Größer als die Sünde Man könnte lang über die Ereignisse ... - AWS

23.03.2010 - Widerspruch derer hinweisen, die in den Zeitun- gen bestimmte Übel zurecht anprangern, aber wenige Seiten weiter jedwede Schandtat recht- fertigen, besonders im Umfeld der Sexualität. Dies würde vielleicht helfen, besser zu verstehen, weshalb die Kirche über alle ihre Fehler hinaus angegriffen wird.
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Größer als die Sünde Man könnte lang über die Ereignisse sprechen, die Papst Benedikt XVI. veranlassten, seinen Hir‐ tenbrief an die Katholiken in Irland zu schreiben. Man könnte dabei von Zahlen und Daten ausge‐ hen, die deutlich machen, dass der Umfang weni‐ ger groß ist, als es die teilweise harte Kampagne der Medien suggeriert. Oder man könnte auf den Widerspruch derer hinweisen, die in den Zeitun‐ gen bestimmte Übel zurecht anprangern, aber wenige Seiten weiter jedwede Schandtat recht‐ fertigen, besonders im Umfeld der Sexualität. Dies würde vielleicht helfen, besser zu verstehen, weshalb die Kirche über alle ihre Fehler hinaus angegriffen wird. Doch hat der Papst mit seiner zugleich demütigen und mutigen Haltung alles unter einen anderen Blickwinkel gestellt, der zum Kern der Frage führt. Gewiss, die Verwundung gibt es, und sie ist schwer. Sie ist von jener Art, die Christus am schärfsten verurteilte („Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen ver‐ führt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“) und die auch seine Stellvertreter auf Erden nachdrücklich verwerfen. Es gibt den „Schmutz“ in der Kirche. Auch Kardi‐ nal Joseph Ratzinger sagte dies vor fünf Jahren beim Kreuzweg in Rom kurz vor seiner Papstwahl klar und unmissverständlich. Danach hat er dies mit Realismus immer wieder in Erinnerung geru‐ fen. Es gibt die Sünde, auch die schwere. Es gibt das Böse und den Abgrund des Schmerzes, den das Böse nach sich zieht. Und es gibt die Forde‐ rung, ‐ auch mit Härte ‐ alles Menschenmögliche zu tun, um jenes Böse zurückzudrängen und den Schmerz zu lindern. Der Papst tut dies bereits, und sein Schreiben bekräftigt das, wenn er die Schuldigen auffordert, sich für ihre Vergehen vor „dem allmächtigen Gott und vor den zuständigen Gerichten“ dafür zu verantworten. Doch gerade aus diesem Grund liegt der Kern der Frage, der vernachlässigte Brennpunkt, anders‐ wo. Gibt es neben allen Grenzen und innerhalb der verletzten Menschlichkeit der Kirche etwas Größeres als die Sünde? Gibt es etwas, das radi‐ kal über die Sünde hinausgeht? Kann etwas das unvermeidliche Maß unserer Boshaftigkeit spren‐ gen? Gibt es etwas, das „die Kraft hat, auch die Größer als die Sünde

größte Sünde zu vergeben und Gutes sogar aus dem schlimmsten Übel wachsen zu lassen?“, wie der Papst schreibt. „Das ist der entscheidende Punkt: Gott war er‐ griffen von unserer Nichtigkeit. Mehr noch, Gott war ergriffen von unserem Verrat, unserem Elend – unserer Treulosigkeit, Härt und Oberflächlich‐ keit… Es ist Mitleid, Barmherzigkeit, Leidenschaft. Gott hatte Erbarmen mit mir.“ Daran erinnerte Don Giussani in einem Satz des diesjährigen Osterplakats von CL. Dies ist die Botschaft der Kirche an die Welt. Und sie verkündet dies gewiss nicht aus eigenem Ver‐ dienst noch aufgrund der Größe oder Kohärenz ihrer Mitglieder: Es ist die Ergriffenheit Gottes über unsere Schwäche. Es ist etwas, das größer ist als unsere Grenzen. Es ist das einzige, was unendlich größer ist als unsere Begrenztheit. Wenn man nicht hiervon ausgeht, kann man das Wesentliche nicht verstehen. Alles erscheint an‐ sonsten als Irrsinn. Auch wir entziehen uns nicht selten dieser Zunei‐ gung Gottes und fliehen vor ihr. Manchmal wird der Glaube in der Kirche selbst auf eine Ethik verkürzt, auf einen reinen Gesetzesgehorsam, der kaum einzuhalten ist ‐ so als müsste man sich fast dafür schämen, die barmherzige Umarmung Got‐ tes nötig zu haben. Wenn man aber Christus ver‐ gisst, wenn man sein vollkommenen neues Maß, das er durch die Kirche in die Welt bringt, negiert, dann verliert man zugleich die Begriffe, um die Kirche selbst verstehen und beurteilen zu kön‐ nen. Dann wird es einfach, die Opfer und ihre Leidens‐ geschichte mit Stillschweigen zu übergehen, statt ihnen Aufmerksamkeit und Respekt zu zollen. Auf der anderen Seite besteht zugleich die Gefahr, die Umsicht für die wirklichen oder angeblichen Schuldigen mit dem Willen zur Vertuschung ‐ den es in manchen Fällen in der Tat auch gab ‐ zu verwechseln; dann scheint es fast unvermeidlich, den Zölibat aufzulösen, ohne auch nur im Ent‐ ferntesten den realen Wert der Jungfräulichkeit zu verstehen; und schließlich wird man nicht be‐ greifen, weshalb die Kirche mit den Priestern, die gefehlt haben, hart und mütterlich zugleich um‐ gehen kann. Sie kann sie hart bestrafen und von

2 ihnen verlangen, dass sie ihre Strafe verbüßen und die Tat sühnen, ohne dabei ‐ soweit möglich ‐ das Band der Beziehung zu zerreißen, weil es das Einzige ist, was auch sie erlösen kann. Sie hat dies bereits getan und wird es auch künftig tun. Die Kirche kann von ihren Kindern verlangen: „Seid vollkommen wie euer Vater vollkommen ist“, nicht um von ihnen eine unmögliche Tadellosig‐ keit zu fordern, sondern damit sie stets bestrebt sind, dieselbe Barmherzigkeit zu leben, mit der Gott uns annimmt („Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“).

eine Annahme in dieser Welt ermöglicht, wie beim Verlorenen Sohn. Er ist auch dem Gemälde von Marc Chagall des diesjährigen Osterplakats abgebildet. Neben der Aussage von Don Giussani gibt es noch eine weitere von Benedikt XIV.: „Sich zu Christus bekehren, an das Evangelium zu glau‐ ben hat im Letzten diese Bedeutung: Sich aus der Illusion der Selbstgenügsamkeit zu befreien und die eigene Not einzugestehen – das Bedürfnis nach den Anderen und das Bedürfnis nach Gott, nach seinem Erbarmen und nach seiner Freund‐ schaft.“

Gerade deshalb ist die Kirche in der Lage zu er‐ ziehen. Denn genau dies wird derzeit von denen infrage gestellt, die sie anklagen („Seht ihr nicht, dass auch die Priester sich schwerster Verfehlun‐ gen schuldig machen? Wie sollen wir ihnen unse‐ re Kinder anvertrauen?“). So als ob ihre Autorität zu Unterrichten ganz von der Makellosigkeit ihrer Söhne und Töchter abhängen würde, und nicht von Ihm, von Christus. Von jener Gegenwart, die trotz aller begangenen Fehler und Schandtaten

Die Umarmung unserer verletzten und armseli‐ gen Menschlichkeit durch Christus geht über das Böse, das wir anrichten können, hinaus. Wenn die Kirche mit all ihren Grenzen dies in der Welt nicht anbieten könnte – auch den Opfern jener Schandtaten ‐, dann wären wir wirklich alle verlo‐ ren. Das Übel würde weiterbestehen, aber es wäre unmöglich, es zu besiegen.

www.tracce.it 23.03.2010

Größer als die Sünde