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Diese Zahlen unterstreichen die Wichtigkeit der Frage, wie die Bedürfnisse ...... communities: the Importance of Culturally sensitive screening, diagnosis and ...
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Freie Universität Berlin Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie

Bachelorarbeit im Studiengang „Psychologie Bachelor of Science“

Thema: Screening zur Feststellung der besonderen Schutzbedürftigkeit traumatisierter Asylbewerber/innen Einflussgrößen und Umsetzung am Beispiel des PROTECT Fragebogens (PQ) Englisch: Screening for the Recognition of Vulnerable Asylumseekers Characteristics and Implementations Using the Example of PROTECT Questionnaire (PQ)

Erstgutachter: Dr. B. Friele Zweitgutachterin: Dr. U. Zetsche

vorgelegt von: Laura Sophia Spretke

Matrikel - Nr: 4289991 E-Mail: [email protected] Berlin, 09. Januar 2014

Inhaltsverzeichnis 1.

Einleitung……………………………………………………………………………… ……2

2.

Theoretische Begründung eines Screeningverfahrens………………………………………..4 2.1

Die EU Aufnahmerichtlinie ............................................................................................. 4

2.2

Psychologisch – Medizinische Gesichtspunkte ................................................................ 5

3. Einflussgrößen auf die Entwicklung und Anwendung eines Screeningfragebogens im Kontext von Asylverfahren……………………………………………………………………………………14 Politisch – rechtliche Einflussgrößen…………………………………………………………15

3.1 3.2

4.

Psychologische Einflussgrößen und Herausforderungen ................................................ 17 3.2.1

Exkurs PTBS: Diagnostik und Symptomatik nach DSM-5………………………17

3.2.2

PTBS im Flüchtlingskontext……………………………………………………….20

Der Protect Questionnaire……………………………………………………………………25 4.1

4.2.

Aufbau und Inhalt des PQ ............................................................................................. 25 Theoretische Erörterung der Vorgehensweise………………………………………………..27

5. Fazit……………………………………………………………………………………………….35 6. Literaturverzeichnis……………………………………………………………………………….38

1

1.

Einleitung

In den letzten Jahrzenten wurden weltweit anhaltend hohe Zahlen von Flüchtlingen registriert, die Aufgrund von Krieg, Verfolgung, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ihre Heimat verlassen mussten. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), verzeichnete Ende 2012 weltweit 45,2 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene (forcibly displaced people), die innerhalb oder außerhalb ihres Herkunftslandes Schutz suchten (UNHCR, 2013) 1. Obwohl 80% der Flüchtlinge in Entwicklungsländern aufgenommen wurden, stiegen die Zahlen von Flüchtlingen und Asylbewerbern in den industrialisierten Staaten, so auch in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Die Anzahl der Asylanträge in der Europäischen Union stieg 2012 im Vergleich zum Vorjahr um 7% auf 296,700 (UNHCR, 2013)2. Diese Zahlen unterstreichen die Wichtigkeit der Frage, wie die Bedürfnisse dieser Menschen erkannt und wie ihnen angemessen entsprochen werden kann. Gemäß der Richtlinie 2003/9/EG des Rates der Europäischen Union3, wurden Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten festgelegt. Dadurch soll der Aufnahmeprozess von Asylsuchenden in Europa vereinheitlicht und gemeinsame Mindeststandards durchgesetzt werden. Die Richtlinie liegt aktuell in einer Neufassung vor (Richtlinie 2013/33/EU) 4. Diese wurde am 26. Juni 2013 durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union verabschiedet und muss in zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden. Kapitel IV der Richtlinie geht auf die besondere Situation schutzbedürftiger Personen (vulnerable persons) ein und legt fest, dass diesen bestimmte Rechte zugestanden werden müssen. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich nach Kapitel IV, Artikel 22 (2013/33/EU) dazu, innerhalb

1

UNHCR (2013), Global Trends 2012

2

UNHCR (2013), Asylum Trends 2012 Levels and Trends in Industrialized Countries

3

Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten 4

Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung)

2

einer angemessenen Frist zu prüfen, ob der Antragsteller besonders schutzbedürftig ist und besondere Bedürfnisse hat 5. Zur europaweiten Umsetzung der Richtlinie eignet sich die Festlegung und Einführung eines systematischen Prozesses, der es ermöglicht schutzbedürftige Personen zu erkennen. Zu diesem Zweck wird in Fachkreisen der Gebrauch eines Screeningfragebogens diskutiert, da dadurch recht einfach einheitliche Verfahrensstandards durchgesetzt werden können. Einen solchen Screeningfragebogen, der Protect Questionnaire (PQ), wurde im Rahmen des PROTECT Projektes (Process of Recognition and Orientation of Torture Victims in European Countries to facilitate Care and Treatment) entwickelt und soll in der vorliegenden Arbeit unter den folgenden Gesichtspunkten analysiert werden. Zunächst soll die Neufassung der Aufnahmerichtlinie kurz vorgestellt werden und auf häufige psychische Beeinträchtigungen unter Flüchtlingen und Asylsuchenden eingegangen werden. Dabei soll ein besonderer Fokus auf die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gelegt werden, da die Prävalenzrate der PTBS bei Flüchtlingen besonders hoch ist. Aus diesem Grund stand diese bei der Konstruktion des PQ im Mittelpunkt. Anschließend werden die Indikationen für ein Screening bei Flüchtlingen vorgestellt und die Anforderungen an ein Screeningverfahren in diesem Setting erörtert und theoretisch begründet. Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit soll schließlich theoretisch betrachtet werden, wie mit den speziellen Anforderungen an ein solches Screeningverfahren umgegangen wurde und Vergleiche mit dem Refugee Health Screener – 15 (RHS – 15)6, der für einen ähnlichen Kontext entwickelt wurde, gezogen werden. Außerdem sollen in der Arbeit kritische Fragen im Zusammenhang mit Screening und der allgemeinen Situation von Flüchtlingen erörtert werden, Ergebnisse zu kulturellen Einflüssen auf die Symptomatik von PTBS diskutiert und die Auswirkungen von gesetzlichen Bestimmungen und Aufnahmeverfahren kurz besprochen werden.

5

Auf den genauen Inhalt der Richtlinie und auf die Definition besonderer Schutzbedürftigkeit, soll im Absatz 2.1. „Die EU Aufnahmerichtlinie“ Arbeit präziser eingegangen werden. 6

Pathways to Wellness: Integrating Refugee Health and Well-Being, 2011

3

2.

Theoretische Begründung eines Screeningverfahrens 2.1 Die EU Aufnahmerichtlinie

Der Entwicklung des Protect Questionnaire (PQ) wurde die EU Richtlinie 2003/9/EG vom 27. Januar 2003 zugrunde gelegt, die in wesentlichen Punkten mit der Neufassung 2013/33/EU übereinstimmt. In dieser Richtlinie (2003/9/EG) wurden Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten vereinbart. Die Inhalte der Richtlinie in ihrer aktuellen Fassung (2013/33/EU) sollen nur in soweit besprochen werden, wie sie für die Entwicklung des PQ relevant sind: d. h. Artikel, die sich auf allgemeine Standards beziehen, fließen nicht ein, sondern nur die, die sich konkret auf die Situation und die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Personen beziehen. Generell

dient

die

Richtlinie

Asylaufnahmeverfahrens

der

innerhalb

Vereinheitlichung

der

Europäischen

der

Asylpolitik

Union,

was

und

des

sowohl

auf

Verfahrensgleichheit als auch auf die zu gewährenden Leistungen und Rechte bezogen ist, und die umfassende Anwendung des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 vorsieht 7. Nach Artikel 21 der Richtlinie verpflichten sich die Mitgliedstaaten auf die besondere Situation von schutzbedürftigen Personen einzugehen. Als schutzbedürftige Personengruppen werden dabei genannt:

Minderjährige,

unbegleitete

Minderjährige,

Behinderte,

ältere

Menschen,

Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie bspw. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien (2013/33/EU, Artikel 21). Zur Umsetzung des Artikel 21 muss gemäß Artikel 22 der Richtlinie (2013/33/EU) eine Beurteilung stattfinden, ob es sich bei dem Antragsteller um eine Person mit besonderen Bedürfnissen handelt. Dies muss innerhalb einer angemessenen Frist nach Antragstellung erfolgen. Bei einem entsprechendem Ergebnis, muss den besonderen Bedürfnissen des Antragstellers auf geeignete Weise entsprochen werden, auch wenn diese erst im Verlauf des Verfahrens zutage treten sollten. Dies umfasst unter anderem einen angemessenen Lebensstandard, der den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit gewährleistet (Artikel 17, 2013/33/EU). Außerdem wird medizinische und sonstige Hilfe, „einschließlich 7

Siehe dazu Punkte 1, 2, 3,5; 2013/33/EU

4

erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung“ (Artikel 19, 2013/33/EU) genannt. Die Mitgliedstaaten tragen darüber hinaus Sorge, dass Opfer von Folter und anderen schweren Gewalttaten Zugang zu einer adäquaten medizinischen und psychologischen Betreuung erhalten (Artikel 25, 2013/33/EU). Die Festlegung wie den Bedürfnissen entsprochen werden soll, d. h. was für Leistungen gewährt werden, ist dabei jedem einzelnen Mitgliedstaat vorbehalten. Der PQ wurde entwickelt, die Umsetzung der Richtlinie zu erleichtern und ein geeignetes Screeninginstrument zur Verfügung zu stellen, um damit eine erste Beurteilung der Antragsteller im Hinblick auf ihre besondere Schutzbedürftigkeit zu gewährleisten (vgl. PROTECT – Global document, 2011). Auch wenn die Aufnahmerichtlinie in ihrer ersten Fassung (2003/9/EG) bereits im Februar 2005 in der nationalen Gesetzgebung umgesetzt hätte werden müssen, sind bis heute keine einheitlichen Standards in den EU-Mitgliedstaaten erreicht. Besonders der Zugang zu medizinischer, aber auch zu psychologischer Versorgung, ist innerhalb der Europäischen Union weiterhin in sehr unterschiedlichem Maße vorhanden, obwohl dies insbesondere im Hinblick auf schutzbedürftige Personen als Mindeststandard in der Richtlinie erwähnt wird. So kommt das Rote Kreuz (2003) zu dem Ergebnis, dass die psychische Gesundheitsversorgung (mental health care) und Behandlung von Folteropfern durch Spezialisten oft nicht zugänglich oder verfügbar ist (zitiert nach Watters & Ingleby, 2004). 2.2 Psychologisch – Medizinische Gesichtspunkte Bisher wurde gezeigt, dass die Überprüfung der besonderen Schutzbedürftigkeit rechtlich gefordert ist, um den Bedürfnissen der Betroffenen auf angemessene Art und Weise zu entsprechen. Im Folgenden soll besprochen werden, welche Faktoren im Herkunftsland die psychische Situation der Betroffenen beeinflussen, welchen Einfluss die Bedingungen im Aufnahmeland haben und inwieweit die gesundheitliche, psychische und rechtliche Situation der Betroffenen dadurch beeinflusst wird. Dabei soll deutlich gemacht werden, wie ein Screening dazu beitragen kann die Situation der Betroffenen in den Aufnahmeländern zu verbessern und Langzeitfolgen von potenziell traumatischen Ereignissen zu mildern. Die Situation von Flüchtlingen und Asylsuchenden und die Auswirkungen von traumatischen Ereignissen, sowie die Folgen von Flucht und Vertreibung (forced displacement), wurden in 5

den letzten Jahrzehnten in einer Vielzahl von Studien untersucht. Insbesondere Störungen wie PTBS

und

Depression

(Major

Depression)

standen

dabei

im

Mittelpunkt

des

Forschungsinteresses (vgl. Porter & Haslam, 2001). Je nach Untersuchungsform8 und Art der Stichprobe9 variieren die Prävalenzraten verschiedener psychischer Störungen unter Flüchtlingen und Asylbewerbern beträchtlich. So wurden in Studien zur Prävalenz von PTBS unter Flüchtlingen, Raten von 3% bis 86% ermittelt und für Depression mit 3% bis 80% ähnlich kontroverse Zahlen berichtet (Fazel et al., 2005). Fazel et al. (2005) konnten in ihrer Untersuchung zeigen, dass ein Großteil der Asylsuchenden massiven psychischen Belastungen ausgesetzt ist. Insgesamt leiden demnach ca. 9% an einer PTBS, ca. 5% an einer Depression und ca. 4% an einer generalisierten Angststörung. Die hohen Prävalenzraten psychischer Störungen unter Flüchtlingen, sind vor allem auf traumatische Ereignisse im Ursprungsland und auf der Flucht selbst zurückzuführen. Verschiedene Studien mit Stichproben aus unterschiedlichen Herkunftsländern zeigen, dass je nach Art und Anzahl traumatischer Ereignisse, die Entwicklung einer PTBS sehr wahrscheinlich ist und dieser Effekt auch nach langer Zeit noch nachgewiesen werden kann. In ihrer Metaanalyse haben Steel et al. (2009) 181 Studien zu der Prävalenz von PTBS und Depression bei Flüchtlingen und von Krieg betroffenen Bevölkerungsgruppen analysiert und konnten dabei diesen Zusammenhang bestätigen. Über 145 Studien hinweg, kommen Steel et al. zu einer gewichteten PTBS Prävalenz von 30,6%, wobei Folter der wichtigste Faktor im Zusammenhang mit PTBS war. Folter erklärte 23,6% der Varianz der PTBS Prävalenz zwischen den Studien, gefolgt von der Anzahl potenziell traumatischer Ereignisse (PTEs 10) (10,8%), der Zeit seit dem Konflikt (10%) und dem Ausmaß politischen Terrors (PTS) 11 im Herkunftsland (3,5%). Über 117 Studien hinweg lag die gewichtete Prävalenzrate von

8

Z. B. Selbstbericht oder Diagnostik, Erhebungsinstrument.

9

Z. B. Klinische Stichprobe oder Community Sample, Herkunftsland, Stichprobengröße etc.

10

Potentially Traumatic Events (PETs)

11

Political Terror Scale (PTS), ist ein jährlich erscheinendes Rating von staatlichem Terror und politischer Gewalt in Ländern, die auf Daten von Amnesty International und den Länderberichten des US State Department beruhen (siehe Steel et al., 2009)

6

Depression bei 30,8%. Hierbei waren die wichtigsten Faktoren die Anzahl der PTEs (22%), die Zeit seit dem Konflikt (21,9%), Folter (11,4%) und der Aufenthaltsstatus (5%). Die Ergebnisse machen deutlich, dass traumatische Ereignisse und insbesondere Folter die psychische Gesundheit entscheidend und nachhaltig beeinträchtigen und mit der Entwicklung einer PTBS und Depression in unmittelbarer Beziehung stehen. Der Einfluss von traumatischen Ereignissen und Folter kann auch lange nach dem Ereignis selbst noch nachgewiesen werden. Steel et al. (2002) untersuchten diesen Zusammenhang in einer bevölkerungsbasierten Studie (population-based study) in Australien. Dazu befragten sie 1161 vietnamesische Flüchtlinge mit gesichertem Status, die im Durchschnitt bereits 11,2 Jahre in Australien lebten. Obwohl das „schlimmste“ (most severe) traumatische Erlebnis durchschnittlich 14,8 Jahre zurücklag, hatten Personen, die ein oder mehr traumatische Ereignisse erlebt hatten, ein zweifach erhöhtes Risiko eine psychische Störung (nach ICD-10). Studienteilnehmer, die drei oder mehr traumatische Ereignisse erlebt hatten, hatten sogar ein achtfach erhöhtes Risiko an einer diagnostizierbaren Störung zu leiden. Insgesamt hatten 8% der Studienteilnehmer eine Störung nach ICD-10, wobei 38,3% mehr als eine Diagnose hatten. Die häufigste Störung war dabei PTBS (4%) gefolgt von Depressionen (3%). Die Anzahl traumatischer Erlebnisse war der einzig konsistente und darüber hinaus stärkste Prädiktor einer psychischen Störung zum Zeitpunkt der Studie. Alle anderen Faktoren, auch Faktoren wie Englischkenntnisse, Beschäftigungsstatus und sozioökonomische Situation, hatten langfristig weniger Einfluss auf den aktuellen Gesundheitszustand der Betroffenen. Auch wenn der Gesundheitszustand der gesamten Gruppe,12 bezogen auf die letzten vier Wochen vor der Erhebung, mit durchschnittlichen Werten der US Bevölkerung vergleichbar war, hatten diejenigen, die drei oder mehr traumatische Ereignisse berichteten, einen signifikant schlechteren Gesundheitszustand, besuchten häufiger Ärzte und hatten mehr Krankheitstage als nicht Betroffene. Die Ergebnisse der Studie machen die Langzeitfolgen traumatischer Erlebnisse auf das psychische Wohlbefinden deutlich, auch wenn das Risiko an einer psychischen Störung zu leiden mit zunehmendem Abstand zum traumatischen Ereignis abnahm.

12

Gemessen mit dem Medical Outcomes Study Short Form-12 (SF-12)

7

Schick et al. (2013) kommen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass traumatische Erlebnisse auch transgenerational Wirkung zeigen. Sie untersuchten die Folgen von potenziell traumatischen Ereignissen und Vertreibung bei albanischen Familien im Kosovo 11 Jahre nach dem Kosovokrieg. Sowohl bei den Kindern, als auch bei den Eltern, waren die Prävalenzraten von PTBS (9,8 – 33,3%), Depression (19,6 – 56,9%) und Ängstlichkeit (41,2 – 60,8%) sehr hoch. Die Anzahl der traumatischen Ereignisse, die die Eltern oder die Kinder selbst erlebt hatten, hatte jedoch keinen Einfluss auf die Symptombelastung der Kinder. Ein Zusammenhang bestand jedoch, zwischen einer diagnostizierbaren PTBS bei den Vätern und der depressiven Symptomatik der Kinder. Die Folgen von traumatischen Ereignissen und PTBS sind also auch über die Generation der akut Betroffenen hinweg wirksam, was eine Behandlung wiederum umso wichtiger erscheinen lässt. Die Wirkung von Folter und anderen traumatischen Ereignissen ist jedoch hoch komplex und vielschichtig. Keller et al. (2006) konnten in ihrer Untersuchung von traumatisierten Asylsuchenden in den USA (New York), die am Program for Survivors of Torture13 teilnahmen, zeigen, dass bestimmte Ereignisse mit einem besonders hohem Risiko für die Entwicklung einer PTBS einhergehen und auch weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund der klinischen Stichprobe war die psychische Belastung der Studienteilnehmer (n = 325) generell sehr hoch: 81,1% litten an klinisch relevanten Symptomen von Ängstlichkeit, 84,5% an Depressionen und 45,7% an PTBS Symptomen. Bei der Analyse der traumatischen Ereignisse und der aktuellen Belastung zeigte sich, dass Vergewaltigungsopfer und Patienten die Todesdrohungen erhalten hatten, in allen Bereichen signifikant stärker belastet waren. Personen, die Zeuge von Folter und Gewalt gegen Familienangehörige geworden waren, zeigten mehr PTBS Symptome, waren aber nicht stärker von Depression und Ängstlichkeit betroffen. Ein solches Muster konnte bei anderen traumatischen Ereignissen nicht beobachtet werden. Mit Vergewaltigung, Todesdrohungen und Zeugenschaft von Folter geht also ein besonders hohes Risiko für psychische Störungen einher. Personen mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus zeigten jedoch signifikant weniger PTBS Symptome als diejenigen, deren Asylstatus noch ungeklärt war oder die sich illegal in den USA aufhielten. Ein ähnlicher Zusammenhang zeigte sich auch für Depression und Ängstlichkeit, war jedoch sehr viel schwächer und statistisch nicht signifikant.

13

„New York University Program for Survivors of Torture” ist ein Programm, welches Folteropfern und traumatisierten Flüchtlingen medizinische, psychologische, soziale und juristische Hilfe anbietet.

8

Insbesondere an einer PTBS leidende Personen, scheinen also durch einem unsicheren Aufenthaltsstatus stark beeinträchtigt zu werden. Diese Ergebnisse stimmen mit den Beobachtungen einer Vielzahl von anderen Studien überein, die belegen, dass unabhängig von der vorherigen Traumatisierung der Antragsteller die Aufnahmebedingungen und der Aufenthaltsstatus einen entscheidenden und oft negativen Effekt auf die psychische Gesundheit von Flüchtlingen und Asylsuchenden haben. Welchen Einfluss die Aufnahmebedingungen auf das Wohlbefinden und die psychische Integrität von Flüchtlingen und Asylsuchenden haben können, konnten Steel et al. (2011) in einer Studie in Australien zeigen. Dazu haben sie mit einem Abstand von zwei Jahren eine Gruppe von Flüchtlingen mit permanenten Visa (permanent protection visa) und eine Gruppe mit temporären Visa (temporary protection visa) befragt. Mit dem Erhalt eines permanenten Visums konnte der Betroffene legal einreisen. Er bekam sowohl Zugang zu allen Gesundheits- und Sozialeinrichtungen als auch Hilfe bei der Arbeitssuche, Wohnungssuche und Zugang zu Englischkursen. Diejenigen, die ohne Visum einreisten (z. B. Bootsflüchtlinge), kamen zunächst in Internierungslager (detention center) und bekamen, wenn sie als Flüchtlinge anerkannt wurden, temporäre Visa, die alle drei bis fünf Jahre erneuert werden mussten. Für Flüchtlinge mit temporärem Visum, war der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeitsmarkt und anderen Dienstleistungen eingeschränkt. Außerdem

bestand

keine

Möglichkeit

der

Familienzusammenführung

oder

einer

Auslandsreise (siehe auch Steel et al., 2006). Obwohl sich die Gruppen hinsichtlich ihrer Traumatisierung und anderer Faktoren (kultureller Hintergrund, etc.) sehr ähnlich waren, verschlechterte sich der psychische Gesundheitszustand der Gruppe mit temporären Visa über den Zeitraum beträchtlich. So blieben die PTBS Symptome unverändert auf einem hohen Niveau, Depression und Ängstlichkeit nahmen sogar zu. Die jeweiligen Werte für die Gruppe mit permanenten Visa verbesserten sich hingegen mit der Zeit deutlich. Auch war die Gruppe mit temporären Visa sehr stark durch generelle Sorgen (Worries14) und Alltagsschwierigkeiten (Living Difficulties15) belastet und konnte weniger auf soziale Copingstrategien und Unterstützung zurückgreifen. Der allgemeine

14

gemessen mit der Penn State Worry Scale

15

Gekennzeichnet durch Schwierigkeiten ein Arbeitsverhältnis einzugehen, eine Wohnung zu finden etc.

9

Gesundheitszustand verschlechterte sich in dieser Gruppe deutlich und die generelle Symptombelastung nahm mit der Zeit zu. Dies zeigt, dass unabhängig von der erlebten Traumatisierung im Ursprungsland, die Aufnahmebedingungen von entscheidender Bedeutung sind und zu der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen, aber auch zu körperlichen Beschwerden entscheidend

beitragen.

Insbesondere

Abschiebehaft

und

Internierung

begünstigen

unabhängig von der vorherigen Traumatisierung die Entwicklung von PTBS, Depressionen und generalisierter Angststörung entscheidend (vgl. Steel et al., 2006). Der negative Effekt von längerer Haft oder Internierung während des Asylprozesses (> 6 Monate) ist selbst nach drei Jahren noch deutlich, trägt substanziell zu anhaltend höherer psychischen Belastung bei und erhöht das Risiko von PTBS, Depression und psychischen Gesundheitsproblemen bei den betroffenen Flüchtlingen. Der gleiche negative Effekt konnte für die anhaltend unsichere Situation durch temporäre Visa gezeigt werden. Auch ein unsicherer Aufenthaltsstatus trägt zu der Aufrechterhaltung von psychischen Störungen und der Symptombelastung bei. Im Vergleich dazu nimmt die Belastung bei traumatisierten Flüchtlingen mit einem sicheren Aufenthaltsstatus mit der Zeit ab (Steel et al., 2006). Coffey et al. (2010) betonen darüber hinaus, dass neben der klinischen Relevanz im Sinne von diagnostizierbaren Störungen, das psychische Wohlbefinden und die Selbstwahrnehmung der Betroffenen durch den Aufenthalt in Internierungs- und Auffanglagern stark beeinträchtigt wird und das Leben auch nach der Entlassung noch nachhaltig beeinflusst. Obwohl die untersuchte Gruppe im Mittel bereits vor 3,7 Jahren entlassen worden war, war das Selbstbild und Selbstverständnis nachhaltig von der Lagererfahrung 16 geprägt. Insbesondere Gefühle von anhaltender Unsicherheit und Ungerechtigkeit der eigenen Person gegenüber, des Ausgeliefertseins, der Kriminalisierung und Isolation bestanden weiterhin. Die im Lager real existierende Unfähigkeit das eigene Leben zu gestalten empfanden die Betroffenen als besonders schlimm, Gefühle von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und des Gescheitertseins standen jedoch auch weiterhin im Mittelpunkt des Erlebens. Besonders traumatisierte Menschen sind durch Stressoren und aversive Aufnahmebedingungen zusätzlich gefährdet eine PTBS oder andere psychische Störungen zu entwickeln und aufrecht zu erhalten (Watters und Ingleby, 2004, Steel et al. 2011, Steel et al. 2006). Vor diesem Hintergrund erscheint es 16

Die mittlere Aufenthaltsdauer betrug 3,2 Jahre

10

umso dringlicher und ist von der Aufnahmerichtlinie gefordert, die Aufnahmebedingungen an die Bedürfnisse des jeweiligen Antragstellers anzupassen und so die Gefahr zu mildern, dass sich psychische Störungen manifestieren und chronifizieren. Um dies zu gewährleisten, muss jedoch eine Einschätzung erfolgen, ob es sich bei dem Antragsteller um eine besonders schutzbedürftige Person handelt. Im aktuellen Aufnahmeverfahren in Deutschland findet landesweit keine systematische, objektive Prüfung statt, ob es sich bei dem Antragsteller um eine schutzbedürftige Person handelt. Eine Untersuchung von Gäbel et al. (2006) ergab, dass das Vorliegen einer PTBS bei einem

Antragsteller

von Einzelentscheidern17

des Bundesamtes zur

Anerkennung

ausländischer Flüchtlinge18 in der Regel nicht zuverlässig erkannt wird. Dazu wurde die Einschätzung der Einzelentscheider mit den diagnostischen Ergebnissen von Psychologen der Forschungsambulanz für Flüchtlinge in Konstanz verglichen. Obwohl es sich bei den Einzelentscheidern um Sonderbeauftragte handelte, die psychologisch besonders geschult sind und Fälle von geschlechtsspezifischer Verfolgung, unbegleiteter Minderjähriger, Folteropfer und traumatisierter Asylbewerber bearbeiten (vgl. www.bamf.de), lag die subjektive Einschätzung mit 0% bis maximal 10% deutlich unter der tatsächlichen Stichprobenprävalenz von 40%. Durch die Anwendung der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS, Foa et al., 1995, zitiert nach Gäbel et al., 2006), konnte die Rate deutlich verbessert werden, die Prävalenz wurde mit 60% sogar überschätzt. Dies zeigt, dass ein Screening in diesem Kontext die Erkennung deutlich verbessern kann, auch wenn die Spezifität in diesem Fall gering war. Wilson-Shaw et al. (2012) haben in Großbritannien untersucht, wann Anwälte im Rahmen eines Asylverfahrens rechtsmedizinische Gutachten (medico–legal reports) ihrer Klienten anfordern. Obwohl die Anwälte ein gutes Verständnis von PTBS hatten, oblag die jeweilige Entscheidung eine medizinische Untersuchung zu veranlassen, zum großen Teil der persönlichen Einschätzung der psychischen Belastung des Klienten. Diese Einschätzung beruhte hauptsächlich auf einem laienhaften Verständnis von psychischem Unwohlsein. Es wurde deutlich, dass der Komplexität von Traumafolgestörungen in diesem Rahmen nicht ausreichend Rechnung getragen werden kann. Anzeichen wie Vermeidung oder erhöhte Erregung (Hyperarousal) wurden bspw. weniger beachtet als Symptome wie Flashbacks oder 17

Einzelentscheider/Entscheider befragen Antragsteller, prüfen Asylanträge und entscheiden über die Bewilligung von Asyl (vgl. www.bamf.de). 18

Heute Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)

11

Albträume. Besonders Symptome wie emotionale Taubheit, oder depressive Symptome wurden nicht erkannt oder als unwichtig erachtet. Leibschutz et al. (2007) konnten zeigen, dass selbst Allgemeinmediziner psychische Krankheiten nur bei ungefähr der Hälfte der Betroffenen erkennen und sie an entsprechendes Fachpersonal weiterleiten. Dies gilt besonders für PTBS, die noch seltener erkannt wird (zitiert nach Wilson-Shaw et al., 2012). Vor allem in diesem Kontext, in dem darüber hinaus mit kulturellen Unterschieden der Symptomatik umgegangen werden muss, ist es wahrscheinlich, dass die Betroffenen nicht erkannt und entsprechend behandelt werden. Die Befragung der Anwälte ergab darüber hinaus, dass sie sich durch die psychischen Reaktionen ihrer Klienten überfordert fühlten. Die Befragung zu traumatischen Ereignissen ist im Asylverfahren jedoch unumgänglich, da diese oft unmittelbar mit den Asylgründen zusammenhängen. Eine genaue Untersuchung und Anamnese sollte aber durch Fachpersonal erfolgen (Wilson-Shaw et al., 2012). Auch in diesem Zusammenhang kann der PQ ein Mittel sein, die Bedürfnisse der Flüchtlinge zu erkennen und sie an geeignete Stellen zu vermitteln. Bisher wurde in der Arbeit dargestellt, inwieweit ein entsprechendes Verfahren zur Erkennung von schutzbedürftigen Personen rechtlich gefordert, aber auch aus medizinisch, psychologischen Gründen sinnvoll erscheint, um negative Folgen der Aufnahmebedingungen zu mildern. Auch wenn in der Richtlinie eindeutig festgelegt ist, dass die Entscheidung über besonderen Schutz keine Auswirkungen auf die Zuerkennung von Asyl hat, oder daraus folgend Ansprüche geltend gemacht werden können, findet die Behandlung und Betreuung von Flüchtlingen und Asylbewerbern immer in einem hoch politischen Umfeld statt (Watters & Ingleby, 2004). Es kann mitunter weitreichende Folgen im Asylprozess haben, ob eine vorhandene psychische Störung erkannt wird oder nicht. Eine psychische Erkrankung stellt im Allgemeinen keinen Asylgrund dar. Das Vorhandensein einer Traumafolgestörung gibt aber Hinweise drauf, ob der Antragsteller z. B. Opfer von Folter oder anderen schweren Verletzungen der Menschenrechte geworden ist, die wiederum asylrelevant sind oder sein können (Gäbel et al. 2006). Darüber hinaus besteht seitens der Behörden der Anspruch, dass der Asylbewerber alle relevanten Fakten in einer konsistenten, chronologischen Abfolge von sich aus glaubhaft darlegt. Dies wird jedoch durch die Symptomatik der PTBS erschwert und teilweise durch die mit PTBS einhergehenden Gedächtnisstörungen beeinträchtigt. 12

Bei der Entscheidung über die Glaubhaftigkeit der Aussagen von Antragstellern wird die Symptomatik von PTBS und anderen psychischen Störungen jedoch oft nicht beachtet. Unstimmigkeiten in den Aussagen oder Gedächtnisstörungen werden hingegen als Hinweis für die Unglaubwürdigkeit der Aussagen ausgelegt (Gäbel et al. 2006). Besonders dissoziative Zustände und emotionale Distanziertheit werden oft nicht als Symptome erkannt und als nicht glaubhaft bewertet (Hunter et al., 2010 zitiert nach Wilson-Shaw et al., 2012). Darüber hinaus wird die Glaubhaftigkeit von Aussagen oft an ihrer Konsistenz festgemacht. Dies wird unter anderem Anhand von - für die Person - peripheren Details überprüft, die mit teilweise großem zeitlichen Abstand erhoben und überprüft werden (Herlihy et al., 2002). Der psychische Zustand einer Person beeinflusst jedoch sowohl die Wahrnehmung von Situationen als auch die Erinnerung und Gedächtnisleistung. So erinnern Menschen in emotional aufgeladenen Situationen eher an zentrale Details als in neutralen Situationen, in denen auch periphere Merkmale wahrgenommen und erinnert werden (Christianson & Safer, 1996, zitiert nach Herlihy & Turner, 2007). Auch können Erinnerungen an periphere Merkmale eher durch Gespräche über das Geschehen oder spezifische Fragestellungen beeinflusst werden (Hollin & Clifford,1983, zitiert nach Herlihy et al., 2002). Des weiteren wurde gezeigt, dass Menschen mit Depressionen oder PTBS Schwierigkeiten haben spezifische autobiographische Erinnerungen abzurufen (McNally et al., 1995 zitiert nach Herlihy & Turner, 2007). Diese Ergebnisse sind im Zusammenhang mit der Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Asylanträgen von großer Bedeutung. Herlihy et al. (2002) konnten in ihrer Studie zur Diskrepanz von Aussagen zeigen, dass bei allen befragten Flüchtlingen Unterschiede zwischen den Aussagen bestanden. Die Fragen betrafen traumatische und normale Situationen, fanden aber unabhängig vom Asylverfahren statt 19. Dabei wurde deutlich, dass die Aussagen der Flüchtlinge mit hohen Werten von PTBS größere Unterschiede aufwiesen, vor allem wenn es sich um periphere Details einer traumatischen Situation handelte und ein großer Zeitraum (> 10 Wochen) zwischen den Befragungen lag. Besonders bei traumatisierten Menschen ist also die Gefahr groß, dass sie durch lange Asylverfahren benachteiligt und ihre Aussagen eher als unglaubwürdig eingestuft werden. 19

Die Befragten hatten jeweils einen gesicherten Status durch das „United Nations High Comissioner for Refugees group progamme“, mussten ihren Asylantrag also nicht bei den üblichen Stellen in Großbritannien glaubhaft machen

13

Auch das Vermeiden traumabezogener Erinnerungen und die Scham der Opfer von dem Erlebten zu berichten tragen dazu bei, dass Foltererfahrungen und Vergewaltigungen oft nicht gleich berichtet werden, obwohl dies im Bezug auf die Glaubwürdigkeit und damit einhergehend der Anerkennung von Asyl entscheidend sein kann (Van Velsen et al., 1996, zitiert nach Herlihy & Turner, 2007). Somit sollten Hinweise auf eine psychische Beeinträchtigung, die auf Erlebnisse vor der Flucht zurückzuführen sind, auch im Sinne eines fairen Verfahrens ermittelt und in einem geeigneten Setting überprüft werden. 3.

Einflussgrößen auf die Entwicklung und Anwendung eines Screeningfragebogens im Kontext von Asylverfahren

Screeningverfahren dienen dazu, eine erste Überprüfung bestimmter Zielgruppen bzw. Risikogruppen vorzunehmen, um möglichen Betroffenen eine vertiefte Diagnostik und Behandlung zu ermöglichen. Dies ist im medizinischen und psychologischen Bereich sinnvoll und verbessert die Versorgung der betroffenen Patienten bzw. Klienten. Der Protect Questionnaire (PQ) wurde als Verfahren zur Erstermittlung von Personen, die aufgrund von traumatischen Erlebnissen besonderen Schutz bedürfen (gemäß Artikel 21 der Aufnahmerichtlinie, siehe oben), entwickelt. Bei der Konstruktion des Fragebogens standen die häufigsten psychischen Störungen unter Asylbewerbern, PTBS und Depression (vgl. Fazel et al., 2005), im Mittelpunkt (siehe PROTECT – Global document, 2011). Die als gefährdet eingestuften Personen sollen ggf. an geeignete Fachstellen weitergeleitet werden, die auf die Bedürfnisse und die Betreuung von traumatisierten Asylbewerbern spezialisiert sind. Die Wirksamkeit

von traumafokussierten Behandlungsmethoden der PTBS wurde

mittlerweile in verschiedenen Studien, auch bei Patienten mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, belegt (vgl. Nickerson et al., 2011; van Wyk et al., 2012). Durch die frühe Erkennung von besonderen Belastungen, Störungen und Krankheiten können zudem Langzeitfolgen und Folgeerkrankungen vermieden und so zusätzliche Kosten verringert werden. Bei der Entwicklung und Anwendung des Fragebogens muss mit verschiedenen Einflussgrößen und Problemfeldern umgegangen werden: 1. Rechtliche Einflüsse und Verfahrensprobleme und 2. Schwierigkeiten aufgrund der psychischen Situation der 14

Betroffenen und dem Krankheitsbild immanente Faktoren. Erstere sollen lediglich der Vollständigkeit halber benannt werden, ohne sie jedoch im Detail zu erörtern. Probleme die mit der psychischen Situation der Antragsteller einhergehen, dem Krankheitsbild immanent sind oder sich auf die Diagnose beziehen, werden hingegen im Abschnitt 3.2.2. („PTBS im Flüchtlingskontext“) detaillierter erörtert. 3.1 Politisch – rechtliche Einflussgrößen Der PQ wurde für einen sehr spezifischen Anwendungsbereich entwickelt, in dem bestimmte Einflussgrößen zu beachten sind. Wie bereits erwähnt ist es in der Richtlinie vorgegeben, dass das Verfahren der Bestimmung von schutzbedürftigen Flüchtlingen dienen und möglichst schnell nach der Antragstellung in einem Mitgliedstaat angewendet werden soll. Die Verfahren zur Aufnahme von Flüchtlingen und zur Bestimmung des Flüchtlingsstatus sind jedoch in jedem Mitgliedstaat verschieden und es bleibt den Staaten überlassen, das Screening in das eigene Aufnahme- und Asylverfahren zu integrieren (siehe PROTECT – Global document, 2011). Inwieweit dies möglich ist und umgesetzt werden kann, muss in jedem Mitgliedstaat selbst geprüft werden. Für die Entwicklung des PQ war es aber in soweit relevant, als dass versucht wurde, ein möglichst kurzes und simples Verfahren zu entwickeln, welches gut in die einzelnen Verfahrensabläufe integriert werden kann. Dabei ist es wichtig, dass das Screeningverfahren von vielen Personen, die vorzugsweise schon im aktuellen Verfahrenskontext Kontakt zu ankommenden Flüchtlingen und Asylbewerbern haben, angewendet

werden kann (z.

B.

Anwälte,

Sozialarbeiter,

Beamte,

die

in den

Entscheidungsprozess involviert sind). Eine solche Anforderung impliziert, dass das Verfahren auch von Laien und nicht allein von Psychologen oder Ärzten angewendet werden kann. Diese Herangehensweise ist auch im Hinblick auf die finanzielle Belastung der Mitgliedstaaten entscheidend. Durch die anhaltend hohen Zahlen von Asylbewerbern und Flüchtlingen spielt die finanzielle Belastung durch ein Screeningverfahren eine politisch nicht zu vernachlässigende Rolle. Wie viel Kosten letztlich durch die Anwendung eines Screeningverfahrens entstehen oder eingespart werden können, kann jedoch unter den gegebenen Umständen nicht valide geschätzt werden (Hollifield & Verbillis-Kolp et al., 2013). Auch wenn durch die Früherkennung und frühe Behandlung von psychischen Störungen letztlich Kosten gespart würden, da der Behandlungserfolg wahrscheinlicher würde, die Chronifizierung von Störungen und Folgeerkrankungen 15

(Somatisierung/chronische Schmerzen) vermieden werden könnten und die Integration der Betroffenen dadurch unterstützt würde, ist es fraglich, ob dies als Argument politisch ausreichend ist. Ein aufwendiges, kostspieliges Verfahren, das zusätzliches Fachpersonal erfordert, erscheint unter den gegebenen Umständen als nicht durchsetzbar und würde den entscheidenden Vorteil eines Screeningverfahrens verringern. Deswegen ist es essenziell, dass das Screeningverfahren kurz und einfach anwendbar ist, wenig Zeit und Kosten verursacht und dennoch schutzbedürftige Personen zuverlässig erkennt. Darüber hinaus sollte sichergestellt werden, dass dem Antragsteller durch ein negatives Testergebnis keinerlei Nachteile im folgenden Asylverfahren entstehen, da diese Einschätzung kein abschließendes Urteil darüber darstellen kann, ob es sich bei dem Antragsteller um eine besonders schutzbedürftige Person handelt oder ob die Person tatsächlich traumatisiert ist. Eine andere wichtige Einflussgröße ist die Situation, in der das Screening stattfindet. Wie bereits erwähnt, ist die Situation hochgradig politisch aufgeladen und für die Flüchtlinge und Asylbewerber von existenzieller Bedeutung (Watters & Ingleby, 2004). Durch die restriktive Asylpolitik der Mitgliedstaaten ist der Nachweis einer PTBS von großer Wichtigkeit, die weit über die klinische Bedeutsamkeit hinausgeht, da der Nachweis einer PTBS oft unmittelbar mit der Anerkennung von Asylgründen verknüpft ist (Watters, 2001). Darüber hinaus können sich Faktoren wie soziale Erwünschtheit stark auf die Validität der Ergebnisse auswirken und diese ggf. verfälschen. Es ist z. B. vorstellbar, dass Flüchtlinge ihren Gesundheitszustand bagatellisieren, weil sie sich dadurch Vorteile bei der Aufnahme versprechen; ebenso wären aber Übertreibungen und Falschaussagen mit demselben Ziel denkbar. Mit diesem Dilemma umzugehen ist in diesem Kontext sehr schwer und Fehleinschätzungen können bei einem einfachen Screening nicht ausgeschlossen werden. Auch die Frage, ob nicht alle Flüchtlinge unmittelbar nach der Ankunft im Aufnahmeland großen psychischen Belastungen ausgesetzt sind und allein dadurch hohe Werte im Fragebogen erzielen, ist im Zusammenhang mit der Aussagekraft von großer Bedeutung. Es könnte dadurch eine systematische Überschätzung der Schutzbedürftigkeit im Sinne des Artikels 21 entstehen und die Validität des Fragebogens beeinträchtigt werden. Die politische und soziale Überformung der Situation kann aufgrund dessen bei der Bewertung und Validierung des Fragebogens nicht außer Acht gelassen werden. 16

Auch im Hinblick auf eine spätere Validierung des Verfahrens ist es besonders wichtig, dass den Flüchtlingen und Asylbewerbern keine Nachteile durch das Verfahren entstehen, wodurch eine bewusste Verfälschung wahrscheinlicher würde. Ein negatives Testergebnis darf schon allein aufgrund der Begrenztheit der Aussagekraft nicht als Nachweis verstanden werden, dass die Person nicht traumatisiert ist, keine besonderen Bedürfnisse oder keinen legitimen Anspruch auf Asyl hat. 3.2 Psychologische Einflussgrößen und Herausforderungen Im Folgenden soll erörtert werden, mit welchen psychologischen und diagnostischen Einflussgrößen bei einem Screeningverfahren im oben beschriebenen Kontext umgegangen werden muss. Bei der Konstruktion des Fragebogens stand die Diagnose der PTBS nach DSM-5 im Mittelpunkt, weswegen die Symptomatik und Diagnosekriterien der PTBS zunächst kurz beschrieben werden sollen, um dann auf die Symptomatik und Diagnostik im Flüchtlingskontext einzugehen. 3.2.1

Exkurs PTBS: Diagnostik und Symptomatik nach DSM-5

Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – 5th Edition (DSM-5), der American Psychiatric Association, befindet sich die Posttraumatische Belastungsstörung (Posttraumatic Stress Disorder – PTSD) im Teil: Trauma- and Stressor- Related Disorders mit dem Diagnoseschlüssel 309.81 20. Für die Diagnose einer PTBS müssen nach DSM–5 (American Psychiatric Association, 2013) acht Kriterien (A-H) erfüllt sein, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Kriterium A bezieht sich auf das traumatische Ereignis, das die Person erlebt haben muss. Zu traumatischen Ereignissen zählen Todesdrohungen oder Tod Anderer, schwerwiegende Verletzungen oder sexuelle Gewalt. Auch dazu zählen Kriegserfahrungen, physische Übergriffe, Entführungen, Geiselnahmen, sowie Naturkatastrophen, Unfälle und ähnliche Ereignisse. Eines oder mehrere dieser Ereignisse muss die Person entweder direkt erlebt haben (A1), Zeuge davon geworden sein (A2), davon erfahren haben, dass eines dieser

20

Äquivalent zur Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ des ICD-10, F 43.1

17

Ereignisse einem nahen Familienmitglied oder Freund wiederfahren ist (A3) oder aversive Details der Ereignisse wiederholt oder auf extreme Weise erlebt haben (A4) 21. Die Kriterien B bis E beziehen sich auf die Symptomatik der PTBS, welche durch Wiedererleben/Intrusionen (B), Vermeidung (C), negative Kognitionen (D) und erhöhtes Arousal (E) gekennzeichnet ist. Nach Kriterium B (Wiedererleben/Intrusionen) muss die Person unter mindestens einem der folgenden

intrusiven

Symptome

leiden:

unwillkürliche,

verstörende

(distressing)

Erinnerungen an das traumatische Ereignis (B1), wiederkehrende belastende Träume, die sich auf das traumatische Ereignis beziehen (affektiv/inhaltlich - B2), dissoziative Reaktionen, bei dem der Betroffene fühlt oder agiert, als ob sich das traumatische Ereignis wiederholt (Flashbacks, Halluzinationen u. ä. - B3) oder bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen auf das traumatische Ereignis starke psychische Belastungen oder körperliche Reaktionen zeigen (B4 und B5). Dabei sind Wiedererleben und Erinnern von depressivem Grübeln und Nachdenken (depressive rumination) durch die Intensität und den intrusiven Charakter abzugrenzen und beinhalten sensorische, emotionale und physiologische Komponenten. Kriterium C bezieht sich auf Vermeidung, wobei mindestens eines der genannten Symptome vorliegen muss: Vermeidung von Erinnerungen und Gedanken an das Ereignis oder Gefühlen die damit verbunden sind (C1) oder Vermeidung von mit dem Ereignis zusammenhängenden externalen Reizen22, die Erinnerungen an das Trauma hervorrufen könnten (C2). Kriterium D bezieht sich auf negative Veränderungen der Kognitionen und Emotionen, die auf das traumatische Ereignis zurückzuführen sind und sich in mindestens zwei der folgenden Formen zeigen müssen: Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zur erinnern 23 (D1), anhaltende, gesteigerte negative Überzeugungen und Erwartungen die eigene Person, Andere oder die Welt betreffend 24 (D2), anhaltende, verzerrte Überzeugungen über die 21

Z. B. Rettungskräfte oder Polizisten, die direkt mit Leichenteilen oder Verbrechen etc. konfrontiert sind. Es reicht nicht aus, die beschriebenen Ereignisse durch Medien, Bilder etc. zu erleben, es sei denn es dient Arbeitszwecken (bspw. bei Polizisten) 22

Personen, Orte, Gespräche, Aktivitäten, Objekte und Situationen

23

Typischerweise durch dissoziative Amnesie ausgelöst, nicht durch Verletzungen o. ä.

24

Z. B. „Ich bin schlecht“, „Man kann niemanden vertrauen“ etc.

18

Ursache und

Folgen des traumatischen Ereignisses,

die

mit

Schuldzuweisungen

(selbst/andere) einhergehen (D3), anhaltend negative Emotionen25 (D4), vermindertes Interesse an wichtigen Tätigkeiten (D5), Gefühle von Distanziertheit (detachment) und Entfremdung (estrangement) Anderen gegenüber (D6) oder anhaltende Unfähigkeit positive Emotionen26 zu empfinden (D7). Kriterium E beinhaltet Symptome erhöhter Erregung (arousal) und Reagibilität (reactivity). Dazu gehören: Reizbarkeit (irritable behavior) und Wutdurchbrüche (angry outbursts) (E1), unbesonnenes (reckless) oder selbstzerstörerisches Verhalten (E2), übermäßige Wachsamkeit (hypervigilance) (E3), erhöhte Schreckhaftigkeit (E4), Konzentrationsschwierigkeiten (E5) oder Schlafstörungen (E6). Die Symptomatik muss darüber hinaus länger als einen Monat anhalten (F), klinisch relevantes Leiden oder soziale, berufliche o. ä. Beeinträchtigungen verursachen (G) und darf nicht durch andere körperliche oder medizinische Ursachen zu erklären sein (H). Wenn zu den anderen Kriterien anhaltende dissoziative Symptome, wie Depersonalisation oder Derealisation, hinzukommen, kann dies weiter als „PTBS mit dissoziativen Symptomen“ spezifiziert werden. Wenn das volle diagnostische Bild erst nach über sechs Monaten auftritt, kann PTBS mit verzögerter „Ausprägung“ (with delayed expression) diagnostiziert werden. Einzelne Symptome treten dabei meist innerhalb von drei Monaten nach dem Ereignis auf, wobei es bis zur vollen Ausprägung des Symptombildes und aller Diagnosekriterien jedoch Monate oder auch Jahre dauern kann. Die Symptomatik der PTBS betrifft sehr viele Bereiche des Erlebens und Verhaltens und die jeweilige Ausprägung der einzelnen Symptome kann stark variieren. Im DSM-5 wird darauf hingewiesen, dass die Ausprägungen der einzelnen Symptomcluster von Person zu Person sehr verschieden und einzelne Symptome besonders stark oder schwach ausgeprägt sein können (S. 274 ff.). Vor allem bei Menschen aus anderen Kulturen kann sich der klinische Ausdruck einzelner Symptome (insbesondere bei Vermeidung, emotionaler Taubheit und Somatisierung) unterscheiden. Die Abgrenzung zu anderen Störungen kann unter Umständen schwer sein; auch sind die Komorbiditätsraten sehr hoch. Menschen mit PTBS haben ein 80% höheres Risiko zusätzlich die Kriterien mindestens einer anderen psychischen Störung zu 25

Z. B. Angst, Furcht, Wut, Scham oder Schuld

26

Z. B. Glück, Zufriedenheit, Liebe

19

erfüllen. Insbesondere Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen treten häufig gemeinsam mit einer PTBS auf. Die vorangegangene Darstellung macht deutlich, wie vielfältig und vielschichtig die Symptomatik der PTBS ist, was insbesondere für ein kurzes Screening eine Herausforderung darstellt. 3.2.2

PTBS im Flüchtlingskontext

Die Konzeption der Posttraumatischen Belastungsstörung als Störungsbild und als universelle Reaktion auf bestimmte Ereignisse, wurde von vielen Autoren kritisiert und sehr kontrovers diskutiert. Eine annähernd vollständige Darstellung der Diskussion um PTBS kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Dennoch sollen einige Kritikpunkte und Überlegungen einfließen, da diese die Entwicklung und Anwendung des PQ beeinflussen und im Kontext der Arbeit mit Flüchtlingen und Asylbewerbern relevant sind. Wie oben beschrieben betrifft die Symptomatik der PTBS viele Bereiche des Verhaltens und der Kognitionen und ist in Teilen schwer von anderen psychischen Störungen abzugrenzen (z. B. von Depressionen, Angststörungen27). Auch unterscheiden sich Ausprägung und Schwere mitunter beträchtlich, was nicht allein durch die Art des traumatischen Ereignisses erklärt werden kann. Bowman (1999) führt an, dass traumatische Erlebnisse in der Normalbevölkerung sehr häufig vorkommen. So sind rund 61% der männlichen und 51% der weiblichen US–Bevölkerung in ihrem Leben mindestens einem traumatischen Ereignis ausgesetzt; die Lebenszeitprävalenz von PTBS in dieser Gruppe ist mit 5% bzw. 10% aber sehr viel niedriger (Kessler et al., 1995 zitiert nach Bowman, 1999). Es besteht also eine Diskrepanz zwischen objektiven Ereignissen und der Entwicklung der Symptomatik: Ein traumatisches Ereignis stellt keinen „zuverlässigen“ Auslöser einer PTBS dar (Bowman, 1999). Vielmehr wird betont, dass die Entwicklung einer PTBS von der emotionalen und kognitiven Bewertung des traumatischen Ereignisses moderiert wird, worauf persönliche und kulturelle Überzeugungen großen Einfluss haben. So können religiöse Überzeugungen als Schutzfaktoren, Annahmen über die Hilflosigkeit der eigenen Person oder der kulturellen oder ethnischen Gruppe hingegen als Risikofaktoren für die Entwicklung einer 27

Symptome wie negative Kognitionen, Konzentrationsschwierigkeiten, Vermeidung , Depersonalisation kennzeichnen auch andere Störungen

20

PTBS wirken (Bowman, L., 1999). Keller et al. (2006) konnten in ihrer Studie zeigen, dass die Symptombelastung bei asiatischen niedriger als bei südamerikanischen Flüchtlingen ist und Buddhisten weniger von PTBS betroffen sind als z. B. Muslime und Christen. Dies zeigt, dass religiöse und kulturelle Überzeugungen die Entwicklung und Aufrechterhaltung von PTBS beeinflussen. Darüber hinaus bestehen kulturelle Unterschiede in der Symptomausbildung, Wahrnehmung von psychischem Leiden und in den Ausdruckformen psychischer Prozesse. So wird emotionaler Stress/Leiden (emotional distress) in Entwicklungsländern vermehrt durch somatische Beschwerden ausgedrückt und nicht durch psychologische Symptome (vgl. Farooq et al., 1995). Ebenso zeigen Studien in Industrieländern, wie den USA und Großbritannien, dass Somatisierung, also der Ausdruck von psychischen Belastungen durch körperliche Symptome, generell sehr häufig vorkommt. So wendet sich rund die Hälfte der Patienten, die an einer diagnostizierbaren psychischen Störung leiden, aufgrund somatischer Beschwerden und nicht wegen psychischer Symptome an Ärzte (vgl. Farooq et al., 1995). Bei 34-80% der PTBS – Patienten konnte zudem ein chronisches Schmerzsyndrom nachgewiesen werden (Otis et al., 2003, zitiert nach Köllner & Maercker, 2011). Die Tendenz zur Somatisierung erschwert die Diagnostik und Behandlung der Betroffenen, insbesondere in einem transkulturellen Kontext. In ihrer vergleichenden Studie in Großbritannien konnten Farooq et al. (1995) zeigen, dass es im Bezug auf somatische Beschwerden statistisch relevante Unterschiede zwischen der asiatischen und der europäischen (caucasian sample) Stichprobe gab. Ängstlichkeit und depressive Symptome waren dabei am stärksten mit der Häufigkeit somatischer Beschwerden korreliert, wobei Ethnizität die Varianz zwischen den beiden Gruppen am besten erklärte. Farooq et al. (1995) schlagen deswegen vor, dass somatische Beschwerden als valider Ausdruck von psychischer Belastung anerkannt werden sollten. Van Ommeren et al. (2002) konnten darüber hinaus zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen Folter und der Entwicklung somatischer Beschwerden besteht. Sie verglichen die somatischen Symptome von Folteropfern mit einer Gruppe, die nicht gefoltert wurde28. Die 28

Beide Gruppen waren bhutanesische Flüchtlinge die Flüchtlingslagern in Nepal lebten

21

Gruppe der Folteropfer zeigte mehr somatische Beschwerden als die Kontrollgruppe. PTBS sagte zudem die Anzahl der somatischen Beschwerden und der beteiligten Organe voraus, wohingegen Depressionswerte nur mit der Anzahl der somatischen Beschwerden korrelierten. Für Ängstlichkeit konnte kein Zusammenhang hergestellt werden. Auch Hinton & Lewis – Fernández (2011) kritisieren, dass somatische Beschwerden in den Diagnosekriterien im DSM–5 wenig relevant sind, aber in verschiedenen Kulturen besonders stark erlebt werden und eine zentrale Rolle bei der Reaktion auf traumatische Ereignisse spielen. Dazu gehören unter anderem Empfindungen von körperlicher Hitze (Flüchtlinge aus Salvador), körperliche Schmerzen (Folteropfer aus dem Bhutan), Nackenschmerzen, gastrointestinale Schmerzen, Tinnitus und Schwindel (kambodschanische Flüchtlinge), die als zentrale Symptome der PTBS in diesen Gruppen auftreten, aber im DSM–5 keine Beachtung finden. Diese Ergebnisse sind im Hinblick auf den PQ von großer Bedeutung, da die Zielgruppe des Fragebogens sehr heterogen und sich aus verschiedensten kulturellen und ethnischen Gruppen zusammensetzt. Verschiedene Studien zeigen, dass Schlüsselsymptome der PTBS (DSM – IV) nicht in allen ethnischen und kulturellen Gruppen auftreten oder eine geringere Rolle im Krankheitserleben der

Betroffenen

spielen.

So

Vermeidung/emotionale Taubheit

treten

die

Symptomcluster

Wiedererleben,

und psychophysiologische Übererregung zwar

in

verschiedensten kulturellen Settings auf, das Ausmaß, in dem sie erlebt werden, unterscheidet sich jedoch teilweise stark (vgl. Hinton & Lewis – Fernández, 2011). So scheint Wiedererleben ein sehr valides Symptom in verschiedensten Kulturen zu sein (bspw. Algerien, Kambodscha, Äthiopien, Gaza), wohingegen Übererregung und emotionale Taubheit bei Betroffenen aus Algerien und Gaza deutlich weniger vorkam und in der kambodschanischen Stichprobe nur Übererregung weniger vorkam. Andere Studien zeigen, dass Vermeidungssymptome in verschiedenen kulturellen Settings weniger häufig sind bzw. sich kulturspezifisch äußern. Vermeidung und emotionale Taubheit scheinen eher Copingstrategien zu sein und sind dadurch stark kulturell geprägt. Wiedererleben (insbesondere Flashbacks und Albträume) und erhöhtes Arousal scheinen hingegen in verschiedensten kulturellen Zusammenhängen eine große Rolle zu spielen. 22

Das transkulturelle Auftreten dieser Symptomcluster (Wiedererleben und Arousal) wird unter anderem durch biologische, endokrinologische Reaktionen auf das Trauma erklärt. So wurden in Studien Veränderungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und des noradrenergen Systems beobachtet, die mit erhöhtem Arousal (Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit etc.) einhergingen. Auch steht Noradrenalin mit dem Auftreten von Flashbacks in Verbindung (vgl. Ehlert et al., 1999). Die Wahrnehmung und Interpretation von Albträumen und Flashbacks scheinen aber wiederum sehr kulturabhängig und mit kulturellen Syndromen verbunden zu sein. So werden Albträume bei kambodschanischen Flüchtlingen oft als Zeichen eines leeren und anfälligen Körpers oder spirituellen Status interpretiert, aber auch als spirituelle Attacke eines Geistes gesehen. Diese Interpretationen geben den Albträumen bei kambodschanischen Flüchtlingen dadurch eine besondere Qualität und verursachen größere Ängste, die über die reine Erinnerung an traumarelevante Inhalte hinausgehen. Solche kulturspezifischen Interpretationen haben großen Einfluss auf die Ausprägung der einzelnen Symptome und beeinflussen sich wechselseitig (vgl. Hinton & Lewis – Fernández , 2011). Auch die kulturelle Bedeutung des traumatischen Ereignisses spielt bei der Ausbildung und Aufrechterhaltung einzelner Symptome eine große Rolle und beeinflusst z. B. den Inhalt von Albträumen und Ängsten. So werden die Zerstörung religiöser Symbole (Tibet), die Verhinderung von Riten zur Bestattung von Angehörigen (Ruanda) oder Vergewaltigung in verschiedenen Kulturen als besonders schlimm erlebt. Die Bedeutung der einzelnen Symptome und ihrer Ausprägung kann je nach kulturellem Hintergrund der Person also sehr verschieden sein, was die Auswahl geeigneter Symptome, die in einem Screening erhoben werden sollten, sehr schwer macht. Des weiteren wird die Diagnostik von PTBS in einem transkulturellen Setting grundlegend kritisiert, da dabei ein Störungsbild, welches von westlichen Psychiatern und Psychologen entwickelt und vor allem an westlichen Populationen erforscht und validiert wurde, auf Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen übertragen wird. Dabei werden westliche Konzepte von psychischen Prozessen, des Selbst, sozialer Zusammenhänge und therapeutischer Intervention auf andere Kulturen übertragen und als universal vorausgesetzt. Diese Konzepte und Grundannahmen unterscheiden sich aber womöglich entscheidend von

23

denen westlicher Gesellschaften (vgl. Bracken et al., 1995; Kienzler, 2008; van Ommeren, 2003, Summerfield, 1999). Auch weichen die traumatischen Erlebnisse von Flüchtlingen (Kriegserlebnisse, Folter, Gefangenschaft etc.) möglicherweise systematisch von denen westlicher Populationen (Naturkatastrophen, Unfälle, Überfälle etc.) ab, wodurch Unterschiede in den Reaktionen und Symptomen entstehen können (vgl. Nickerson et al., 2011). Beltran & Silove (1999) (zitiert nach Nickerson et al., 2011) gehen unter anderem davon aus, dass bei Opfern von Verbrechen gegen die Menschenrechte komplexere Symptomkonstellationen auftreten, als dies nach anderen traumatischen Ereignissen wie Naturkatastrophen oder Unfällen der Fall ist. Weiterhin wird kritisiert, dass wichtige Reaktionen auf traumatische Ereignisse und Symptome sich nicht in der Diagnose nach DSM-IV wiederfinden, diese aber für das Verständnis von PTBS und vor allem für die Behandlung des Störungsbildes entscheidend sind. Diese Defizite beziehen sich vor allem auf Kognitionen und Emotionen, die typischerweise Teil der Reaktion auf ein traumatisches Ereignis sind. Im DSM – 5 wurde dies durch die Aufnahme der Kernsymptomatik „Negative Kognitionen/Emotionen“ (Kriterium D – siehe oben) verbessert. Nickerson et al. (2011) weisen darauf hin, dass das Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust die Erfahrungen von Flüchtlingen und Asylsuchenden jedoch weit über das traumatische Ereignis hinaus prägt. Die Veränderungen der Kognitionen auf ein einzelnes Ereignis zurückzuführen und zu pathologisieren, könnte wichtige Aspekte des Erlebens und der Situation der Betroffenen ausklammern. Insbesondere bei therapeutischen Interventionen sollte dieser Gesichtspunkt Beachtung finden. Auch wird betont, dass Reaktionen wie Scham, komplizierte Trauer (complicated grief), starke Wut und „moralische Verletzung“ (moral injury) bei Folteropfern und Opfern von Gewalt möglicherweise eine andere Qualität haben und diese in ihrem Werte- und Weltverständnis sehr grundlegend erschüttern können (Hinton & Lewis – Fernández, 2011). Generell bestehen also bedeutsame kulturelle Unterschiede in der Symptomatik der PTBS, die weiterhin untersucht werden müssen und die Diagnostik und Behandlung von PTBS sehr schwierig machen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Diagnosekriterien der PTBS Schlüsselsymptome widerspiegeln, die in verschiedensten Kulturen auftreten, auch wenn sie sich unterschiedlich äußern, unterschiedliche Prävalenzraten und Bedeutungen haben. 24

4.

Der Protect Questionnaire

Bisher wurden in der Arbeit die Bedingungen unter denen der Fragebogen angewendet wird vorgestellt und wichtige Einflussgrößen des Kontextes, der Zielgruppe und der Diagnostik erörtert. Im folgenden Teil der Arbeit soll der Fragebogen zunächst kurz vorgestellt werden und auf seine Vorgehensweise eingegangen werden.

Dabei sollen die bisher besprochenen

Einflussgrößen aufgegriffen und erläutert werden, wie auf sie eingegangen wurde. Insbesondere sollen daraus entstehende Einflüsse auf die Validität und Güte des Fragebogens erörtert

werden,

Vor-

und

Nachteile

besprochen

und

Vergleiche

zu

anderen

Screeninginstrumenten für PTBS bei Flüchtlingen, insbesondere zum Refugee Health Screener-15 (RHS-15), gezogen werden. 4.1 Aufbau und Inhalt des PQ Der Fragebogen besteht aus vier Teilen: einem Einleitungsteil für den Anwender, einem Text, der dem Asylsuchenden vorgelesen werden soll, den Fragen und einem Auswertungsteil. In der Einleitung werden dem Anwender das Ziel, der Nutzen und die Anwendung des Fragebogens kurz erklärt. Es wird festgehalten, dass der Fragebogen nicht dazu gedacht ist, den Aufenthaltsstatus eines Asylsuchenden oder Ansprüche und Rechte der Person zu bestimmen, sondern lediglich die Früherkennung von traumatisierten Personen zu erleichtern, um sie ggf. an entsprechendes Fachpersonal weiterzuleiten. Es wird erklärt, dass dadurch eine Verschlechterung oder Chronifizierung der gesundheitlichen Probleme verhindert werden kann und die Aufnahmebedingungen und das Asylverfahren ggf. an die Bedürfnisse des Betroffenen angepasst werden können. Danach wird dem Asylsuchenden ein kurzer Text zur Einführung vorgelesen. Der Text, der dem Asylsuchenden in seiner Muttersprache vorgelesen werden soll, erläutert ebenfalls kurz den Sinn und Zweck des Fragebogens. Es wird darauf hingewiesen, dass der Fragebogen dazu dient, besondere Bedürfnisse der jeweiligen Person zu erkennen, um ihr ggf. Unterstützung anzubieten. Weiterhin wird erklärt, dass es keine richtigen oder falschen Antworten auf die Fragen bezüglich der Gesundheit gebe und er so frei und natürlich wie möglich antworten solle. Darüber hinaus wird gesagt, dass er die Fragen jeweils mit „ja“ oder „nein“ beantworten solle. Die Antworten sollen sich auf das Befinden während der vergangenen zwei 25

Wochen beziehen. Die Einschätzung, ob möglicherweise eine Traumatisierung vorliegt, erfolgt über die Anzahl der bestätigten Symptome, was im Auswertungsteil des PQ genauer beschrieben wird. Anschließend werden dem Asylbewerber die folgenden Fragen in seiner Muttersprache vorgelesen: 1. Haben Sie häufig29 Schwierigkeiten einzuschlafen? 2. Haben Sie häufig Albträume? 3. Leiden Sie häufig unter Kopfschmerzen? 4. Leiden Sie häufig unter anderen körperlichen Schmerzen? 5. Werden Sie schnell wütend? 6. Haben Sie häufig Erinnerungen an schmerzhafte Ereignisse? 7. Haben Sie häufig Angst? 8. Vergessen Sie häufig Dinge im Alltag? 9. Haben Sie das Interesse an Ihrer Umwelt verloren? 10. Haben Sie häufig Probleme sich zu konzentrieren? Der Anwender kann neben den Fragen jeweils „ja“ oder „nein“ ankreuzen und in die unterste Zeile den Summenscore eintragen. Aufgrund der Anzahl der mit „ja“ beantworteten Fragen, wird die Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung

eingeschätzt und die

entsprechende Kategorie angekreuzt, d. h.: „geringe Wahrscheinlichkeit“ (0-3 mit „ja“ beantwortete Fragen), „mittlere Wahrscheinlichkeit“ (4-7 mit „ja“ beantwortete Fragen), „hohe Wahrscheinlichkeit“ (8-10 mit „ja“ beantwortete Fragen). Danach wird dem Anwender das weitere Vorgehen genauer erläutert. Im Falle einer „mittleren“ oder „hohen“ Wahrscheinlichkeit soll der Asylsuchende an eine psychologische oder medizinische Fachstelle weitergeleitet werden. Es wird nochmals darauf hingewiesen, dass eine „geringe Wahrscheinlichkeit“ nicht bedeutet, dass der Asylsuchende nicht 29

„Häufig meint: mehr als gewöhnlich und als leidvoll empfunden“

26

traumatisiert ist und dass die Symptome später auftreten können und ggf. eine weitere Befragung durchgeführt werden sollte. Danach kann der Anwender weitere Beobachtungen30 aufschreiben, die er mit dem Befragten abstimmen muss. Zuletzt sollten der Name, das Geburtsdatum, sowie das Herkunftsland vermerkt werden. Der ausgefüllte Fragebogen soll dem Asylsuchenden ausgehändigt werden, welcher außerdem darauf hingewiesen wird, dass er diesen im Kontakt mit Ärzten, Psychologen, Anwälten oder Behördenmitarbeitern vorlegen möge. Der Fragebogen sollte nach einer Ruhepause von 7-10 Tagen, im Zweifelsfall auch unter ungünstigen Bedingungen angewendet werden. Wenn sich die psychischen Probleme erst später äußern, sollte der Fragebogen auch wiederholt angewendet werden. 4.2. Theoretische Erörterung der Vorgehensweise

Wie beschrieben ist es die diagnostische Zielsetzung des PQ besonders schutzbedürftige Personen zu erkennen, um auf deren außergewöhnliche Bedürfnisse eingehen zu können. In der Aufnahmerichtlinie bleibt die Definition der Schutzbedürftigkeit jedoch in Teilen unkonkret. Neben klar definierten Personengruppen, wie Minderjährigen etc., werden psychische Störungen als Grund für besonderen Schutz genannt. Der Terminus „psychische Störung“ wird zunächst allerdings nicht weiter spezifiziert. Somit bleibt zu Beginn offen, was genau der PQ erheben soll. Neben psychischen Störungen werden Personen als besonders schutzbedürftig bezeichnet, die Folter, Vergewaltigung und andere schwere Formen der Gewalt erlitten haben. Diese Ergänzung legt nahe ein Screening durchzuführen, das Hinweise auf das Vorhandensein einer PTBS gibt, da viele der von Gewalt betroffenen Personen eine PTBS entwickeln und PTBS die häufigste psychische Störung unter Flüchtlingen ist (siehe 2.2. „Psychologisch – Medizinische Gesichtspunkte“). Zudem werden auch depressive Symptome und somatische Beschwerden abgefragt, da die Prävalenz von Depressionen bei Flüchtlingen ebenfalls sehr hoch ist und somatische

30

„z. B. die Person weint, reagiert nicht, zeigt keine Aufmerksamkeit; hat Schwierigkeiten, die Fragen zu verstehen; spezielle Umstände des Interviews“

27

Beschwerden vor allem in einem transkulturellen Setting ein wichtiger Hinweis auf psychische Störungen sind (siehe 3.2.2. „PTBS im Flüchtlingskontext“). Ausschlaggebend für die Bewertung eines solchen Screenings ist es, inwieweit die Aussagen darüber, welche Personen wahrscheinlich betroffen sind und welche nicht, mit der tatsächlichen Situation der jeweiligen Person übereinstimmen (overall efficiency). Diejenigen mit einem positiven Screeningergebnis sollten also wirklich eine Erkrankung haben („richtig positiv“), diejenigen mit einem negativen Screeningergebnis hingegen nicht („richtig negativ“). Der Anteil der „richtig positiven“ wird als Sensitivität bezeichnet, der Anteil der „richtig negativen“ als Spezifität (vgl. Schmitt & Geschwender, 2006, S. 292). Das Verhältnis von Sensitivität und Spezifität ist stark von der Wahl eines kritischen Wertes abhängig, ab dem eine Person als gefährdet gilt. Setzt man den kritischen Wert zu niedrig, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass alle Erkrankten erkannt werden, zugleich sinkt die Aussagekraft des Ergebnisses aber, da auch nicht Betroffene den Wert wahrscheinlich erreichen. Bei der Bewertung eines Screenings sollte das Verhältnis von Sensitivität und Spezifität genau betrachtet werden. Ein passend gewähltes Verhältnis ist sehr wichtig, da ein Screening nur so erfolgreich möglichst Betroffene von Nicht-Betroffenen unterschieden kann. Der kritische Wert des PQ (vier mit „ja“ beantwortete Fragen), ab dem ein Asylbewerber als gefährdet eingeschätzt wird und an eine geeignete Fachstelle weitergeleitet werden soll, wurde jedoch bisher rein aus rationalen Gründen gewählt und nicht empirisch überprüft. Der mit vier Ja-Antworten relativ niedrig gewählte Wert zeigt, dass die Priorität auf die Erkennung möglichst aller potenziell Betroffenen gelegt wurde, da es weitreichende Folgen haben kann einen Betroffenen nicht zu erkennen (Chronifizierung, Asylverfahren etc., siehe Absatz 2.2. „Psychologisch – Medizinische Gesichtspunkte“). Es ist jedoch zu bedenken, ob die Aussagekraft des Verfahrens durch die Wahl des kritischen Wertes beeinträchtigt wird. Vor allem vor dem Hintergrund der generell sehr hohen psychischen Belastung der Flüchtlinge, ist dies nicht unwahrscheinlich. Daher sollte die Festlegung des kritischen Wertes empirisch überprüft und ggf. angepasst werden, da ein Screening mit geringer Aussagekraft wenig Nutzen hat und politisch schwer durchzusetzen ist. Neben einem guten Verhältnis von Sensitivität und Spezifität sollten Screeningverfahren möglichst kurz und einfach handhabbar sein und dadurch eine breite Anwendung ermöglichen 28

(vgl. Brewin, 2005). Diese Empfehlung bezieht sich auf die Anzahl und Länge der Fragen, auf das Antwortformat sowie auf die Auswertung und Entscheidung. Der Fragebogen und sein Zweck sollten sowohl für die Befragten als auch für die Anwender verständlich, nachvollziehbar und eindeutig formuliert sein. In dem vorgesehenen Kontext ist es zudem besonders wichtig, dass er bei einer sehr heterogenen Zielgruppe angewendet werden kann. Diese Heterogenität bezieht sich auf folgende Bereiche: Die Prävalenz von PTBS, die Art des Traumas, die Ausprägung und Symptomatik der PTBS sowie kulturell geprägte Konzepte von psychischen Konstrukten und Prozessen. Brewin (2005) schlägt deswegen vor die Fragen auf wenige Kernsymptome zu beschränken, die transkulturell als Reaktion auf unterschiedliche Traumata gezeigt werden. Er konnte belegen, dass kurze, einfache Fragebögen, die wenige Kernsymptome erheben, genauso viel oder sogar mehr Vorhersagerichtigkeit (overall efficiency) erzielen als lange, komplexe Fragebögen (Brewin, 2005). Der PQ entspricht in vielerlei Hinsicht diesen Vorschlägen: Der Fragebogen ist mit zehn Fragen sehr kurz, das Antwortformat ist eindeutig und einfach verständlich und das Ziel des PQ wird sowohl dem Anwender, als auch dem Befragten kurz und verständlich erläutert. Darüber hinaus ist die Vorgehensweise und Auswertung sehr verständlich beschrieben. Inwieweit der PQ Kernsymptome der PTBS erhebt und dadurch auch transkulturell valide ist, kann nur theoretisch erörtert werden, denn bisher wurden keine Untersuchungen durchgeführt, die die einzelnen Gütekriterien statistisch absichern. Unter der Validität eines Verfahrens versteht man, ob ein Verfahren wirklich das Merkmal misst welches es messen soll (vgl. Schermelleh-Engel, Kelava & Moosbrugger, 2006, S.423). Somit ist die Bewertung der Validität eines Testverfahrens von größter Bedeutung. Im Flüchtlingskontext ist dies allerdings mit spezifischen Problemen verbunden. Wie im Absatz 3.2.1. „Exkurs PTBS: Diagnostik und Symptomatik nach DSM-5“ erörtert wurde, ist die PTBS eine sehr vielschichtige Diagnose, die diverse Bereiche des Verhaltens und Erlebens umfasst und zudem in ihrer Symptomatik schwer von anderen Störungen abzugrenzen ist. In dem vorgesehenen Kontext des PQ muss zudem damit umgegangen werden, dass sich die Symptomatik in unterschiedlichen kulturellen Settings unterschiedlich zeigt (siehe 3.2.2 „PTBS im Flüchtlingskontext“). Somit stellt es eine besondere Herausforderung dar, ein Screeningverfahren zu konstruieren, welches zuverlässig eine PTBS für eine sehr heterogene Zielgruppe mit hoher Validität erheben kann. 29

Auch wenn die Items eines Screeningverfahrens nicht mit den diagnostischen Kriterien einer Störung übereinstimmen, sondern diese Störung lediglich voraussagen müssen (vgl. Brewin, 2005), orientieren sich die Fragen des PQ zum großen Teil sehr deutlich an den Diagnosekriterien für PTBS. Wie im Teil 3.2.1. der Arbeit ausgeführt, müssen acht Kriterien für die Vergabe der PTBSDiagnose erfüllt sein. Die Person muss ein traumatisches Ereignis erlebt haben (Kriterium A) und die Symptome Wiederleben (B), Vermeidung (C), negative Kognitionen (D) und erhöhtes Arousal (E), in einer oder mehreren der oben angegebenen Formen zeigen. Die Symptomatik muss länger als einen Monat anhalten (F), klinisch relevantes Leiden hervorrufen (G) und darf nicht auf körperliche Ursachen zurückzuführen sein (H). Bis auf das Ereigniskriterium (A) und Kriterium C (Vermeidung) werden alle Kernsymptome der PTBS explizit durch den Fragebogen erhoben. Auf ein mögliches Ereignis wird lediglich mit Frage 6: „Haben Sie häufig Erinnerungen an schmerzhafte Ereignisse?“ eingegangen, die Frage ist aber eher dem Kriterium B1 (Wiedererleben) zuzuordnen. Mit dem Auslassen des Ereigniskriteriums und des Vermeidungsclusters wird den besonderen Umständen der Anwendung des PQ Rechnung getragen. Da der Fragebogen von Laien in unterschiedlichsten Funktionen angewendet werden soll, ist die Erhebung des traumatischen Ereignisses selbst diskussionswürdig und wurde daher bei der Entwicklung des PQ letztlich außen vor gelassen. Denn auch wenn die Anwender psychologisch geschult sein sollten, sind sie möglicherweise mit der Reaktion der Betroffenen überfordert und können diese eventuell nicht in angemessener Weise auffangen (siehe Absatz 2.2. „Psychologisch – Medizinische Gesichtspunkte“). Hinzu kommt, dass es Teil der PTBS-Symptomatik ist, Erinnerungen an das traumatische Ereignis zu vermeiden und die Erfahrungen oft mit großer Scham verbunden sind, was die Betroffenen zusätzlich belasten könnte, wenn direkt nach dem Ereignis gefragt würde. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Betroffenen durch die Befragung und Konfrontation mit dem traumatischen Ereignis retraumatisiert werden könnten. So führen Steel et al. (2004) an, dass eine zu schnelle Konfrontation mit traumatischen Inhalten oft eine negative Wirkung auf das psychische Wohlbefinden der Betroffenen hat. Zudem sind die Betroffenen zum Zeitpunkt der Befragung allgemein in einer unsicheren Situation und großen psychischen Belastungen ausgesetzt.

30

Im Übrigen ist zu beachten, dass die Gruppe, die den Fragebogen anwenden soll, sehr heterogen ist. Neben Sozialarbeitern, Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen, Anwälten etc., kann der Fragebogen auch von Behördenmitarbeitern, Polizisten, Grenzbeamten etc. angewendet werden. Unter diesen Umständen kann es den Betroffenen möglicherweise schwerfallen von traumatischen Erlebnissen zu berichten. Das kann insbesondere deswegen der Fall sein, da bei Flüchtlingen das Vertrauen in staatliche Institutionen durch Erfahrungen im Herkunftsland, aber auch durch die Situation im Aufnahmeland grundlegend erschüttert sein kann. Wie groß die Belastung der Betroffenen und die Gefahr einer Retraumatisierung tatsächlich ist, wurde jedoch nicht untersucht und kann deswegen schwer eingeschätzt werden. Andere Screeningfragebögen, die in einem ähnlichen Setting eingesetzt werden, erheben das traumatische Ereignis sehr genau (z. B. der Harvard Trauma Questionnaire - HTQ, Mollica et al., 1992) oder setzen ein traumatisches Ereignis als gegeben voraus (z. B. der Primary Care PTSD Screen – PC-PTSD, Prins, A., Ouimette, P. & Kimerling R., 2003). Auch der RHS-15, der PTBS, Ängstlichkeit und Depression sehr zuverlässig erhebt, beinhaltet zwei Fragen zu Symptomen, die unmittelbar mit einem traumatischen Erlebnis zusammenhängen. 31 Die Analyse der einzelnen Items des Screeningfragebogens The Health Leaflet (HL, Söndergaard, Ekblab & Theorell,

2003)

zeigte

jedoch,

dass

Fragen nach der

Symptombelastung einen deutlich stärkeren Zusammenhang mit der Vorhersage einer PTBS hatten, als solche, die sich auf traumatische Ereignisse selbst bezogen. Allein mit der Frage nach Konzentrationsstörungen konnten 64,7% der Personen identifiziert werden, die an einer PTBS litten. Dies zeigt, dass die Erhebung des Ereigniskriteriums für die valide Vorhersage von PTBS nicht unbedingt notwendig ist. Auch das Symptomcluster der Vermeidung (C) wird durch den PQ nicht explizit erfragt. Wie im Absatz 3.2.2. „PTBS im Flüchtlingskontext“ dargestellt, kommen Vermeidungssymptome in verschiedenen kulturellen Settings unterschiedlich häufig vor. Zudem äußern sie sich in kulturspezifischer Art und Weise. Aufgrund der Heterogenität der Zielgruppe ist es daher 31

„Had the experience of reliving the trauma; acting or feeling as if it were happening again?” und “Been having PHYSICAL reactions (for example, break out in a sweat, heart beats fast) when reminded of the trauma?” (RHS-15, 2011, S. 2).

31

fraglich, ob Fragen zu Vermeidungssymptomen überhaupt zu einer höheren Validität beitragen könnten oder durch solche Fragen Personen aus bestimmten kulturellen Hintergründen eventuell sogar benachteiligt würden. Alle anderen Symptombereiche der PTBS werden hingegen in den zehn Fragen des PQ abgefragt. Diese beziehen sich unter anderem auch auf psychosomatische Beschwerden und depressive Symptome. So wird Kriterium B (Wiedererleben), durch Frage 2: „Haben Sie häufig Albträume?“ und Frage 6: „Haben Sie häufig Erinnerungen an schmerzhafte Ereignisse?“ abgefragt. Kriterium D (Negative Kognitionen und Emotionen) wird durch die Frage 7: „Haben Sie häufig Angst?“ und Frage 9: „Haben Sie das Interesse an Ihrer Umwelt verloren?“ erhoben. Frage 7 erhebt sowohl Kriterium E (Übererregung), als auch Kriterium B (Wiedererleben). Kriterium E (Übererregung) wird mit vier Fragen abgefragt, da es sich dabei um ein häufig vorkommendes Symptom handelt, das über hohe transkulturelle Validität verfügt (siehe 3.2.2. „PTBS im Flüchtlingskontext“). Kriterium E zuzuordnen sind Frage 1: „Haben Sie häufig Schwierigkeiten einzuschlafen?“, Frage 5: „Werden Sie schnell wütend?“, Frage 8: „Vergessen Sie häufig Dinge im Alltag?“ sowie Frage 10: „Haben Sie häufig Probleme sich zu konzentrieren?“ Darüber hinaus werden durch die Fragen 1, 8 und 10 auch depressive Symptome abgefragt. Mit Frage 3: „Leiden Sie häufig unter Kopfschmerzen?“ und Frage 4: „Leiden Sie häufig unter anderen körperlichen Schmerzen?“ werden somatische Symptome erhoben, die insbesondere bei Flüchtlingen aus Entwicklungsländern häufig sind und die transkulturelle Validität erhöhen. Obwohl der Fragebogen nur sehr kurz ist, wird, wie an den Fragen deutlich wurde, ein großes Spektrum an Symptomen erhoben. Durch die Auswahl der einzelnen Symptome wird zudem die transkulturelle Validität verbessert. Die Konzentration auf die Symptomebene und die Auswahl der Fragen stimmen zudem in großen Teilen mit anderen, bereits validierten Screeningverfahren überein. So werden im RHS-15 zwar, wie oben beschrieben, Fragen zum Wiedererleben des traumatischen Ereignisses gestellt und damit ein Bezug zu Kriterium A hergestellt, insgesamt liegt der Fokus aber bei Kriterium E (Übererregung: 5 von 13 Fragen) und Kriterium D (Negative Kognitionen und Emotionen: 4 von 13 Fragen). 32

Auch finden sich alle symptombezogenen Fragen32 des PQ im vierten Teil des HTQ wieder, wenngleich dieser sehr viel mehr Items aufweist. Der HTQ verfügt über eine sehr hohe Reliabilität, wurde in vielen verschiedenen Kulturen validiert und wird als eines der besten Instrumente in diesem Kontext angesehen (Hollifield et al., 2002; McDonald & Sand, 2010). Anhand der an validierten Instrumenten getroffenen Auswahl der Fragen kann also davon ausgegangen werden, dass der PQ valide Hinweise gibt, welche Personen mit großer Wahrscheinlichkeit unter einer PTBS leiden. Wie im Absatz 3.1. „Politisch – rechtliche Einflussgrößen“ erörtert, hat auch die Situation der Flüchtlinge einen starken Einfluss auf die Validität des PQ. Asylbewerber und Flüchtlinge sind generell großen psychischen Belastungen ausgesetzt. Insbesondere kurz nach der Ankunft im Aufnahmeland ist ihre Situation von großer Unsicherheit geprägt: Die Betroffenen müssen mit weitreichenden Veränderungen umgehen und sind möglicherweise durch die Erlebnisse vor und auf der Flucht stark beeinträchtigt. Diese Situation belastet die Betroffenen

möglicherweise

in

so

hohem

Maße,

dass

Symptome

wie

Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Ängste etc., allein darauf zurückzuführen sein könnten. Hierdurch kann die Aussagekraft des PQ im Hinblick auf PTBS stark beeinträchtigt werden, da in einem solchen Fall die Symptome, die durch die Belastung der Flucht und die Unsicherheit der eigenen Situationen hervorgerufen werden, eventuell nicht valide von PTBSSymptomen oder Symptomen anderer diagnostizierbarer Störungen unterschieden werden können. Um die Validität des PQ zu überprüfen bietet es sich an, die Einschätzung des PQ mit den Ergebnissen eines anerkannten diagnostischen Interviews, z. B. der Clinician Administered PTSD Scale –CAPS (Blake et al., 1995, zitiert nach Brewin, 2005), zu vergleichen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Ergebnisse des PQ mit einem validierten Screeningverfahren für PTBS zu vergleichen. Dazu bietet sich insbesondere der RHS-15 Fragebogen (Siehe auch S.31) an, da dieser speziell für die Anwendung im Flüchtlingskontext entwickelt wurde, ähnlich aufgebaut ist wie der PQ und neben PTBS auch Depression und Ängstlichkeit erhebt.

32

Bis auf die Fragen zur Somatisierung

33

Ein weiteres wichtiges Gütekriterium ist die Reliabilität. Sie gibt an, wie genau ein Instrument ein Merkmal misst, also in welchem Ausmaß die Varianz der Ergebnisse durch Messfehler zu erklären ist (vgl. Schermelleh-Engel, Kelava & Moosbrugger, 2006, S.421). Die Reliabilität kann typischerweise durch das Retest – Verfahren33 oder das Paralleltest – Verfahren34 erhoben werden. Für die Erhebung der Reliabilität des PQ eignen sich parallele Testungen eher, als eine wiederholte Anwendung des PQ, da das Ausmaß der Symptombelastung und die psychische Verfassung keine konstanten Werte sind und zudem, wie bereits dargestellt, starken situativen Einflüssen ausgesetzt sind. Bei einer wiederholten Anwendung würde die Reliabilität sehr wahrscheinlich stark unterschätzt. Um eine parallele Testung durchzuführen, würde sich die Verwendung des RHS – 15 eignen, da dieser für ein ähnliches Setting konstruiert wurde und die Reliabilität des Fragebogens unter vergleichbaren situativen Einflüssen gemessen wurde. Andererseits unterscheiden sich die Fragen des RHS – 15 zum großen Teil deutlich von denen des PQ, wodurch die Parallelität der Screenings möglicherweise eingeschränkt wird. Auch die Objektivität des PQ, also inwieweit die Durchführung, Auswertung und Interpretation unabhängig vom Interviewer ist (vgl. Schermelleh-Engel, Kelava & Moosbrugger, 2006, S.420), wurde bisher nicht untersucht. Für die Einschätzung der Objektivität des PQ müssen verschiedene Gesichtspunkte beachtet werden. Einerseits wird die Objektivität formal durch den klaren Aufbau, die einfachen Anweisungen, die einfache Auswertung sowie der eindeutig festgelegten Interpretation des PQ gewährleistet. Da der Fragebogen aber von sehr verschiedenen Personen- und Berufsgruppen angewendet werden soll, die jeweils eine sehr unterschiedliche Beziehung zu Flüchtlingen haben und über die

reine

Befragung

hinaus

eine

spezifische

Funktion

(Sozialarbeiter,

Anwalt,

Einzelfallentscheider etc.) für den Betroffenen haben, wird die Durchführungsobjektivität des Screenings möglicherweise beeinträchtigt, da durch die Beziehung des Flüchtlings zum Anwendenden das Antwortverhalten des Befragten beeinflusst werden kann. Der Einfluss des Interviewers auf die Ergebnisse könnte durch das eigenständige Ausfüllen des Fragebogens möglicherweise vermindert werden. So ist der RHS – 15 dafür ausgelegt von

33

34

Wiederholung der Erhebung des Merkmals durch das gleiche Verfahren Erhebung des Merkmals durch zwei Verfahren zu einem Zeitpunkt

34

dem Flüchtling selbst ausgefüllt zu werden, kann aber auch durch eine andere Person ausgefüllt werden. Der Aufbau und Inhalt des PQ trägt also insgesamt den verschiedenen Einflussgrößen und Problemfeldern des Kontextes Rechnung und ist aus theoretischer Sicht gut begründet. Wie groß der Einfluss der generellen Situation der Flüchtlinge sowie der Einfluss der spezifischen Situation, in der das Screening angewendet werden soll (Interviewer etc.), auf die Ergebnisse des PQ wirklich ist, kann jedoch schwer abgeschätzt werden. Auch die transkulturelle Validität muss letztlich überprüft werden, wenngleich die Auswahl der Fragen der Heterogenität von Flüchtlingen und Asylbewerbern Rechnung trägt. Die umfassende Evaluation des Fragebogens erscheint für die weitere Umsetzung der Richtlinie und die Verbesserung der Flüchtlingsversorgung in der Europäischen Union sehr wichtig. Auch wenn die Konstruktion theoretisch gut nachvollziehbar ist, muss eine empirische Prüfung stattfinden, was der PQ leisten kann, und ob er tatsächlich zur Verbesserung der Versorgung beitragen kann. 5. Fazit Wie in dieser Arbeit dargestellt, ist ein Screening für PTBS bei Flüchtlingen sehr komplex und es müssen bei der Umsetzung verschiedenste Einflussgrößen beachtet werden. Neben den Herausforderungen, die sich aus dem Krankheitsbild der PTBS ergeben, kommen in diesem Kontext politische und rechtliche Bedingungen hinzu, die ihrerseits unmittelbaren Einfluss auf die psychische Situation der Flüchtlinge haben. Die Flüchtlingspolitik der westlichen Industrieländer war in den letzten Jahren von einer abwehrenden Haltung und einem grundlegenden Misstrauen gegenüber Flüchtlingen geprägt, was zu einem immer restriktiverem Umgang mit Betroffenen führte (vgl. Steel et al., 2011, Steel et al, 2006). Vorgehensweisen wie Abschiebehaft und die Unterbringung in Flüchtlingslagern, sowie die mitunter langen und für die Betroffenen oft belastenden Asylverfahren, sind dabei immer wieder von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisiert worden. Auch wurden die negativen psychischen Auswirkungen dieser Verfahrensweisen, mittlerweile gut untersucht und empirisch abgesichert. Die Notwendigkeit eines Screeninginstrumentes und die Verbesserungen der Versorgung, die eine flächendeckende Anwendung ermöglichen würde, wurden in der Arbeit ausführlich dargestellt. 35

Dennoch ist es ethisch bedenklich ein Screening durchzuführen, wenn die Betroffenen bei einem entsprechenden Ergebnis nicht angemessen weiter versorgt werden können. Die medizinische und psychologische Betreuung von Flüchtlingen steht aber selbst in Deutschland nicht in einem ausreichendem Maße zur Verfügung (vgl. Proasyl, 2011). Wie beschrieben, tragen die restriktiven Aufnahmebedingungen dazu bei, dass die PTBSDiagnose mittlerweile einen Stellenwert erhalten hat, der weit über die klinische Relevanz hinaus geht. Dies gilt für den Asylsuchenden, der durch den Nachweis einer PTBS seine Asylgründe und Verfolgungsgeschichte „unterstreichen“ kann und so seine Glaubhaftigkeit erhöht. Aber es gilt auch für NGOs, Ärzte und Psychologen, die durch medizinische Diagnosen und

wissenschaftliche

Bezeichnungen

Asylanträge

glaubhafter

machen,

Ressourcen und Mittel zur Unterstützung von Flüchtlingen akquirieren und politischen Druck ausüben können (vgl. Watters, 2001). Auf die Situation und Bedürfnisse von Flüchtlingen wird dadurch verstärkt aus einem medizinischen Blickwinkel eingegangen, der wichtige soziale, politische und ökonomische Probleme und Einflussgrößen und zudem Schutzfaktoren und die Resilienz der Flüchtlinge außer Acht lässt. Nach Rutters ist Resilienz unmittelbar mit Selbstwirksamkeitserwartung und einem gewissen Maß an Selbstbewusstsein verbunden (zitiert nach Watters, 2001). Der Umgang mit Flüchtlingen

ist

jedoch

durch

entmündigende

Verfahrensweisen

gekennzeichnet

(Residenzpflicht, Gutscheinvergabe etc.) und die Kontrolle über das eigene Leben liegt für Flüchtlinge nahezu vollständig bei anderen. Dieses Erleben und die psychischen Belastungen die daraus entstehen, können jedoch nicht in klinischen Kategorien abgebildet werden. Auch ist die Situation nicht allein durch medizinisch-psychologische Interventionen zu verändern. Befragungen von Flüchtlingen legen vielmehr Nahe, dass diese sich mehr Unterstützung bei der Arbeitssuche und Fortbildung wünschen, um sich besser integriert zu fühlen und um mehr Unabhängigkeit und Sicherheit zurückzugewinnen (Zepinic et al., 2012). Diesen Überlegungen folgend trägt ein Screening von PTBS dazu bei, die Situation von Flüchtlingen unter einem klinisch-psychologischen Aspekt zu erfassen und verstärkt damit eine mögliche Pathologisierung der Betroffenen. Andererseits dient die frühe Erkennung einer besonderen Vulnerabiliät, nicht nur der weiteren Diagnostik und Behandlung, sondern insbesondere der Anpassung der Aufnahmebedingungen an die Situation des Betroffenen. 36

Dadurch können die Bedürfnisse der Person schneller und einfacher erkannt werden, die Situation im weiteren Verfahren berücksichtigt werden und sich ggf. eine therapeutische Intervention anschließen.

37

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