Historie von

Casper, Haag 1979. GS I.2. Bd. I.2: Briefe und Tagebücher. 1918-1929. Hg. v. Rachel Rosen- zweig u. Edith Rosenzweig-Scheinmann u. Mitw. v. Bernhard.
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Tim Krechting

Richard Beer-Hofmanns jüdisches Denken Eine theologische Werkanalyse unter besonderer Berücksichtigung der “Historie von König David”

Gedruckt mit Unterstützung des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien, des Bistums Hildesheim und des Bistums Osnabrück.

Tim Krechting Richard Beer-Hofmanns jüdisches Denken 1. Auflage 2012 | ISBN: 978-3-86815-621-8 Satz: Malena Brandl © IGEL Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg 2012, www.igelverlag.com Alle Rechte vorbehalten. Igel Verlag Literatur & Wissenschaft ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH Hermmanstal 119 k, 22119 Hamburg Printed in Germany Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diesen Titel in der Deutschen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten sind unter http://dnb.d-nb.de verfügbar.

Inhalt

Vorwort .............................................................................................................VII Siglenverzeichnis ............................................................................................ VIII 1. Einleitung....................................................................................................... 10 2. Richard Beer-Hofmann und das zeitgenössische Judentum........................ 12 2.1 Erste Zuordnungen ................................................................................................... 16 2.1.1 „Heimkehrer“?......................................................................................................... 16 2.1.2 „Kulturzionist“? ....................................................................................................... 21 Exkurs: Eduard Strauß’ „Judentum und Zionismus“ (1919)............................................ 24 2.1.3 „Universalist“? ......................................................................................................... 26 2.2 Beer-Hofmann im Kontext einiger Repräsentanten des zeitgenössischen Judentums ................................................................................................................... 27 3. Zur Rede vom „jüdischen Denken“ ..............................................................34 3.1 Der „Dichter“ als „Denker“ .................................................................................... 36 3.2 Theozentrik................................................................................................................. 41 3.3 Messianismus.............................................................................................................. 46 4. Richard Beer-Hofmanns jüdische Dichtung.................................................53 4.1 Das Werk als zeitgeschichtlicher Kommentar ...................................................... 53 4.2 Leiden und Prophetie................................................................................................ 58 4.3 Der zentrale Rang der Davidsfigur ......................................................................... 60 4.4 Zur Konstruktion der Historie von König David ....................................................... 63 4.4.1 Die systematische Beziehung zwischen Vorspiel und Hauptzyklus ............................. 63 4.4.2 Vorzeichen: Jaákobs Traum ..................................................................................... 64 4.4.3 Die Davidsdramen.................................................................................................... 69 Exkurs: Joseph Viktor Widmanns „Der Heilige und die Tiere“ (1905)............................ 74 5. Wort, Volk und Zeit als zentrale Kategorien des Denkens Beer-Hofmanns. 81 5.1 Wort ............................................................................................................................. 81 5.1.1 Die kon-kreative Kraft des Wortes............................................................................ 87 5.1.2 Die kreatürliche Ohnmacht des Wortes ..................................................................... 92 5.1.3 Die Unvertretbarkeit des Dichters ............................................................................. 95 5.1.4 Das Wort, das Wirklichkeit stiftet ........................................................................... 98 5.1.5 Worthaftes Offenbarungsgeschehen ...........................................................................107 5.1.6 Glaube als Ant-wort...............................................................................................115 5.1.7 Prophetisches Wort..................................................................................................119 5.1.8 Wort der Tradition .................................................................................................124 5.1.9 Dichten als Ringen – „jüdische Dichtung“? .............................................................131 5.1.10 Wort: Bund als Verbundenheit.............................................................................141 5.2 Volk............................................................................................................................141 5.2.1 Gerechtigkeit Gottes und Treue des Volkes .............................................................146 5.2.2 Das Amt Israels: Gottes „ewiger Mund und ewiger Anwalt“ ..................................153 5.2.3 Gott „Einen“ als Vollzug des Amtes Israels...........................................................159 5.2.4 „Amt“, nicht „Wesen“ ...........................................................................................164 5.2.5 Messianismus und Stellvertretung ............................................................................170 5.2.6 Erwählung als Freiheitsgeschehen .........................................................................176

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5.2.7 Israel als „Sohn Gottes“ ...................................................................................... 182 5.2.8 „Chauvinismus“ und „Nationalstolz“?................................................................ 185 5.2.9 „Anders“, nicht „besser“ – Sonderung als Möglichkeitsbedingung von Toleranz.............................................................................................................. 190 5.2.10 Volk: Bund als Bindung ...................................................................................... 200 5.3 Zeit............................................................................................................................. 204 5.3.1 Die Geschichtlichkeit des Gottesgeschehens in Israel ............................................... 205 5.3.2 Der „nichtreißende Faden des großen Lebens“ – Kontinuität des Weltgeschehens.... 208 5.3.3 Gottes „Wachsen“ in der Zeit ............................................................................... 214 5.3.4 Das „Judenschicksal“ ........................................................................................... 217 Exkurs: Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ (1973) .......................................... 222 5.3.5 Die Orientierung der Zeit...................................................................................... 224 5.3.6 Die „Zäsurlosigkeit“ der Zeit ............................................................................... 226 5.3.7 Zeit und Ewigkeit ................................................................................................ 228 5.3.8 Sonderung in der Zeit als Möglichkeitsbedingung der Universalisierung .................. 231 5.3.9 Der Weg-Gott ...................................................................................................... 236 5.3.10 Der Tod als Kristallisationspunkt gelebter Zeit...................................................... 238 5.3.11 Zeit: Bund als Band ............................................................................................. 241 6. Zur jüdischen Rezeption des Denkens Beer-Hofmanns ............................ 242 6.1 Ein „neuer jüdischer Wildenbruch“...................................................................... 242 6.2 „Kirchliche Kunst“.................................................................................................. 244 6.3 Eine „neue Lösung des Toleranzproblems“........................................................ 248 6.4 Die „richtige Theorie“ ............................................................................................ 251 7. Richard Beer-Hofmanns Sprechsituation Christen gegenüber .................. 256 7.1 Eine erkenntnis-theologische Vorfrage: „‚Israel‘ als Locus theologicus?“...... 256 7.2 Richard Beer-Hofmann Christen gegenüber....................................................... 258 7.2.1 Gottesbeziehung und „Heil“ ................................................................................... 258 7.2.2 Christologie und „Messianismus des ganzen jüdischen Volkes“................................ 260 7.2.3 Israel und die Christen ............................................................................................ 268 7.3 Zur Reflexion solchen Gegenübers ...................................................................... 270 8. Ertrag............................................................................................................ 272 8.1 Rückblick: Der Gang der Untersuchung.............................................................. 272 8.2 Reflexion: Richard Beer-Hofmanns jüdisches Denken als Anstoß für eine christliche Theologie des „Bundes“...................................................................... 275 8.3 Ausblick: „Verantwortete Zeitgenossenschaft“ .................................................. 281 Literaturverzeichnis.......................................................................................... 286 Werke Beer-Hofmanns ................................................................................................... 286 Werke Bubers ...................................................................................................................286 Werke Rosenzweigs ......................................................................................................... 287 Sonstige Literatur .............................................................................................................287

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Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2009 von der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover als Dissertation angenommen und im Mai 2009 disputiert. Die Veröffentlichung wurde vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien, dem Bistum Hildesheim und dem Bistum Osnabrück durch großzügige Förderbeträge unterstützt. Danken möchte ich Prof. Dr. Guido Bausenhart für die eingehende und wohlwollende Auseinandersetzung mit meinem Text und die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Friedrich Johannsen für den Vorsitz der Prüfungskommission. Besonderer Dank gilt dem Erstgutachter, Lehrer und Freund Prof. Dr. Heinz-Jürgen Görtz – für einfach alles. Gewidmet sei dieses Buch meinen Eltern, meiner Frau Silvia und meiner Tochter Janne, die alle auf ihre Weise zu seiner Entstehung beigetragen haben.

Hannover im August 2009 Tim Krechting

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Siglenverzeichnis Bibliographische Hinweise: Alle Zitierungen der hier verzeichneten Werke erfolgen im Text mit Siglen. Alle anderen Zitierungen oder Verweise erfolgen in den Fußnoten, und zwar bei erstmaliger Nennung entsprechend den Angaben im Literaturverzeichnis in vollständiger, danach in abgekürzter Form. Für die unveröffentlichten Quellen aus dem Archiv des Leo-Baeck-Institute (LBI), New York, wird eine vereinfachte Form verwendet. Neben der Bezeichnung des Materials und der Sammlung wird die Call-Number des entsprechenden Mikrofilms in der Dependance des LBI im Jüdischen Museum Berlin (LBIJMB) und die Nummer der entsprechenden Rolle („reel“) angegeben (z.B.: KLEINEWEFERS, Antje: Gespräch mit Miriam Beer-Hofmann-Lens am 8.9.1967 in Zürich über ihren Vater Richard BeerHofmann, in: Mirjam Beer-Hofmann-Lens Collection, LBIJMB MF 492, reel 11). Werke Beer-Hofmanns BEER-HOFMANN, Richard: Große Richard Beer-Hofmann-Ausgabe. Hg. v. Günter Helmes, Michael Matthias Schardt u. Andreas Thomasberger . 8 Bde., Paderborn/Oldenburg 1994-2002 BHW 1 BHW 3 BHW 4 BHW 5 BHW 6 BHW 7 BHW 8

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Bd. 1: Schlaflied für Mirjam. Lyrik, Prosa, Pantomime und andere verstreute Texte. Hg., m. einem Nachw. u. einem editor. Anh. vers. v. Michael Matthias Schardt, Oldenburg 1998 Bd. 3: Der Tod Georgs. Hg. u. m. einem Nachw. v. Alo Allkemper, Paderborn 1994 Bd. 4: Der Graf von Charolais. Ein Trauerspiel, und andere dramatische Entwürfe. Hg. u. m. einem Nachw. v. Andreas Thomasberger, Paderborn 1994 Bd. 5: Die Historie von König David, und andere dramatische Entwürfe. Hg. u. m. einem Nachw. v. Norbert Otto Eke, Paderborn 1996 Bd. 6: Paula. Ein Fragment. Hg. u. m. einem Nachw. v. Sören Eberhardt, Paderborn 1994 Bd. 7: Briefe: 1895-1945 (Erster Supplementband). Hg. u. kom. v. Alexander Košenina, Oldenburg 1999 Bd. 8: Der Briefwechsel mit Paula 1896-1937 (Zweiter Supplementband). U. Mitw. v. Peter Michael Braunwarth hg., kom. u. m. einem Nachw. vers. v. Richard M. Sheirich, Oldenburg 2002

Daten

BEER-HOFMANN, Richard: Daten. Mitg. v. Eugene Weber, in: Modern Austrian Literature 17 (1984) 13-42

SuA

BEER-HOFMANN, Richard: [Sammlung unveröffentlichter Aphorismen], in: Richard Beer-Hofmann Collection, LBIJMB MF 494, reel 4

Werke Rosenzweigs ROSENZWEIG, Franz: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Haag/Dordrecht 1976-1984 GS I.1 GS I.2 GS II GS III GS IV.1 GS IV.2 GritliBriefe

Bd. I.1: Briefe und Tagebücher. 1900-1918. Hg. v. Rachel Rosenzweig u. Edith Rosenzweig-Scheinmann u. Mitw. v. Bernhard Casper, Haag 1979 Bd. I.2: Briefe und Tagebücher. 1918-1929. Hg. v. Rachel Rosenzweig u. Edith Rosenzweig-Scheinmann u. Mitw. v. Bernhard Casper, Haag 1979 Bd. II: Der Stern der Erlösung. Mit einer Einf. v. Reinhold Mayer, Haag 1976 Bd. III: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken. Hg. von Reinhold u. Annemarie Mayer, Haag 1984 Bd. IV.1: Sprachdenken im Übersetzen. Bd. 1: Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. M. einem Vorw. u. m. Anm. Hg. v. Rafael Rosenzweig, Haag 1983 Bd. IV.2: Sprachdenken im Übersetzen. Bd. 2: Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift. Hg. V. Rachel Bat-Adam, Haag 1984 ROSENZWEIG, Franz: Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy. Hg. v. Inken Rühle u. Reinhold Mayer, Tübingen 2002

Werke Bubers JuJ

BUBER, Martin: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. M. einer Einl. v. Robert Weltsch, Köln 1963

Kirchliche Dokumente DH

DENZINGER, Heinrich: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen/Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Text lat. u. dt. Verb., erw., ins Dt. übertr. u. u. Mitarb. v. Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 381999

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1. Einleitung Die hier vorgelegte Studie widmet sich „Richard Beer-Hofmanns jüdischem Denken“. Das Vorhaben stellt in mehrfacher Hinsicht einen Grenzgang dar. Untersucht werden soll das Werk Richard Beer-Hofmanns (1866-1945), eines heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Dichters der sog. „Wiener Moderne“. Wenn dabei sein „jüdisches Denken“ in den Blick genommen wird, so zeigt sich bereits hier ein erster Grenzgang: der zwischen Dichten und Denken, zwischen Literaturwissenschaft und Religionsphilosophie. Es wird die Rede davon sein müssen, auf welche Weise aus der Dichtung eines Autors sein Denken zu erheben ist. Des Weiteren soll das Denken Beer-Hofmanns auf Konvergenzen mit den Ansätzen anderer jüdischer Denker seiner Zeit hin überprüft werden. Es ist in der Hauptsache ein Beitrag zur Beer-Hofmann-Forschung, jedoch in der einen oder anderen Hinsicht ebenso eine Kontextualisierung des Denkens Hermann Cohens, Franz Rosenzweigs, Eduard Strauß’ und Martin Bubers, deren letzten Beer-Hofmann sogar zu seinen Freunden zählte. Ein zweiter Grenzgang wäre folglich der zwischen den Ansätzen „jüdischen Denkens“ verschiedener Personen. Drittens erfolgt die Darlegung aus der Perspektive eines christlichen Theologen, dem es darum zu tun ist, Beer-Hofmanns Denken als Anfrage an die christliche Theologie aufzunehmen. Im Werk Beer-Hofmanns schattet sich das Gegenüber eines christlichen Umfelds ab, das den Dichter zu einer „Standpunktvergewisserung“ nötigt. Dass diese wiederum auf christliche bzw. vom Christentum aufgenommene Motive und Kategorien rekurriert, wird die Weise bestimmen, in der Beer-Hofmanns jüdisches Denken christlicher Theologie in besonderer Weise denk-würdig wird. Dass das Wort von der (christlich theologischen) „Perspektive“ geneigt sein kann, einen Vereinnahmungsanspruch anzuzeigen, ist dem Verfasser dabei sehr bewusst. Die Theologiegeschichte ist auch eine Geschichte von „Perspektiven“ auf das Judentum, die dieses vor dem Hintergrund der eigenen christusbezogenen Heilsgewissheit abzuwerten versuchten und die Kirche – im Sinne eines „Substituts“ für das „alte“ – als das „neue Israel“ bezeichneten. In dieser Hinsicht soll sich der besagte dritte Grenzgang dieser Studie vor allem so vollziehen, dass das jüdische Gegenüber mit seinem Eigenen zu Wort kommt. Erst in einem zweiten Schritt, der hier ein Ausblick bleiben muss, kann dann gefragt werden, inwiefern christliches Glaubensdenken angesichts dieses Gegenübers zu einer Relecture herausgefordert ist. Die Studie bewegt sich damit innerhalb des christlich-theologischen Paradigmas eines neuen Inneseins der eigenen jüdischen Verwurzelung (vgl. nicht zuletzt Röm 9-11), das als Konsequenz eine umgreifende „methodische Erneuerung der Theologie“ fordert. So lautet denn auch der Titel eines Sammelbands der Reihe Quaestiones Disputatae (QD). Bezogen auf die Tatsache, dass es sich um einen Jubiläumsband (QD 200) handelt, wird dort programmatisch formuliert: „Karl Rahner und Heinrich Fries, beide Herausgeber der Quaestiones Disputatae, widmeten 1983 die QD 100 dem evange-

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lisch-katholischen Dialog“ und haben „mit ihrer Studie dem ökumenischen Gespräch eine neue Dynamik geben und Perspektiven für die Zukunft der Theologie und der Kirchen eröffnen“ wollen. „Die vorliegende QD 200 setzt dieses Vorhaben fort. Sie berücksichtigt freilich den veränderten Kontext heutiger Fragestellungen und setzt deshalb einen neuen Schwerpunkt. Die innerchristliche Ökumene ist und bleibt ein großes Anliegen. Aber sie steht heute mehr denn je im größeren Zusammenhang des jüdisch-christlichen Dialoges, der seine eigenen Herausforderungen an die Theologie und die Kirche stellt.“ Neben dem Blick auf christlich-jüdische Gemeinsamkeiten müsse sich nun auch eine daraus folgende „grundsätzliche Besinnung auf die methodologischen Veränderungen, die sich für die Theologie und ihre einzelnen Disziplinen aus den aufgedeckten Gemeinsamkeiten ergeben“,1 vollziehen. Über das Aufdecken „materialer“ Gemeinsamkeit hinaus muss es also darum gehen, das eigene Denken stets zu überprüfen, ob es verantwortbar auch „Juden gegenüber“ zur Sprache zu bringen wäre. Die daraus folgende sachlogische „Zeitgenossenschaft“ bildet den Zielpunkt, auf den resümierend am Ende dieser Studie zurückzukommen sein wird. Die Untersuchung greift auf Vorarbeiten zu Richard Beer-Hofmann zurück, die vorrangig literaturwissenschaftlicher Natur sind. Vielfach haben diese auch die „religiöse Dimension“ des Werkes des Dichters thematisiert.2 Im Folgenden soll jedoch eine eigens theologische Annäherung versucht werden, die von einer motivlichen Untersuchung insofern unterschieden ist, als sie das Aufgreifen und Kontextualisieren dieser Motive durch Beer-Hofmann im Sinne eines denkerischen Glaubensvollzugs würdigen möchte.3

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HÜNERMANN, Peter/SÖDING, Thomas (Hg.): Methodische Erneuerung der Theologie. Konsequenzen der wiederentdeckten jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten (Quaestiones Disputatae 200), Freiburg i. Br. 2003, 7. Zu nennen sind hier die einschlägigen Forschungsbeiträge der vergangenen Jahrzehnte von Hans Gerhard Neumann, Antje Kleinewefers, Esther N. Elstun, Stefan Scherer, Ulrike Peters, Norbert Otto Eke und jüngst Daniel Hoffmann (v.a. HOFFMANN, Daniel: Bruchstücke einer großen Tradition. Gattungspoetische Studien zur deutschjüdischen Literatur, Paderborn u.a. 2005, 23-69 Kap. „Unter der schmalen Sichel des neuen Mondes. Richard Beer-Hofmanns Die Historie von König David“). Vgl. die entsprechenden Einträge im Literaturverzeichnis. Insofern wird es hier nicht darum gehen können, eine im engeren Sinne literarische Kritik zu leisten und etwa über die „Modernität“ oder „Antimodernität“ Beer-Hofmanns etc. zu entscheiden.

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2. Richard Beer-Hofmann und das zeitgenössische Judentum Richard Beer-Hofmann wird am 11.07.1866 in Wien als Sohn von Rosa und Hermann Beer geboren. Seine Mutter stirbt wenige Tage nach seiner Geburt. Vielleicht um ihm das Aufwachsen bei zwei Elternteilen zu ermöglichen, nehmen der Vetter seines Vaters, Alois Hofmann, und seine Frau Bertha ihn bei sich auf. Eine formale Adoption und damit die Annahme des Doppelnamens Beer-Hofmann finden jedoch erst 1884 statt (vgl. Daten, 18). Alois Hofmann führt zusammen mit seinem Bruder eine Tuchfabrik im mährischen Brünn (Brno). Somit gehören der Wohneinheit quasi vier Zieheltern an, die den jungen Richard mit der „Liebe zweier kinderloser Paare“ (BHW 6, 32) erziehen, sowie die Großmutter, die in gewisser Hinsicht die jüdische Vergangenheit der Familie verkörpert. Zu seinem Vater Hermann, der in Wien als Anwalt arbeitet, hat Beer-Hofmann fortwährend Kontakt. Um ihm und seinem Ziehvater gerecht zu werden, nennt er sie unterscheidend „Papa Hermann“ und „Papa Luis“ (BHW 6, 22). Alles in allem verlebt Beer-Hofmann eine ausgesprochen glückliche Kindheit, von der er siebzigjährig in Paula noch manche Episode detailliert erinnert. 1880, als Beer-Hofmann 14 Jahre alt ist, verkauft Alois Hofmann die Fabrik und die ganze Familie siedelt nach Wien um, wo das Vermögen in Immobilien angelegt wird. Sie ist damit ein Teil der Wanderungsbewegung jener innerhalb der jüdischen Landbevölkerung, die sich wirtschaftlich den Umzug in die Metropole leisten konnten, von der sie sich kulturell einen Zugewinn erwarteten. Durch den finanziellen Hintergrund ist Beer-Hofmanns Unterhalt praktisch „auf Lebenszeit“4 gesichert. Er besucht das Akademische Gymnasium der Hauptstadt, das auch die Schule seiner späteren Freunde Schnitzler und von Hofmannsthal war.5 Im Katalog zur Ausstellung Zu Gast bei Beer-Hofmann heißt es über die Bibliothek von Beer-Hofmanns 1906 fertig gestellter Villa: „Die weißen Bücherschränke reichten vom Boden bis zur Decke. Hinter ihren Glastüren fanden sich hauptsächlich die Werke der deutschen Aufklärung [ …], der Klassik und der Romantik, sowie die zeitgenössische Literatur – kurz alles, was

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PETERS, Ulrike: Richard Beer-Hofmann. Zum jüdischen Selbstverständnis im Wiener Judentum um die Jahrhundertwende. Mit einem Vorwort von Sol Liptzin (Judentum und Umwelt 46), Frankfurt a. M. 1993, 84. „Das gehäufte Auftreten künstlerischer Begabungen scheint kein Wunder zu sein, bevorzugte doch gerade das jüdisch-liberale Wiener Bürgertum das neogotische Haus am Beethovenplatz. 1938 mußte fast die Hälfte der Schüler aus ‚rassischen‘ Gründen die Schule verlassen“ (WEINZIERL, Ulrich: Noch einmal gestatte mir das trauliche Du. Österreichische Elitebildung: Das Theresianum und das Akademische Gymnasium in Wien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.1996, 15). Vgl. BELLER, Steven: Wien und die Juden 1867-1938. A. d. Engl. übers. v. Marie Therese Pitner (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 23), Wien 1993, 60.

den Absolventen des renommierten Wiener Akademischen Gymnasiums, den wahren Bildungsbürger, ausmachte.“6 Damit ist Richard Beer-Hofmann ein gutes Beispiel dafür, wie die Kinder jüdischer Familien des Besitz- oder Berufsbürgertums in diesem emanzipatorischen Stadium der „Aufstiegsassimilation“ für sich eher einen „Aufstieg durch Bildung“7 probieren, also versuchen, durch kulturelle Leistungen den Status zu halten. Die Entwicklung Beer-Hofmanns zum reinen Bildungsbürger vollzieht sich allerdings auf einem Umweg: auf Wunsch seines leiblichen Vaters schreibt sich Beer-Hofmann 1883 für „Jus an der Universität Wien“ ein (vgl. Daten, 18). Nach sieben Jahren Studium – unterbrochen durch ein Jahr Militärdienst – verlässt er diese als Doktor der Rechte. Den väterlichen Beruf als Anwalt wird er jedoch nie ergreifen. In diese Phase fällt nämlich ein Ereignis, von dem BeerHofmann sagt, dass es eine entscheidende Wendung seines Lebens bedeutet habe. Im Herbst des Jahres seiner Promotion, 1890, tritt er der Literatenrunde im Café Griensteidl bei, die später Jung-Wien genannt wurde.8 Hätte er damals „nicht durch reinen Zufall in einem einzigen Sommer den Hugo Hofmannsthal, Schnitzler und Bahr kennengelernt,“ wäre er nach eigener Aussage „vielleicht nie zum Schreiben gekommen“.9 Neben den beiden Erstgenannten wird Richard Beer-Hofmann auch von der Literaturgeschichte als einer der wichtigsten Vertreter Jung-Wiens genannt. In ihrem Erinnerungsbuch Spiegelbild der Freundschaft hat Schnitzlers Frau Olga eine Verhältnisbestimmung vorgenommen: Als sei an jeden von ihnen ein besonderer Auftrag ergangen, so sieht das Bild der drei Abgeschiedenen sich heute an . . . an Hofmannsthal: Die Deutung der Welt in ihrem magischen Spiegel – der Kunst, an Schnitzler: das Erkennen der Menschennatur in allem Irren und Leiden, an Beer-Hofmann: das Künden des Göttlich-Ewigen in aller Vergänglichkeit des Geschehens.10

Von den Freunden des Griensteidl-Kreises wird Beer-Hofmann z. T. stark verehrt. Er gilt „ihnen als größte literarische Autorität und als akribisch genauer

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Zu Gast bei Beer-Hofmann. Eine Ausstellung über das jüdische Wien der Jahrhundertwende. Hg. i. Auftr. d. Jüdischen Museums der Stadt Wien u. d. Joods Historisch Museum, Amsterdam v. Felicitas Heimann-Jelinek, Wien 1999, 33. PETERS, Ulrike: Richard Beer-Hofmann. Zum jüdischen Selbstverständnis im Wiener Judentum um die Jahrhundertwende, 39. Zur Zusammensetzung der Runde und der Diskussion um ihre Konstitutiva vgl. KLEINEWEFERS, Antje: Das Problem der Erwählung bei Richard Beer-Hofmann (Judaistische Texte und Studien 1), Hildesheim 1972, 3f. VORDTRIEDE, Werner: Gespräche mit Beer-Hofmann, in: Die Neue Rundschau 63 (1952) 122-151, hier 131. SCHNITZLER, Olga: Spiegelbild der Freundschaft, Salzburg 1962, 141.

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Kritiker ihrer Werke“.11 Was Beer-Hofmanns eigene Schreibtätigkeit angeht, so ist er überaus zurückhaltend. Auf Drängen der Freunde hin verfasst er Anfang der 1890er Jahre als erste Werke die beiden Novellen Camelias und Das Kind. Kennzeichnend für diese Zeit sind eine relative Orientierungslosigkeit BeerHofmanns im Hinblick auf seine berufliche und private Zukunft und das Unverständnis seines Adoptivvaters über die Entscheidung, Schriftsteller zu werden.12 Am 05.12.1895 findet ein für Beer-Hofmann Epoche machendes Ereignis statt: er lernt seine spätere Frau Paula kennen, die ihm hilft, die besagte Orientierungskrise zu überwinden. Mit Dante benennt Beer-Hofmann am Anfang von Paula. Ein Fragment den Stellenwert dieses Ereignisses: „Incipit Vita Nova!“ (BHW 6, 120) Er findet im Gegenüber seiner Frau, die er 1897 heiratet, zu sich selbst und entdeckt auch seinen Glauben in einem neuen Licht. Darüber hinaus sagt er in einem Gespräch mit Werner Vordtriede, dass er ohne sie „wahrscheinlich nie weitergeschrieben“ hätte, „sondern [ …] auf Reisen gegangen“13 wäre. Noch vor der Hochzeit wird die erste Tochter Mirjam (1897) geboren. Sie ist in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen als Adressatin des Gedichts Schlaflied für Mirjam.14 In diesem kommt zum ersten Mal das neue jüdische Selbstbewusstsein des Autors zum Ausdruck. Zwei weitere Kinder bringt die Ehe hervor: Naëmah (geb. 1898) und Gabriel (geb. 1901) (vgl. Daten, 22f). Eine Besonderheit stellt 1898 der Übertritt Paulas zum Judentum dar, den sie im Zusammenhang mit der Trauung vollzieht: zu einer Zeit, in der viele österreichische Juden katholische Christen wurden, um sich gesellschaftlich bessere Möglichkeiten zu eröffnen, vollzieht sie bewusst den entgegengesetzten Schritt. Eine junge Frau „from an Alsatian-Austrian Catholic family“15 entschließt sich aus Liebe dazu, von nun an dem jüdischen Volk anzugehören – nicht von Ungefähr ist Rut im Werk Beer-Hofmanns eine der zentralen Figuren. Das Ehepaar Beer-Hofmann ist, wie bereits beschrieben, nicht von Existenzsorgen geplagt. Anders als viele seiner Schriftstellerfreunde muss Richard Beer11

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SCHERER, Stefan: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne (Conditio Judaica 6), Tübingen 1993, 1. Vgl. FRAIMAN, Sarah: Judaism in the Works of Beer-Hofmann and Feuchtwanger (Studies in German Jewish History 3), New York 1998, 16 und VORDTRIEDE, Werner: Gespräche mit Beer-Hofmann, 131. Beer-Hofmanns leiblicher Vater hatte zudem gehofft, ihn für seine Anwaltskanzlei gewinnen zu können. VORDTRIEDE, Werner: Gespräche mit Beer-Hofmann, 132. Das Schlaflied für Mirjam ist einer der bekanntesten Texte Beer-Hofmanns. Es steht auch herausragend da, weil es die erste ausdrückliche Darstellung des neuerworbenen jüdischen Standpunkts des Dichters ist. Fraiman schreibt, Rilke, mit dem BeerHofmann befreundet war, habe das Gedicht, „which he loved and knew by heart“ in Schweden häufig rezitieren müssen (FRAIMAN, Sarah: Judaism in the Works of BeerHofmann and Feuchtwanger, 63). ELSTUN, Esther Nies: Richard Beer-Hofmann: The Poet as exculpator dei, in: STRELKA, Joseph/BELL, Robert F./DOBSON, Eugene (Hg.): Protest – Form – Tradition. Essays on German Exile Literature, Alabama 1979, 123-132, hier 127f. Vgl. FRAIMAN, Sarah: Judaism in the Works of Beer-Hofmann and Feuchtwanger, 63.

Hofmann zunächst nicht seinen Lebensunterhalt durch das Schreiben verdienen. Neben den bereits genannten Novellen und Paula. Ein Fragment (1949 postum veröffentlicht), einigen Gedichten, kleineren Schriften, Pantomimen und Fragmenten vollendet er lediglich den Roman Der Tod Georgs (1900), die Dramen Der Graf von Charolais (1904), Jaákobs Traum (1918), Der junge David (1933) und das Vorspiel auf dem Theater zu König David (1936).16 Nach 1918 wird ein gewisser Hinzuverdienst nötig.17 Beer-Hofmann inszeniert seine eigenen Stücke u.a. am Wiener Burgtheater und dem Deutschen Theater Berlin und arbeitet gelegentlich auch als Regisseur für andere Produktionen, unter denen seine „Faust-Einrichtung – I. und II. Teil an einem Abend“ (Daten, 33) besonders hervorsticht (Vgl. BHW 1, 271ff). „Am 19. August, abends, Abreise von Wien nach Zürich“ heißt es im Eintrag der Daten zum Jahr 1939 (Daten, 35). Es ist fast zu spät, als das Ehepaar BeerHofmann das „angeschlossene“ Österreich in Richtung New Yorker Exil verlässt. Sie haben „um die horrenden Fluchtsteuern und Reisekosten aufzubringen“ den gesamten Immobilienbesitz „weit unter Wert“18 veräußern müssen. Unterwegs, in Zürich, erliegt Paula, die schon längere Zeit Herzprobleme gehabt hatte, am 30.10.1939 einem Herzinfarkt. Unter schweren Schuldgefühlen, das Grab seiner Frau zurücklassen zu müssen, tritt Beer-Hofmann schließlich am 14.11.1939 die Überfahrt nach Amerika an (vgl. Daten, 35). Bei seiner Ankunft erwarten ihn bereits Freunde aus Wien, die ebenfalls ins Exil gegangen sind,19 und auch seine Tochter Mirjam, mit der er zusammen eine Wohnung nimmt, „trifft am 24. November ein“ (Daten, 35). „Aber der über Siebzigjährige fasst nur schwer Fuß in der Neuen Welt“, so dass er ein zurückgezogenes Leben führt und unter denen bleibt, „deren Sprache er versteht“.20 Das Schreiben hat Beer-Hofmann jedoch nicht aufgegeben. Mit großer Energie widmet er seine letzten Jahre der Aufarbeitung seiner Notizen und vor allem der Erinnerung an seine Frau in Paula. Ein Fragment. Darüber hinaus beteiligt er sich redaktionell an der Exilzeitung Aufbau und hält später sogar Vorlesungen an verschiedenen Universitäten und Colleges (vgl. Daten, 36). Es gibt einige Dokumente, in denen belegt ist, wie sehr Richard Beer-Hofmann für die New Yorker Exilanten mit seiner ungebeugten Würde als Symbol für jüdisches Selbstbewusstsein angesehen wird.21 Am 26.09.1945 stirbt Beer-Hofmann, der seit einem halben Jahr 16

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Vgl. BEER-HOFMANN, Richard: Gesammelte Werke. Hg. v. Otto Kallir, m. einem Vorw. v. Martin Buber, Frankfurt a. M. 1963, 899. Vgl. BEIN, Alex: Richard Beer-Hofmann – der Dichter und der Mensch, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35 (1983) 50-66, hier 51. KOŠENINA, Alexander: Stilles Leuchten. Das Nachleben der Paula Beer-Hofmann im Trauerbuch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.1999, 44. Vgl. SCHNITZLER, Olga: Spiegelbild der Freundschaft, 124f. KOŠENINA, Alexander: Stilles Leuchten. Das Nachleben der Paula Beer-Hofmann im Trauerbuch, 44. Etwa von Vordtriede: „In seinem ganzen Gespräch war nie ein bittrer, hämischer oder kleinlicher Ton, nie eine Klage“; „Und daneben steht Beer-Hofmann in selbstverständlicher Königlichkeit wie nur je, mit vollkommener Wahrung der innern Würde und erlebten Größe, dem freundschaftliche Gesten noch immer weit wichtiger sind als

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sogar amerikanischer Staatsbürger ist. 1954 werden seine sterblichen Überreste exhumiert, nach Zürich überführt und auf dem Israelitischen Friedhof Unterer Friesenberg an der Seite seiner Frau begraben.22 2.1

Erste Zuordnungen

Geht es der vorliegenden Studie darum, Richard Beer-Hofmanns jüdisches Denken zu erheben, so soll im Folgenden zunächst eine grundsätzliche Orientierung darüber erfolgen, inwiefern bestimmte Etiketten jüdischer Zugehörigkeit auf den Dichter zutreffen. Zur Debatte stehen dabei die Zuordnungen als „Heimkehrer“ (Kap. 2.1.1), als „Kulturzionist“ (Kap. 2.1.2) und als „Universalist“ (Kap. 2.1.3). 2.1.1 „Heimkehrer“? Ein Zentrum jüdisch-bürgerlicher Intelligenz in Wien ist das Kaffeehaus. Die Tatsache, dass die Stammkundenschaft dieser „informelle[n] Einrichtungen“23 kultureller Bildung zu einem sehr hohen Prozentsatz aus Juden und jüdischstämmigen Konvertierten bestand, hängt nach Beller vielleicht damit zusammen, dass in der stärker werdenden antisemitischen Stimmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts viele Nichtjuden den Umgang mit Juden scheuten, um nicht „als ‚verjudet‘ oder als ‚Judenknecht‘ angesehen zu werden“,24 und somit Orte mieden, wo sich bekanntermaßen viele Juden aufhielten. Es mag jedoch auch etwas damit zu tun haben, dass diese die nüchterne Atmosphäre des Kaffeehauses der „Weinseligkeit“ der Grinzinger Weinlokale vorzogen, die teilweise zu Horten des Antisemitismus wurden. So waren auch die Mitglieder des JungWiener Kreises nahezu ausschließlich Juden oder Jüdischstämmige.25 Es war bereits davon die Rede, wie sehr in bürgerlichen Kreisen – und nicht nur dort – der jüdische Glaube ein verstaubtes Familienerbstück war. Auch Jung-Wien bildete hier keine Ausnahme. So verwundert es nicht, dass in der Runde Fragen des Antisemitismus sehr wohl eine Rolle spielten, originär jüdische hingegen nahezu keine. Von ersteren war man direkt betroffen, letztere zählten nicht mehr.26 Richard Beer-Hofmann bildet hier eine Ausnahme. Für ihn zählt sein

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schlaue Profitzüge“ (VORDTRIEDE, Werner: Gespräche mit Beer-Hofmann, 122; 127); Olga Schnitzler kommentiert: „War seine Dichtung Bekenntnis gewesen, so wird es höchste Bewährung sein, wie er sein Schicksal trägt“ (SCHNITZLER, Olga: Spiegelbild der Freundschaft, 126). FRAIMAN, Sarah: Judaism in the Works of Beer-Hofmann and Feuchtwanger, 177. BELLER, Steven: Wien und die Juden 1867-1938, 42. Ebd., 235. Vgl. ebd., 29 Vgl. ROTH-KRAUTHAMMER, Karen: „Sie kennen das Milieu“ – Jüdisches Bürgertum im Wien der Jahrhundertwende, in: Zu Gast bei Beer-Hofmann. Eine Ausstellung über das jüdische Wien der Jahrhundertwende. Hg. i. Auftr. d. Jüdischen Museums der Stadt Wien u. d. Joods Historisch Museum, Amsterdam v. Felicitas Heimann-Jelinek,

Judentum, es wird ihm zur existenziellen Frage, die auch sein Schaffen als Dichter ganz bestimmt. Wie kommt es, dass er sich in dieser Zeit in solchem Maße für sein Judentum entscheiden kann? Die Antwort ist nicht einfach zu geben. In jedem Fall gibt es keinen Hinweis darauf, dass, wie Beller schreibt, Beer-Hofmann „in einer orthodoxen Familie erzogen“27 wurde. In seinen Kindheitserinnerungen in Paula tauchen Andeutungen des jüdischen Glaubens nur ganz spärlich auf. In einer unveröffentlichten Biographie Beer-Hofmanns, die sein Vetter Emil Wolf verfasst hat, wird durchaus von Hebräischunterricht und Toralektüre berichtet.28 Hingegen ist über eine Bar Mizwa Beer-Hofmanns nichts bekannt.29 Es hat den Anschein, als verkörpere die Großmutter Katharina im Hause eine Frömmigkeit, die nur ihr zuliebe noch aufrechterhalten wird. Von ihr ist überliefert, dass sie den kleinen Richard zur ehrfürchtigen Stille ermahnte, wenn sie von ihm und seiner Adoptivmutter zur Sabbatfeier abgeholt und von diesen noch betend angetroffen wurde (vgl. BHW 6, 25f).30 Fraiman erkennt ferner in der Tatsache, dass Katharina Beer an einer Stelle in Paula von „Feiertagsgeschirr“ spricht, das nur eine Woche im Jahr benutzt wird, eine traditionell jüdische PessachFrömmigkeit.31 In der Elterngeneration wird der Sabbat bereits nicht mehr als arbeitsfreier Tag begangen. Beer-Hofmanns Tante Agnes hält gewisse Traditionen wie das jährliche Anzünden einer Erinnerungskerze für Verstorbene jedoch noch aufrecht. Aus zwei Briefen, die bei Fraiman zitiert sind und die tiefes Gottvertrauen zeigen, wird ersichtlich, wo eine Quelle für Beer-Hofmanns Re-

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Wien 1999, 11-16, hier 14; BELLER, Steven: Wien und die Juden 1867-1938, 236; KLEINEWEFERS, Antje: Das Problem der Erwählung bei Richard Beer-Hofmann, 7. BELLER, Steven: Wien und die Juden 1867-1938, 98; Fraiman zitiert Liptzin, „that the Beer-Hofmann families clung to orthodox observances and ancestral customs“ (FRAIMAN, Sarah: Judaism in the Works of Beer-Hofmann and Feuchtwanger, 13). „Unter der Leitung Alois Hofmanns musste Richard täglich einen Abschnitt des Pentateuch in hebräischer Sprache laut vorlesen und ins Deutsche übersetzen“ (WOLF, Emil: Aus der Familiengeschichte und dem Leben Richard Beer-Hofmanns, 1936, 16f, in: Mirjam Beer-Hofmann-Lens Collection, LBIJMB MF 492, reel 7). KLEINEWEFERS, Antje: Gespräch mit Miriam Beer-Hofmann-Lens am 8.9.1967 in Zürich über ihren Vater Richard Beer-Hofmann, 2, in: Mirjam Beer-Hofmann-Lens Collection, LBIJMB MF 492, reel 11. Vgl. FRAIMAN, Sarah: Judaism in the Works of Beer-Hofmann and Feuchtwanger, 14. Ebd. – Ferner lässt sich aus einem Brief Alois Hofmanns an seine Frau ersehen, dass die Großmutter regelmäßig die Synagoge besuchte (vgl. ebd., 13). – In einem Brief vom 29.12.1963 an Inge Brunzel schreibt Mirjam Beer-Hofmann-Lens, ihr Vater stamme „aus einer Familie, in der man zwar die Feiertage noch hielt, aber keineswegs ‚religioes‘ eingestellt war. Es war dies vielmehr die sogenannte ‚aufgeklärte‘ Zeit. Er erfuhr durch die Schriften Bubers, mit dem er befreundet war, einiges über den Chassidismus, aber ich glaube nicht, dass er davon sehr beeindruckt, keineswegs beeinflusst war. Seine Quellen war in erster Linie die Bibel, die er immer wieder las und dann einige Nachschlagewerke. Keineswegs befasste er sich mit spezifisch jüdischen Dichtern. […] Ich glaube, dass er am meisten von Goethe und Shakespeare beeinflusst war.“ (Mirjam Beer-Hofmann-Lens Collection, LBIJMB MF 492, reel 8).

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