Orientierungsverlusten: Kleist wurde zu einem «Projekt-

macher», der wiederholt seine Lebenspläne anpasste oder neue entwarf. Aufgrund dieser Einsicht unternimmt Blamberger den überzeugenden Versuch, Kleists Leben aus der «Erlebnisperspektive», also immer aus dem jeweiligen Moment heraus und nicht auf ein später erreichtes Ziel oder auf den Selbstmord hin zu beschreiben.

Neue Einsichten

Durch die Einordnung in den historischen Kontext entkräftet Blamberger auch Fehleinschätzungen, wie zum Beispiel jene, dass Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge als «ein einzigartiges Zeugnis für die Unterdrückung der Frau», so Michalzik, zu verstehen sind. Dagegen kann Blamberger aufzeigen, dass sich in diesen Briefen die «historische Problematik des Übergangs von der aristokratischen Ehekonzeption zur bürgerlichen Neigungspartnerschaft» zeigt. Da Blamberger im Unterschied zum Theaterkritiker Michalzik auch auf eine der Schlüsselinszenierungen eingeht – Claus Peymanns Bochumer «Hermannsschlacht» – und in einem kurzen Kapitel Kleists Nachruhm sowie die unrühmliche Geschichte der Kleist-Gesellschaft darstellt, ist seiner Biografie ganz klar der Vorzug zu geben: Mit ihren starken Werkinterpretationen und ihrem explorativen Gestus kann Blambergers Biografie neben der eleganten Darstellung von Gerhard Schulz bestehen, die hier nochmals mit allem Nachdruck empfohlen wird. ●

Memoiren Die Erinnerungen einer Prinzessin liefern überraschende Einblicke in ein Frauenleben in Persien am Ende des 19. Jahrhunderts

Dem Harem entronnen Tâdsch os-Saltane: Memoiren. Im Harem

des persischen Sonnenthrons. Hrsg. und Nachwort von Siegfried Weber. Osburg, Berlin 2010. 270 Seiten, Fr. 30.50. Von Geneviève Lüscher

Frau in einem persischen Harem, um 1890.

GILLOT / ULLSTEIN BILD

Der Untertitel des Buches könnte in die Irre führen: Wer glaubt, in eine orientalisch-farbenprächtige Welt aus 1001 Nacht einzutauchen, wird enttäuscht werden. Der Harem, wie er hier beschrieben wird, entspricht in keiner Art und Weise den schwülstigen Fantasien westlicher Reisender, die in dem verbotenen Ort die Erfüllung ihrer geheimsten Wünsche sahen. Tâdsch os-Saltane kommt als Tochter des Kadscharen-Schahs 1884 in Teheran zur Welt; ihre Mutter ist eine von vier Hauptfrauen. Die Prinzessin wächst in einer unermesslich reichen Umgebung auf, die ihr alles bietet, was sich ein Kind nur wünschen kann. Aber das Leben innerhalb der Mauern des Golestân-Palasts ist geprägt durch die Rivalitäten und das Machtgerangel der etwa 700 Frauen – Ehefrauen und Bedienstete. Auch 80 Kinder und 40 Eunuchen leben im Harem. Die Prinzessin wird von einer schwarzen Sklavin und einem Kindermädchen erzogen, zu den leiblichen Eltern besteht kaum Kontakt. Ihre Bildung beklagt sie als rudimentär, aber sie lernt Französisch und bedient sich eifrig in der Palastbibliothek, wo auch europäische Werke stehen. Mit neun Jahren wird sie verheiratet, vier Jahre später zieht sie zu ihrem gleichaltrigen Gatten. Die monogame Ehe wird 1907, nach vier Kindern und einer Abtreibung, geschie-

den. Erst 1914 schreibt sie ihre Erinnerungen auf, in denen sie sich aber über ihr weiteres, offenbar recht schwieriges Leben ausschweigt. Der Herausgeber Siegfried Weber ist den Spuren nachgegangen, und es empfiehlt sich, sein über 70 Seiten umfassendes Nachwort zuerst zu lesen. Der Heidelberger Iranist liefert auch Informationen zur Situation Persiens, das um die Jahrhundertwende von politischen Erschütterungen heimgesucht wird. Er zeigt, dass die Memoiren stark subjektiv geprägt sind, vieles weglassen, anderes überhöhen. Der hoch emotionale, bisweilen distanzlos geschriebene Text zeichne ein verzerrtes Bild. Aber dennoch: Tâdsch os-Saltane ist die erste Frau im Iran, die ihre Erinnerungen zu Papier gebracht hat und uns damit Ein-

blick in ein persisches Frauenleben gibt. Nach ihrer Scheidung, der zwei weitere Ehen folgen, beginnt Tâdsch osSaltane sich für die Frauenrechte im Iran einzusetzen und entfernt sich damit immer weiter von Familie und Religion. Da sie eine Schönheit ist, fehlt es auch nicht an Verehrern, was ihrem Ruf zusätzlich schadet. Sie wird massiv belästigt. Weber erwähnt drei Selbstmordversuche. Nach und nach entgleitet ihr offenbar der Boden unter den Füssen, sie gerät in finanzielle Nöte. 1936 stirbt sie krank, einsam und verarmt in Teheran. Tâdsch os-Saltanes Ansichten, die sie zum Teil auch zu leben versuchte, sind bemerkenswert. Neben einer ungeschminkten Kritik an den herrschenden Zuständen, an Korruption, Vetternwirtschaft und Umweltverschmutzung, fordert sie Gleichwertigkeit für Mann und Frau, Erziehung durch die Mutter, Bildung für Frauen, Abschaffung des Schleiers: «Dass die Frau verschleiert ist, richtet das Königreich zugrunde, es ist sittenwidrig und würdelos.» Insgesamt ein Frontalangriff auf die herrschende Gesellschaft, der sie letztlich überfordert. Ihre feministischen Forderungen verhallten aber nicht ungehört. Progressive Frauenverbände wurden gegründet, öffentliche Schulen gebaut und Zeitschriften herausgegeben, in denen gegen die rückständige Geistlichkeit angeschrieben wurde. Unter Reza Pahlavi wird 1936 der Schleier verboten, und sein Sohn Schah Mohammad Reza Pahlavi verschafft den Iranerinnen 1962 das Wahlrecht – fast zehn Jahre bevor es die Schweizerinnen erhielten. ●

Alltagsgegenstände Philosoph Konrad Paul Liessmann zeigt, was es an Dingen zu entdecken gibt

Was sehen Sie an einer Schneeschaufel? Konrad Paul Liessmann: Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen.

Zsolnay, Wien 2010. 207 Seiten, Fr. 26.90. Von Manfred Koch

Philosophen behandeln, wie man gerne sagt, die letzten Dinge: die Ordnung der Welt, der Sinn des Lebens, unseren Umgang mit dem Tod. Für Konrad Paul Liessmann ist der Philosoph aber nur da ganz Philosoph, wo er sich auch mit den vorletzten Dingen abgibt, den realen, handgreiflichen Gegenständen, mit denen wir täglich zu tun haben. «Alles fliesst» lautet ein berühmter Satz von Heraklit, der für das Zeitwesen Mensch sicher seine Berechtigung hat. Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit, und so

beginnt Liessmann seine zwölf Essays «zur Metaphysik der Gebrauchsgegenstände» durchgängig mit dem GegenSatz: «Alles ist da.» Wir sind umgeben von Dingen, die so selbstverständlich sind, dass wir uns über die existenzielle Bedeutung, die sie für uns haben, kaum jemals Gedanken machen. Liessmann lädt ein zu Expeditionen in die alltägliche Wahrnehmungswelt. Wie begegnet uns gewöhnlich eine Verkehrsampel, eine Schaufensterauslage, eine Hausfassade auf dem Weg zur Arbeit? Was geschieht, wenn wir auf dergleichen aufmerksam werden, wenn wir anfangen, das tiefe Türkisgrün der Ampel zu geniessen oder uns in die Anschauung des Fassadenmusters zu verlieren? Grundsätzlich alles kann, wie Liessmann zeigt, zum Gegenstand ästhe-

tischer Betrachtung werden. Vor diesem Hintergrund versteht man besser, wie die moderne Kunst es geschafft hat, ein Pissoir, eine Schneeschaufel, eine Klomuschel durch blosse Versetzung ins Museum – als «Ready-made» – zu Kunstwerken zu adeln. Ein Höhepunkt des klugen, pointiert geschriebenen Buchs ist die Liebeserklärung des Autors an sein Rennrad, in der es ihm gelingt, Heideggers Begriff der «Kehre» am Beispiel eines Serpentinen bezwingenden Velofahrers zu veranschaulichen. Ein anderer ist die abschliessende Glosse über das Geld als jenes abgründige «Ding an sich», das in unserer Gesellschaft das Universum der Dinge so strahlend repräsentiert, dass sie uns auf beschämende Weise gleichgültig geworden sind. ● 27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25

Sachbuch

Geschichte François Genoud (1915–1996) pendelte zwischen Rechts- und Linksextremismus

Mysteriöses Wirken im Hintergrund Willi Winkler: Der Schattenmann.

Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse Leben des François Genoud. Rowohlt, Berlin 2011. 352 Seiten, Fr. 30.50. Von Urs Rauber Der Westschweizer Bankier François Genoud war eine merkwürdige Figur. Als sich der graumelierte 81-Jährige im Mai 1996 in seinem Haus in Lausanne von seinen Freunden mit einem tödlichen Cocktail verabschiedete, nahm die Öffentlichkeit keine Notiz von ihm. Nur in einer revisionistischen Zeitschrift erschien ein kurzer Nachruf auf den «Verleger, Revolutionär und Gläubigen». Seit der Sohn eines Lausanner Papeteristen als 17-Jähriger Adolf Hitler begegnet war – der Führer hatte dem Jugendlichen 1932 in Bonn die Hand geschüttelt –, war dieser ein glühender Anhänger der Nationalsozialisten. Nach dem Krieg verhalf Genoud Nazi-Ange-

hörigen zur Flucht, lebte von den Nutzungsrechten der Goebbels-Tagebücher und Hitlers politischem Testament und half Eichmanns Verteidigung beim Prozess in Jerusalem 1961 mitfinanzieren. Fast nahtlos wechselte er in den 1950er-Jahren ins Lager der Linksextremen, begeisterte sich für die arabische Revolution und den algerischen Freiheitskampf – gemeinsame Basis war der Hass auf Israel. Er gründete in Genf die Banque Commerciale Arabe, die erste arabische Bank im Ausland, freundete sich mit Ben Bella, mit PFLP-Führer Wadi Haddad (dem «gefährlichsten Terroristenchef der 70er-Jahre») und mit Top-Terrorist Carlos an. Kurz vor seinem Tod gestand Genoud, dass er bei der Lufthansa-Entführung nach Aden 1972 höchstpersönlich die ErpresserBotschaft der Palästinenser nach Köln gebracht habe. François Genoud führte ein Leben im Hinter-, nicht im Untergrund. Er stand offen zu seiner Bewunderung für Hitler

und Goebbels, für Carlos und die Rote Armee Fraktion, ohne sich je an Gewalttaten zu beteiligen und strafbar zu machen. «Rohe Gewalt wäre ihm stillos erschienen», schreibt Biograf Willi Winkler über den charmanten und eleganten Herrn alter Schule. Das Buch, ein minutiöser Report, ist quellenmässig hervorragend dokumentiert. Einzelne Klischee-Sätze wie «Nur ein Schweizer konnte so leicht für den Befreiungskampf fremder Völker entflammbar sein, ein Schweizer, den die eigene Machtlosigkeit schmerzt» wirken zwar unbeholfen, trüben aber nicht den positiven Gesamteindruck. Winklers differenziertes Urteil weist über den Einzelfall hinaus: «Genoud ist eine einmalige und trotzdem beispielhafte Figur, an der sich die ganze Unsicherheit der Nachkriegszeit zeigen lässt: das Schwanken zwischen Links und Rechts, das Liebäugeln mit der Gewalt, die Möglichkeit, mit Ideologie, wie extrem auch immer, viel Geld zu verdienen.» ●

Als Oberschülerin hat Betty Goldstein ein literarisches Magazin mitbegründet. Nach 1938 machte sie am elitären Frauen-College Smith durch linksradikale Essays auf sich aufmerksam. Sie verliess Smith mit einem Summa-cumlaude-Abschluss in Psychologie und schrieb dann für Gewerkschaftszeitungen. Inzwischen mit dem Werbetexter Carl Friedan verheiratet, konnte die erfolgreiche Journalistin nach der Geburt ihres zweiten Kindes 1952 ihre Karriere bei populären Frauenzeitschriften fortsetzen. Doch elf Jahre später führte sich Betty Friedan (1921–2006) in ihrem Weltbestseller The Feminine Mystique (deutsch: Der Weiblichkeitswahn. Rowohlt-Taschenbuch, 2002) als «normale Hausfrau in einem Vorort» ein, die «eine seltsame Unruhe, Unzufriedenheit und Sehnsucht» nach einem sinnvollen Leben quält. Die Autorin stellt sich als Opfer eines Frauenbildes dar, das Amerikanerinnen eine Existenz als Gattin und Mutter vorschreibt, die sich ihrem Mann bewusst unterordnet und auf Erfüllung in Beruf und Gesellschaft verzichtet. Betty Friedans Thesen und ihre eigene Vita scheinen sich zu widersprechen. Doch die renommierte Soziologin Stephanie Coontz erklärt, dass die Autorin ihre linke Vergangenheit im Dunkeln lassen musste, um damals überhaupt eine Öffentlichkeit zu finden. Auch so hat «The Feminine Mystique» wütende Kritik selbst unter Frauen provoziert, die Friedan als Männer-Hasserin verunglimpften. Dabei hat die Feministin zeitlebens betont, dass die Frauenemanzipation für 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011

GREG SMITH / AP

Das amerikanische Buch Betty Friedan und der «Weiblichkeitswahn»

Marsch amerikanischer Feministinnen von New York nach Houston, rechts im roten Mantel Betty Friedan (November 1977). Autorin Stephanie Coontz (unten).

sie die Grundlage glücklicher Ehen darstellt. Coontz hat zum 90. Geburtstag der Feministin am 4. Februar mit A Strange Stirring. The Feminine Mystique and American Women at the Dawn of the 1960s (Basic Books, 222 Seiten) eine vielbeachtete Studie vorgelegt, die Friedans Werk in seine Epoche einordnet und dessen Wirkungsgeschichte darstellt. Coontz hat dazu zahlreiche Interviews mit damaligen Leserinnen von «The Feminine Mystique» geführt und den umfangreichen Nachlass Friedans ausgewertet. Wie die Book Review der «New York Times» lobt, zieht Coontz ihre bis heute umstrittene Protagonistin «vom Himmel herunter und aus der Hölle empor». So erklärt die Soziologin gleich eingangs freimütig, dass sie sich bei ihren Recherchen zunächst an Friedans Eigenlegende ebenso gestossen hat, wie an der Tatsache, dass «The Feminine

Mystique» schwarze Frauen oder weisse Arbeiterinnen ignoriert. Doch indem sich Friedan zu einer «Hausfrau in den Vororten» stilisierte, sprach sie laut Coontz eine breite Schicht von Amerikanerinnen an, die am stärksten vom sozialen Wandel der Nachkriegszeit betroffen wurden: Junge, weisse Frauen, die an der Seite ihrer Männer in die Mittelklasse aufgestiegen waren, aber ihre Vororts-Idylle rasch als Sackgasse wahrnahmen. Für sie wurde «The Feminine Mystique» zu einem Erweckungserlebnis, das sie bis heute prägt. Coontz schildert die kaum noch nachvollziehbaren, legalen und sozialen Hürden, die selbst gebildeten Frauen wie Friedan bis in die 1980er-Jahre im Wege standen. Sie macht aber auch deutlich, dass Friedans Thesen um 1960 in der Luft lagen. Dies geht aus Dokumenten im Nachlass Friedans hervor, die zeigen, dass ihr Verlag vom Erfolg ihres Buches überzeugt war und diesen nach allen Regeln der PR-Kunst vorbereitet hat. Dabei geisselt das Werk gerade die Marketingmethoden der Konsumgüterindustrie, die die Unsicherheiten der «Vororts-Frauen» gezielt ausschlachtet. Hier zieht Coontz in ihrem Schlusskapitel Vergleiche zur Gegenwart: Heute fühlten sich Amerikanerinnen nicht mehr zu einer Existenz als «Heimchen am Herd» genötigt. Dafür seien sie einer «hottie mystique» und einer «supermom mystique» verfallen – junge Frauen wollen möglichst sexy erscheinen und sich danach als Mütter gegenseitig mit Spitzenleistungen übertreffen. ● Von Andreas Mink

Agenda

Musikgeschichte Wonnen des Vinyls

Agenda März 2011 Basel Donnerstag, 3. März, 19.30 Uhr

Ingeborg Gleichauf: Max Frisch – Jetzt nicht die Wut verlieren. Lesung, Fr. 20.–. Lesegesellschaft Basel, Münsterplatz 8, Reservation: Tel. 061 261 43 49. Alex Capus: Léon und Louise. Lesung, Fr. 12.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55.

ANDRÉ ALBRECHT

Mittwoch, 9. März, 20 Uhr

Montag, 21. März, 19 Uhr

Maxine Hong Kingston: I Love a Broad Margin to My Life. Lesung und Gespräch auf Englisch, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.

Bern Mittwoch, 2. März, 18 Uhr

Sämtliche bekannten 898 Einzelpressungen aus aller Welt, die oft winzige Abweichungen zeigen, werden nachgewiesen; zudem werden die LP-Aufnahmen kritisch mit späteren CD-Pressungen verglichen. Zu sämtlichen Alben gibt es Texte zur Entstehungsund Wirkungsgeschichte. Ein Eldorado für Freaks! Manfred Papst Frank Wonneberg: Grand Zappa. Internationale Frank Zappa Discology. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2010. 160 Seiten, 1450 Abbildungen, Fr. 109.–.

Sachbuch

1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90. 2 Hanser. 320 Seiten, Fr. 26.40. 3 Hanser. 192 Seiten, Fr. 26.90. 4 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70. 5 Hanser. 224 Seiten, Fr. 27.50. 6 Blanvalet. 512 Seiten, Fr. 26.90. 7 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 32.50. 8 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 34.50. 9 Nagel & Kimche. 160 Seiten, Fr. 23.90. 10 Hoffmann und Campe. 320 Seiten, Fr. 33.25.

1 2 AT. 144 Seiten, Fr. 39.80. 3 Dorling Kindersley. 360 Seiten, Fr. 35.80. 4 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 23.50. 5 Goldmann. 544 Seiten, Fr. 30.90. 6 Dorling Kindersley. 288 Seiten, Fr. 42.90. 7 Nagel & Kimche. 256 Seiten, Fr. 29.90. 8 Südwest-Verlag. 64 Seiten, Fr. 24.90. 9 List. 220 Seiten, Fr. 33.90. 10 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf. Philip Roth: Nemesis.

Sandra Brown: Süsser Tod. Martin Suter: Der Koch.

Ken Follett: Sturz der Titanen.

Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl.

Asta Scheib: Das Schönste, was ich sah.

Mittwoch, 23. März, 20 Uhr

Susanna Schwager: Ida. Lesung, Fr. 12.–. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 20.

Sonntag, 6. März, 17 Uhr

Belletristik

Alex Capus: Léon und Louise.

Yusuf Yesilöz: Hochzeitsflug. Buchvernissage, Fr. 15.–. ONO, Kramgasse 6, Vorverkauf: www.onobern.ch.

Zürich

Bestseller Februar 2011

Martin Suter: Allmen und die Libellen.

Mittwoch, 9. März, 20 Uhr

Erich Hackl: Familie Salzmann. Lesung, Fr. 15.–. Theater am Neumarkt, Neumarkt 5, Tel. 044 267 64 64. Dienstag, 8. März, 19.15 Uhr

Anna Staiger Eichenberger, Annette Gröbly: tibits at home.

La Lupa und Silvana Schmid: Die Stimme der Wölfin. Lesung und Gespräch, Fr. 25.–. Le Pain Quotidien, Römerhofplatz, [email protected].

Jamie Oliver: Jamie unterwegs.

Dienstag, 15. März, 20 Uhr

Richard D. Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann. 400 Seiten, Fr. 24.90.

Rhonda Byrne: The Power.

Richard D. Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Jamie Oliver : Jamies 30-Minuten-Menüs. Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs.

Peter Stamm: Seerücken. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Donnerstag, 17. März, 20 Uhr

Wladimir Kaminer: Meine kaukasische Schwiegermutter. Lesung, Fr. 30.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Donnerstag, 24. März, 20 Uhr

Matthias Zschokke: Lieber Niels. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.

Anne Haupt: Muffins & Cupcakes. Natascha Kampusch: 3096 Tage.

Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25. Auflage.

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 15. 2. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

Bücher am Sonntag Nr. 3

erscheint am 27. 3. 2011 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

KEYSTONE

Frank Zappa (1940–1993) war einer der originellsten Köpfe in der Geschichte der Rockmusik: ein innovativer Bandleader und glänzender Gitarrist, ein umtriebiger Komponist, der sich auch in Jazz und Klassik auskannte, ein ätzender Gesellschaftskritiker und Mann von anarchischem Humor. Frank Wonneberg, Autor der Standardwerke «Labelkunde Vinyl» und «Vinyl Lexikon», hat dem Musiker nun eine umfassende Diskografie gewidmet, welche die 45 Alben Frank Zappas in Wort und Bild vorstellt.

Klaus Merz, Melinda Nadj Abonji: Von Sprachbildern und Wortklängen. Lesung und Gespräch, Fr. 10.–. Schweizerische Nationalbibliothek, Hallwylstrasse 15, Reservation: www.ticketportal.com.

Mit Verstand lesen heisst mit der Seele geniessen.

Gottfried Schatz Feuersucher 229 S., 21 Zeichnungen, gebunden.

George G. Szpiro Verflixte Mathematik der Demokratie 212 S., 40 Abb., gebunden.

Wie verteilt man Parlamentssitze auf eine Partei mit 23,6% Stimmenanteil? Szpiros Buch führt auf kurzweilige Art von Platon bis Pukelsheim in die Geschichte des mathematischen Problems ein. Auch für Nichtwähler sehr lesenswert.

Eine einmalige Mischung aus literarischem Vergnügen und wissenschaftlichem Thriller. Die fesselnde Lebensgeschichte des weltweit renommierten Biochemikers Gottfried Schatz.

Fr. 48.–

Fr. 34.– 10CAsNsjY0MDAx1TU0NjQzMAAA0TXeKw8AAAA=

10CEXKMQ6AIBBE0RNBZhYWxC0RK2KhxhMYa-9faWwsfvPyezf1-Kpt2dtqBKI6Bia8XtRLVhtEPGI2CLOAHJkDCCnJ_tvVyW3ADBygv8_rAYgp3-9dAAAA

Ottmar Bucher Kopfwelten 192 S., 262 farb. Abb., gebunden.

Stefan Flückiger, Martina Schwab Globalisierung: die zweite Welle 184 S., 66 Tab. u. Grafiken, broschiert.

«Bucher zeigt anschaulich und verständlich auf, wie Verallgemeinerungen, Stereotype und Glauben unsere Eindrücke verfälschen und unser Bewusstsein beeinflussen.» 20minuten Jetzt in der 2. Auflage!

«Das faktenreiche und verständlich geschriebene Buch sei allen empfohlen, die erfahren möchten, wie die Welt und die Schweiz jenseits von Mythen und vorgefassten Meinungen aussehen werden.» Bilanz 3. Auflage bereits im Druck!

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