I. Um Mittsommer, Nordestland 1970er Jahre

sprach die Erfahrung eines Jägers und des Wis- sens eines Veterinärs. Der Raureif auf .... rung noch bis in die Nacht hielt. Im Garten der. Schule versammelten ...
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Ira Ebner

Himmel, Erde, Schnee Band 1 Roman

© 2012 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Umschlaggestaltung: Ira Ebner, Tatjana Meletzky, Berlin Coverbild: Alex Tino Friedel, ATF Pictures. www.atfpictures-fotos.de Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0067-4 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com e Books sind nicht übe rtragbar! Es ve rstößt ge ge n das Urhebe rrecht, dieses We rk we ite rzuve rkaufe n ode r zu versche nke n! Alle Pe rsone n und Name n inne rhalb dieses Romans sind fre i e rfunde n. Ähnlichke ite n mit le be nde n Persone n sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die ser Roman wurde be wusst so be lassen, wie ihn die Autorin geschaffe n hat, und spie ge lt de ren originale Ausdruckskraft und Fantasie .

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Eine Lüge, die oft genug erzählt wird, wird zur Wahrheit W. I. Lenin, sowjetischer Staatsgründer

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Inhaltsverzeichnis Prolog: Das Auftreten eines Mannes I. Um Mittsommer II. Der Geschmack von Ebereschen III. Eine unmögliche Liaison IV. Taigablumen V. Die Welt hinter Laanejärv VI. Improvisationen VII. In einem fernen Land VIII. Tränen und Steine IX. Die Zeit der Wildgänse

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Prolog: Das Auftreten eines Mannes Enno Treimann schob den Ast zur Seite, so dass Lagle hinter ihm auf die Lichtung schlüpfen konnte, ohne einen scharfen Zweig auf die Wange zu bekommen. Er ließ los, der Ast peitschte zurück, ein Stückchen Rinde brach ab und verfing sich in Lagles Haaren. Er rückte sich die Uschanka zurecht, die dunkelblonden Locken kräuselten sich auf dem Kragen seines Mantels. Er war so kurzsichtig wie sie, seine Gefährtin, Kortelainens Frau. Er sah sich auf der Lichtung um, er hatte den Schuss aus seiner Jagdflinte sicher in die Richtung des Elches abgefeuert, zwischen die beiden Bäume hindurch, aber auf zu große Distanz. Er war sich nicht ganz sicher gewesen, ob er einen gut zweihundert Meter entfernten Elch traf, zugegebenermaßen war es ein kühner Versuch. „Ich glaube, er ist dir entkommen.“ sagte Lagle. „Ja, das glaube ich auch.“ sagte Enno, „Ärgerlich, aber ich hätte mehr Glück als nötig gehabt, wenn ich ihn erwischt hätte. Lass uns nachsehen, ob er sich nicht angeschos5

sen zurückgezogen hat.“ Aus Ennos Worten sprach die Erfahrung eines Jägers und des Wissens eines Veterinärs. Der Raureif auf dem spröden Gras knirschte unter seinen Stiefeln, und er sah genau hin, ob er eine dünne Spur von Blut darauf fand, die ihn zu dem Elch führte. Lagle sah in die Ferne, dorthin, wo der Elch hin geflüchtet war. Sie nahm den Feldstecher aus den Beständen der Roten Armee und suchte die frostige Weite der Taiga ab. Der Feldstecher war so präzise, dass sie zwischen den kahlen, dürren Birken die Schlote von Kohtla-Järve erkannte und die schwachen grauen Tupfen zwischen den Wolken als Rauch ausmachte. Enno sah Lagle mit einer Faszination an, die er seit der ersten näheren Begegnung im Zug nach Moskau nicht mehr los wurde. Wie sie in ihren Stiefelhosen dastand, die ihr zu groß waren, und doch ihren runden Hintern abzeichneten, das Profil ihrer Wangen und ihrer feinen Nase, wie sie dastand, beide Füße fest auf dem gefrorenen Boden, die Haltung eines Mannes. In ihrer Jugend musste sie eine filigranere, fast zerbrechliche Schönheit gewesen sein. Sie war mit ihren dreißig Jahren 6

immer noch jünger als er selbst, und ihre Ausstrahlung manifestierte sich jetzt. Sie hatte ein Vorleben, ein Leben vor ihm gehabt, so wie er auch. Er war zu ihr gezogen, lernte sie erst kennen, und er fragte sich, mit was diese Frau noch haderte, wenn ihr Blick in die Ferne schweifte. „Nirgends eine Blutspur.“ sagte Lagle und ließ den Fernstecher sinken, wie sie sich zu Enno umwandte, „Er ist längst auf und davon. Machen wir eine Pause und fahren zurück ins Dorf. Ich hoffe, meine Mutter hat inzwischen die Sauna angeheizt. Sofern Kalle sie nicht abgehalten hat.“ Da war wieder der Blick, wenn sie ihre Lider senkte und ihre Wimpern aufgeregt flatterten. Sie nahm die ihr verhasste Brille ab und wandte sich ihm zu. Mit einem Lächeln überspielte sie ihre Enttäuschung, dass der Elch entwischt war. Sie hatte andere Geheimnisse, die sie zu überspielen versuchte. So wie sie neulich zusammengefahren war, als Kalev seine Tasse hatte fallen lassen, so als käme mit dem Zerbersten von Porzellan eine alte Verwundung auf. Dabei hatte diese Frau ein Strahlen, das unter ihrer Haut oszillierte, das ihre Augen wie von einer fernen 7

Sonne erhellt glänzen ließ. Ennos Bedürfnis, Lagle in die Arme zu schließen, wuchs, und er suchte als Wissenschaftler aber den Grund, ihr letztes Geheimnis. „Früher waren wir hier immer jagen.“ sagte sie und griff unter den Riemen ihrer Flinte, der sie auf der Schulter drückte, „Seit zehn Jahren ist das Wild immer weniger geworden. Wegen der Gruben, die näher an die Taiga rücken.“ „Im Westen gehen sie wegen den Umweltgeschichten auf die Straßen und demonstrieren.“ sagte Enno, „Darüber kam neulich im finnischen Fernsehen ein Bericht. Bei denen steht es auch nicht zum Besten. Kohtla-Järve ist auch eine Umweltgeschichte.“ „Mein Vater musste seinen Posten räumen, weil er einen Beschwerdebrief an die Leitung der Betriebe von Kohtla-Järve geschrieben hat.“ sagte Lagle, „Er sei nicht mit der Parteilinie konform gegangen, hieß es. Ich sage, er hatte Recht. Ich sage es nur hier draußen, sonst ergeht es mir wie ihm. Wann hat das finnische Fernsehen berichtet?“ Sie nahm die Schachtel Priima aus der Seitentasche ihrer Jacke und bot ihm eine an. Die Diskussionen da draußen hatten einen tieferen Sinn als die innerhalb der 8

vier Wände einer Plattenbauwohnung, wo das Geplätscher so nebenbei, nach Feierabend, der Arbeitstag und die Belanglosigkeiten ihren Raum fanden. Dort draußen zog niemand die Vorhänge zu und dimmte die Wohnzimmerlampe, wenn sich das Staatsfernsehen verabschiedete und der finnische Sender auf dem anderen Kanal lief. „Neulich spät am Abend, als ich noch an meiner Arbeit geschrieben hatte.“ antwortete er. „Ah ja.“ sagte sie, „Müllersson, der jetzt Vorsitzender des Dorfsowjets ist, ist einer von denen. Er unterschreibt auch dann, wenn die Russen die Erde von Laanejärv umgraben wollen. So einer ist er, jung, und auf die große Karriere aus. Er spricht nicht einmal mehr unsere Sprache.“ „Das tun unsere Parteioberen auch nicht.“ sagte Enno, „Zu Semesterbeginn bekam ich die Anweisung von oben, meine Kurse auch auf Russisch zu halten. Aber zurück zu Laanejärv so wie es früher war. Sag mir, warum erschrickst du dich, wenn Zuhause etwas umfällt? Gegen mich musst du nicht ankämpfen.“ Lagles Worte verstummten und ihre stolze Haltung verlor sich. Sie zog an ihrer Priima und ihr entkam ein Schluchzen. Es ent9

kam ihr, so wie er sie ansah, und seine Augen wurden tiefblau. Sie studierte seine klaren Gesichtszüge. Die Monate, die sie seit der ersten Unterhaltung auf dem Weg nach Moskau und dem heiteren, langen Abend im Rossija mit ihm verbracht hatte, währten nun, und sie löste sich aus ihrer Ergebenheit. „Du willst alles über Kortelainen wissen?“ begann sie, „Diese Geschichte beginnt hier. Er ging damals noch mit Frau Heikkonen. Sie lebt jetzt in Finnland. Sie kommt rüber nach Estland, um uns zu zeigen, um wie viel besser sie sich ihr Leben eingerichtet hat. Sie war immer die Beste.“ Enno setzte sich auf den Stamm einer entwurzelten Birke, und er bat sie, ohne das auszusprechen, neben ihn Platz zu nehmen. Er bemerkte die graue Feder einer Wildgans im Gras. „Ich will etwas über dich wissen, Lagle.“ sagte er. „Du weißt sehr viel von mir.“ entgegnete sie. Sie suchte nach dem richtigen Anfang, wie sie die graue und weiße Maserung der Wildgansfeder studierte. „Es liegt mehr als zehn Jahre zurück.“ begann sie, und befreite ihre Stimme mit einem Husten, „Ich war gerade mit der Schule fertig, und es gab eine 10

große Abschlussfeier. Ich sollte an diesem Abend Theater spielen. Sie kehrte aus Tallinn zurück, und sie brachte noch jemanden mit.“

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I. Um Mittsommer, Nordestland 1970er Jahre Eines Tages, eines Sommers… Eines Sommers beendete Lagle die Mittelschule. Sie freute sich nicht auf den Abschlussabend, an dem sie mit ihrem Auftritt im Schultheater die Eltern und die Lehrer unterhielt. Sie sah auch der Zeugnisübergabe nicht mit der Aufregung entgegen wie die anderen Mädchen und Jungen aus ihrem Jahrgang. Ihr Vater, Küllo Väljamäe, war der Vorsitzende des Dorfes, und als Mann der Partei konnte er eine Empfehlung aussprechen. Er war ein kluger Mann, der nicht viele Worte verschwendete, die aber wohl wählte. „Lagle, es ist wie es ist.“ tröstete er sie, „Mach das Beste daraus.“ Lagle merkte ihm an, dass er enttäuscht von ihr war. Er hatte erwartet, dass sie es ihrer Cousine Sigurd gleich tat und studierte. Sigurd kam aus Tallinn als Absolventin eines Schwesternlehrgangs zu Lagles Abschlussfeier. Sigurd sah so hübsch aus, hatte ihre blonden Haare zu einem üppigen Knoten aufgesteckt, ein zartes 12

hellblaues Kleid, und sie war wie immer sorgfältig zurechtgemacht. Der Höcker auf ihrer Nase entstellte sie keinesfalls so, wie sie stets befürchtete. An ihrer Seite stand ein Oberst, er war ein Stück größer als sie, seine Haare waren dunkel und die Augen hellblau, fast wie die Farbe des Eises, mit grünen Sprenkeln. Er war auch älter als sie, etwa um fünfzehn Jahre, wenn nicht ein wenig mehr. „Darf ich vorstellen, das ist Arvo Kortelainen, mein Freund.“ sagte sie. Er gab ihr einen Blick, der voller tiefer Gefühle war. Er hatte perfekte Manieren, so wie er ihre Hand an seine Lippen führte. Hendrik, Sigurds Vater, war stolz und im Gesicht ihrer Mutter stand Freude. „Seien Sie willkommen, Genosse Oberst.“ sagte Küllo als Dorfvorsteher, „Ich freue mich, dass Sie zur Abschlussfeier meiner Tochter gekommen sind. Nun wollen wir zur Schule gehen.“ „Bist du schon aufgeregt wegen deiner Aufführung?“ fragte Sigurd Lagle. Zwischen den Ansprachen und der Zeugnisverleihung spielte sie ein letztes Mal mit der Theatergruppe einen kleinen Bauernschwank zur Erheiterung aller. Juhan, Sigurds Bruder, unterstützte sie dabei. Das war der 13

Grund, warum sie und ihr Cousin bereits die schwarze Tracht Estlands trugen. „Das bin ich jedes Mal.“ antwortete Lagle. „Dafür hast du doch keinen Grund.“ sagte Sigurd und wandte sich an Arvo Kortelainen, „Lagle hat jedes Jahr in der Theatergruppe mitgespielt, von den Klassikern bis hin zur Komödie. Sie hatte sogar im Kulturhaus schon Auftritte. Sie macht das richtig gut.“ „Ich bin neugierig auf dich, Lagle.“ sagte er. „Es ist nur Bauerntheater, nichts besonderes.“ sagte sie. Lagle ging mit ihren Eltern voran, über die Hauptstraße an den mit Reet gedeckten Häusern vorbei, auf den Platz der Revolution zu, in dessen Mitte ein Brunnen vor sich hin plätscherte. Rechts führte eine weitere Straße auf ihre Schule zu. Sie war das modernste Gebäude des Dorfes, ein zweistöckiger sandfarbener Klinkerbau, vor dem die rote Fahne mit den stilisierten Wellen der Sowjetrepublik Estland flatterte. Die Fenster des Erdgeschosses waren mit Stalinsonnen vergittert. Es war eine jener Juninächte, die nie zu verlöschen schienen, wenn die Sonne erst um Mitternacht unterging und sich die Dämme14

rung noch bis in die Nacht hielt. Im Garten der Schule versammelten sich Lagles Klassenkameraden, die Mädchen in weißen Kleidern und die Jungen in dunklen Anzügen. So stellte sie sich einen Debütantenball vor. Man begrüßte einander, teilte die Aufregung, welche Bemerkung der Rektor machen würde, wenn er das Zeugnis in einer Mappe überreichte. Er bemerkte, dass die Väljamäes kamen und er ging auf Küllo zu, begleitete ihn in die Turnhalle hinein, die für diesen Anlass festlich mit Papierblumen und den Bühnenbildern dekoriert war. An einem der Bühnenbilder hatte Lagle mitgearbeitet, ein estnisches Dorf mit Reetdachhäusern, einer Windmühle und Kühen. „Genosse Väljamäe, darf ich Sie bitten, einige Worte an die Absolventen zu richten?“ fragte er. „Ich habe selbstverständlich eine kleine Ansprache vorbereitet.“ sagte Küllo. „Und, Lagle, wie geht es dir?“ wandte sich der Rektor ihr zu, „Freust du dich, dass deine Schulzeit nun vorbei ist?“ „Ja.“ brachte sie nur heraus. „Lagle wird in der Verwaltung des Dorfsowjets unterkommen.“ erklärte ihr Vater, „Sie wird vieles lernen, was ihr später zugute kommt.“ Sie 15