Für Merle - Windsor Verlag

Dieser Bart, der ungepflegt und kurz zusammen gebunden war, und dann diese Nase. Sehr lang und mit einem Höcker. Aber gerade diese Nase war es, die zu ihm und seiner Persönlichkeit passte. Nun standen sich Sigrid und Ralf gegenüber, Sigrid reichte Ralf voreilig die Hand und begrüßte ihn, für ihre Verhältnisse, ...
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Für Merle

Du bist der wärmste und wunderschönste Diamant, den eine Mutter in ihrem Herzen tragen darf! In Liebe Deine Mama

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Petra Jahrend

Lipödem: lieben leben weinen

Der Alltag mit Lipödem

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www.windsor-verlag.com

© 2017 Petra Jahrend Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Verlag: Windsor Verlag ISBN: 978-1-627846-33-2 Umschlaggestaltung: Titelbild: Layout: Fotos: Korrektorat:

Julia Evseeva Aylina Krahn Julia Evseeva Petra Jahrend, Pia Rockelmann, Frank Borchert, Michaela Kern Windsor Verlag

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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Dieses Buch zu schreiben ist mir nicht leichtgefallen. Gibt es doch Einsicht in verschiedene Lagen meines Lebens. In Abschnitte von Trauer, Freude, Hoffnung. In intime Situationen. Es hat Überwindung gekostet. Ich fürchte mich vor dem Tag, wenn es veröffentlicht wird. Das es Bürger gibt, die unsere Krankheit nicht verstehen werden. Die mit dem Kopf schütteln, wenn sie dieses Buch lesen. Aber ich denke auch, dass es wichtig ist, dass ich über mein Leben mit Lipödem schreibe. Dass es Zeit wird, dass noch mehr Frauen sich möglicherweise wiedererkennen. Und sich Hilfe holen. Mit diesem Buch möchte ich den jungen Frauen zeigen, dass sie heute die Chance wahrnehmen sollen, dass ihre Krankheit früher erkannt wird und sie bessere Möglichkeiten haben, dass ihnen geholfen wird, als mir früher. Ich wünsche mir, dass diejenigen Frauen, die so wie ich lange Jahre keine Diagnose erhielten und heute mit großen gesundheitlichen Schwierigkeiten durchs Leben gehen, sich wiedererkennen und sich möglicherweise nicht mehr so alleine fühlen.

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VORWORT

Unter jedem Dach ein Ach. So jedenfalls besagt es ein Sprichwort. Und ja, es stimmt. Bei jeder Familie kehrt einmal Kummer ein, beginnen die Sorgen, ob nun wegen Krankheit oder aus Geldnot oder anderen Gründen. Wir beklagen den Verlust von Menschen, die uns wichtig sind. Und wir sind traurig, wenn es uns nicht gut geht. Oft bekomme ich gesagt, wir Deutschen würden auf „hohem Niveau“ jammern. Und wir würden doch eigentlich gar nicht wissen, wie gut es uns geht. Ab und an teile ich diese Ansicht. Um mir selbst zu sagen, dass es mir doch noch gut geht. Dass ich unter einer Krankheit leide, an der ich nicht sterben werde. Dass es wesentlich schlimmeres gibt, als Schmerzen und Ausgrenzung, Spott und Verpönung. Aber dann, wenn ich wieder einmal nicht mehr die Treppe hinauf gehen kann. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht mehr in meine Haut passe, gerade dann sage ich mir: Anderen geht es schlechter, aber ich habe auch ein Recht darauf, dass es mir gut geht. Dass ich weniger Schmerzen habe und in der Gesellschaft nicht für etwas verurteilt werde, wofür ich nichts kann. Dann bewundere ich die Frauen, die an der Krankheit Lipödem leiden und um Hilfe bitten. Die jeden Tag aufs Neue kämpfen, gegen Vorurteile und Schmerzen. Und ich bewundere die, die sich von dieser Erkrankung nicht unterkriegen lassen. Die jeden Tag aufs Neue arbeiten gehen. Die sich abends aufs Sofa legen und die Beine hochlegen. Ich bewundere die Damen,

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die es trotzdem schaffen, so wie ich, zu lachen und in der Öffentlichkeit aufzutreten. Vielleicht ist es auch deswegen, weil die Krankheit heute schon wesentlich bekannter ist als zu meiner Zeit. Und wenn ich etwas zur Aufklärung beitragen kann, dann werde ich es tun. Und gerade deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Lipödem-Frauen sind Kämpferinnen. Sie stellen sich jeden Tag der Herausforderung, mit dieser Krankheit zu leben. Wir möchten einfach nur dazugehören und akzeptiert werden. In meinem Buch werde ich transparent. Ich möchte zeigen, dass jeder Tag ein schöner Tag ist. Dass ich ihn genieße, wenngleich es oftmals nicht leicht ist. Meiner Familie danke ich auf diesem Weg, dass sie mich so nehmen wie ich bin, mit all meinen Fehlern. Dass sie es Tag für Tag mit mir aushalten, meine Launen ertragen. Und ich bedanke mich bei meinem Mann. Er ist es, der mich immer wieder ermutigen musste, dieses Buch zu Ende zu schreiben. Er ist es auch, der mich immer wieder auffängt, wenn ich über die sozialen Netzwerke zu viele Beleidigungen erhalte. Ich danke meiner Tochter, die, so oft sie es einrichten kann, an meiner Seite ist. Merle ist so eine starke Persönlichkeit, ich bin mächtig stolz auf meine Schnecke. Bedanken möchte ich mich auch bei Jan. Für seine immer wiederkehrende Kritik. Seine deutlichen, unmissverständlichen Bemerkungen haben mich nur noch stärker gemacht. Mein Dank gilt auch meiner Mutter, die stets an meiner Seite mit mir zusammen kämpfte, wenn ich in der Schule angegriffen wurde. Ich liebe euch! Durch meine ehrenamtliche Tätigkeit als Leiterin unserer Selbsthilfegruppe „Wendland Lily“ durfte ich so viele Menschen kennenlernen. Sie bereichern alle mein Leben. Ich lerne täglich dazu. Und ich bin dankbar. Für jeden Tag, den ich mit ihnen verbringen darf.

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Ich fühle mich sehr mit ihnen verbunden, mit einigen sogar schon privat. Mein besonderer Dank gilt allerdings den Frauen, die mich als Lügnerin, was unsere Krankheit betrifft, darstellen. Die mir böse Nachrichten schreiben oder auf meiner Facebook-Seite Drohungen posten. Diese Angriffe stärken mich. Bestätigen sie mir doch nur, dass ich auf einem guten Weg bin. Und das Richtige tue.

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„Dicke haben dicke Beine, Dicke schwitzen wie die Schweine!“

Traurigkeit, Wut und Verzweiflung begleiten mich mein Leben lang. Seit 1975 denke ich an die Äußerungen meiner Mitschülerinnen. Ich befand mich in der 4. Klasse der Grundschule als unsere Lehrerin einen Ausflug zum Schuljahresende angedacht hatte. Bereits gegen 8.00 Uhr morgens fuhren wir in Richtung Hannover los. Unsere Fahrt führte uns zum Steinhuder Meer. Während der 2½ Stunden Fahrtzeit war die Stimmung ausgelassen. Und alle waren voller Vorfreude auf das, was geschehen würde. Kaum aus dem Bus ausgestiegen, liefen wir ans Wasser. Die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und die kleinen Wellen, die der Wind über das Wasser zauberte, sahen wie kleine Sternchen aus.

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Alles wirkte so friedlich. Die Stimmung innerhalb der Klasse war locker und unkompliziert. Entspannung und Freude waren vorprogrammiert. Doch es sollte nicht lange für mich anhalten. Unsere Lehrerin hatte kleine Boote gemietet, die uns zur Insel Wilhelmstein fahren sollten. In einem der Boote saßen mehrere Klassenkameradinnen, die mich schon öfter wegen meiner Körperform negativ angesprochen hatten. Ja sogar gekränkt hatten. Es begann, was kommen musste. 4 Mädchen bestiegen als erste das Boot. Als letzte stieg ich ein. Bereits beim Einstieg wackelten sie mit dem Boot von rechts nach links. So dass ich kaum das Gleichgewicht halten konnte. Endlich hatte ich meinen Sitzplatz gefunden, da griff eine von ihnen ins Wasser und bewarf mich mit den Wassertropfen. Ich sah es als lustig an und lachte mit ihnen mit. Zumindest für einen kurzen Augenblick hatte ich damit für Ruhe gesorgt. Ich war gefangen. Vor mir saßen meine Klassenkameradinnen und grinsten, sie stupsten sich in die Rippen und deuteten mit ihren Fingern auf mich. Ich sah ihnen an, dass es nicht lange dauern würde, bis sie mich wieder kränken würden. Und dann begannen sie zu singen: Dicke haben dicke Beine … Ich wollte weinen und schaute verzweifelt in die Runde. Die wenigen anderen Erwachsenen, die sich mit uns im Boot befanden, schauten auf das Meer und wenige starrten zu den Mädchen, aber niemand half mir. Die Überfahrt dauerte für mich ewig lang. Und als ich aussteigen wollte, warteten sie am Ufer und versuchten, mir ein Bein zu stellen. An diesem Tag war es warm. Ich zog meine Jacke aus und band sie um meine Hüfte. „Dicke … uh, sie will ihre dicken Beine verstecken!“ Ich merkte wie mir die Tränen die Wangen herunterliefen … und ich lief davon. Als 13-jährige empfindet man das ein oder andere als ungerecht. Dieser Tag war ungerecht. Dafür musste ich nicht noch in der Pubertät sein, um mich schlecht zu fühlen. Das Leben ist grausam, sagt man. Nein, nicht für jeden. Für Menschen mit einem Lipödem kann das Leben zu einer Bestrafung werden.

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Damals wusste ich noch nicht, dass ich an einem Lipödem erkrankt bin. Ich hatte mit 10 Jahren meine Periode bekommen und war weiter entwickelt als meine Freundinnen. Und ich hatte eine andere Körperform. Meine Beine waren wesentlich stärker ausgeprägt. Schon wenige Monate nachdem ich in die Pubertät ging, entwickelte mein Körper sein eigenes Volumen, wie ich es gerne nenne. Die Hosen passten nicht an den Beinen, dafür aber in der Taille. Reiterhosen hätte ich. Mehr nicht. Fraulich würde ich aussehen, mehr Sport müsste ich machen. Sätze wie: „Iss‘ nicht so viel, achte auf die Kalorien“, waren nicht selten zu hören. Meine Eltern waren beide berufstätig. Mein Vater ging früh morgens gegen 5.00 Uhr aus dem Haus. Mittags begann die Arbeit für meine Mutter. All die verletzenden Äußerungen bekamen sie nicht mit. Erst als meine Mitschülerinnen versucht hatten, meine Sportsachen die Toilette herunterzuspülen und ich somit nicht am Sportunterricht teilnehmen konnte, bemerkten die Lehrer, dass ich gemobbt wurde. Und informierten meine Mutter. Doch was half es schon, mit den Mitschülern zu sprechen. Damit war zwischenzeitlich Ruhe im Klassenverband, aber ich wurde erst recht ausgeschlossen. Ich ging allein über den Schulhof, Gruppenarbeit gab es für mich nicht und an die Tafel treten mochte ich auch nicht. Ich degradierte mich selbst zur Außenseiterin. Mit der Zeit erlernte ich, wie ich mich unauffällig zu verhalten hatte. Immer und stets höflich sein. Hilfsbereit und nur nicht Schwäche zeigen. Doch im Inneren wurde ich einsam. Ich verlernte zu widersprechen und auf meine eigene Meinung zu bestehen. Freundschaften wurden von mir sehr hoch bewertet. Ich bemühte mich, allen und jedem es recht zu machen. Mit der Zeit kehrte Traurigkeit in mein Leben. Die Lebensqualität fiel fast schon auf den Nullpunkt. Ich führte ein für mich nicht mehr zufriedenstellendes Leben.

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Mir wurde klar, dass ich etwas ändern müsste. Sich in ein Schneckenhaus zurückzuziehen und sich zu grämen, war nun nicht mehr für ein junges Mädchen angebracht. Und weil ich so einsam war, informierte ich mich, wie ich abnehmen könnte. Ich hungerte. Jede Diät war mir recht. Nur runter von meinem Gewicht. Die Zahlen auf der Waage ins Positive loten. Ich stellte einen Diätplan auf. 1. weniger essen 2. mehr bewegen 3. positiver denken 4. täglich wiegen 5. Flüssigkeitsmenge erhöhen Gleich am nächsten Morgen begann ich mit meinem veränderten Essverhalten. Morgens nur noch eine halbe Scheibe Brot mit Wurst. Ohne Butter. Eine Tasse Tee. Zwischendurch etwas Obst. Mittags ein kleines Stück Fleisch, etwas Gemüse. Fertig. Wenn der Hunger zu stark wurde, dann eben einen Apfel essen. Abends eine halbe Scheibe Brot. Etwas Käse. Fertig. Zwischendurch immer wieder ein Glas Wasser. Morgens, mittags und abends dann mit dem Fahrrad fahren. Nachmittags joggen gehen. In den ersten Tagen verlor ich dann endlich an Gewicht. Ich jubelte innerlich und freute mich so sehr, dass ich zielstrebig weitermachte. Täglich stellte ich mich auf die Waage und freute mich wie ein kleines Kind, das ein Stück Schokolade erhalten würde, wenn es eine gute Tat verrichtet hatte. Doch dann kam der Tag, an dem die Waage sich einfach nicht weiterbewegte. Und die Zahlen sich nicht verkleinerten. Tag für Tag stieg ich auf die Waage. Tag für Tag strengte ich mich mehr und mehr an, mein Gewicht zu reduzieren. Ich erklärte meinem Körper den Kampf. Wenn er nicht bereit war das Fett herzugeben, dann würde ich ihn eben dazu zwingen. Also war klar: Punkt 1 wurde korrigiert. Noch weniger essen war angesagt.

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Also reduzierte ich die Nahrung morgens, indem ich nur noch eine kleine halbe Scheibe Brot zu mir nahm. Das Obst zwischendurch strich ich aus meinem Ernährungskalender. Und tatsächlich, nach einigen Wochen stellte sich der erwünschte Erfolg ein. Ich nahm noch weitere 2 Kilogramm an Gewicht ab. Zwischenzeitlich erhöhte ich meine sportlichen Aktivitäten. Wann immer es ging, bewegte ich mich. Stieg ich die Treppen in der Schule nach dem Unterricht rauf und runter. Lief nachmittags im Park umher und versuchte die ein oder andere sportliche Übung zu machen. Mit dem Erfolg, dass die Waage erneut stehen blieb und ich kein Gramm an Gewicht abnahm. In mir stieg Wut auf. Ich wusste es nicht zu interpretieren. Wieso nahm ich nicht ab? Noch weniger essen? Ich hatte bereits mittags starke Magenschmerzen und konnte mich kaum noch beherrschen, nicht doch einmal das ein oder andere Stück Fleisch mehr zu essen. Bereits morgens wurde mir schlecht und im Laufe des Vormittags fror ich, obwohl mir der Schweiß nur so im Nacken hinunterlief. Ich begann die Mädchen zu belächeln, die sich den einen oder anderen Schokoriegel gönnten. Jede Nahrungsaufnahme der anderen Klassenkameradinnen wurde von mir mit einer gedanklichen Kalorientabelle verglichen. Aber es veränderte sich nichts. Als das Mobben schlimmer wurde, mochte ich nicht einmal mehr ins Freibad gehen. Ich schämte mich zu sehr. Für mich war es unvorstellbar, mich in einem Badeanzug zu zeigen. Mich auf die Wiese zu legen und von der Sonne bräunen zu lassen. Ich traute mich nicht, mir ein Getränk von dem Freibad-Kiosk zu holen. Oder auch einmal ins Wasser zu springen. Mich zu erfrischen. Wie gerne wäre ich die Rutsche herunter gerutscht. Wie gerne wäre ich vom 3-Meter-Turm gesprungen. Also erübrigt sich die Frage, wieso ich nicht schwimmen ging. Und wer an solch schönen Dingen nicht teilnimmt, kann auch sozial schlecht Kontakte aufnehmen. Keine Kontakte, somit auch keine Freundschaften schließen. Wenn ich mir heute die Bilder von früher ansehe, dann frage ich mich wieso ich mich schämte.

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Meine Mutter lief noch auf Stelzen, als sie mit mir schwanger war. Sie spielte Völkerball während ich noch in ihrem Bauch lag. Ich kenne meine Mutter nur als aktive Person. Die sich gern und viel bewegte, Sport machte, die Arbeit nicht scheute und figurbetonend durch ihren Alltag ging. Wenn ich wieder einmal nicht zum Sport gehen wollte, dann meinte sie stets: „Peti, ich habe noch bis zum 9. Monat Völkerball gespielt.“ Dann sah ich immer in ihre blauen Augen. Sah ihre Kraft und Energie in ihnen und mochte nicht widersprechen. Wie konnte sie damals auch wissen, dass ich so gehänselt wurde wenn wir uns in der Umkleidekabine der Sporthalle umzogen? Mein Vater war da anders. Er setzte mich nie unter Druck. Papa war mein Vorbild. Zumindest was das Schwimmen betrifft. Ganz stolz wurde ich immer wenn er von seinem DLRG-Schwimmen erzählte. Zu gern erinnere ich mich daran, wie wir als Familie unter der Woche in ein Waldbad fuhren. Es war sehr klein und bescheiden, aber wunderschön. Eingebettet in Wiesen und Felder und umgeben von einem Mischwald, bot es für Einheimische eine willkommene Erfrischung. So idyllisch es auch war, so unangenehm waren dort die Bremsen. Und obwohl es allen bekannt war, dass diese Tiere vermehrt dort auftraten, wurde das kleine Freibad sehr gut besucht. In der Nähe des Kiosks warteten auch immer Wespen auf uns. Und so kam es oft vor, dass wir gestochen wurden. Meine Mutter hatte dann immer eine Zwiebel dabei. Die wir auch bei jedem Badebesuch benötigten. Und genau in diesem Waldbad erlernte ich das Schwimmen. Es war mein Vater, der mich sehr früh ins Wasser zog und immer wieder mit mir übte. Er sprang elegant von dem ein oder anderen Startblock, scheute sich nicht, vom 3-Meter-Brett einen Köpper zu springen um dann wenig später sehr viel weiter am Beckenrand aufzutauchen.

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Mein Vater hatte schwarze, volle Haare, die er sich nach dem Auftauchen aus dem Wasser von dem Gesicht strich. Papa war nicht besonders groß, hatte einen Bauch und kurze Beine. Er konnte sich blitzschnell im Wasser bewegen. Sodass er in wenigen Sekunden von einer Beckenseite zur nächsten Beckenseite schwimmen konnte. Nicht selten spielten wir Fangen im Schwimmbad. Er sprang vom 3-Meter-Turm und hatte mich nach dem Auftauchen zu fangen. Ich hingegen hatte am Beckenrand, außerhalb des Wassers zu stehen und nur darauf zu achten, dass er mich nicht fangen kann. Dieses Spiel war ein cleverer Schachzug meines Vaters. Zwar hatte ich früh das Schwimmen erlernt, jedoch traute ich mich nur von dem 1-Meter-Brett zu springen. Der 3-Meter-Turm kam für mich nicht in Frage. Heute weiß ich, dass mein Vater das Spielen mit dem Lernen verband. Ich sollte meine Angst vor dem Turmspringen verlieren. Und so spielte er ein Spiel mit mir. „Wer ist schneller, du oder ich?“ Wenn mein Vater mir diese Frage stellte, dann war ich Feuer und Flamme. Egal an welchem Beckenrand ich stand, wo auch immer ich mich im Schwimmbad aufhielt, diese Frage ließ mich elektrisieren. Fakt war, gewonnen hatte, wer vom Turm gesprungen war und einmal durch das Becken geschwommen ist. Dann am anderen Ende auftauchte und bei meiner Mutter sich eine Belohnung abholte. Als ich dann endlich soweit war, mein Schwimmabzeichen machen zu können, war es wiederum mein Vater, der mich in eine Falle lockte. „So, es ist so weit, dann schwimme mal, mein Mädel, hol dir dein Bronzezeichen.“ Ich weiß noch, dass ich sehr aufgeregt war und Angst hatte, zu versagen. Mein Vater war mein Vorbild und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Also schwamm ich. Und schwamm ich … und schwamm. Mir ging langsam die Puste aus. Ich fühlte, wie mir die Kräfte ausgingen. Endlich kam das Zeichen der Bademeisterin, dass ich die Bahnen in der vorgegebenen Zeit erreicht hätte.

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„So, und nun springst du vom 3-Meter-Turm.“ Ihre Aufforderung war klar und deutlich. Ich ging zum Turm, stieg hinauf und … Ja wieso eigentlich 3-Meter-Turm? Ich rief runter: „Wieso dieser?“ „Weil ich es dir so sage“, klare Ansage. Also sprang ich … Mein Vater stand am Beckenrand, schaute mir lächelnd in die Augen und nickte. Er war nicht der Typ Mensch, der einen loben konnte. Zeigte, dass er stolz wäre. Als ich dann mein Silberabzeichen erhielt, streichelte er mir über den Kopf und meinte: „Gut gemacht.“ Ich hatte das silberne Abzeichen erschwommen. Und somit das Bronzeabzeichen gleich mit erworben. Mein Vater hatte mich überlistet und mir einen großen Erfolg beschert. Dieser Lebensabschnitt ist sehr wichtig für mich. Ist er doch aus einer Zeit, in der ich glücklich war. Ich einfach nur ich war, unbefangen und glücklich. Ich zog an, was ich wollte. Ich lachte laut und gerne, ich zeigte mich im Badeanzug und lief ohne Blicke zu registrieren über die eine oder andere Wiese. Kurz um, ich zeigte mich den Menschen. Und hatte keine negativen Gedanken. Ich setze mich auf Stühle, ohne vorher zu überlegen ob ich mit meinem Hintern auch auf die Sitzfläche passen würde. Ich schleckte öffentlich ein Eis. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mit meinen Eltern unseren Urlaub an der Ostsee im Wohnwagen verbracht habe. Unser Wohnwagen hatte ein eigenes Schlafabteil. In der Mitte des Wohnwagens befand sich die Küche. Und auf der anderen Seite, hinter der Achse, war der Essraum beziehungsweise der Schlafraum für mich. Aber am meisten aufgehalten haben wir uns immer im Vorzelt. Selbst wenn es einmal geregnet haben sollte, so saßen wir im Zelt und spielten noch Karten oder andere Gesellschaftsspiele. Morgens nach dem Aufstehen verbanden wir das Duschen mit dem Nützlichen und holten vom kleinen Einkaufsladen, der sich auf dem Campingplatz befand, frische Brötchen. Dieser kleine Laden erzürnte meine Mutter immer wieder aufs Neue. An der

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Kasse standen Barbie-Puppen. Ein absolutes Muss für ein kleines Mädchen wie ich es war. Jeden Morgen bat ich darum, eine Puppe geschenkt zu bekommen. Was natürlich nicht geschah. Es war ein Erholungsurlaub und kein Geschenkeurlaub. Meine Mutter war darin konsequent. Meiner Mutter war es wichtig, im Urlaub eine gewisse Tagesstruktur zu haben. Mein Vater hingegen sah alles gelassen. Er stand auf, wenn ihm danach war. Er frühstückte, wenn das Frühstück fertig zubereitet gewesen ist und alle am Tisch Platz genommen hatten. Und wenn er an den Strand gehen wollte, dann ging er an den Strand. Meine Mutter brachte sein Handeln immer aus der Ruhe. Es war bereits nachmittags, wir waren an den Ostseestrand gegangen und ich saß mit meinem Vater am Wasser und baute eine Sandburg. Groß sollte die Wasserburg sein. Reichlich Wasser sollte durch die einzelnen Wasserwege gespült werden. „Du nimmst einfach zu viel Wasser, dann kann der Sand auch nicht kleben.“ Die braunen Augen meines Vaters wurden leuchtend. „Nehme ich nicht“, stampfte ich auf. „Das sehe ich.“ Mein Vater schüttelte den Kopf. Und schwups, war wieder mein Abschnitt der Burg zusammengefallen. Wütend schaute ich hinaus zum Meer. Ich bockte. Wieso sollte ich jetzt noch weiter bauen? Mein Vater muss es bemerkt haben. „Komm, wir gehen eine Runde schwimmen.“ Er reichte mir seine Hand, die ich dankend annahm, und zog mich hoch. Über dem Wasser funkelten kleine Perlen. Die Sonne war leuchtend. Ich lief ins Wasser und mein Vater hob mich aus dem Wasser und warf mich dann zurück ins Meer. Mit einmal hörte ich, während ich tauchte, Geräusche. Es war wie ein Klopfen. Als ich auftauchte und meinen Vater ansah, lächelte er. Ich konnte es damals nicht deuten. „Was ist?“, fragte er. „Papa, im Wasser gibt es Geräusche.“

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„Was denn für Geräusche?“ „So ein Klopfgeräusch.“ „Unmöglich, wo soll es denn herkommen?“ Er tauchte mit mir in das Wasser. „Mhm, ich höre nichts.“ Ich tauchte und hörte das Klopfen erneut. Tauchte auf, erzählte es ihm und er hörte erneut nichts. Dann, als ich erneut tauchte, sah ich seine Hände. Wie sie 2 Steine zusammenstießen. Also tauchte ich aus dem Wasser auf und haute leicht auf seinen Bauch. „Du bist gemein, du hast mich verarscht.“ „Wenn du so dumm bist und so lange brauchst, es zu bemerken, dann ist es nicht meine Schuld.“ Er grinste mich wie immer an. Andere Kinder hatten bemerkt, welchen Spaß ich mit meinem Vater hatte. Sie schauten interessiert zu uns herüber. Ich bemerkte es und rief sie zu uns. „Hier klappert etwas. Wir können aber nicht sagen was es ist. Wollt ihr es auch hören?“ Die Kinder näherten sich uns und tauchten ebenfalls. Ich kann mich noch an ihr fragendes Gesicht erinnern. Immer und immer wieder tauchten sie unter und mein Vater klopfte mit den Steinen. Dann endlich, als ein Vater der Kinder auftauchte, bemerkte ein Mädchen, dass mein Vater sie veralbert hatte. Aber so war er. Und so sind meine schönen Erinnerungen an meine Kindheit. An das sich unbeholfen-bewegen-Können. Sich in seiner Haut wohlfühlen-Können. So darf ein Kinderleben sein. Nein, so muss ein Kinderleben sein. Es gab so schöne Momente, an die ich mich erinnere. Im Sommer spielte ich mit meinen Eltern und deren Freunden immer Federball. Nach dem Spielen gingen die Erwachsenen oft etwas trinken oder ein Eis essen und wir tobten weiter. Ich tobte so sehr, dass ich ausgepowert war. Mich durfte jeder in den Arm nehmen, ohne dass ich vor Schmerzen aufschrie. Meine Beine waren leicht. Und wenn es mal blaue Flecken gab, dann nur weil ich mich gestoßen hatte. Diese unbeholfene Zeit. Dieses einfache Leben ist es, das ich so sehr vermisse.

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Für jede junge Frau kommt einmal der Tag, an dem man sich als Mädchen von der Kindheit in die Erwachsenenwelt verabschieden muss. Meine Periode setzte sehr früh ein. Und mein Körper veränderte sich. Aber ich sah nicht wie eine Jugendliche aus. Sondern hatte eher Ähnlichkeit mit einer jungen Frau. Bei mir wurden die Oberschenkel kräftig. Während meine Arme und mein Oberkörper sehr schlank waren, wurden meine Beine immer kräftiger. Ich spürte einen starken Druck in meinen Beinen. Sie fühlten sich schwer an. Mit dem Wachstum meiner Beine reduzierte sich auch mein Selbstbewusstsein. Anfangs ignorierte ich noch einige Bemerkungen, aber mit der Zeit setzten mir die verletzenden Sprüche

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doch arg zu. Ich zog mich langsam aber sicher, damals noch unbemerkt, zurück. Traf ich mich früher noch täglich mit meinen Freundinnen, so suchte ich später immer öfter nach Ausreden, um nicht mit ihnen in die Öffentlichkeit gehen zu dürfen. Es kam die Zeit, wo die Schüler und Schülerinnen ganz selbstverständlich zur Tanzschule gingen. Ich aber weigerte mich. Meine Beine taten mir weh, waren bereits damals schwer und peinlich war mir das Tanzen auch. Immerhin bedeutet Tanzen, sich zu bewegen. Bewegen und Beine zeigen. Etwas total Unangenehmes somit. Und schließlich kam der Tag, an dem ich von einem Klassenkameraden gefragt wurde, ob ich mit ihm gemeinsam zur Tanzschule gehen würde. Mein Herz fing an zu klopfen. Ich freute mich riesig. Aber zugleich bekam ich Angst. Ich und tanzen? Mich zeigen in der Öffentlichkeit? Unmöglich. Obwohl ich tanzen wollte, sagte ich bei der Tanzschule ab. Gab meinem Klassenkameraden einen Korb. Abends lag ich in meinem Zimmer und weinte heimlich. Später musste ich mir in der Schule die Schilderungen von meinen Klassenkameradinnen anhören, wie schön doch der Tanzkursus wäre. Und wenn ich nachmittags in meinem Bett lag, dann träumte ich, ich würde auch tanzen können. Ich weiß noch, dass ich oft die Musik laut anstellte und mich vor dem Spiegel meiner Eltern in deren Schlafzimmer stellte. Dann vergaß ich die Zeit und fing an zu tanzen. Ich stellte mir vor, dass ich schön wäre. Ich band mir meine langen Haare zusammen und stellte mich wie eine Ballerina auf die Zehenspitzen. Dann hampelte ich wieder wild herum und freute mich daran, mich so gut bewegen zu können. Ich träumte mir die Welt schön. Die wirkliche Welt war grausam für mich. Es tat so weh. So unendlich weh. Meine Freundin Sigrid kannte solche Probleme nicht. Sie war dunkelhaarig, schlank und voller Energie. So sehr ich auch ab und an neidisch auf ihre Beine schaute, tauschen wollte ich aber nicht mit ihr. Sigrid litt unter Neurodermitis.

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Ihre Arme waren dunkelrot und blutig. Ständig war sie dabei, sich zu kratzen. Es sah wirklich nicht mehr gut aus. Eines Tages trat sie an mich heran. „Peti, ich glaube ich bin verliebt.“ „Wie heißt er, kenne ich ihn?“ Nun war es also soweit. Wir fingen an, uns zu für Jungs zu interessieren. „Ralf, er heißt Ralf und er geht auf das Gymnasium.“ „Okay“, sagte ich, „dann muss ich ihn doch kennen, zeig ihn mir mal.“ Nun war ich neugierig geworden. In der nächsten Pause schnappte mich Sigrid und wir gingen gemeinsam zu ihm. Er hatte dunkelbraune Haare, braune Augen und trug, oh je, einen beigen Cordblazer. Schrecklich, dachte ich, wie kann jemand in seinem Alter nur solch einen Blazer tragen? Aber irgendwie passte der Blazer zu Ralf. Während Sigrid wild mit den Armen um sich warf und ständig kicherte, beobachtete ich Ralf. Er lächelte ab und an meine Freundin an aber nicht, ohne mir ein Lächeln zu schenken. Ich wurde verlegen. Und war irritiert. Sigrid war happy. Ralf hätte sich auch in sie verliebt, behauptete sie und schritt mit großen Schritten an meiner Seite in Richtung unserer Klasse. Bereits am nächsten Tag stand sie strahlend vor mir. „Ich gehe wieder zu Ralf, kommst du mit?“ Ich nickte, wieso nicht mitgehen, ohne Sigrid würde ich sowieso nur dumm herumstehen und von den anderen schief angeschaut werden. In der nächsten großen Pause gingen wir dann in den Bereich der „Großen“, wie wir es nannten. Dort stand Ralf, inmitten seiner Freunde. Einer der Jungs schaute zu uns rüber und sagte etwas zu ihm, sodass er seinen Kopf drehte und zu Sigrid und mir schaute. Ich kam mir vor wie auf einem Laufsteg. Fühlte mich total beobachtet und zog verlegen an meiner Kleidung. Sigrid hingegen schritt stolz und kichernd an meiner Seite voran. „Hallo Ralf, na du …?“

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Ralf aber beachtete Sigrid kaum, er schaute tief in meine Augen und streckte seine Hand aus. „Hallo, schön, dass du auch da bist.“ Mir stockte der Atem. Ralf begrüßte zuerst mich und nicht Sigrid. Ich wusste nicht, ob ich die Hand von Ralf ergreifen sollte. Dann gab ich mir einen Ruck und streckte ihm meine entgegen. Ralf drückte meine Hand sehr fest und schaute mich, ohne eine Miene zu verziehen, lange an. Ich wollte bereits meine Hand zurückziehen als er noch fester zudrückte. Sigrid war verunsichert. Ihr breites Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie starrte mich mit offenem Mund an. Die Zeit schien für einen kurzen Moment still zu stehen. Ralf ließ endlich meine Hand los. Und ich konnte einige Schritte zurück treten. Verunsichert durch diese Situation blickte ich kurz zu Sigrid und schließlich in den Schulhofbereich. Neben Ralf stand Tim. Tim und Ralf waren seit Jahren miteinander befreundet. Tim war ein circa 1.90 m großer, hagerer Typ. Er trug bereits einen auffälligen langen Bart und seine welligen, hellen Haare sahen stets so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen. Seine tiefblauen Augen blitzten stetig auf. Während er mich, ohne eine Miene zu verziehen, stumm anschaute, vergrößerten sich ab und an nur seine Pupillen. Es war mir nicht möglich, aus seiner Mimik etwas herauszuinterpretieren. Sein selbst gestrickter Pullover hing an seinem Körper wie ein nasser Sack. Seine Jeans hatten Löcher und seine Zähne hatte er mit Sicherheit die letzten Monate nicht mehr geputzt. Vielleicht war dies auch der Grund weswegen er nie viel sprach. In dieser Pause hörte ich nicht mehr dem Gespräch von Sigrid und Ralf zu. Ich entschloss mich, einfach nicht mehr zuzuhören. Viel zu sehr war ich mit Tim beschäftigt. Ihn aus seiner Beobachtungsphase herauszuholen. Als wir gingen, bemerkte ich den traurigen Blick von Sigrid. Offenbar war das Gespräch zwischen ihr und Ralf nicht so gut gelaufen wie sie es sich vorgestellt hatte. Immerhin hatte ich nicht zugehört und mich von beiden abgewandt.

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Ich versuchte sie zu einem Gespräch zu überreden, aber leider gelang es mir nicht. Es war still geworden. Auf dem Rückweg sprachen wir kein Wort. Sigrid schaute zu Boden. Ihre Hände waren feuerrot. Auch die Verabschiedung nach dem Unterricht fiel ziemlich kurz aus. Am nächsten Tag fragte mich Sigrid, ob ich wieder mitkommen würde, um Ralf zu besuchen. Ich schüttelte den Kopf und trat einen Schritt auf Sigrid zu. „Mir geht es nicht gut, gehe du mal alleine.“ „Du bist keine gute Lügnerin.“ Sigrid schaute mir traurig in die Augen. „Sei so lieb und komme mit, es ist mir wichtig.“ Ich kann mich noch erinnern, dass ich an meiner Kleidung zupfend neben ihr her ging. Ihr Gesicht war nicht mehr so entspannt wie die Tage vorher. Wir sprachen kaum. Und wieder zupfte ich an mir herum. Der Pullover wollte einfach nicht so sitzen wie er sollte. Mein Po war für den Pullover einfach zu dick. Obenherum trug ich ihn schon weiter, sodass ich mich fasst darin verstecken konnte. Und im Pobereich spannte er leicht. Ich ging hinter Sigrid. Mit Absicht, wollte ich doch, dass Sigrid und Ralf sich heute als erstes begrüßen würden. Wie immer stand Tim neben Ralf. Die anderen Jungs, die mit Ralf gesprochen hatten, gingen in eine andere Richtung. Und beachteten uns nicht. Und wieder zupfte ich an meinem Pullover. Tim sah mich an, musterte kurz meine Handlungen und atmete tief ein. Ich schaute ihn mir näher an. Heute trug er einen noch auffälligeren Strickpullover als sonst. Zu meiner Verwunderung hatte jetzt nicht nur die Jeans Löcher, nein, nun auch der Pullover. Aber irgendwie passte es zu ihm. Dieser Bart, der ungepflegt und kurz zusammen gebunden war, und dann diese Nase. Sehr lang und mit einem Höcker. Aber gerade diese Nase war es, die zu ihm und seiner Persönlichkeit passte. Nun standen sich Sigrid und Ralf gegenüber, Sigrid reichte Ralf voreilig die Hand und begrüßte ihn, für ihre Verhältnisse, schon

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recht schüchtern. Ralf wollte Sigrid gerade die Hand entgegenstrecken, als er seine Hand zurückzog. Sigrid war verunsichert. Tim schaute mit fragendem Blick zu Ralf. Ich sah auf Sigrids Hände. Sie waren blutig. Ihre Haut war an den Knöchel aufgesprungen. Aus den Rissen blutete es. Wie Pergament spannte sich die Haut über ihre Hände. Mir schoss sofort in den Kopf, welche Schmerzen sie haben müsste. Und trotzdem reichte sie Ralf die Hand. Und nun zog dieser Typ auch noch seine Hand zurück. Ich wollte mich gerade abwenden, da ergriff Ralf meine Hand und begrüßte mich. Ich schüttelte den Kopf, entzog ihm meine Hand, drehte mich, am Pullover zupfend, zur Seite und schritt mit schnellen Schritten in Richtung Schulgebäude. Ich war verunsichert, wie sollte ich mich gegenüber Sigrid verhalten, wenn Ralf und ich uns begegnen? Sigrid entschied für uns. Sie kam zurück in die Klasse, setzte sich neben mich und sagte gelassen: „Ralf kann mir gestohlen bleiben. Der ist für mich gestorben.“ Ich wusste nicht was ich sagen sollte und schwieg. Als der Unterricht zu Ende war, stellte sich Sigrid mir in den Weg. „Kann es sein, dass ihr beide euch mögt?“ Sigrids Frage war wie eine Ohrfeige für mich. Ich hatte zwischenzeitlich an mir selbst bemerkt, dass ein gewisses Herzklopfen einsetzte wenn ich ihn sah. Aber ich wollte es nicht wahrhaben, immerhin waren Ralf und meine Freundin auf dem guten Weg, eine Beziehung einzugehen, wie Sigrid es nannte. „Ich weiß nicht was du meinst.“ Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht stieg. „Du weißt nicht was ich meine, komm stell dich bitte nicht dümmer als du bist …“ Sigrid stellte sich vor mich hin und stemmte ihre Hände in ihre Hüften. Dabei schaute sie mir fest in meine Augen. Ich entschied mich, besser gar nichts mehr zu sagen. Dann setzte ich einen Schritt zur linken Seite und ging an ihr vorbei. Und schließlich verließen wir beide den Klassenraum ohne ein Wort weiter ausgetauscht zu haben.

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