Im Dialog mit jungen Kindern. Einblicke in die ...

Lerngemeinschaft Chino Molina, Inka Molina und Bernado Schmid danke ich für den tagtäglichen Jour Fixe und die hiermit verbundene kontinuierliche Ermun-‐.
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 50 Andrea Tures Im Dialog mit jungen Kindern Einblicke in die Professionalisierungsprozesse von Frühpädagogikstudierenden. Eine interdisziplinäre und multimethodische Studie.

Andrea Tures

Im Dialog mit jungen Kindern Einblicke in die Professionalisierungsprozesse von Frühpädagogikstudierenden. Eine interdisziplinäre und multimethodische Studie.

Berlin 2014

ICHS International Cultural-historical Human Sciences

ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Andrea Tures Im Dialog mit jungen Kindern © 2014: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin

www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-686-5 Umschlagfoto: Merry Dickson Druck: docupoint GmbH • Barleben

          Für  meine  Eltern  Berns  Sens  und  Doris  Hörning-­‐Sens                                                                                  

6       Über  die  Autorin:   Prof.   Dr.   Andrea   Tures   (née   Sens)   lehrt   und   forscht   seit   Oktober   2014   als   Gastprofessorin   für   Sprachbildung   im   Studiengang   „Bildung   und   Erziehung   im   Kindesalter“   an   der   Alice-­‐Salomon-­‐Hochschule   in   Berlin.   Sie   beschäftigt   sich   als   Psycholinguistin   mit   Fragen   der   Qualität   in   frühpädagogischen   Settings   und   der   Professionalisierung   des   Fachpersonals   in   Kindertageseinrichtungen.   Ihre   inhalt-­‐ lichen   Schwerpunkte   bilden   die   Themenkomplexe   Sprachentwicklung,   Sprach-­‐ förderung  und  -­‐bildung  sowie  Inklusion,  Diversität  und  Interkulturelle  Pädagogik.   Von  2006  bis  2012  war  Andrea  Tures  wissenschaftliche  Referentin  am  Deutschen   Jugendinstitut   e.V.   (München)   in   der   Abteilung   Kinder   und   Kinderbetreuung   und   arbeitete   von   2006   bis   2011   freiberuflich   als   Kommunikations-­‐   und   Rhetorik-­‐ trainerin   mit   dem   Arbeitsschwerpunkt   Hochschuldidaktik,   Interviewtechnik   und   Gesprächsführung.   Seit   2008   hält   sie   Lehraufträge   an   unterschiedlichen   Hoch-­‐ schulen  im  Bereich  der  Früh-­‐,  Grundschul-­‐  und  Erwachsenenpädagogik  im  In-­‐  und   Ausland  inne.    

Weitere  Informationen  und  Publikationsliste:  www.andreatures.com            

    Danksagung     Dissertations   are   not   neat,   individualized   academic   exercises   with   correct   answers,   but   messy   work   best   done   in   collaboration,   reflection   and   conversation.   New   insights   and   knowledge   are   arrived   at   through   action   and  research  done  in  relationship  with  others.  (Maguire  2005,  S.  xiii)     An  erster  Stelle  gilt  mein  Dank  den  Studierenden,  die  sich  mit  großem  Engagement   in  den  Forschungsprozess  einbrachten  und  mir  gegenüber  großes  Vertrauen  zeig-­‐ ten.   Durch   unsere   intensive   Zusammenarbeit   war   es   mir   erst   möglich,   die   For-­‐ schungstätigkeit  in  diesem  Maße  durchzuführen.     Für  die  zeitintensive  dialogische  Kollaboration  möchte  ich  mich  besonders  herzlich   bei   PD   Dr.   Marie-­‐Cécile   Bertau   bedanken.   Ohne   ihre   vielschichtige   Unterstützung   und   Beratung   wäre   mein   Promotionsprojekt   nicht   zustande   gekommen,   nicht   durchführbar  gewesen  und  hätte  nicht  zu  einem  erfolgreichen  Abschluss  kommen   können.  Ihre  Betreuung,  die  sich  durch  eine  intensive  fachliche  Beratung  und  eine   große   Freiheit   in   der   Ausgestaltung   meiner   Forschungstätigkeit   auszeichnete,   hat   es  mir  ermöglicht,  mich  in  vielerlei  Hinsicht  weiterzuentwickeln.     Danken   möchte   ich   auch   Prof.   Dr.   Angelika   Speck-­‐Hamdan   und   PD   Dr.   Anke   Werani,   die   meinen   Entwicklungsprozess   während   der   Promotionsphase   immer   wieder  durch  wichtige  Impulse  mitgeprägt  haben.     Prof.   Dr.   Sabine   Lingenauber   gilt   ein   besonderer   Dank   für   die   kontinuierliche   fachliche  Förderung  meiner  Entwicklung  während  der  Promotionsphase.  So  hat  sie   viele   Stunden   in   die   Beratung   und   Rückmeldung   zu   meinen   Überlegungen   investiert  und  für  mich  dadurch  an  der  Hochschule  Fulda  ein  hoch  anregendes  und   förderliches  Berufsumfeld  geschaffen,  welches  ich  besonders  zu  schätzen  weiß.     Prof.   Dr.   Iris   Nentwig-­‐Gesemann   möchte   ich   besonders   danken   für   ihr   großes   Engagement   als   Mentorin   im   Rahmen   des   Forschungskollegs   „Frühkindliche   Bildung  –  Exzellenter  Nachwuchs  für  die  Wissenschaft“  der  Robert  Bosch  Stiftung.   Ihre  große  Fachlichkeit,  ihre  ausführliche  Beratung  und  ihre  äußerst  kollegiale  Art   und  Weise  haben  mich  sehr  beeindruckt  und  meine  eigene  Entwicklung  geprägt.        

8   Für   die   fachlichen   Rückmeldungen   und   die   emotionale   Unterstützung   danke   ich   Andrea  Karsten  und  den  verschiedenen  Teilnehmerinnen  und  dem  Teilnehmer  der   Forschungsgruppe   „Psycholinguistik   der   Alterität“   an   der   LMU   München.   Für   den   Austausch   und   die   Wertschätzung   danke   ich   darüber   hinaus   den   Stipendiatinnen   und  Stipendiaten  des  Forschungskollegs  der  Robert  Bosch  Stiftung.  Natürlich  ist  an   dieser  Stelle  auch  der  Robert  Bosch  Stiftung  ein  expliziter  Dank  für  die  finanzielle   und   inhaltliche   Unterstützung   im   Rahmen   des   Forschungskollegs   auszusprechen,   welche   die   Teilnahme   an   vielen   dieser   Diskussionszusammenhänge   erst   möglich   machte.   Meinen  Eltern  möchte  ich  besonders  danken  für  die  ständige  große  Unterstützung   und   die   stetige   Ermunterung   die   Forschungstätigkeit   weiterzuverfolgen.   Meiner   Lerngemeinschaft   Chino   Molina,   Inka   Molina   und   Bernado   Schmid   danke   ich   für   den   tagtäglichen   Jour   Fixe   und   die   hiermit   verbundene   kontinuierliche   Ermun-­‐ terung  und  Anteilnahme.     Ohne   eine   Person   wäre   meine   Promotionsphase   allerdings   überhaupt   nicht   möglich  gewesen:  Meinem  Mann  Ryan  verdanke  ich,  dass  ich  mich  voll  auf  meine   Forschungstätigkeit  konzentrieren  konnte.  Durch  seine  tagtägliche  Unterstützung,   ständige   Ermunterung   und   seinen   Humor   war   dieser   Lebensabschnitt   für   mich   durch   eine   große   emotionale   Stabilität   bestimmt   und   hat   mich   diese   Phase   ge-­‐ nießen  lassen.    

    Inhaltsverzeichnis   Vorwort...................................................................................................................................11                         Marie-­‐Cécile  Bertau   0            Einleitung.......................................................................................................................15   1

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Forschungsstand..........................................................................................................21   1.1 Vorgehensweise.................................................................................................................21   1.2 Frühpädagogische  Qualität...........................................................................................22   1.3 Frühpädagogische  Professionalisierung.................................................................31   1.4 Frühpädagogische  Inklusion........................................................................................39   1.5 Frühpädagogische  Sprachförderung........................................................................50   1.6 Zusammenfassung............................................................................................................59   Theoretische  Konzeption.........................................................................................63   2.1 Vorgehensweise.................................................................................................................63   2.2 Psycholinguistische  Sprachauffassung....................................................................64   2.2.1 Hinführung................................................................................................................64   2.2.2 Leitsätze  der  Psycholinguistik  der  Alterität...............................................67   2.2.3 Zwischenfazit...........................................................................................................84   2.3 Dialogizität  im  Professionalisierungsprozess......................................................88   2.3.1 Hinführung................................................................................................................88   2.3.2 Bezüglichkeit  und  Relation................................................................................91   2.3.3 Ambivalenz  und  Kontrast...................................................................................95   2.3.4 Dynamik  und  Veränderung...............................................................................98   2.3.5 Zwischenfazit........................................................................................................101   2.4 Formsensitiver  Professionalisierungsbegriff.....................................................102   2.4.1 Hinführung.............................................................................................................102   2.4.2 Gesellschaftlicher  Kontext  als  Formgeber................................................106   2.4.3 Anderer  als  Formender....................................................................................110   2.4.4 Stimme  als  Formmoment.................................................................................114   2.4.5 Aneignung  als  dialogische  Formung...........................................................119   2.4.6 Zwischenfazit........................................................................................................123   2.5 Zusammenfassung.........................................................................................................125  

     

 

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Empirische  Konzeption..........................................................................................129   3.1 Vorgehensweise..............................................................................................................129   3.2 Erkenntnisinteresse......................................................................................................130   3.3 Methodologie....................................................................................................................132   3.3.1 Hinführung.............................................................................................................132   3.3.2 Theoretische  Konzeption  als  Referenzpunkt..........................................132   3.3.3 Ausgewählte  Forschungsansätze  als  Referenzpunkt...........................137   3.3.4 Begründung  des  Forschungsdesigns..........................................................148   3.3.5 Zwischenfazit........................................................................................................152   3.4 Methodik............................................................................................................................153   3.4.1 Hinführung.............................................................................................................153   3.4.2 Stichprobe...............................................................................................................153   3.4.3 Datenerhebung.....................................................................................................157   3.4.4 Datenauswertung................................................................................................167   3.4.5 Qualitätssicherung..............................................................................................176   3.4.6 Zwischenfazit........................................................................................................179   3.5 Zusammenfassung.........................................................................................................180   Forschungsergebnisse............................................................................................183     4.1 Vorgehensweise..............................................................................................................183   4.2 Sprachentwicklung  und  Sprachpersönlichkeit..................................................184   4.2.1 Hinführung.............................................................................................................184   4.2.2 Qualifizierungsziel:  Sprachentwicklung  analysieren..........................185   4.2.3 Qualifizierungsziel:  Sprachpersönlichkeiten  analysieren.................204   4.2.4 Zwischenfazit........................................................................................................215   4.3 Pädagogische  Interaktionsqualität.........................................................................218   4.3.1 Hinführung.............................................................................................................218   4.3.2 Veränderungen  in  der  pädagogischen  Interaktionsqualität............218   4.3.3 Qualifizierungsziel:  Pädagogische  Interaktionen  gestalten..............230   4.3.4 Qualifizierungsziel:  Fachlich  begründet  handeln..................................276   4.3.5 Qualifizierungsziel:  Kompetenzen  identifizieren..................................287   4.3.6 Zwischenfazit........................................................................................................296   4.4 Zusammenfassung.........................................................................................................301   Diskussion...................................................................................................................305   5.1 Vorgehensweise..............................................................................................................305   5.2 Synopse...............................................................................................................................306   5.3 Implikationen  ..................................................................................................................315   5.4 Perspektiven.....................................................................................................................327   5.5 Zusammenfassung.........................................................................................................331   Literaturverzeichnis................................................................................................337   Anhang..........................................................................................................................364  

    Vorwort     Marie-­‐Cécile  Bertau     Das   vorliegende   Buch   ist   im   Feld   der   kulturhistorischen   Psycholinguistik   angesiedelt   (Bertau   &   Werani,   2011)   und   nimmt   damit   die   Grundidee   Vygotskijs   auf,   dass   Sprache   eine   konstitutive,   formende   Rolle   für   die   Genese   sozial-­‐ psychologischer   Phänomene   spielt.   Sprache   als   sprachliche   Tätigkeit   ist   das   Medium   der   prinzipiell   vermittelten   menschlichen   Tätigkeit..   Innerhalb   dieses   an   Sprache  als  kulturhistorischer,  vielfältig  ausgeformter  und  performierter  Tätigkeit   interessierten   Feldes   greift   Andrea   Tures   ein   Forschungsdefizit   im   Bereich   der   Professionalisierung   in   der   Frühpädagogik   auf   und   fragt   nach   der   Genese   und   Struktur   sowie   nach   den   Auswirkungen   professioneller   Kompetenzen   frühpädagogischer   Fachkräfte.   Dieses   Forschungsdefizit   bearbeitet   Tures   inter-­‐ disziplinär,   indem   sie   die   Frühpädagogik   mit   der   kulturhistorischen   Psycho-­‐ linguistik  in  der  Ausprägung  von  Bertau  (2011)  verbindet,  um  Bildungsprozesse  zu   untersuchen.   Tures   verbindet   auch   Theorie   und   Empirie   als   aufeinander   verweisende  Praxisformen  von  Forschung:  In  ihrer  empirischen  Studie  artikuliert   sie   zunächst   explizit   theoretisch   ihre   Forschungsperspektive   auf   den   Gegenstand   „Professionalisierungsprozesse“   indem   sie   die   Theorie   der   „Psycholinguistik   der   Alterität“  (Bertau,  2011)  konkret  ausformuliert  und  in  Empirie  „übersetzt“:  damit   kann   sie   nach   den   dialogischen   Prozessen   und   Ambivalenzen   fragen,   die   mit   der   Professionalisierung  zum  Frühpädagogen/zur  Frühpädagogin  verbunden  sind.  Auf   der   methodologischen   Ebene   verfährt   die   Autorin   ähnlich,   indem   sie   den   Unter-­‐ suchungsgegenstand   und   die   verwendeten   theoretischen   Konzepte   zum   Ausgangs-­‐ punkt  der  Konstruktion  ihres  methodologischen  Instrumentariums  macht.     Drei  Forschungsansätze  bilden  den  Bezug  für  die  methodologischen  Überlegungen.   Dies  ist  zunächst  Vygotskijs  genetische  Methode,  die  am  zu  beobachtenden  Wandel   der   sprachlichen   Formen   in   der   sprachlichen,   dialogischen   Tätigkeit   zu   konkretisieren   ist.   Die   genetische   Methode   fordert,   die   sich   in   Entwicklung   befindenden   Funktionen   hervorzurufen   um   sie   beobachtbar   zu   machen:   die   Untersuchungsanlage   soll   in   sprachlichen   Tätigkeiten   deshalb   nicht   nur   sprach-­‐ pragmatische,   sondern   auch   psychologische   Entwicklungsaspekte   sichtbar   und   hörbar   machen.   Der  zweite  Ansatz  ist  der  der  ethnographischen   Gesprächsanalyse,  

12   die   mit   ihrem   Fokus   auf   den   Handlungscharakter   von   Gesprächen   und   dem   Insistieren   auf   dem   sprachlich   Erscheinenden   mit   dem   Forschungsansatz   der   Autorin  konvergiert  .  Schließlich  führt  die  Autorin  die  Aktionsforschung  an,  welche   das   Verhältnis   von   Forscher-­‐   und   Teilnehmerperspektive,   die   schon   in   der   ethnographischen   Gesprächsanalyse   thematisch   sind,   radikal   neu   bestimmt:   Forschung   ist   immer   auch   verändernde,   entwickelnde   Intervention,   Forscher/Forscherin  haben  einen  „Innenbezug“  zum  Gegenstand  ihrer  Forschung,   weil   sie   Teil   des   beforschten   Systems   sind.   Damit   wird   eine   alternative   For-­‐ schungsposition   zum   geläufigen   empirischen   Paradigma   mit   der   klaren   Trennung   von   Forscher   und   Beforschten   möglich.   Distanz   ist   da   Bedingung   und   Garant   für   Objektivität   und   klare   subjektunabhängige   Erkenntnis,   zugleich   bleiben   die   Bedingungen   und   Herstellungsweisen   von   Objektivität   und   Erkenntnis   selbst   als   blinder   Fleck   bestehen.   Aktionsforschung   nimmt   die   Vorgänge   der   Sinnkon-­‐ struktion  im  Forschungsprozess  selbst  in  den  Blick,  die  reflektierende  Haltung  des   Forschers   zusammen   mit   der   umfassenden   und   systematischen   Reflexion   des   Forschungskontextes   sind   Mittel   und   Bedingung   von   Forschung.   Die   Nähe   zum   Forschungsgegenstand  ist  dann  spezifische  Zugangsmöglichkeit  und  integraler  Teil   der  Forschungstätigkeit.   Damit  findet  über  die  gesamte  Untersuchung  hinweg  eine  reflektierte  Verzahnung   von   Theorie   und   Empirie   statt,   welche   die   Theorie   weder   der   Empirie   bloß   vor-­‐ ordnet   noch   theoretische   Überlegungen   durch   scheinbar   selbsterklärende   empi-­‐ rische  Ergebnisse  überflüssig  macht.  In  diesem  vollen  Sinne  ist  die  Studie  deshalb   theoretisch-­‐empirisch   zu   nennen.   Darin   erweist   sich   letztlich   die   Praxisnähe   theoriegestützter   Forschung   und   die   Theorie   als   eine   Praxisform,   die   ebenfalls   kulturhistorisch   verankert   ist.   Dies   korrespondiert   mit   einer   der   Basisannahmen   der   kulturhistorischen   Psychologie,   die   Tätigkeit   als   ein   System   ansieht,   das   zugleich  theoretisch  und  praktisch  ist  (Seeger,  2001).  Die  Studie  kann  daher  auch   im   Sinne   der   von   Vygotskij   (1927/2003)   angestrebten   „praktischen   Psycho-­‐ logie“  gelesen  werden,  denn  für  diese  Psychologie  ist  die  Praxis  „keine  Kolonie  der   Theorie“  mehr,  sie  „dringt  in  die  tiefsten  Grundlagen  der  wissenschaftlichen  Opera-­‐ tion  vor  und  verändert  sie  von  Anfang  bis  Ende“  (Vygotskij,  1927/2003,  S.  202)   Mit  der  Frage  nach  Genese  und  Struktur  sowie  nach  den  Auswirkungen  profession-­‐ neller   Kompetenzen   nimmt   die   Studie   eine   deutlich   genetische   Perspektive   ein,   sie   interessiert   sich   für   Entstehungs-­‐   und   Veränderungsprozesse   von   Studierenden,   die   im   Verlauf   ihrer   Ausbildung   zur   frühpädagogischen   Fachkraft   an   verschie-­‐ denen,   miteinander   verschränkten   Lernorten   tätig   sind:   in   der   pädagogischen   Praxis   mit   den   Kindern   und   dem   Fachkräfteteam   einerseits,   in   der   akademischen   Lernpraxis   mit   Peers   und   Dozenten   andererseits.   Diese   sozio-­‐kulturellen   Welten   mit   ihren   unterschiedlichen   Akteuren   und   Tätigkeitsgenres   werden   in   der   Lernentwicklung   und   im   aktuellen   Praxismoment   hier   und   dort   komplex   mit   einander  verwoben.  Lernende  erwerben  ihre  Profession  in  und  durch  diese  kultur-­‐

 

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historisch   spezifischen   Praxistypen   und   ihrer   ebenso   spezifische   Verwobenheit,   beides   wird   zum   einem   bedeutenden   Teil   in   sprachlicher   Tätigkeit   ausgeformt   und   objektiviert,   verhandelt,   performiert   und   re-­‐inszeniert.   Sprachliche   Tätigkeit   ist   das   Mittel   und   Medium   (Bertau,   2011)   der   Entwicklungs-­‐   und   Veränderungs-­‐ prozesse  von  Professionalisierung:  genau  in  dieser  Rolle  wird  sprachliche  Tätigkeit   präzise   untersucht.   Dies   geschieht   in   der   Analyse   der   videostimulierten   Reflexionsgespräche   über   die   Tätigkeit   am   Praxisort   Kita   über   verschiedene   Zeitpunkte  hinweg,  so  dass  eine  Dialoggeschichte  zwischen  den  Gesprächspartnern   entsteht,  welche  die  Formungsprozesse,  die  Ausformungsdynamiken,  die  in  diesem   Sinne   wörtlich   gemeinte   Bildung   eines   professionellen   Selbst   nachvollziehbar   macht,  das  in  unterschiedlichen  sozialen  und  sprachlichen  Bezügen  agieren  muss.   Die   Beschreibung   von   Qualifizierungsprozessen   von   Frühpädogikstudierenden   ist   fokussiert   auf   die   dialogische   Ausrichtung   der   Lernenden   im   sprachlichen   Tätig-­‐ sein   mit   anderen   ebenso   wie   im   Psychischen,   hier   als   dialogische   Dynamiken   des   sich  entwickelnden  Selbst.  Diese  Tätigkeitsbereiche  sind  funktional  und  genetisch   miteinander  verbunden.  Zentral  erweist  sich  damit  eine  dialogische  Auffassung  des   lernenden   Individuums:   die   Kompetenz   als   Frühpädagoge/in   entwickelt   sich   bezogen   auf   die   Anderen   seiner   jeweiligen   Lernfelder   (Kita   und   Hochschule).   Die   Dialoge   und   die   besonderen   Erfahrungen   mit   diesen   vielfältigen   Anderen   finden   ihren   Ausdruck   in   „inneren   Dialogen“,   die   eminenter   Teil   des   Lern-­‐   und   Ver-­‐ stehensprozesse   sind   und   in   den   zeitlich   folgenden   sozialen   Dialogen   mit   aktuellen   Anderen   einfließen.   Damit   wird   eine   dialogische-­‐temporale   Perspektive   auf   Lern-­‐   bzw.  auf  Professionalisierungsprozesse  nahegelegt.  Professionalisierung  erscheint   als   dialogisch   und   mehrstimmig,   Lernen   ist   relational,   die   Internalisierung   von   signifikanten   Beziehungen   ist   zentral;   Spannungen   zwischen   verschiedenen   Positionen   kennzeichnen   den   Lernprozess   als   ambivalent,   schließlich   ist   dieser   Prozess  geprägt  von  Veränderungen  und  Stabilitäten.     Im   Ergebnis   stellt   die   Autorin   drei   Definitionskriterien   für   die   Fassung   des   Begriffs   „Professionalisierung“   auf,   deren   Kernidee   die   der   kontinuierlichen   Organisation   und   Modifikation   der   unterschiedlichen   Positionen   im   Lernenden   ist.   Tures   lehnt   damit   die   Vorstellung   einer   einheitlichen   professionellen   Position   entschieden   ab   und   privilegiert   Dynamik   und   Vielfalt,   welche   die   Realität   der   unterschiedlichen   Ansprech-­‐   und   Handlungspartner   der   frühpädagogischen   Fachkraft   in   den   verschiedenen  Praxisfeldern  anerkennen.  Auf  dieser  Basis  wird  ein  „formsensitiver   Professionalisierunsgbegriff“   erarbeitet:   der   gesellschaftliche   Kontext,   die   aktuellen   Partner   („Andere“),   das   Formmoment   „Stimme“   und   die   Aneignung   als   dialogische  Formung  sind  die  vier  Dimensionen  dieses  Begriffs.  Der  ungewöhnliche   Fokus   auf   „Form“   erbringt   fruchtbare   Einsichten   in   das   dialogische   Geschehen  im   allgemeinen  und  in  das  der  Frühpädogikstudierenden  im  besonderen  –  sprachliche   Form  ist  als  Formung  im  Anreden  und  Erwidern  ist  dann  zentraler  Untersuchungs-­‐

14   gegenstand,   in   Übereinstimmung   mit   der   dialogischen   und   „phenomena-­‐ len“  Sprachansicht  der  Psycholinguistik  der  Alterität.   Über  diese  spezifischen,  die  kulturhistorische  Psycholinguistik  betreffende  Fragen   hinaus   spricht   diese   Studie   aktuelle   Entwicklungen   in   der   Frühpädagogik   in   Deutschland  an  und  leistet  damit  einen  wertvollen  Beitrag  zur  Bildungsforschung   innerhalb  der  akademischen  Ausbildung  zu  Frühpädagogen,  einem  in  Deutschland   neuen   Studiengang.   Bemerkenswerter   Weise   bleibt   dieser   Beitrag   nicht   auf   die   Praxiswelt   frühpädagogischer   Einrichtungen   beschränkt,   vielmehr   wird   die   Lernsituation  am  Praxisort  Hochschule  einbezogen  und  reflektiert:  Die  Ergebnisse   ihrer   Studie   diskutiert   die   Autorin   auch   mit   Bezug   auf   eine   weiter   zu   entwickelnde   akademische   Ausbildung   von   Frühpädagogen   und   Frühpädagoginnen.   Hochschul-­‐ lehre  selbst  gerät  durch  die  selbstreferentielle  Anlage  der  Studie  in  den  Blick.  Dies   gilt   insbesondere   für   die   Gestaltung   didaktischer   Lernformate,   die   einem   dialo-­‐ gischen   Lernbegriff   entsprechen   und   den   Veränderungen   der   Lernenden,   ihrem   sich   entwickelnden   Bezug   zum   Lerngegenstand   („Sprachförderung“,   „inklusive   Pädagogik“)   systematischen   Wert   zuerkennen.   Die   hoch   reflektierte   Unter-­‐ suchungsform   der   Studie   und   die   einbezogene   hochschuldidaktische   Zielrichtung   macht  sie  höchst  interessant  und  vielfältig  anschlussfähig.  Anschlussfähig  für  eine   Bildungsforschung,   die   eher   an   der   dynamischen   und   dialogischen   Vielfalt   von   Entwicklungsprozessen   als   an   Kompetenzen   als   individuell   verankerte   Produkte   interessiert  ist,  und  anschlussfähig  für  weitere  praktisch-­‐theoretische  Forschungen   im   Feld   der   kulturhistorischen   Psycholinguistik,   die   das   sozial-­‐psychologische   Volumen  der  stets  dialogischen  sprachlichen  Tätigkeit  fokussiert.   Literatur   Bertau,  M.-­‐C.  (2011).  Anreden,  Erwidern,  Verstehen.  Elemente  einer  Psycholinguistik   der  Alterität.  Berlin:  Lehmanns  Media.   Bertau,   M.-­‐C.   &   Werani,   A.   (2011).   Introduction.   Acknowledging   language   in   the   cultural-­‐historical   framework.   Tätigkeitstheorie:   E-­‐Journal   for   Activity   Theoretical   Research  in  Germany,  5,  3-­‐6.   Seeger,   F.   (2001).   The   complementarity   of   theory   and   praxis   in   the   cultural-­‐ historical  apporach:  From  self-­‐application  to  self-­‐regulation.  In  S.  Chaiklin  (Hrsg.),   The  theory  and  practice  of  cultural-­‐historical  psychology  (S.  35-­‐55).  Aarhus:  Aarhus   University  Press.     Vygotskij,   L.   S.   (1927/2003).   Die   Krise   der   Psychologie   in   ihrer   historischen   Bedeutung.  In  J.  Lompscher  (Hrsg.),  Lev  Vygotskij,  Ausgewählte  Schriften.  Band  I  (S.   309-­‐317).  Berlin:  Lehmanns  Media  

    Einleitung   Motivation   Diese   Studie   untersucht   die   Professionalisierungsprozesse  von   Frühpädagogik-­‐ studierenden  im  Rahmen  des  Studiengangs  „Frühkindliche  inklusive  Bildung  (BiB)“   an  der  Hochschule  Fulda  am  Beispiel  des  Bereichs  der  sprachpädagogischen  Inter-­‐ aktionsgestaltung.   Mein   Ziel   ist   es   erstens,   den   frühpädagogi-­‐ schen    Professionalisierungsbegriff   aus   einer   dialogischen   psycholinguistischen   Perspektive   theoretisch   zu   fundieren   und   auf   dieser   Grundlage   die  Lernprozesse   der   Studierenden   multimethodisch   zu   erforschen.   Aus   einer   anwendungs-­‐ orientierten  Perspektive  heraus  ist  für  mich  zweitens  von  zentraler  Bedeutung,  wie   es   Frühpädagogikstudierenden   durch   berufsbegleitende   Studienformate   auf   der   Grundlage   eines   theorie-­‐   und   empiriegestützten   Fachwissens   gelingt,   früh-­‐ pädagogische   Kompetenzen   auszubilden   und   weiterzuentwickeln,   die   eine  praktisch-­‐didaktische  Handlungskompetenz   in   ihrer   Berufspraxis   und  eine   professionelle   pädagogische   Haltung   mit   sich   ziehen.   Vor   diesem   Hintergrund   werden   die   Interaktionsprozesse   der   Studierenden   an   den   Lernorten   Praxis   und  Hochschule  genauer  untersucht.     Durch   meinen   psycholinguistischen   Hintergrund   erforsche   ich   Entwicklungs-­‐   und   Bildungsprozesse   von   Kindern   und   Erwachsenen   aus   einer   konsequent   dialogischen   Perspektive.   Der   Blick   meiner   Arbeit   richtet   sich   deshalb   einerseits   auf   die  Qualität   der   Beziehungen   in   den  institutionellen   Settings   der   Lernorte   Hochschule   und   Fachpraxis   sowie   andererseits   auf   die   Frage,   in   welchen   dialogischen   Kontexten   sich   „gute   Professionalität“   ausbildet   und   wie   sich   solche   Professionalisierungskontexte   herstellen   lassen.   Diese   Forschung   verankert   sich   vor   dem   aktuellen   Diskussionsstand   um   die   Qualitätsentwicklung   und   Professionalisierung   im   Feld   der   Frühpädagogik.   Im   Rahmen   einer   dialogisch   psycholinguistischen   Theoriekonzeption   wird   der   Forschungsgegenstand   der   Professionalisierung   von   Frühpädagogikstudierenden   im   Themenfeld   der   sprachpädagogischen   Interaktionsgestaltung   in   einem   inklusiven   Kontext   empirisch   untersucht   und   theoretisch   modelliert.   Hiermit   verbinde   ich   als   Wissenschaftlerin   und   Hochschullehrende   mein   wissenschaftlich-­‐theoretisches   Interesse   an   einer   dialogischen   Psycholinguistik   mit   der   berufspraktischen-­‐ empirischen   Zielsetzung,   Prozesse   in   meinem   beruflichen   Wirken   als   Hoch-­‐ schuldozentin   im   Feld   der   frühkindlichen   Bildung   durch   die   wissenschaftliche