Indirekte Übersetzungen. Frankreich als Vermittler ... - Buch.de

So erweist sich etwa Joachim Du Bellays 1549 erschie- nener Traktat .... Werke des 18 . und 19 . Jahrhunderts: Friedrich Schillers Jugendwerk Die Räuber und.
146KB Größe 14 Downloads 134 Ansichten
Einleitung Ugo Foscolos berühmtes Epigramm auf Vincenzo Montis in Italien stilbildende IliasÜbersetzung1 nach klassizistischem französischen Vorbild entstand zu einer Zeit, in der sich in Deutschland bereits eine Wende von der „freien“ zu einer eher „getreuen“ Konzeption der Übersetzung vollzogen hat.2 Es ist Ausdruck persönlicher Animositäten der beiden Dichter, vor allem aber zeugt es von einer entschieden kritischen Haltung gegenüber einer seit dem Mittelalter verbreiteten Praxis, die bis in die Moderne fortwirkt. Die Rede ist von einem Phänomen, das in der Tradition des Göttinger Sonderforschungsbereichs Die Literarische Übersetzung als „Übersetzung aus zweiter Hand“ bezeichnet wird und das Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein soll. Die Bezeichnung „Übersetzung aus zweiter Hand“ beschreibt semantisch ein sehr weites Feld, das noch der Klärung bedarf und im zweiten Hauptteil dieser Arbeit genauer abgesteckt werden soll. Vorläufig lässt sich Folgendes festhalten: Es handelt sich um die Übersetzung eines Originalwerkes über die Vermittlung einer oder mehrerer bereits vorliegender Fassung(en) in der Sprache, in die übersetzt wird, oder in einer dritten Sprache. Das Beispiel Montis zeigt, dass in der Praxis beide Formen der Vermittlung auch kombiniert vorkommen können: Monti stützte sich sowohl auf zweisprachige griechisch-lateinische als auch auf italienische Ilias-Übersetzungen. Das Phänomen bleibt aber nicht auf die sogenannte vertikale Übersetzung beschränkt, sondern erstreckt sich ebenso auf die horizontale Übersetzung zwischen „modernen“ Sprachen. Auch seine historische Verbreitung spricht dafür, dass wir es keinesfalls mit einer bloßen Randerscheinung zu tun haben, sondern vielmehr mit einem Phänomen, das die Aufmerksamkeit eines breiteren wissenschaftlichen Publikums verdient. Schon im Mittelalter – einer Epoche, die Michel Zink (2011, 9) als „vaste entreprise de traduction“ charakterisiert – sind Übersetzungen aus zweiter Hand an der Tagesordnung, besonders auf dem Gebiet des „descensus“ aus den antiken Sprachen. Man denke nur an die Übersetzerschule von Toledo, die u. a. im großen Stil Übersetzungen aus dem Griechischen über das Arabische anfertigte. Sicherlich ist die damalige Auffassung vom Übersetzen eine völlig andere, und von „Original“ kann noch nicht die Rede sein. Andererseits basieren die mittelalterlichen Übersetzungsströme auf der beständigen Wiederverwertung und Neubearbeitung vorhandener Quelltexte, wie Claudio Galderisi (2011, 30) in seiner umfassenden Studie zu den mittelalterlichen Übersetzungen ins Französische hervorhebt:  1

 2

Die mehrfach neu aufgelegte Fassung im neoklassizistischen Stil wurde von der Kritik als einzige mit Homers Original vergleichbare italienische Übersetzung gefeiert. Da seine Griechischkenntnisse nicht ausreichten, um das Original direkt einzusehen, stützte Monti sich auf zweisprachige Ausgaben auf Griechisch und Latein sowie auf einige bereits erschienene italienische Übersetzungen. Vgl. hierzu Abschnitt 2.2 des ersten Teils der vorliegenden Arbeit.

14

Einleitung

Un grand nombre de traductions médiévales, mais aussi d’autres œuvres, sont composées non pas à partir de l’œuvre-source mais de versions de cette œuvre, qui peuvent être des remaniements, des adaptations, des épitomés, parfois composés plusieurs siècles après le livre dont ils tirent leur origine. Dans un certain nombre de cas, ces versions du livre-source sont rédigées dans la même langue de l’original, dans d’autres, elles sont de véritables traductions de l’œuvre-source, qui servent d’intermédiaire au traducteur français.

In späteren Epochen ist das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand nach wie vor verbreitet, wie die einschlägigen Studien des Göttinger Sonderforschungsbereichs eindrucksvoll belegen. Und dass selbst Übersetzer des 20. und 21. Jahrhunderts nicht ganz darauf verzichten können, soll im Folgenden noch gezeigt werden. Die Vermittlerfunktion Frankreichs bei der Verbreitung literarischer und geistesgeschichtlicher Werke ist hinlänglich bekannt und wird auch von den Göttinger Forschern ausdrücklich betont. Insbesondere seit dem 17. Jahrhundert übernimmt das Französische die Führungsrolle als kulturelle Mittlersprache und überflügelt darin das Englische. Bisher galt das Forschungsinteresse verstärkt der Vermittlung italienischer und spanischer Literatur über das Französische in den angelsächsischen und deutschen Sprachraum. Die vorliegende Arbeit widmet sich speziell der vielversprechenden Übersetzungsrichtung Deutsch – Italienisch und damit einem derzeit vergleichsweise wenig beackerten Forschungsfeld. Im Blickpunkt sollen dabei Werke der deutschsprachigen Literatur stehen, vorwiegend aus der Feder bekannter Geistesgrößen, daneben aber auch Beispiele aus den „Niederungen“ der sogenannten Trivialliteratur, die unter Zuhilfenahme einer (oder mehrerer) französischer Mittlerversion(en) ins Italienische übertragen wurden. Wenn hier übrigens von Literatur die Rede ist, so sei darunter der umfassende englische und romanische Literaturbegriff verstanden, der anders als der deutsche eher auf die allgemeine Geistesgeschichte abzielt und Werke philosophischer und psychologischer Natur einschließt. Ferner ist vorauszuschicken, dass die „Reinform“ der Relaisübersetzung, bei der dem Übersetzer das Original nicht vorliegt, hier lediglich als „prototypischer“ Fall betrachtet wird. Darüber hinaus gibt es zahllose Abstufungen der „mittelbaren“ Übersetzung, bei denen neben dem Original eine oder mehrere bereits vorliegende Übersetzung(en) in eine „dritte“ Sprache in jeweils unterschiedlicher Gewichtung parallel konsultiert wurden. Solche weitaus schwerer nachweisbaren Spielarten machen das Gros der Übersetzung aus zweiter Hand aus. Die Verfasserin ist deshalb bestrebt, sowohl in der quantitativen Bestandsaufnahme als auch in der qualitativen Analyse dieser Arbeit einen Einblick in das gesamte Spektrum der verschiedenen Spielarten der mittelbaren Übersetzung zu geben. Ausgangspunkt ist die oben angeführte Prämisse, dass das Französische bei der Übersetzung ins Italienische als wichtigste Mittlersprache fungiert, der auch in dieser Übersetzungsrichtung eine weitaus größere Bedeutung zukommt als dem Englischen. Insbesondere gilt dies seit dem 17. Jahrhundert, der Hochzeit der belles infidèles. Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass auch der umgekehrte Fall durchaus vorkommt, dass also das Italienische mitunter in eingestandener oder uneingestandener Form als Mittlersprache auftritt. Dies ist vor allem im geistigen Klima der Renaissance und des Humanismus keine Seltenheit. So erweist sich etwa Joachim Du Bellays 1549 erschienener Traktat Deffence et illustration de la langue françoise, der lange Zeit als Original

Einleitung

15

gehandelt wurde, bei näherer Betrachtung als ausgesprochen „treue“ Übersetzung von Sperone Speronis um 1530 verfasstem und 1542 publizierten Dialogo delle lingue. 3 Im Übrigen tritt das Italienische zu dieser Zeit auch als Mittlersprache für andere Übersetzungsrichtungen auf, wie das Beispiel der spätmittelalterlichen spanischen Tragicomedia La Celestina zeigt, die über eine italienische Fassung ins Französische, Englische und Deutsche übertragen wurde.4 Die Sonderstellung, die das Französische auch und gerade hinsichtlich der Übersetzung deutscher Texte in andere romanische Sprachen einnimmt, illustriert vielleicht am besten ein Zitat von Karl Marx, auf das Nino Briamonte bereits 1984 in seinem Aufsatz „Autotraduzione“ verweist. Darin geht es um die französische Übersetzung des ersten Bandes von Das Kapital, die Marx selbst überwacht und eigenhändig korrigiert hatte. 1869 war sie von Charles Keller begonnen und später von Joseph Roy vollendet und zwischen September 1872 und November 1875 veröffentlicht worden. In seiner Einleitung zur französischen Übersetzung erläutert Marx seine revidierenden, integrierenden und verdeutlichenden Eingriffe. Am 28. Mai 1872 schreibt er in einem Brief an Nikolai Franzewitsch Danielson, „già conscio delle conseguenze di questa sua ‚traduzione critica‘, che andava acquistando una sua autonomia rispetto all’originale, la prima edizione tedesca“ (Briamonte 1984, 57): Es wird später um so leichter sein, die Sache aus dem Französischen ins Englische und die romanischen Sprachen zu übersetzen (Marx 1974).

Tatsächlich sollte diese vom Autor selbst revidierte französische Version zur Vorlage und Richtschnur für die Verbreitung von Marx’ Hauptwerk in anderen Sprachen werden. Es wäre sicherlich eine lohnende Aufgabe, den Einflüssen der französischen Vorlage auf die italienische Übersetzung nachzugehen. Diese kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden, zumal wir es hier mit einem Sonderfall der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben, bei dem die Mittlerfunktion der französischen Fassung vom Autor selbst angelegt und dokumentiert ist. Das Marx-Zitat mag also vorerst als Richtung weisendes Signal verstanden werden, als Dokument für einen auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest punktuell vorhandenen Einfluss des Französischen. Das vorrangige Interesse dieser Arbeit gilt solchen Fällen, in denen der italienische Übersetzer aus eigenem Antrieb eine französische Zwischenstufe zum Verfertigen seiner Fassung heranzieht – gleichgültig, ob dies im Verborgenen geschieht oder ob er sich offen dazu bekennt. Dabei soll der zeitliche Rahmen der Untersuchung nicht so eng gesteckt sein, wie es eine Konzentration auf die „reine“ Relaisübersetzung wahrscheinlich erfordern würde. Die berücksichtigten italienischen Übersetzungen sind vorwiegend im Italien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts entstanden, als die französischen belles infidèles noch ihre Nachwirkungen zeitigten und die Kenntnis des Deutschen offenbar noch  3

 4

Die Bekanntschaft des italienischen Humanisten machte Du Bellay während seines Aufenthalts in Rom. Vgl. hierzu Albrecht 2007, 1093–1094. Vgl. Gil/Wurm 2009, 3391.

16

Einleitung

kaum verbreitet war. Da aber auch und vor allem weniger eindeutige Fälle der Übersetzung aus zweiter Hand einbezogen werden sollen, widmet sich diese Arbeit italienischen Übersetzungen, deren Entstehungszeitpunkt bis ins 20. Jahrhundert hineinreicht. Schließlich ist davon auszugehen, dass auch noch die „modernen“ Übersetzer aus Zeitmangel und Bequemlichkeit zu einer bereits vorliegenden französischen Übersetzung gegriffen haben, konnten sie doch angesichts der Verwandtschaft der beiden romanischen Sprachen hoffen, dass diese ihnen viele Übersetzungsprobleme, die das Deutsche aufwirft, bereits abgenommen hat und vorgefertigte „Versatzstücke“ für die eigene Fassung liefert. Man könnte diese Zwischenstufe also als eine Art „Halbfertigprodukt“ betrachten, aus dem sich ein schnelles und konkurrenzfähiges „Endprodukt“ herstellen lässt, das den Gesetzen des modernen (Übersetzer-)Marktes Rechnung trägt. Der Untersuchungsansatz ist zweigeteilt: Einerseits soll ein Eindruck von der historischen Verbreitung des Phänomens „Übersetzung aus zweiter Hand“ gewonnen werden – der aufgrund der hohen „Dunkelziffer“ uneingestandener Formen notgedrungen lückenhaft bleiben muss  –, andererseits soll das Phänomen exemplarisch anhand von vier Einzelanalysen auch in seiner Tiefe ausgelotet werden. In Verbindung mit der vorbereitenden Einordnung in den kulturellen und sprachtheoretischen Rahmen ergibt sich eine formale Gliederung in drei Hauptteile. Der erste, allgemeine Teil der Arbeit, der den Grundstein für die weitere Untersuchung legen soll, wird im ersten Kapitel mit einigen theoretischen Vorüberlegungen eröffnet: Neben einem kurzen Abriss der Forschungsgeschichte sowie der Vorstellung einiger neuerer übersetzungstheoretischer Ansätze soll die Frage diskutiert werden, wie sich die Nähe von Sprachen und Kulturräumen auf das Übersetzen auswirkt. Kapitel 2 fragt nach den Ursachen, die zur Verbreitung der Übersetzungspraxis „aus zweiter Hand“ über das Französische geführt haben, sowie nach den Auswirkungen dieser Form der Vermittlung. Anhaltspunkte dafür liefern die Erörterung der historischen Entwicklung der Übersetzungskonzeptionen in den drei untersuchten Ländern einerseits und der Blick auf den historischen und literaturwissenschaftlichen Kontext der Übersetzungstätigkeit andererseits, der die Vermittlerrolle Frankreichs im deutsch-italienischen Kulturaustausch5 erhellen soll. Dazu gehört natürlich auch die Frage nach dem Stellenwert deutscher Literatur und der Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen im Italien des 18. und 19. Jahrhunderts – ob nun in direkter Form oder über die französische Vermittlung. Nach dieser ersten Sondierung des Terrains soll im zweiten Hauptteil der Arbeit ein Panorama der Übersetzungstätigkeit aus zweiter Hand entworfen werden. Dabei ist die Übersetzungsgeschichte deutschsprachiger Werke, die der Weltliteratur zuzurechnen sind, naturgemäß besonders gut belegt; aber auch Werke der Sach- und Gebrauchsliteratur sollen berücksichtigt werden. Zunächst müssen dazu die theoretischen Rahmenbe 5

In diesem Zusammenhang machen Frank-Rutger Hausmann und Volker Kapp (2004) in ihrer Bibliographie der Übersetzungen aus dem Italienischen des 18. bis 20. Jahrhunderts die interessante Beobachtung, dass auch in der umgekehrten Übersetzungsrichtung, aus dem Italienischen ins Deutsche, das Französische in vielen Fällen die Zwischenstufe war. So finden sich dort zahlreiche Ein­ träge zur Genese der deutschen Übersetzung, die explizit auf die Existenz einer solchen französischen Zwischenstufe verweisen.

Einleitung

17

dingungen abgesteckt und die Analyseinstrumente vorgestellt werden: Das erste Kapitel unternimmt eine Definition des Untersuchungsgegenstandes „Übersetzung aus zweiter Hand“ in seinen verschiedenen Abstufungen; das zweite Kapitel dient der Erläuterung der Methodik, auf der die Ermittlung der Fallbeispiele fußt. Die eigentlichen Untersuchungsergebnisse werden in der Überblicksdarstellung des dritten Kapitels zusammengetragen.6 Dabei orientiert sich die Gliederung des tabellarischen Überblicks an den zuvor definierten Kategorien, um die verschiedenen Formen der Übersetzung aus zweiter Hand systematisch zu erfassen. Das Aufspüren von Werken, die zum Gegenstand einer „Übersetzung aus zweiter Hand“ geworden sind, erfordert einige Detektivarbeit, wobei sich ein erster Anhaltspunkt rein chronologischer Natur anbietet: Anhand von Übersetzungsbibliographien und Einträgen in elektronischen Bibliothekssystemen gilt es, das Erscheinungsjahr der jeweiligen Erstübersetzung in französischer und italienischer Sprache abzugleichen. Ist die italienische Version in relativ kurzem zeitlichen Abstand nach der französischen erschienen, so liegt zumindest der Verdacht nahe, dass wir es hier mit einer „mittelbaren“ Übersetzung zu tun haben. Auf der Grundlage dieser zeitlichen Indikatoren kann dann ein erstes Versuchskorpus zusammengestellt werden, dessen Plausibilität natürlich noch anhand weiterer Verdachtsmomente zu verifizieren ist. Naheliegend ist die grundlegende Unterteilung in eingestandene und uneingestandene Übersetzungen aus zweiter Hand. Der zuletzt genannte ist sicherlich der interessantere Fall, zumal sich der französische Einfluss dort nur anhand der äußeren Übersetzungsgeschichte und der konkreten Textanalyse rekonstruieren lässt. Was den ersten Fall angeht, so findet sich in italienischen Übersetzervorworten nicht selten ein ausdrücklicher Verweis auf die jeweils konsultierte französische Übersetzung. Die gängige Praxis der Vorreden gestattet zudem besonders im 18. und 19. Jahrhundert aufschlussreiche Einblicke in Methoden und Vorgehensweisen der Übersetzer. Oft will sich etwa der italienische Übersetzer ganz bewusst von seinem französischen Vorgänger abheben, oder er sieht sich im Gegenteil in dessen Nachfolge. Sicherlich ist der Vorwurf einer allzu nüchternpositivistischen Herangehensweise bei der Bestandsaufnahme des zweiten Teils nicht von der Hand zu weisen, dies lässt sich aber schwerlich vermeiden, wenn die Zielsetzung, ein möglichst objektives und nicht ideologisch gefärbtes Bild von der Verbreitung des Phänomens Übersetzung aus zweiter Hand zu zeichnen, im Vordergrund steht. Der dritte Hauptteil schließlich widmet sich der exemplarischen Analyse vierer besonders charakteristischer und ergiebiger Beispiele der mittelbaren Übersetzung über die französische Zwischenstufe. Dazu werden aus den im zweiten Teil anhand chronologischer, kontextueller und rein textgebundener Aspekte ermittelten Verdachtsfällen exemplarisch eine Handvoll Werke herausgegriffen. Ausschlaggebend ist dabei vor allem der literarische und wissenschaftliche Rang der zugrunde gelegten deutschsprachigen „Originale“. Die Wahl fiel auf zwei literarische und zwei philosophische Werke des 18.  und 19. Jahrhunderts: Friedrich Schillers Jugendwerk Die Räuber und E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldene Topf einerseits sowie Immanuel Kants  6

Im Anhang ist der Arbeit zusätzlich eine Bibliographie des in der Tabelle aufgeführten Korpus der Übersetzungen aus zweiter Hand beigegeben, die Angaben zum jeweiligen Original, der französischen und der italienischen Übersetzung enthält.

18

Einleitung

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Friedrich Nietzsches Morgenröthe andererseits. Der Aufbau der vier Einzelanalysen folgt dabei einem weitgehend gleichbleibenden Schema, das der Beantwortung der jeweiligen Leitfragen dient: Neben der grundlegenden „positivistischen“ Beweisführung, dass wir es bei der untersuchten italienischen Version mit einer Form der mittelbaren Übersetzung zu tun haben, geht es zunächst darum, die jeweils vorliegende Form genauer einzugrenzen. Darüber hinaus soll festgestellt werden, ob und inwiefern bei der analysierten italienischen Übersetzung der Einfluss des französischen Vorbilds spürbar ist. Die spezifischeren Leitfragen ergeben sich aus dem besonderen Charakter der jeweils im Zentrum stehenden Übersetzung aus zweiter Hand. Bei Schiller ist dies die Frage nach Indizien und Motiven für zwei unterschiedliche, im Abstand von anderthalb Jahrzehnten publizierte Übersetzungen aus zweiter Hand; E. T. A . Hoffmanns Werk wirft die spezifische Problematik der Reinform des Phänomens auf; und bei Kant und Nietzsche stellt sich in erster Linie die Frage nach der Motivation des Übersetzers, gerade diese französische Mittlerversion für seine Fassung heranzuziehen. Dazu muss im Vorfeld der eigentlichen Übersetzungsanalyse das deutsche Original in den Blick genommen werden: In welche geistesgeschichtliche Epoche ist es eingebunden, wie ist sein Stellenwert im Gesamtwerk des Autors und welche Bedeutung hat es für die Ausgangskultur? Es muss natürlich ebenso eruiert werden, auf welcher Fassung des Originals die jeweilige französische und italienische Übersetzung fußt (wobei es sich nicht zwangsläufig um dieselbe handeln muss). Aufschlussreich für die Analyse ist zweitens der Rezeptionskontext des Werkes in Frankreich und Italien, der sich etwa anhand bereits publizierter Übersetzungen und Kritiken von Werken des deutschen Autors rekonstruieren lässt: In welchen geistesgeschichtlichen Kontext sind Autor und Werk dort eingebettet, und wirkt sich dieser möglicherweise modifizierend auf den Grundgedanken und die Form des jeweiligen Originals aus? Drittens schließt sich eine allgemeine „äußere“ und „innere“ Charakterisierung der als Zwischenstufe dienenden französischen sowie der italienischen Übersetzung an. Häufig lässt sich bereits in dieser Phase anhand der Übersetzervorrede feststellen, ob es sich um eine offene oder eine verdeckte Konsultation der französischen Mittlerfassung handelt. Wichtigstes Instrument der Übersetzungsanalyse im engeren Sinne ist die qualitative Untersuchung der insgesamt fünf Übersetzungen aus zweiter Hand, denen das deutsche Original sowie die jeweilige französische Mittlerfassung kontrastiv gegenübergestellt werden. Die Fassungen werden systematisch im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den strukturellen, syntaktischen, lexikalischen und stilistischen Merkmalen analysiert, die als Indikatoren für den jeweiligen Grad der französischen Vermittlung dienen. So gehören zu den formalen Aspekten bei epischen und dramatischen Werken z. B. gattungsspezifische Charakteristika wie Metrik und Reim, während unter die Stilistika etwa lexikalisierte Tropen fallen, deren Form im deutschen Sprachraum und innerhalb der Romania stark differieren kann. Die Ergebnisse der Untersuchung, die die im Anhang beigegebenen tabellarischen Überblicksdarstellungen dokumentieren, gilt es im jeweiligen Abschnitt zur kontrastiven Textanalyse auszuwerten und anhand einiger besonders aussagekräftiger Textbelege zu illustrieren. Die Analyse der vier Fallbeispiele schließt jeweils mit einem Abschnitt zu Rezeption und Wirkung der untersuchten Übersetzung aus zweiter Hand. Es wird danach gefragt, wie

Einleitung

19

diese in Italien aufgenommen wurde und, soweit dies überhaupt möglich ist, welchen Einfluss sie – und damit auch die französische Mittlerfassung – auf die dortige Rezeption des deutschen Werkes und dessen Autor ausgeübt hat. Berücksichtigt wird dabei ebenfalls, ob und inwiefern sich typische Charakteristika der französischen Rezeption auch in Italien wiederfinden.

I

Allgemeines

1

Theoretische Vorüberlegungen

1.1 Forschungsüberblick

Die Methode des Übersetzungsvergleichs und insbesondere des multilateralen Übersetzungsvergleichs ist bereits in den 1960er Jahren von Mario Wandruszka eingeführt worden, der dieses empirische Verfahren allerdings in erster Linie als Instrument der kontrastiven Sprachwissenschaft nutzt.1 In dieser Arbeit hingegen soll der multilaterale Übersetzungsvergleich als Hilfsmittel herangezogen werden, um den Prozess des Übersetzens selbst und seine Ergebnisse zu beleuchten; er dient damit als Instrument der historisch-deskriptiven Übersetzungswissenschaft. Die „Übersetzung aus zweiter Hand“ ist seit den 1980er Jahren verstärkt ins Blickfeld gerückt, was vor allem dem Göttinger Sonderforschungsbereich Die Literarische Übersetzung zu verdanken ist. Zu den Pionieren dieses Forschungsgebietes gehört Jürgen von Stackelberg, der auch den Begriff „Übersetzung aus zweiter Hand“ geprägt hat. Er definiert diese Art von Übersetzungen in der Einführung zu seinem 1984 bei De Gruyter erschienenen Sammelband Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert in ihrer Reinform als „(...) Übersetzungen von Übersetzungen, also das, was man französisch ‚traductions indirectes‘ nennt. So zum Beispiel in der kleinen Einführung in die Littérature comparée von C. Pichois und A. M. Rousseau (…)“ (ebd. VII).2 Der genannte Sammelband dient ebenso als Anstoß wie als zentrales Referenzwerk für diese Forschungsarbeit. Stackelberg betrachtet insbesondere die literarische Vermittlerrolle Frankreichs, wobei hier neben Deutschland vor allem England und Spanien als Ausgangs- und Zielländer der Rezeption im Mittelpunkt stehen. Italien wird lediglich in Verbindung mit England beleuchtet; der Autor weist aber auch bereits auf die Bedeutung Frankreichs im Kulturtransfer von Deutschland nach Italien hin: „Selbst als die Deutschen anfingen, literarische Exportware zu liefern, übernahm Frankreich noch einmal die Vermittlung (nach Spanien und Italien vor allem)“ (ebd. VIII). Die in der vorliegenden Arbeit zentrale Übersetzungsrichtung Deutsch  – Italienisch behandelt Stackelberg ausführlich in seinem 1987 in Brigitte Schultzes Sammelband zur literarischen Übersetzung erschienenen Beitrag zum eklek  1

Vgl. Albrecht 2001, 4. In diesem Zusammenhang sind Mario Wandruszkas stark rezipierte Werke von 1969 (Sprachen – vergleichbar und unvergleichlich) und 1971 (Interlinguistik) zu nennen.   2 Im Anschluss erweitert Stackelberg (1984, VII) seine Definition, die sich wie gesagt auf die eher selten vorkommende „Reinform“ der Übersetzung aus zweiter Hand bezieht, um weniger eindeutige Formen: „Gelegentlich kommen auch Übersetzungen aus dritter Hand sowie Kontaminationen von Original und Übersetzung oder einer Übersetzung und der nächsten vor“. Solche „Kontaminationen“ sind es, die im Blickpunkt dieser Arbeit stehen sollen.

24

I Allgemeines

tischen Übersetzen (I), der sich Aurelio de’ Giorgi Bertólas italienischer Übersetzung von Salomon Geßners Idyllen aus dem Jahr 1784 widmet. Aufschlussreich ist hier die Definition des eklektischen Übersetzens als Orientierung des Übersetzers an mehreren Vorlagen, die Stackelberg von der kontaminierenden Übersetzung abgrenzt. Während beim eklektischen Übersetzen abwechselnd eine der Vorlagen für ganze Passagen zu Rate gezogen wird, werden bei der kontaminierenden Form die Übersetzungslösungen von Original und Vorgängerfassung im Übersetzungsprozess miteinander verschmolzen. Der Stackelberg-Schüler Wilhelm Graeber führt diese Begrifflichkeit in seinem Aufsatz zum eklektischen Übersetzen (II) im selben Sammelband weiter aus, indem er euphemisierende, explikative und kommentierende Übersetzungsverfahren unterscheidet. Sein Beitrag behandelt erneut die Vermittlerrolle Frankreichs in der Übersetzungsrichtung Englisch – Deutsch, wobei sein besonderes Verdienst darin liegt, dass er die Bedeutung der konkreten Textanalyse betont und die Aussagekraft der Übersetzervorworte des 18. Jahrhunderts für das tatsächliche Übersetzerverhalten relativiert. Er weist mehrfach darauf hin, „welche Vorsicht es Übersetzervorreden im frühen 18. Jahrhundert entgegenzubringen gilt“ (Graeber 1987, 79), gerade wenn es sich um einen deutschen Übersetzer handelt, der „sich in der Theorie weit mehr von seiner französischen Vermittlungsinstanz absetzt, als er es in praxi tut“ (ebd. 80). Die Übersetzungsrichtung Englisch – Deutsch hat Graeber auch bei seiner in Zusammenarbeit mit Geneviève Roche 1988 bei Niemeyer veröffentlichten kommentierten Bibliographie Englische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts in französischer Übersetzung und deutscher Weiterübersetzung im Blick 3, die die französische Vermittlertätigkeit umfassend dokumentiert und ebenfalls wichtige methodische Hinweise für die vorliegende Untersuchung liefert. Graeber/Roche verweisen auf einen frühen Vorläufer auf diesem Forschungsfeld, der lange Zeit das einzige Referenzwerk vieler Arbeiten zur Übersetzung aus zweiter Hand war, nämlich die 1934 in Leipzig publizierte Dissertation von Marce Blassneck, Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert – auch hier wieder mit dem Fokus auf den englisch-deutschen Literaturbeziehungen. Allerdings werden auch die Lücken dieser Studie aufgezeigt: Blassneck orientiere sich zu ausschließlich an den Übersetzervorworten, denen sie zwar im Ansatz misstraue, deren Irreführung sie aber letztlich doch erlegen sei.4 Hinzu komme, dass der sehr eng gesteckte zeitliche Rahmen für die französische Vermittlerrolle, nämlich lediglich die drei Jahrzehnte zwischen 1710 und 1740, vielleicht noch bis 1750, inzwischen zum Teil als überholt gelten müsse (ebd. 8) – eine Feststellung, die sich im Laufe dieser Arbeit noch bestätigen wird. In dem 2002 erschienenen französischsprachigen Aufsatz La traduction dans l’Europe française (1680–1760)5, der sich ebenfalls auf Frankreichs Vermittlerrolle konzentriert,   3

Ein weiterer Aufsatz Graebers zu dieser Thematik erscheint 1991 unter dem Titel „German Translators of English Fiction and Their French Mediators“ im Sammelband von H. Kittel/A. P. Frank, Interculturality and the Historical Study of Literary Translations. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 5–16. Geneviève Roche veröffentlicht 2001 in Paris beim CNRS ebenfalls zu dieser Übersetzungsrichtung ihre Monographie Les traductions-relais en Allemagne au XVIIIe siècle: des lettres aux sciences.   4 Vgl. hierzu auch Graeber 1987, 80.   5 Erschienen in dem Sammelband von Peter-Eckard Knabe/Roland Mortier/François Moureau, L’aube de la modernité 1680–1760, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 47–62.

1 Theoretische Vorüberlegungen

25

führt wiederum Stackelberg einige exemplarische Fälle der traduction indirecte aus dem Spanischen und Englischen ins Deutsche an. So verweist er etwa auf die zentrale Rolle Frankreichs bei der deutschen Rezeption von Cervantes’ Don Quichotte. 6 Aufschlussreich für unsere Zwecke ist auch der Hinweis auf den Sonderstatus Italiens als kulturell hochentwickeltes Land, das im Gegensatz zu Deutschland, Russland und den Ländern Osteuropas nicht der „Entwicklungshilfe“ Frankreichs bedarf und sich dennoch im 18. Jahrhundert auf einmal französischem Einfluss ausgesetzt sieht. Über die Mittlerrolle Frankreichs für die Rezeption russischer Literatur in Italien Ende des 19. Jahrhunderts informiert Laurent Béghin (2007), der darauf aufmerksam, macht, dass die uneingestandene Form der Übersetzung aus zweiter Hand dort zu dieser Zeit sehr verbreitet und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg durchaus anzutreffen ist. Wie weite Kreise die französische Vermittlungstätigkeit, die sich durchaus nicht nur auf den europäischen Sprachraum beschränkt, zieht, zeigt ein eher abseitiges Beispiel. Frankreich hat sich nämlich auch im Bereich der „exotischen“ Literatur als wichtiger Kulturmittler erwiesen: So werden zahlreiche Werke der indischen Literatur im 19. Jahrhundert erstmals ins Französische übersetzt. Einige davon erleben im Laufe jenes Jahrhunderts mehrere Neuübersetzungen, so einige der Vedischen Hymnen, Teile des Mahabharata sowie das Shakuntala, dessen französische Erstübersetzung 1830 erscheint und das danach mindestens einmal, im Jahr 1884, neu übersetzt wird. Wie zu erwarten, nimmt die weitere Rezeption dann von diesen französischen Übersetzungen ihren Ausgang.7 Im italienischen Sprachraum ist die Übersetzung aus zweiter Hand in jüngster Zeit anlässlich des XXXVI Convegno sui problemi della traduzione in Padua am 8. Juni 2008 – mit anschließender Verleihung des 38. Premio Monselice per la Traduzione – verstärkt ins Blickfeld gerückt.8 Die Vorträge der sechs Referenten der Universität Padua zum Thema Traduzioni di traduzioni beleuchten einige interesssante Facetten des Phänomens, wie etwa die „mittelbare“ Übersetzung russischer Romane (Turgenjew) oder griechischer Lyrik (Konstantinos Kavafis) ins Italienische. Im Rahmen dieser Arbeit besonders aufschlussreich ist der Beitrag von Pier Vincenzo Mengaldo zu Ippolito Nievo als HeineÜbersetzer, der aufzeigt, dass Nievo für seine Übersetzung die französische Fassung von Gérard de Nerval zu Rate gezogen hat. Blickt man einmal über den „Tellerrand“ der literarischen Vermittlerrolle Frankreichs hinaus, so findet man eine ganze Reihe von Publikationen, die sich dem Phänomen von einem allgemeineren Standpunkt aus nähern. Mit der terminologischen Abgrenzung der Formen der mittelbaren Übersetzung beschäftigen sich einige neuere Beiträge, wie der Cay Dollerups. In seinem 2000 erschienenen Aufsatz Relay and support

  6

Die anonymen deutschen Übersetzungen von 1682 (Frankfurt) und 1734 (Leipzig) orientieren sich beide an der ausgesprochen erfolgreichen französischen Übersetzung von Filleau de SaintMartin (Paris, 1677/78), die erste ausschließlich, die zweite unter Zuhilfenahme des Originals. Vgl. Stackelberg 2002, 50.   7 Die Informationen zur Rezeption indischer Literatur verdankt die Verfasserin der französischen Forscherin Claudine Le Blanc.   8 Vgl. hierzu den Sammelband von Gianfelice Peron (Hrsg.), Premio ‚Città di Monselice‘ per la traduzione letteraria scientifica. Volume XXI. Edizioni del premio n. 38–39–40. Monselice: Il Poligrafo.