Führung schafft Vertrauen JJ - Familylab

die persönliche Integrität derer, die sie führen, als auch die eigene nicht zu verletzen. Jede und jeder im Rudel zählt.“ Müsste der der demokratische. Staat nicht ...
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Führung schafft Vertrauen ein Gespräch mit Jesper Juul über sein neues Buch „Leitwölfe sein“ FORUM: Herr Juul, in Ihrem neuen Buch prägen Sie den Begriff der liebevollen
Führung und skizzieren eine Führungsrolle, bei der eine auf Rollen
basierende Autorität durch eine persönliche Autorität ersetzt wird. Es gibt ja schon Konzepte, die auf die „natürliche Autorität“ oder eine „neue Autorität“ abheben - was ist anders oder neu an Ihrem Begriff der persönlichen Autorität? Wie können Eltern sich persönliche Autorität aneignen? Jesper Juul: „Es gibt eine Menge Ansätze, die gelingende Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern beschreiben und die, die ich kenne (es gibt wahrscheinlich auch welche, die ich nicht kenne), haben gemeinsam, dass sie oft meinem Ansatz ähneln, aber häufig den springenden Punkt vermissen lassen, der nicht nur in der Betrachtung des Selbstwertes des Erwachsenen liegt, sondern in einem wechselseitigen Prozess, der Kindern und Erwachsenen erlaubt zu wachsen und sich persönlich und sozial weiter zu entwickeln. Die grundlegenden Führungsfähigkeiten sind für Eltern und Professionelle dieselben, wenngleich ihre Ziele oft sehr verschieden sind. Wie wir es auch drehen und wenden, ist es ein bekanntes Faktum, dass die Erziehung von Lehrern, Pädagogen, Psychologen u.a. nicht direkt darauf abzielt, diese Fähigkeiten bei ihren Schülern zu verbessern. Diese Professionellen verlassen ihre Ausbildung mit mehr oder weniger relevanten Theorien und Methoden – die meisten davon überholt. Das bedeutet, jeder muss seine Profession nach seiner Ausbildung erlernen, was unglücklich ist, so lange er oder sie nicht regulär auf Supervision oder ältere und erfahrenere KollegInnen zurückgreifen kann. Obgleich dies die Situation ist, gibt es Fachkräfte, denen es erfolgreich gelingt, fruchtbare Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Die meisten sind sich dessen nur dummerweise gar nicht bewusst, was sie da vollbringen und ihr beispielgebendes professionelles Verhalten ist so gut wie nie Gegenstand der Forschung. Zusammen mit 50 Kollegen hatte ich die Gelegenheit, über 30 Jahre lang erfolgreiche und nicht so erfolgreiche Profis und Eltern zu untersuchen, zu supervidieren und zu unterstützen. Darunter waren hunderte Lehrer, die unter Burn-out und Depressionen usw. litten, und einige die an den Folgen psychischer oder physischer Gewalt litten. Während dieser Jahre fanden wir heraus, dass Professionelle, die (aus unterschiedlichen persönlichen Gründen) eine Therapie gemacht hatten, ihren Job viel besser machten. Dieser Umstand ließ uns nach Wegen suchen, wie sie ihre Beziehungsfähigkeiten verbessern können, auch ohne „Klienten“ zu sein. Diesen Prozess haben wir in unserem Buch „Vom Gehorsam zur Verantwortung“ beschrieben. Die Grundbedingungen sind aber dieselben, für Eltern wie für Fachkräfte: Egal, wie viele Bücher sie gelesen haben, sie müssen die Kunstfertigkeit erlernen, gelingende Beziehungen mit jedem einzelnen Kind zu führen und anzuführen.“



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Sie sagen, aufgrund des zu großen Machtunterschiedes können Eltern und Kinder nicht gleichberechtigt sein. Erstrebenswert sei es aber, Gleichwürdigkeit in der Beziehung anzustreben, auch weil so am besten lebenslang voneinander gelernt werden kann. Wie gestaltet sich das in professionellen pädagogischen Kontexten ihrer Meinung nach? „Es ist viel einfacher, als die meisten Fachkräfte meinen. Sie müssen es nur anstreben und ein paar Mal erfolgreich sein, dann wird es ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Der Grund ist, dass Erfolg Erfolg hervorbringt. Und auch hier ist der Austausch mit Kindern und Jugendlichen die Quelle des Lernprozesses. Er beginnt damit, dass Erwachsene ihre Fehlbarkeit zeigen und Kinder zu einem Feedback auf die Frage auffordern: „Ich habe wohl etwas falsch gemacht im Umgang mit dir. Hilfst du mir herauszufinden, was?““ Durch die ganztägige Bildung und Betreuung unterliegen Kinder und Jugendlichen einem immer stärkeren „Normierungsdruck“. Kinder und Jugendliche, die da nicht „in der Reihe tanzen“, sich nicht an die Regeln halten, werden schnell aussortiert. Durch zum Teil widersinnige, zumindest aber stigmatisierende Regel- und Sanktionssysteme wird versucht, den Normbetrieb aufrecht zu erhalten. Regelverstöße führen zu Ausgrenzungen, diese ziehen weitere Regelverletzungen nach sich, wir kennen zahlreiche Fälle solch destruktiver Eskalationsspiralen z.B. zwischen Lehrern und Schüler_innen. Wie beurteilen Sie diese Normierungs-Entwicklung des schulischen Ganztages in staatlicher Obhut? „Diese Beschreibung ist sehr zutreffend, das ist sehr verbreitet. Und es wird sich nicht ändern solange Fachkräfte nicht mutig genug sind, öffentlich zu formulieren, welche Umstände das Gelingen ihrer Arbeit behindern. Diese unglückliche Dynamik ist sehr alt und kein Resultat heutiger Weltanschauung. Es war schon so, als ich 1970 begann, mit „verhaltensgestörten“ Kindern zu arbeiten. Die Kinder werden immer noch für die Inkompetenzen der Erwachsenen verantwortlich gemacht, ob es nun Eltern oder Fachkräfte sind. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Fachleute einen verantwortlicheren ethischen Standpunkt in der lokalen und nationalen Debatte einnehmen.“ Ihre Ideen und Produkte scheinen stark an eine bildungsorientierte Mittelschicht adressiert zu sein, ihre Bücher und Seminare werden von, wie Sie sagen „konstruktiv-nachdenklichen“ Mittelschichtseltern dankbar angenommen. Sie bilden allerdings nur einen Teil der gesellschaftlichen „Erziehungsrealität“ – in Deutschland wachsen beispielsweise ein Viertel aller Kinder in Armut auf. In unseren Jugend- und Familieneinrichtungen sind Kinder und Familien aus diesem Gesellschaftssegment stark vertreten. Sie haben keine Möglichkeit, ihre Bücher zu kaufen oder Seminare zu besuchen, sondern sind, wenn sie staatliche Hilfen in Anspruch nehmen,



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immer häufiger mit Praktiken konfrontiert, in denen sie wenig gehört und beteiligt, sondern eher bevormundet und kontrolliert werden. Sie stellen die These auf, „Leitwölfen in einer modernen Gesellschaft geht es darum, sowohl die persönliche Integrität derer, die sie führen, als auch die eigene nicht zu verletzen. Jede und jeder im Rudel zählt.“ Müsste der der demokratische Staat nicht eigentlich auch eine Leitwolf-Position einnehmen? „Alle Erfahrungen, die ich in „Dein kompetentes Kind“ beschrieb, waren mit Unterschichtsfamilien – Familien, deren Kinder in Jugendhilfe oder Pflegefamilien fremduntergebracht waren. Sehr wertvolle Erfahrungen haben wir außerdem mit Gruppen alleinerziehender Mütter gemacht, mit denen wir über 3 Monate 6 Stunden täglich arbeiteten und jede einzelne über weitere 3 Jahre betreuten. Die Einführung unserer Werte und Prinzipien in Familien, in denen die Eltern keine Bücher lesen oder Seminare besuchen ist nur möglich durch engagierte Pädagogen, Familienberater, Lehrer oder Therapeuten. Die Mehrheit dieser Eltern ist hochmotiviert bei der Sache, weil sie jeden Tag erfahren, dass ihre Art der Führung nicht funktioniert. Der Weg zu diesen Eltern führt jedoch nicht über kurze und längere Vorträge über Kindererziehung. Sondern über Aufbau von Vertrauen, Respekt und Motivation im Miteinander mit ihnen, im Vertrauen darauf, dass sie ihr Bestes geben, sie soweit zu respektieren darin übereinzustimmen, dass ihr Bestes für keinen gut genug ist, und hochmotiviert zu sein in dem Bemühen, einen wechselseitigen Arbeitsraum mit ihnen und ihren Kindern zu finden. Wenn wir an die Gesellschaft als Ganzes denken ist es jedoch eine weithin anerkannte Tatsache, dass diese Art von Wandel eher von der Mittelklasse ausgeht als den unteren Schichten. Mit Achtung vor der Gemeinschaft ist es Eltern absolut möglich sich gegen diesen Mainstream des Denkens und Handelns zu richten, aber es wäre weit aussichtsreicher, wenn unsere „Beziehungsphilosophie“ auch „akademische Wirklichkeit“ würde. Das geschieht langsam. Mehr und mehr Studien werden durchgeführt und Texte verfasst in allen Humanwissenschaftlichen Feldern. Ich bin außerdem davon überzeugt, dass die kompetenten Kinder von heute hart an einem neuen politischen Paradigma arbeiten werden, im Zuge ihres Aufwachsens. Seit 40 Jahren halte ich Vorträge, mache Weiterbildung und Supervision und schreibe und kann es manchmal gar nicht glauben, wie sehr unser Denken über Kinder sich gewandelt hat.“ Jesper Juul: Leitwölfe sein – Liebevolle Führung in der Familie. 2016, Weinheim. BELTZ-Verlag. 210 Seiten. ISBN 978-3-407-86404-8, € 16,95.



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