ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 50 Andrea Tures Im Dialog mit jungen Kindern Einblicke in die Professionalisierungsprozesse von Frühpädagogikstudierenden. Eine interdisziplinäre und multimethodische Studie.
Andrea Tures
Im Dialog mit jungen Kindern Einblicke in die Professionalisierungsprozesse von Frühpädagogikstudierenden. Eine interdisziplinäre und multimethodische Studie.
Berlin 2014
ICHS International Cultural-historical Human Sciences
ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.
Andrea Tures Im Dialog mit jungen Kindern © 2014: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin
www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-686-5 Umschlagfoto: Merry Dickson Druck: docupoint GmbH • Barleben
Für meine Eltern Berns Sens und Doris Hörning-‐Sens
6 Über die Autorin: Prof. Dr. Andrea Tures (née Sens) lehrt und forscht seit Oktober 2014 als Gastprofessorin für Sprachbildung im Studiengang „Bildung und Erziehung im Kindesalter“ an der Alice-‐Salomon-‐Hochschule in Berlin. Sie beschäftigt sich als Psycholinguistin mit Fragen der Qualität in frühpädagogischen Settings und der Professionalisierung des Fachpersonals in Kindertageseinrichtungen. Ihre inhalt-‐ lichen Schwerpunkte bilden die Themenkomplexe Sprachentwicklung, Sprach-‐ förderung und -‐bildung sowie Inklusion, Diversität und Interkulturelle Pädagogik. Von 2006 bis 2012 war Andrea Tures wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e.V. (München) in der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung und arbeitete von 2006 bis 2011 freiberuflich als Kommunikations-‐ und Rhetorik-‐ trainerin mit dem Arbeitsschwerpunkt Hochschuldidaktik, Interviewtechnik und Gesprächsführung. Seit 2008 hält sie Lehraufträge an unterschiedlichen Hoch-‐ schulen im Bereich der Früh-‐, Grundschul-‐ und Erwachsenenpädagogik im In-‐ und Ausland inne.
Weitere Informationen und Publikationsliste: www.andreatures.com
Danksagung Dissertations are not neat, individualized academic exercises with correct answers, but messy work best done in collaboration, reflection and conversation. New insights and knowledge are arrived at through action and research done in relationship with others. (Maguire 2005, S. xiii) An erster Stelle gilt mein Dank den Studierenden, die sich mit großem Engagement in den Forschungsprozess einbrachten und mir gegenüber großes Vertrauen zeig-‐ ten. Durch unsere intensive Zusammenarbeit war es mir erst möglich, die For-‐ schungstätigkeit in diesem Maße durchzuführen. Für die zeitintensive dialogische Kollaboration möchte ich mich besonders herzlich bei PD Dr. Marie-‐Cécile Bertau bedanken. Ohne ihre vielschichtige Unterstützung und Beratung wäre mein Promotionsprojekt nicht zustande gekommen, nicht durchführbar gewesen und hätte nicht zu einem erfolgreichen Abschluss kommen können. Ihre Betreuung, die sich durch eine intensive fachliche Beratung und eine große Freiheit in der Ausgestaltung meiner Forschungstätigkeit auszeichnete, hat es mir ermöglicht, mich in vielerlei Hinsicht weiterzuentwickeln. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Angelika Speck-‐Hamdan und PD Dr. Anke Werani, die meinen Entwicklungsprozess während der Promotionsphase immer wieder durch wichtige Impulse mitgeprägt haben. Prof. Dr. Sabine Lingenauber gilt ein besonderer Dank für die kontinuierliche fachliche Förderung meiner Entwicklung während der Promotionsphase. So hat sie viele Stunden in die Beratung und Rückmeldung zu meinen Überlegungen investiert und für mich dadurch an der Hochschule Fulda ein hoch anregendes und förderliches Berufsumfeld geschaffen, welches ich besonders zu schätzen weiß. Prof. Dr. Iris Nentwig-‐Gesemann möchte ich besonders danken für ihr großes Engagement als Mentorin im Rahmen des Forschungskollegs „Frühkindliche Bildung – Exzellenter Nachwuchs für die Wissenschaft“ der Robert Bosch Stiftung. Ihre große Fachlichkeit, ihre ausführliche Beratung und ihre äußerst kollegiale Art und Weise haben mich sehr beeindruckt und meine eigene Entwicklung geprägt.
8 Für die fachlichen Rückmeldungen und die emotionale Unterstützung danke ich Andrea Karsten und den verschiedenen Teilnehmerinnen und dem Teilnehmer der Forschungsgruppe „Psycholinguistik der Alterität“ an der LMU München. Für den Austausch und die Wertschätzung danke ich darüber hinaus den Stipendiatinnen und Stipendiaten des Forschungskollegs der Robert Bosch Stiftung. Natürlich ist an dieser Stelle auch der Robert Bosch Stiftung ein expliziter Dank für die finanzielle und inhaltliche Unterstützung im Rahmen des Forschungskollegs auszusprechen, welche die Teilnahme an vielen dieser Diskussionszusammenhänge erst möglich machte. Meinen Eltern möchte ich besonders danken für die ständige große Unterstützung und die stetige Ermunterung die Forschungstätigkeit weiterzuverfolgen. Meiner Lerngemeinschaft Chino Molina, Inka Molina und Bernado Schmid danke ich für den tagtäglichen Jour Fixe und die hiermit verbundene kontinuierliche Ermun-‐ terung und Anteilnahme. Ohne eine Person wäre meine Promotionsphase allerdings überhaupt nicht möglich gewesen: Meinem Mann Ryan verdanke ich, dass ich mich voll auf meine Forschungstätigkeit konzentrieren konnte. Durch seine tagtägliche Unterstützung, ständige Ermunterung und seinen Humor war dieser Lebensabschnitt für mich durch eine große emotionale Stabilität bestimmt und hat mich diese Phase ge-‐ nießen lassen.
Inhaltsverzeichnis Vorwort...................................................................................................................................11 Marie-‐Cécile Bertau 0 Einleitung.......................................................................................................................15 1
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Forschungsstand..........................................................................................................21 1.1 Vorgehensweise.................................................................................................................21 1.2 Frühpädagogische Qualität...........................................................................................22 1.3 Frühpädagogische Professionalisierung.................................................................31 1.4 Frühpädagogische Inklusion........................................................................................39 1.5 Frühpädagogische Sprachförderung........................................................................50 1.6 Zusammenfassung............................................................................................................59 Theoretische Konzeption.........................................................................................63 2.1 Vorgehensweise.................................................................................................................63 2.2 Psycholinguistische Sprachauffassung....................................................................64 2.2.1 Hinführung................................................................................................................64 2.2.2 Leitsätze der Psycholinguistik der Alterität...............................................67 2.2.3 Zwischenfazit...........................................................................................................84 2.3 Dialogizität im Professionalisierungsprozess......................................................88 2.3.1 Hinführung................................................................................................................88 2.3.2 Bezüglichkeit und Relation................................................................................91 2.3.3 Ambivalenz und Kontrast...................................................................................95 2.3.4 Dynamik und Veränderung...............................................................................98 2.3.5 Zwischenfazit........................................................................................................101 2.4 Formsensitiver Professionalisierungsbegriff.....................................................102 2.4.1 Hinführung.............................................................................................................102 2.4.2 Gesellschaftlicher Kontext als Formgeber................................................106 2.4.3 Anderer als Formender....................................................................................110 2.4.4 Stimme als Formmoment.................................................................................114 2.4.5 Aneignung als dialogische Formung...........................................................119 2.4.6 Zwischenfazit........................................................................................................123 2.5 Zusammenfassung.........................................................................................................125
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Empirische Konzeption..........................................................................................129 3.1 Vorgehensweise..............................................................................................................129 3.2 Erkenntnisinteresse......................................................................................................130 3.3 Methodologie....................................................................................................................132 3.3.1 Hinführung.............................................................................................................132 3.3.2 Theoretische Konzeption als Referenzpunkt..........................................132 3.3.3 Ausgewählte Forschungsansätze als Referenzpunkt...........................137 3.3.4 Begründung des Forschungsdesigns..........................................................148 3.3.5 Zwischenfazit........................................................................................................152 3.4 Methodik............................................................................................................................153 3.4.1 Hinführung.............................................................................................................153 3.4.2 Stichprobe...............................................................................................................153 3.4.3 Datenerhebung.....................................................................................................157 3.4.4 Datenauswertung................................................................................................167 3.4.5 Qualitätssicherung..............................................................................................176 3.4.6 Zwischenfazit........................................................................................................179 3.5 Zusammenfassung.........................................................................................................180 Forschungsergebnisse............................................................................................183 4.1 Vorgehensweise..............................................................................................................183 4.2 Sprachentwicklung und Sprachpersönlichkeit..................................................184 4.2.1 Hinführung.............................................................................................................184 4.2.2 Qualifizierungsziel: Sprachentwicklung analysieren..........................185 4.2.3 Qualifizierungsziel: Sprachpersönlichkeiten analysieren.................204 4.2.4 Zwischenfazit........................................................................................................215 4.3 Pädagogische Interaktionsqualität.........................................................................218 4.3.1 Hinführung.............................................................................................................218 4.3.2 Veränderungen in der pädagogischen Interaktionsqualität............218 4.3.3 Qualifizierungsziel: Pädagogische Interaktionen gestalten..............230 4.3.4 Qualifizierungsziel: Fachlich begründet handeln..................................276 4.3.5 Qualifizierungsziel: Kompetenzen identifizieren..................................287 4.3.6 Zwischenfazit........................................................................................................296 4.4 Zusammenfassung.........................................................................................................301 Diskussion...................................................................................................................305 5.1 Vorgehensweise..............................................................................................................305 5.2 Synopse...............................................................................................................................306 5.3 Implikationen ..................................................................................................................315 5.4 Perspektiven.....................................................................................................................327 5.5 Zusammenfassung.........................................................................................................331 Literaturverzeichnis................................................................................................337 Anhang..........................................................................................................................364
Vorwort Marie-‐Cécile Bertau Das vorliegende Buch ist im Feld der kulturhistorischen Psycholinguistik angesiedelt (Bertau & Werani, 2011) und nimmt damit die Grundidee Vygotskijs auf, dass Sprache eine konstitutive, formende Rolle für die Genese sozial-‐ psychologischer Phänomene spielt. Sprache als sprachliche Tätigkeit ist das Medium der prinzipiell vermittelten menschlichen Tätigkeit.. Innerhalb dieses an Sprache als kulturhistorischer, vielfältig ausgeformter und performierter Tätigkeit interessierten Feldes greift Andrea Tures ein Forschungsdefizit im Bereich der Professionalisierung in der Frühpädagogik auf und fragt nach der Genese und Struktur sowie nach den Auswirkungen professioneller Kompetenzen frühpädagogischer Fachkräfte. Dieses Forschungsdefizit bearbeitet Tures inter-‐ disziplinär, indem sie die Frühpädagogik mit der kulturhistorischen Psycho-‐ linguistik in der Ausprägung von Bertau (2011) verbindet, um Bildungsprozesse zu untersuchen. Tures verbindet auch Theorie und Empirie als aufeinander verweisende Praxisformen von Forschung: In ihrer empirischen Studie artikuliert sie zunächst explizit theoretisch ihre Forschungsperspektive auf den Gegenstand „Professionalisierungsprozesse“ indem sie die Theorie der „Psycholinguistik der Alterität“ (Bertau, 2011) konkret ausformuliert und in Empirie „übersetzt“: damit kann sie nach den dialogischen Prozessen und Ambivalenzen fragen, die mit der Professionalisierung zum Frühpädagogen/zur Frühpädagogin verbunden sind. Auf der methodologischen Ebene verfährt die Autorin ähnlich, indem sie den Unter-‐ suchungsgegenstand und die verwendeten theoretischen Konzepte zum Ausgangs-‐ punkt der Konstruktion ihres methodologischen Instrumentariums macht. Drei Forschungsansätze bilden den Bezug für die methodologischen Überlegungen. Dies ist zunächst Vygotskijs genetische Methode, die am zu beobachtenden Wandel der sprachlichen Formen in der sprachlichen, dialogischen Tätigkeit zu konkretisieren ist. Die genetische Methode fordert, die sich in Entwicklung befindenden Funktionen hervorzurufen um sie beobachtbar zu machen: die Untersuchungsanlage soll in sprachlichen Tätigkeiten deshalb nicht nur sprach-‐ pragmatische, sondern auch psychologische Entwicklungsaspekte sichtbar und hörbar machen. Der zweite Ansatz ist der der ethnographischen Gesprächsanalyse,
12 die mit ihrem Fokus auf den Handlungscharakter von Gesprächen und dem Insistieren auf dem sprachlich Erscheinenden mit dem Forschungsansatz der Autorin konvergiert . Schließlich führt die Autorin die Aktionsforschung an, welche das Verhältnis von Forscher-‐ und Teilnehmerperspektive, die schon in der ethnographischen Gesprächsanalyse thematisch sind, radikal neu bestimmt: Forschung ist immer auch verändernde, entwickelnde Intervention, Forscher/Forscherin haben einen „Innenbezug“ zum Gegenstand ihrer Forschung, weil sie Teil des beforschten Systems sind. Damit wird eine alternative For-‐ schungsposition zum geläufigen empirischen Paradigma mit der klaren Trennung von Forscher und Beforschten möglich. Distanz ist da Bedingung und Garant für Objektivität und klare subjektunabhängige Erkenntnis, zugleich bleiben die Bedingungen und Herstellungsweisen von Objektivität und Erkenntnis selbst als blinder Fleck bestehen. Aktionsforschung nimmt die Vorgänge der Sinnkon-‐ struktion im Forschungsprozess selbst in den Blick, die reflektierende Haltung des Forschers zusammen mit der umfassenden und systematischen Reflexion des Forschungskontextes sind Mittel und Bedingung von Forschung. Die Nähe zum Forschungsgegenstand ist dann spezifische Zugangsmöglichkeit und integraler Teil der Forschungstätigkeit. Damit findet über die gesamte Untersuchung hinweg eine reflektierte Verzahnung von Theorie und Empirie statt, welche die Theorie weder der Empirie bloß vor-‐ ordnet noch theoretische Überlegungen durch scheinbar selbsterklärende empi-‐ rische Ergebnisse überflüssig macht. In diesem vollen Sinne ist die Studie deshalb theoretisch-‐empirisch zu nennen. Darin erweist sich letztlich die Praxisnähe theoriegestützter Forschung und die Theorie als eine Praxisform, die ebenfalls kulturhistorisch verankert ist. Dies korrespondiert mit einer der Basisannahmen der kulturhistorischen Psychologie, die Tätigkeit als ein System ansieht, das zugleich theoretisch und praktisch ist (Seeger, 2001). Die Studie kann daher auch im Sinne der von Vygotskij (1927/2003) angestrebten „praktischen Psycho-‐ logie“ gelesen werden, denn für diese Psychologie ist die Praxis „keine Kolonie der Theorie“ mehr, sie „dringt in die tiefsten Grundlagen der wissenschaftlichen Opera-‐ tion vor und verändert sie von Anfang bis Ende“ (Vygotskij, 1927/2003, S. 202) Mit der Frage nach Genese und Struktur sowie nach den Auswirkungen profession-‐ neller Kompetenzen nimmt die Studie eine deutlich genetische Perspektive ein, sie interessiert sich für Entstehungs-‐ und Veränderungsprozesse von Studierenden, die im Verlauf ihrer Ausbildung zur frühpädagogischen Fachkraft an verschie-‐ denen, miteinander verschränkten Lernorten tätig sind: in der pädagogischen Praxis mit den Kindern und dem Fachkräfteteam einerseits, in der akademischen Lernpraxis mit Peers und Dozenten andererseits. Diese sozio-‐kulturellen Welten mit ihren unterschiedlichen Akteuren und Tätigkeitsgenres werden in der Lernentwicklung und im aktuellen Praxismoment hier und dort komplex mit einander verwoben. Lernende erwerben ihre Profession in und durch diese kultur-‐
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historisch spezifischen Praxistypen und ihrer ebenso spezifische Verwobenheit, beides wird zum einem bedeutenden Teil in sprachlicher Tätigkeit ausgeformt und objektiviert, verhandelt, performiert und re-‐inszeniert. Sprachliche Tätigkeit ist das Mittel und Medium (Bertau, 2011) der Entwicklungs-‐ und Veränderungs-‐ prozesse von Professionalisierung: genau in dieser Rolle wird sprachliche Tätigkeit präzise untersucht. Dies geschieht in der Analyse der videostimulierten Reflexionsgespräche über die Tätigkeit am Praxisort Kita über verschiedene Zeitpunkte hinweg, so dass eine Dialoggeschichte zwischen den Gesprächspartnern entsteht, welche die Formungsprozesse, die Ausformungsdynamiken, die in diesem Sinne wörtlich gemeinte Bildung eines professionellen Selbst nachvollziehbar macht, das in unterschiedlichen sozialen und sprachlichen Bezügen agieren muss. Die Beschreibung von Qualifizierungsprozessen von Frühpädogikstudierenden ist fokussiert auf die dialogische Ausrichtung der Lernenden im sprachlichen Tätig-‐ sein mit anderen ebenso wie im Psychischen, hier als dialogische Dynamiken des sich entwickelnden Selbst. Diese Tätigkeitsbereiche sind funktional und genetisch miteinander verbunden. Zentral erweist sich damit eine dialogische Auffassung des lernenden Individuums: die Kompetenz als Frühpädagoge/in entwickelt sich bezogen auf die Anderen seiner jeweiligen Lernfelder (Kita und Hochschule). Die Dialoge und die besonderen Erfahrungen mit diesen vielfältigen Anderen finden ihren Ausdruck in „inneren Dialogen“, die eminenter Teil des Lern-‐ und Ver-‐ stehensprozesse sind und in den zeitlich folgenden sozialen Dialogen mit aktuellen Anderen einfließen. Damit wird eine dialogische-‐temporale Perspektive auf Lern-‐ bzw. auf Professionalisierungsprozesse nahegelegt. Professionalisierung erscheint als dialogisch und mehrstimmig, Lernen ist relational, die Internalisierung von signifikanten Beziehungen ist zentral; Spannungen zwischen verschiedenen Positionen kennzeichnen den Lernprozess als ambivalent, schließlich ist dieser Prozess geprägt von Veränderungen und Stabilitäten. Im Ergebnis stellt die Autorin drei Definitionskriterien für die Fassung des Begriffs „Professionalisierung“ auf, deren Kernidee die der kontinuierlichen Organisation und Modifikation der unterschiedlichen Positionen im Lernenden ist. Tures lehnt damit die Vorstellung einer einheitlichen professionellen Position entschieden ab und privilegiert Dynamik und Vielfalt, welche die Realität der unterschiedlichen Ansprech-‐ und Handlungspartner der frühpädagogischen Fachkraft in den verschiedenen Praxisfeldern anerkennen. Auf dieser Basis wird ein „formsensitiver Professionalisierunsgbegriff“ erarbeitet: der gesellschaftliche Kontext, die aktuellen Partner („Andere“), das Formmoment „Stimme“ und die Aneignung als dialogische Formung sind die vier Dimensionen dieses Begriffs. Der ungewöhnliche Fokus auf „Form“ erbringt fruchtbare Einsichten in das dialogische Geschehen im allgemeinen und in das der Frühpädogikstudierenden im besonderen – sprachliche Form ist als Formung im Anreden und Erwidern ist dann zentraler Untersuchungs-‐
14 gegenstand, in Übereinstimmung mit der dialogischen und „phenomena-‐ len“ Sprachansicht der Psycholinguistik der Alterität. Über diese spezifischen, die kulturhistorische Psycholinguistik betreffende Fragen hinaus spricht diese Studie aktuelle Entwicklungen in der Frühpädagogik in Deutschland an und leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Bildungsforschung innerhalb der akademischen Ausbildung zu Frühpädagogen, einem in Deutschland neuen Studiengang. Bemerkenswerter Weise bleibt dieser Beitrag nicht auf die Praxiswelt frühpädagogischer Einrichtungen beschränkt, vielmehr wird die Lernsituation am Praxisort Hochschule einbezogen und reflektiert: Die Ergebnisse ihrer Studie diskutiert die Autorin auch mit Bezug auf eine weiter zu entwickelnde akademische Ausbildung von Frühpädagogen und Frühpädagoginnen. Hochschul-‐ lehre selbst gerät durch die selbstreferentielle Anlage der Studie in den Blick. Dies gilt insbesondere für die Gestaltung didaktischer Lernformate, die einem dialo-‐ gischen Lernbegriff entsprechen und den Veränderungen der Lernenden, ihrem sich entwickelnden Bezug zum Lerngegenstand („Sprachförderung“, „inklusive Pädagogik“) systematischen Wert zuerkennen. Die hoch reflektierte Unter-‐ suchungsform der Studie und die einbezogene hochschuldidaktische Zielrichtung macht sie höchst interessant und vielfältig anschlussfähig. Anschlussfähig für eine Bildungsforschung, die eher an der dynamischen und dialogischen Vielfalt von Entwicklungsprozessen als an Kompetenzen als individuell verankerte Produkte interessiert ist, und anschlussfähig für weitere praktisch-‐theoretische Forschungen im Feld der kulturhistorischen Psycholinguistik, die das sozial-‐psychologische Volumen der stets dialogischen sprachlichen Tätigkeit fokussiert. Literatur Bertau, M.-‐C. (2011). Anreden, Erwidern, Verstehen. Elemente einer Psycholinguistik der Alterität. Berlin: Lehmanns Media. Bertau, M.-‐C. & Werani, A. (2011). Introduction. Acknowledging language in the cultural-‐historical framework. Tätigkeitstheorie: E-‐Journal for Activity Theoretical Research in Germany, 5, 3-‐6. Seeger, F. (2001). The complementarity of theory and praxis in the cultural-‐ historical apporach: From self-‐application to self-‐regulation. In S. Chaiklin (Hrsg.), The theory and practice of cultural-‐historical psychology (S. 35-‐55). Aarhus: Aarhus University Press. Vygotskij, L. S. (1927/2003). Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In J. Lompscher (Hrsg.), Lev Vygotskij, Ausgewählte Schriften. Band I (S. 309-‐317). Berlin: Lehmanns Media
Einleitung Motivation Diese Studie untersucht die Professionalisierungsprozesse von Frühpädagogik-‐ studierenden im Rahmen des Studiengangs „Frühkindliche inklusive Bildung (BiB)“ an der Hochschule Fulda am Beispiel des Bereichs der sprachpädagogischen Inter-‐ aktionsgestaltung. Mein Ziel ist es erstens, den frühpädagogi-‐ schen Professionalisierungsbegriff aus einer dialogischen psycholinguistischen Perspektive theoretisch zu fundieren und auf dieser Grundlage die Lernprozesse der Studierenden multimethodisch zu erforschen. Aus einer anwendungs-‐ orientierten Perspektive heraus ist für mich zweitens von zentraler Bedeutung, wie es Frühpädagogikstudierenden durch berufsbegleitende Studienformate auf der Grundlage eines theorie-‐ und empiriegestützten Fachwissens gelingt, früh-‐ pädagogische Kompetenzen auszubilden und weiterzuentwickeln, die eine praktisch-‐didaktische Handlungskompetenz in ihrer Berufspraxis und eine professionelle pädagogische Haltung mit sich ziehen. Vor diesem Hintergrund werden die Interaktionsprozesse der Studierenden an den Lernorten Praxis und Hochschule genauer untersucht. Durch meinen psycholinguistischen Hintergrund erforsche ich Entwicklungs-‐ und Bildungsprozesse von Kindern und Erwachsenen aus einer konsequent dialogischen Perspektive. Der Blick meiner Arbeit richtet sich deshalb einerseits auf die Qualität der Beziehungen in den institutionellen Settings der Lernorte Hochschule und Fachpraxis sowie andererseits auf die Frage, in welchen dialogischen Kontexten sich „gute Professionalität“ ausbildet und wie sich solche Professionalisierungskontexte herstellen lassen. Diese Forschung verankert sich vor dem aktuellen Diskussionsstand um die Qualitätsentwicklung und Professionalisierung im Feld der Frühpädagogik. Im Rahmen einer dialogisch psycholinguistischen Theoriekonzeption wird der Forschungsgegenstand der Professionalisierung von Frühpädagogikstudierenden im Themenfeld der sprachpädagogischen Interaktionsgestaltung in einem inklusiven Kontext empirisch untersucht und theoretisch modelliert. Hiermit verbinde ich als Wissenschaftlerin und Hochschullehrende mein wissenschaftlich-‐theoretisches Interesse an einer dialogischen Psycholinguistik mit der berufspraktischen-‐ empirischen Zielsetzung, Prozesse in meinem beruflichen Wirken als Hoch-‐ schuldozentin im Feld der frühkindlichen Bildung durch die wissenschaftliche