Sigrid Lenz
EIN HOCH AUF DIE WEIBLICHKEIT Roman © 2010 AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbe‐ schränkt) Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin Telefon.: +49 (0)30 565 849 410 Email:
[email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2010 Lektorat: Hans Lebek, Berlin Covergestaltung Tatjana Meletzky Printed in Germany ISBN 978‐3‐86254‐048‐8 .
Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 4
Er war schon lange kein Junge mehr. Er war ein Mann, fast vierzig Jahre alt. Und sein Erinne‐ rungsvermögen zählte noch nie zu seinen stärks‐ ten Vorzügen. Kein Wunder, dass er sich kaum an seine Mutter erinnerte. Und wenn er ehrlich war, so fürchtete er, dass er sich auch nicht erin‐ nern wollte. Gingen diese Erinnerungen doch immer wieder einher mit unangenehmen Aus‐ setzern. Nein – besser war, er vergaß das Ganze, schob es soweit von sich weg, wie er konnte und war‐ tete ab. Wartete ab, bis ihm dies nicht mehr ge‐ lang und die Welten über ihm zusammenbra‐ chen. „Ein merkwürdiger Fall.“ Elena schüttelte ihren Kopf, teils aus Missmut über die ihr zugemutete Arbeit, teils aus der immer wieder neu auftretenden Verwunderung, die sie im Verlauf ihrer Ermittlungsarbeiten überfiel. Der Kollege warf ihr einen verständnis‐ vollen Blick zu. Konstantin war schon erheblich länger im Dienst. Auch wenn es sich bei Elena 5
beileibe um kein unbeschriebenes Blatt handelte, so hatte er ihr doch an Erfahrung und bereits Ge‐ sehenem einiges voraus. „Das sind sie immer“, brummte er und bückte sich, um mit seiner Pinzette einen Fussel vom Teppich zu sammeln und sorgsam in eine Plas‐ tiktüte zu verpacken. Vergebliche Liebesmüh, soviel war klar. Aber nichtsdestotrotz sollten sie sich wenigstens den Anschein geben, als fassten sie mehrere Spuren ins Auge. „Was ist das?“ Elena kniff die Augen zusammen, als sie vor‐ sichtig die Tür zu einer Abstellkammer aufschob, die sich mit einem auffallenden Quietschen ge‐ gen den Angriff zu wehren schickte. Sie rümpfte die Nase, als ihr eine Wolke Staub entgegen stieg. „Um Himmels Willen“, murmelte sie und schickte Konstantin einen verzweifelten Blick. Dieser verzog den Mund zu einem kurzen Lächeln, drängte sich dann an ihr vorbei und mit Hilfe des Einsatzes seines Körpergewichtes 6
gelang es ihm, die Tür vollkommen aufzustoßen. „Was für ein Haufen“, seufzte er, als er die Pa‐ piere erblickte, die sich entlang der Wände auf‐ stapelten. „Ein Zwangscharakter“, vermutete Elena. „Je‐ mand, der nichts wegwerfen konnte.“ „Zumindest keine Papiere“, ergänzte Konstan‐ tin. „Der Rest der Wohnung wirkt sorgfältig ge‐ pflegt.“ Elena betrat den Raum, nahm ein paar Blätter auf und runzelte die Stirn. „Keine Zeitungen. Of‐ fenbar Notizen.“ Sie nieste, als das Anheben eines weiteren Sta‐ pels noch mehr Staub aufwirbelte. „Sinnloses Kauderwelsch. Ob uns das weiterhilft?“ Konstantin zuckte mit den Schultern. „Irgend‐ jemandem wird es weiterhelfen. Zur Not dem Polizeipsychologen.“ „Hier!“ Elena nahm einen Schnellhefter aus dem Regal. „Manches ist getippt.“ Ihr Blick fiel auf die Schreibmaschine in der Ecke. „Das dürfte es zumindest einfacher machen.“ 7
Sie reichte ihrem Kollegen den Hefter, der ihn kritisch beäugte und dann damit den dämmri‐ gen Raum verließ. „Ich schicke den Fotografen“, sagte er über die Schulter und stöhnte. „Sollte mich nicht wun‐ dern, wenn der Papierkram wieder an uns hän‐ gen bleibt. Und das meine ich in doppelter Hin‐ sicht.“ Kopfschüttelnd betrachtete Elena die unzähli‐ gen aufeinandergestapelten und durcheinander flatternden Blätter, die jeden freien Zentimeter des Raumes bedeckten, hob wahllos eines auf und überflog es rasch. Obwohl zufällig ergriffen trug der Text doch Titel und sogar Kapitelbe‐ zeichnung. Sie begann zu lesen. 8
Kapitel 1 Die Schwindelei Dass Lügen nichts bringt, musste ich schon vor langer Zeit lernen. Es bringt nichts, weil früher oder später, jedoch unweigerlich jemand aus dem Nichts auftaucht, und aufdeckt, was nicht aufgedeckt werden sollte. Um sich dann herauszureden, ist es notwendig, ein geübter und erfahrender Lügner zu sein, möglichst jemand, der sich von Kindheit an in dieser Kunst trainiert. Ein Anfänger wie ich hat auf diesem Gebiet nicht die geringste Chance. Nicht die geringste Chance, aus der Sache heil herauszukommen. Heil, oder zumindest mit einem lediglich ange‐ kratzten Ruf. Nicht so, wie es mir widerfährt. Da sieht das Ergebnis am ehesten aus, wie ein Berg an Peinlichkeit und Schande, der sich über mir ausschüttet, mich überschwemmt mit ekelhaft zählflüssiger Substanz, gegen die jede Lava ein Vergnügen wäre. 9
Nicht, dass ich mir um meinen Ruf größere Ge‐ danken zu machen brauchte. Das ist nicht not‐ wendig, ist es mir doch gelungen, jenen bereits vor vielen Jahren zu zerstören. Umfassend und gründlich, wie es nur jemand schafft, der kein Fettnäpfchen auslässt und in jede Peinlichkeit hineinstolpert, sei sie auch noch so weit entfernt. Möglicherweise liegt darin auch der Grund be‐ graben, zumindest ein Teil davon. Der kärgliche Rest an Ansehen, den ich mir selbstverständlich hauptsächlich einbilde, der mir aber dennoch den Mut verleiht, hinauszutre‐ ten in die feindliche Welt – jenen Rest zu erhal‐ ten, ist mir manchmal dann doch wichtiger, als meinem Vorhaben der unbedingten Ehrlichkeit treu zu bleiben. Nicht, dass ich direkt lügen würde – nein – ich schwindele höchstens… ein wenig. Ich verdrehe mir die Realität, bis so aussieht, dass ich um ei‐ nen Bruchteil besser dastehe, als ich normaler‐ weise dastände. Nur ein bisschen – ein ganz klein wenig. 10
Zu dumm nur, wenn man mir doch letztendlich und unwiderruflich auf die Schliche kommt. Zu dumm nur, dass ich immer wieder feststellen muss, dass Lügen nichts bringt. Zumindest mir nicht. * Elena legte das Blatt wieder ab und seufzte. „Wir packen es zusammen und wühlen uns auf dem Revier durch. Ich fürchte fast, dass uns letztendlich nichts anderes übrig bleibt.“ Sie seufzte wieder, dankte jedoch im Stillen ih‐ rem guten Stern, der sie dazu verleitet hatte, sich in der Fähigkeit des Querlesens auszubilden. Der Himmel wusste, dass die Leute dieser Tage an‐ scheinend nichts anders konnten, als jeden noch so absonderlichen Gedanken zu Papier zu brin‐ gen. 11
Kapitel 2 Das Körperliche Wie herrlich ist es doch, eine Frau zu sein. Die‐ ses großen Glückes war ich mir schon bewusst, als ich noch zur Schule ging, selbstverständlich in eine gemischte Klasse. Schon damals versuchte ich abzuwägen, worin der Vorteil bestand, wer das bessere Los gezogen hatte – Mädchen oder Junge. Und dummerweise existierte nie auch nur der geringste Zweifel an meiner Schlussfolgerung. Ganz im Ernst: Ist das ein Wunder? Schon in jungen Jahren beginnt sich die Schere zu öffnen, und spätestens mit dem Eintritt in die Pubertät lassen sich die Nachteile nicht mehr bestreiten. Denn wer wählte freiwillig monatli‐ che Übelkeit, Bauchkrämpfe, die Gedanken an ein sich im Unterleib herumdrehendes Messer nicht mehr erschrecken lassen, Stimmungstiefs und nicht zu vergessen: Die Unpässlichkeit, die einher geht mit dem immensen Kostenaufwand, 12
den Frau betreiben muss, um nicht ihre Klei‐ dungsstücke mit verräterischen dunkelroten Fle‐ cken zu verzieren. Zu den Ausgaben, welche die Gesellschaft einer Frau grundsätzlich abverlangt, gehören demnach in erster und unumstößlicher Linie diverse Hygieneartikel, an denen Mann mit einem spöttischen, vielleicht sogar überheblichen Lächeln im Gesicht vorbeigehen darf. Lassen wir beiseite, dass Frau schön sein sollte, und dass Schönheit nicht billig ist. Kosmetika, Friseurrechnungen,
Haarfärbeprodukte
und
möglichst geschmackvolle Kleidung gehören zum Pflichtprogramm. Variablen wie Diätpro‐ dukte oder seit jüngster Mode auch gerne die ei‐ ne oder andere Schönheitsoperation lassen sich vielleicht umgehen, doch mit der monatlichen Hygiene ist nicht zu spaßen. Sie kommt von Kindheit an mit geradezu nerv tötender Gleich‐ mäßigkeit immer wieder, setzt lediglich aus, wenn man sie für ein „größeres Übel“ eintauscht. Denn ob die Leiden einer Schwangerschaft, selbst wenn diese im Großen und Ganzen prob‐ 13
lemlos verläuft, sich aufwiegen lassen mit der obligatorischen Woche Ärger im Monat, ist noch nicht geklärt. Auf die Statistik wäre ich neugie‐ rig, darf man doch auch Risiko und Schmerzen einer Geburt nicht vollkommen außer Acht las‐ sen, sowie die Verpflichtung, sich für einige Jahrzehnte um das kleine Wesen zu kümmern, das in die Welt gesetzt wurde. Inwieweit Mann eine Hilfe ist, liegt doch in weiten Teilen bei den Herren der Schöpfung, und trotz aller Bemühungen um Gleichberechti‐ gung zieht er es doch zumeist vor, sich in den Kampf ums Dasein zu stürzen, als sich dem Kampf mit dem eigenen Kind auszusetzen. Einzige Alternative zur Schwangerschaft ist je‐ ne gesegnete Zeit, in welcher der natürliche Lauf der Zeit die Menstruation beendet. Nur habe ich mir sagen lassen, und vermutlich werden mir sehr viele erfahrene Damen zustimmen, dass auch diese Phase in keinster Weise ein Zucker‐ schlecken ist. Denn der langsame Auslauf der Gebärfähigkeit des Körpers ist genau dieses… 14
ein langsamer Auslauf. Neben Hormonumstel‐ lungen, Hitze‐ und Kältewallungen, sowie Unzu‐ länglichkeitsgefühlen, gewürzt mit einer guten Dosis Depression, bleiben uns also die Ausga‐ ben, die uns ein gewisser Hygieneanspruch auf‐ erlegt, erhalten. Halten wir fest, dass Frau mehr bezahlt, aber immer noch weniger verdient. Weil unter Um‐ standen dann doch das Risiko besteht, dass sie in gemütlichen Mutterschaftsurlaub geht, eine Zeit, in der Freude, Frieden und Mutterglück das Le‐ ben bestimmen und die somit alle Opfer, wie künftige Gehaltskürzungen oder auf immer ver‐ lorene Arbeitsplätze, wert sind. Heißt es. Nun gut, in der Jugend steckt die Frau oder besser gesagt das Mädchen noch voller Hoff‐ nungen und Träume. Es wünscht sich nichts mehr, als in den Rahmen zu passen, ein Leben zu führen, wie ihr Umwelt und Medien als ideal vorgaukeln. Und vielleicht ist es sogar zeitweise ziemlich lustig, sich mit glitzerndem Mode‐ 15
schmuck zu behängen, die eigene Weiblichkeit zu Markte zu tragen und ein ausgewähltes Ex‐ emplar der Spezies Mann anzuhimmeln. Je nachdem auch auszutricksen, mit ihm zu spie‐ len, die wenigen Vorteile ausnutzen, die sich bie‐ ten. Ist es das wert? Vielleicht, wenn diese Leiden‐ schaft der Frau mit in die Wiege gelegt wurde. Eher nicht, wenn man zufällig einen Charakter besitzt, dem Spielereien wie die oben erwähnte nach einem gewissen Maß an Zeit und Aufmerk‐ samkeit zu langweilig – ich will nicht sagen zu oberflächlich erscheinen. Wo trägt also der Mann seinen Part an den vom Schicksal so großzügig verteilten Nachteilen? Als Mädchen konnte man mir noch weisma‐ chen, dass die Notwendigkeit der täglichen Ra‐ sur ein ausgleichendes Gegengewicht darstellt. Was muss Mann sich auch quälen. Man stelle sich vor, einen Rasierapparat kaufen, vielleicht sogar die Zutaten zur Nassrasur. Was für ein Ärger! 16
Wenigstens
verursacht
die
Rasur
keine
Schmerzen. Allerdings tut sie das, wenn Frau mit ihren ma‐ sochistischen Tendenzen sich der Sache an‐ nimmt. Denn, dass Frau sich nicht rasieren muss, ändert sich früher oder später so sicher wie das Amen in der Kirche. Und heutzutage eher frü‐ her, wenn bereits 13‐jährige Mädchen sich die Bikini‐Zone wachsen lassen. Genau – Frau rasiert nicht, sich foltert sich mit Heißwachs. Sie zupft Augenbrauen und be‐ kämpft jeden Haarwuchs intensiver als Mann es jemals täte. Denn Mann ist zielstrebig. Er weiß, wo er hin will und hält sich nicht damit auf, sich selbst auf eine Blüte zu dekorieren und mehr o‐ der wenig geduldig abzuwarten, bis diese ge‐ pflückt wird. Das ist so, und es wird auch so bleiben, solange es nirgendwo ein graues Haar gibt, außer im Se‐ niorenheim, solange unvorstellbare Summen für unnötige Schönheitsprodukte ausgegeben wer‐ den und solange Mädchen aufwachsen mit Fil‐ 17