Roter.Faden.fuer.Beginner.1.TL.de


258KB Größe 2 Downloads 17 Ansichten
Der Rote Faden

Erster Teil Den Faden aufnehmen

Eine Einführung in die Kontemplation der Vier Grundlegenden Gedanken mit einfachen Meditationsübungen

Unterweisungen von Lama Lhündrub zusammengestellt in Anlehnung an den Kostbaren Schmuck der Befreiung von Gampopa

NAMO GURU. NAMO BUDDHA. NAMO DHARMA. NAMO SANGHA. Der Rote Faden beabsichtigt, ein Leitfaden auf dem inneren Weg zu sein, der dabei hilft, sich durch die verwirrende Vielfalt der Dharma-Literatur hindurchzufinden und das Gelesene in der persönlichen Praxis zum Leben zu erwecken. Dieser erste Teil richtet sich an Menschen, die den Lehren Buddhas aufgeschlossen gegenüberstehen und die einen Einstieg in die Dharmapraxis suchen. Im Folgenden werden einige Gedankengänge und Kontemplationen erläutert, die uns diesen Einstieg erleichtern können. Jeder wichtige Gedankengang wird durch Übungen vertieft. Diese können uns un­ ter anderem dabei helfen, die Entscheidung zu treffen, ob wir den buddhis­ tischen Weg gehen wollen oder nicht. Sie können uns auch helfen, unsere Praxismotivation zu stärken. Die folgenden Anregungen beruhen auf Erfahrungen im Unterricht der „Vier grundlegenden Gedanken, die den Geist von Samsara abwenden“, welche auch die „Allgemeinen Vorbereitenden Übungen“ genannt werden. Sie führen uns in ein Verständnis der klassischen Unterweisungen dieser Grundgedanken ein, wie sie sich in Büchern wie Der Kostbare Schmuck der Befreiung und Mahamudra, Der Ozean des Wahren Sinnes, Band 1: Maha­ mudra-Vorbereitungen (beide im Theseus Verlag) oder im Licht des wahren Sinnes (Übersetzung von Kündröl Ling) finden. Die entsprechenden Kapitel der genannten Bücher sollten begleitend zum Ausführen dieser Übungen ge­ lesen und nach Möglichkeit mit einem Lehrer der Tradition durchgespro­ chen werden. Erst dadurch erhalten diese Übungen ihre volle Kraft. Die Be­ tonung im Roten Faden liegt auf den Übungen. Für den theoretischen Hin­ tergrund müssen wir auf die genannten Werke zurückgreifen. Um den Geist auf den Dharma auszurichten, wird empfohlen, jeden Tag mit Kontemplationen dieser Art zu beginnen und zu beenden. Dharmapraxis ist eine Entdeckungsreise − jeder Tag, jede Situation, jede Meditationssitzung ist anders als alle bisherigen. Von daher sind auch diese Übungen immer wieder neu und frisch. Wir werden sie nie endgültig und für immer ausgelo­ tet haben. Bitte lassen Sie mich Ihre Verbesserungsvorschläge wissen. Spätere Ver­ sionen ersetzen die älteren − bitte verbrennen Sie die alten Versionen. Viel Inspiration! Lama Lhündrub Kopien von diesem Text sollten nur mit Erlaubnis gemacht werden. Weitere Kapitel dieses Buches sind geplant, bisher existieren aber nur der erste und der zweite Teil. Alle Rechte einer Veröffentlichung sind vorbehalten.

2

Einführung Oft beginnt unsere spirituelle Suche mit einer Krise. Doch nicht immer. Manche Menschen verspüren auch einfach den Wunsch, mehr Tiefe in ihrem Leben zu erfahren oder mehr für andere tun zu können. Jedenfalls beginnen wir irgendwann, uns Fragen über das Leben zu stellen. Diese sind zu Anfang oft noch sehr vage, und es braucht Mut, sie überhaupt ins Bewußtsein treten zu lassen. Um ein klareres Formulieren dieser Fragen zu ermöglichen, können wir die folgende Übung ausführen: 1. Was sind meine Lebensfragen ? Schieben Sie ihre Lebensfragen nicht beiseite, sondern sprechen Sie diese ruhig einmal laut aus. Vielleicht hilft es auch, sie aufzuschreiben. Diese Fragen sind der Anfang Ihres roten Fadens, der Startpunkt ihres spirituellen Weges. Was beschäftigt Sie in Hinblick auf Leben und Tod? Was sind Ihre Lebensfragen? Die Fragen mögen sich im Laufe Ihres Weges verändern, sie mögen an Tiefe und Präzision gewinnen. Was gibt diesem Leben Sinn? Was möchte ich mit diesem Leben anfangen? Tasten Sie sich von solchen eher allgemeinen Fragen zu immer prä­ ziseren Fragen vor. Vielleicht ödet uns unser bisheriges Leben an; vielleicht ist unser Leben auch gar nicht so schlecht, aber es erfüllt uns eine Ahnung, es könne noch besser genutzt werden; vielleicht stecken wir mitten in einer dicken Krise und suchen verzweifelt nach einem Ausweg; vielleicht sind wir krank und denken an den Tod – was auch immer unsere gegenwärtige Situation sein mag: der Weg beginnt gerade hier. Keine Situation im Leben ist ungeeignet, um sich den tieferen Lebensfragen zuzuwenden. Was wir allerdings lernen müssen, ist ein klein wenig Entspannung. Denn entspannter können wir uns um vieles klarer mit solchen Fragen befassen als hektisch und angespannt. Um zu entspannen, genügen bereits kleine Pausen von wenigen Minuten im Alltag. Die folgende Übung ist ein erster kleiner Ver­ such. Später werden wir uns noch ausführlicher damit befassen. 2. Entspannen Wir setzen uns bequem hin. Wir lassen Arme und Beine völlig entspannt. Fühlen Sie Ihren Atem? Es spielt keine Rolle, ob der Atem schnell oder langsam fließt. Wir lassen unseren Geist so gut wir können darauf ruhen. Mehr ist im Moment gar nicht nötig. Wir lassen den Atem einfach ein- und ausfließen. Das tut er von selbst, und das ist an sich schon ein Geschenk. Es gibt nichts weiter zu tun, als des Atems gewahr zu sein. Genießen Sie den Atem, das Geschenk dieses Augenblicks. Atmen Sie sich satt. Wir beeinflussen die Atmung nicht; der Atem wird sich von selbst beruhigen, wenn wir erst einmal genug Luft geschöpft haben. In der tibetischen Tradition nimmt man den Faden des spirituellen Weges mit vier Kontemplationen auf, die unseren Geist von der Beschäftigung mit äußeren Dingen abwenden und ihn auf das Wesent­ liche im Leben ausrichten: • • •



Kontemplation der Kostbarkeit unserer gegenwärtigen Situation Kontemplation der Vergänglichkeit Kontemplation von Ursache und Wirkung (Karma) Kontemplation der drei Arten von Leid (Samsara).

Im Folgenden werden wir uns diesen vier Kontemplationen widmen, uns aber gleichzeitig auch all den in Zusammenhang damit auftretenden Fragen zuwenden.

I.

Die Kontemplation der Kostbarkeit unserer gegenwärtigen Situation

Die erste dieser Kontemplationen ist der Gedanke an die Kostbarkeit unserer gegenwärtigen Situation. Wir werden uns bewußt, für was wir alles dankbar sein können. Dankbarkeit für unsere augenblickli­ che Situation läßt zugleich auch den Wunsch entstehen, diese Situation gut zu nutzen. Wir können für so vieles dankbar sein. Wir erleben vielleicht Dankbarkeit darüber, daß wir einen tiefen Atemzug nehmen können, daß wir noch leben, daß wir genug zu essen haben, daß wir genug Zeit haben für sol­ che Kontemplationen, daß unsere Sinne intakt sind, daß gerade kein Streit oder Krieg ist, daß uns je­ mand freundlich anlächelt und uns unsere Sorgen kleiner vorkommen. Sich gewahr zu werden, wofür wir alles dankbar sein können, ist gut gegen Niedergeschlagenheit und gibt frische Kraft.

3. Dankbarkeit entwickeln 1 Wir setzen uns wieder bequem hin und atmen zuerst wiederum für eine Weile bewußt ein und aus, ohne damit ein Ziel zu verfolgen. Dabei lassen wir unsere Gedanken frei, das heißt, wir folgen ihnen nicht, sondern kehren immer wieder zum Atem zurück. Wir genießen so zunächst einfach den Moment. Dann lenken wir unsere Gedanken zu der Frage: Worüber kann ich jetzt gerade froh und dank­ bar sein? Dabei können uns ganz viele Antworten in den Sinn kommen, kleine Details, die fast unwichtig erscheinen, oder große Zusammenhänge, die unser Hiersein als Mensch auf dieser Welt ermöglichen. Nichts ist zu gering, um nicht beachtet zu werden. Wir können – wenn es un­ ser Nachdenken erleichtert – auch Stift und Notizbuch zur Hand nehmen. Das Kissen, auf dem ich sitze, wurde von jemandem gemacht, das Haus wurde von jemandem gebaut, die Nahrung wurde angepflanzt und zubereitet. Jeder einzelne Gegenstand hat seine Geschichte genauso wie die großen Zusammenhänge wie Krieg und Frieden in der Welt, Völkerwanderungen, Entdeckungen... Die traditionelle Kontemplation beginnt damit, sich bewußt zu machen, von wie vielen ungüns­ tigen Bedingungen wir frei sind. Überlegen Sie einmal, wieviel schwieriger Ihr Leben sein könnte. Wie sähe es aus, wenn uns dieses oder jenes nicht möglich wäre? Dann denken wir an all die Lebewesen, die nicht so frei sind wie wir. Wir führen uns vor Augen, mit welch schwe­ ren Behinderungen und Einschränkungen andere leben müssen und wie schwierig es für sie un­ ter solchen Bedingungen ist, einen spirituellen Weg zu gehen. Wir wünschen Ihnen, daß sie diese Freiheiten finden mögen. Dann entwickeln wir Dankbarkeit dafür, selber ausreichende innere und äußere Freiheiten zu genießen. Wir wenden uns den vielen günstigen Bedingungen zu, die zusammengekommen sind, so daß wir jetzt hier sitzen und unseren Geist auf den inneren Weg ausrichten können. Dazu sind ganz viele Faktoren notwendig: Wir müssen gesund und offen sein, die Lehren für den in­ neren Weg (Dharma) müssen verfügbar sein und unsere gegenwärtige Situation muß geeignet für spirituelle Praxis sein. Wir denken darüber nach, wieviele Menschen durch ihren Einsatz zu dieser Situation beigetragen haben − wieviele Menschen sich zum Beispiel eingesetzt haben, um späteren Generationen die spirituellen Unterweisungen zu erhalten. Sie haben studiert, kontempliert und meditiert. Sie haben unterrichtet, Texte abgeschrieben, übersetzt und kom­ mentiert. Sie haben Schüler um sich gesammelt, Unterkünfte gebaut und für spirituelle Über­ tragung geeignete Strukturen geschaffen.

1

Die traditionellen Unterweisungen zum Entwickeln von Dankbarkeit finden sich in den Dharmabüchern jeweils in den Ka­ piteln zum „Kostbaren Menschenkörper“ oder „Kostbaren Menschendasein“ (z.B. Kapitel 2 im „Kostbaren Schmuck der Befreiung“). Hierbei werden zunächst die acht Freiheiten erläutert und dann die zehn günstigen Bedingungen (oder „Reich­ tümer“) einer menschlichen Geburt, die alle Voraussetzungen zur Dharmapraxis bietet. Es ist empfehlenswert, sich mit diesen Unterweisungen zu befassen und sie allmählich in die Kontemplation von Übung Drei zu integrieren.

4

Manchmal haben wir die Tendenz, uns über die vielen Schwierigkeiten in unserem Leben zu be­ klagen. Diese Kontemplation hilft, unsere Sichtweise zu ändern − nach dem Motto: Mein Glas ist nicht halb leer, sondern halb voll – oder sogar ganz schön voll! Im Grunde genommen bin ich ganz schön reich! So entwickeln wir Dankbarkeit und große Freude. Wir entdecken, daß unser be­ scheidenes Menschenleben wirklich etwas äußerst Kostbares ist, ein großes Geschenk, eine Chance. Doch wofür ist unser Leben eine Chance? Wir haben die Frage nach dem Ziel unseres Lebens immer noch nicht ganz geklärt. Es empfiehlt sich, wieder einmal durchzuatmen und dann zu Übung Eins zu­ rückzukehren, um diese zu vertiefen. Sie sind auf einer Entdeckungsreise. Jedes Mal, wenn Sie eine dieser Übungen ausführen, werden Sie neue Nuancen, neue Bedeutungs- und Erfahrungsebenen, entdecken. Sie werden stets auch Bekann­ tem begegnen, aber doch jedesmal eine kleine Vertiefung oder Klärung erfahren. Die Antwort auf Ihre Fragen müssen Sie selber finden, durch Ihre persönliche Praxis. Deswegen beschreibt Ihnen dieses Buch meist nur die Art des Vorgehens und wie Sie mit dem Material in der traditionellen Lite­ ratur umgehen können. Es muß eine persönliche Entdeckungsreise bleiben, sonst ist kein Saft in der Praxis. Machen Sie sich also die Mühe, immer tiefer und eindringlicher zu fragen und hinzuschauen. Vertrauen entwickeln 2 Damit diese Entdeckungsreise in das Reich des Geistes erfolgreich ist, müssen nicht nur all die Be­ dingungen zusammentreffen, über die wir in Übung Drei nachgedacht haben. Es braucht noch mehr. Als erste weitere Voraussetzung nennt Meister Gampopa, einer der großen Meister des tibetischen Buddhismus, Vertrauen. Es braucht verschiedene Arten von Vertrauen, um den inneren Weg gehen zu können. Doch bevor wir uns eingehender damit befassen, sollten wir unsere Fähigkeit zu entspannen weiter vertiefen. 4. Tieferes Entspannen mit dem Atem Setzen Sie sich bequem hin, nach Möglichkeit mit gerader und doch entspannter Wirbelsäule. Lassen Sie ihre Schultern frei hängen, legen Sie die Hände in den Schoß. Auch die Beine soll­ ten in einer angenehm entspannten Haltung sein, in der Sie ohne weiteres eine Weile sitzen können. Um Spannungen im Nackenbereich zu lösen, können Sie einige Male sanft mit dem Nacken und dann mit den Schultern kreisen. Lockern Sie nach Bedarf Ihre Glieder. Dann nehmen Sie Ihre bevorzugte Haltung ein und verweilen nach Möglichkeit, ohne sich weiter zu bewegen. Lassen Sie den Atem ein- und ausströmen. Fühlen Sie den Atem im Bauchraum. Mit dem Heben und Senken der Bauchdecke sind Sie im Moment, gerade so wie er ist. Um die Atembewe­ gungen deutlicher zu spüren, können Sie Ihre Hände auch für eine Weile auf den Bauch legen. Es gibt nichts am Atem zu verändern. Falls Sie irgendwo im Körper oder Geist Anspannung verspüren, können Sie den Ausatem nutzen, um diese loszulassen. Mit jedem Ausatem besteht die Möglichkeit, sich in den weiten Raum zu entspannen − einfach in die Weite hinein loszu­ lassen. Das Einatmen geschieht von selbst, und mit dem Ausatem können wir alle Anspannung loslassen. Dann bleiben wir mit unserer Aufmerksamkeit beim Ein- und Ausfließen des Atems, so als würden wir dem Kommen und Gehen der Brandung des Meeres zuschauen. Wenn wir be­ merken, daß wir anderen Gedanken nachhängen, kehren wir sanft, aber unverzüglich zum Atem zurück.

2

Die traditionellen Unterweisungen zum Entwickeln von Vertrauen finden Sie im Kostbaren Schmuck der Befreiung in den Kapiteln 1 (Buddhanatur), 2.B (die drei Arten von Vertrauen), 3 (der spirituelle Freund), 20 (Buddhaschaft) und 21 (erleuch­ tetes Wirken).

5

Bewußtes Nichtstun Es gibt heutzutage nicht viele Menschen, die fünfzehn Minuten einfach still sitzen können, ohne sich zu unterhalten, ohne Radio zu hören, fernzusehen oder zu lesen, ohne zu essen oder zu trinken und ohne einzuschlafen. Einfach nur sitzen und nichts tun. Sollte doch nicht so schwierig sein? Wir können ja mit fünf Minuten anfangen. Schon fünf Minuten Nichtstun verändern den Tag. Diese Art von bewußtem oder kultiviertem Nichtstun ist nicht schädlich. Sie weckt ein Gewahrsein tieferer Schichten in uns, wodurch wir jeden Tag aufs neue den Faden unserer eigentlichen Lebensfragen wieder in die Hand nehmen. Nennen Sie es bloß nicht „Meditation“ − dann wird es gleich wieder zu etwas Exotischem oder zu einer hohen spirituellen Übung. Es geht hier um einfaches Nichtstun, frei von äußeren Ablenkungen. Das braucht man nicht Meditation zu nennen. Tatsächlich hat bewußtes Nichtstun viel mit Vertrauen zu tun. Wir gewinnen mehr Vertrauen in un­ seren eigenen Geist, da wir ihn besser kennenlernen und mit der Zeit merken, daß wir seine vielen Ge­ danken und Gefühle nicht unterdrücken oder bekämpfen müssen. Sie kommen und gehen von selbst. Wir merken allmählich, daß es so etwas wie eine natürliche Gesundheit in unserem Geist gibt, auf die wir vertrauen können. Wir kultivieren zudem das Vertrauen, daß uns die Welt nicht wegläuft, bloß weil wir gelegentlich einmal einige Minuten nichts tun. Machen Sie doch mal einen Versuch, einige Minuten bewußten Nichtstuns hier und da in Ihren Tagesablauf einzubauen. Das wirkt sehr er­ frischend und sollte doch nicht so schwierig sein. Schwieriger ist die Übung, die jetzt kommt. Wir werden versuchen, ein wenig mehr Vertrauen zu fassen, daß ein spiritueller Weg tatsächlich möglich ist. Wir brauchen dafür: − Vertrauen in die Basis, unser tieferes Selbst (d.h. in unser Potential, die „Buddhanatur“) − Vertrauen in das Ziel unseres spirituellen Weges (d.h. in die Verwirklichung der Buddhaschaft) − Vertrauen in die Methoden und Helfer auf dem Weg. (d.h. in Dharma und Sangha) Um das Vertrauen in unser tieferes Selbst zu wecken, werden traditionell die Unterweisungen zur Buddhanatur gegeben, die als Potential in allen Lebewesen zu finden ist. Dieses Potential ist die Ba­ sis, auf der sich der innere Weg entfaltet. Die Buddhanatur wird auch die „Ursache“ der Erleuchtung genannt. Das Vertrauen in das Ziel wird durch Unterweisungen über die Qualitäten der Buddhaschaft, des voll­ kommenen Erwachens, als Endphase des Weges, geweckt. Das Vertrauen in die Methoden und Helfer auf dem dahin zu beschreitenden Weg entsteht, indem wir Unterweisungen im Dharma erhalten und die erläuterten Methoden anwenden, sowie durch die persönlich erlebte Hilfe durch die Freunde auf dem Weg, den Sangha. Besonders aber die Person des Lehrers, unser nächster spiritueller Freund, weckt dieses Vertrauen. Das sind, in aller Kürze, die traditionellen Hinweise zum Entwickeln von Vertrauen. Vertrauen in die Basis entwickeln, die Buddhanatur Wir werden uns nun dem ersten Aspekt, dem Vertrauen in unser tieferes Selbst, in die Buddhanatur, zuwenden. Dies beginnen wir mit einer Übung, in der wir uns direkt mit unserem eigenen Geist befassen und das Zusammenspiel von Gedanken und Raum untersuchen. Diese Übung macht man nicht nur einmal. Sie wird uns vielleicht über Jahre begleiten, bis Gewißheit zu diesen Fragen ent­ standen ist: 5. Was sind Gedanken? Um das herauszufinden, müssen wir in unseren eigenen Geist schauen. Bei dieser Übung ist es unerläßlich, sich jedes Mal durch bewußtes Nichtstun einzustimmen und zu entspannen. Erst dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem Strom unserer Gedanken zu. Ist es nicht auffallend, daß so viele Gedanken entstehen und wieder vergehen, ohne irgendwel­ che Spuren zu hinterlassen? Untersuchen Sie genau: Was sind Gedanken? Haben Gedanken Substanz? Hinterlassen Gedanken Spuren oder nicht? Wenn ja: Besteht die Spur aus dem­ selben Gedanken, oder ist sie ein neuer Gedanke? Wenn nein: Wohin lösen sich Gedanken auf?

6

Dieses fragende Hineinschauen in den Geist machen wir jeweils nur für kurze Momente. Dann lassen wir den Geist wieder völlig frei, ohne uns um die Fragen zu kümmern. Die Antworten entstehen auf einer mehr intuitiven Ebene, die wir uns durch zu insistierendes Fragen verbau­ en. In der Entspannung fragen wir dann wieder für einen Gedankenmoment: Woher kommen Gedanken? Was ist das für eine Dimension, in der das Spiel der Gedanken abläuft? Sie werden diese Fragen vermutlich nicht beim ersten Mal lösen können. Auch könnten Sie zu Recht fragen: Was hat denn das mit Vertrauen zu tun? Nun, die Antwort ist folgende: Es scheint den meisten Menschen schwer zu fallen, in diesen von Gedanken wimmelnden Geist Ver­ trauen zu haben. Denn Vertrauen kann man eigentlich nur in etwas Stabiles, Verläßliches haben. Sie haben sicher auch die Erfahrung gemacht, daß der Geist immer wieder von neuen Gedanken gefüllt ist, eine Gedankenkette um die andere. Die Inhalte des Geistes scheinen in ständiger Veränderung zu sein. Auch messen wir diesen Inhalten große Bedeutung zu. Das merken wir daran, daß es nicht so einfach ist, den Fluß der Gedanken zu beobachten, ohne sich von ihrem Inhalt verleiten und weg­ tragen zu lassen. Der Inhalt der Gedanken ist für einen ungeübten Beobachter im Moment ihres Auf­ tauchens so beeindruckend, so wichtig, daß er daran festhält, wodurch Gedankenketten, also Ge­ danken über Gedanken über Gedanken entstehen. Wir fühlen uns eher beunruhigt oder gestört durch all dieses Denken und sehnen uns nach Frieden, Ruhe und Ferien von diesem ewigen, unruhigen Ge­ plapper. Die Übung möchte Sie dazu anregen, das, was Sie denken, die Inhalte, einmal nicht so wichtig zu nehmen und mehr darauf zu schauen, wie das alles funktioniert. Wir können uns von den Gedanken­ inhalten lösen, indem wir sie alle, ohne Wertung, zulassen, ohne ihnen zu folgen. Das schafft Platz für die Erfahrung von Raum, in dem die Gedanken wie transparent erscheinen – wie ein Traum, eine Fata Morgana, ungreifbar, unwirklich, und doch vorhanden. Es ist ein bißchen so, als würden wir uns nicht mehr für den Film interessieren, sondern für die Leinwand und den Projektor, also für den Hin­ tergrund des Filmes und die Kräfte, die ihn ablaufen lassen. Ein Kind ist im Film gefangen, aber ein Erwachsener kann sich zurücklehnen und nimmt auch die Rahmenbedingungen wahr. Wenn wir uns innerlich so zurücklehnen und mehr auf die Rahmenbe­ dingungen des Erscheinens von Gedanken in unserem Geist achten, dann werden wir der illusionsglei­ chen Qualität der Bewegungen im Geist gewahr und bemerken, daß all diese Gedanken in einem gren­ zenlosen und undefinierbaren Raum stattfinden, der sich nicht zu verändern scheint. Dieser Raum hat Platz für alle Gedanken, alle Filme − und scheint unberührt von all den Ereignissen zu bleiben, die sich in ihm abspielen. Nichtstun und auf diese entspannte Art in den Geist zu schauen öffnet uns mit der Zeit für eine Wahrnehmung der Weite des geistigen Raumes und weckt eine Ahnung von etwas Unwandelbarem, Urgutem − etwas, was auf verläßliche, unwandelbare Weise immer da ist, aber nicht mir, Ihnen oder irgend jemandem gehört und auch nicht näher zu definieren ist. Gedanken, Gefühle, Sinneswahrnehmungen haben keinerlei Einfluß auf die Unbegrenztheit des Geis­ tes, er bleibt unberührt von gut und schlecht. Die Begegnung mit diesem Raum bringt natürlicher­ weise ein Gefühl von Vertrauen mit sich. Zuerst ist es noch recht zaghaft. Wir haben Angst, uns diesem Raum voll und ganz zu öffnen und anzuvertrauen. Doch wir ahnen bereits die diesem Raum innewohnende Güte und Liebe. Dieses Gute ist nicht den Schwankungen der Gedankenströme ausge­ setzt, es hat eine unwandelbare Qualität. Dies ist, was die Schriften „Buddhanatur“ nennen. Diese ist nicht ein Ding, ein Etwas, das wir anschauen könnten. Wir brauchen sie auch nicht zu erzeugen – denn sie ist bereits da. Mit dem Willen, der spirituellen Brechstange, finden wir keinen Zugang zu dieser Dimension, so sehr wir uns auch bemühen. Sie erschließt sich uns durch Entspannung, Ver­ trauen und Hingabe. Wir werden sie erst dann unmittelbar erfahren, wenn sich die Trennung in Sub­ jekt und wahrgenommene Erfahrung auflöst. Doch bereits jetzt können wir diese Dimension erahnen, wenn wir des Raumes gewahr werden, in dem das Spiel der Gedanken stattfindet. Dieser unwandelbare, selbstlose Gewahrseinsraum ist die Quelle für das Auftauchen von Impulsen wahrer Güte und Liebe. Es ist dieser Raum, der uns spüren läßt, daß es mehr gibt im Leben als Ichbe­ zogenheit. Wer in Kontakt mit diesem Raum ist, erkennt, daß alle Wesen Anteil an dieser Dimension mit all ihren Qualitäten haben und daß dieser Raum, Buddhanatur genannt, identisch ist für alle

7

Wesen. Daraus entsteht Gewißheit, daß alle Wesen Buddhaschaft erlangen könnten, wenn sie sich nur darauf einlassen würden, mit dieser Dimension Kontakt aufzunehmen. Die Erfahrung, den Gedanken nicht folgen oder sie wegschieben zu müssen, sie also in der Erfahrung des Raumes loslassen zu können, führt zu Entspannung und Erleichterung, worin sich Ichbezogenheit und Festhalten auflösen. Und das Vertrauen wächst mit zunehmender Vertrautheit mit unserem Geist. Allein von diesem Raum, der Buddhanatur, gehört zu haben, kann in uns das Vertrauen wecken, daß der Weg des Erwachens möglich ist. Wir sollten nie verzagen und denken, der spirituelle Weg sei uns versperrt, weil wir zu schlecht, zu schwach, zu verblendet oder einfach sonstwie nicht geeignet seien. Es ist tatsächlich so, daß alle Wesen diesen Raum teilen. Es liegt an uns, ihn freizulegen. Es gibt keine anderen Mittel, ihn freizulegen, als durch unsere persönliche Praxis bewußten Nichtstuns (‚Me­ ditation‘), sowie durch den Segen und die Unterweisungen eines authentischen Lehrers. Vertrauen in das Ziel entwickeln, das Vollkommene Erwachen Jetzt werden wir uns dem Vertrauen in das Ziel des Weges zuwenden. In Übung Eins haben wir uns mit dem Sinn unseres Lebens beschäftigt. Jetzt geht es um die konkrete Umsetzung davon, nämlich genauer herauszufinden, in welche Richtung unsere spirituelle Praxis gehen soll und ob der Weg tat­ sächlich gangbar ist. Es ist sehr wichtig, eine klare Vorstellung davon zu haben, wo wir hin wollen – genauso wie bei einer Reise. Wenn wir kein klares Ziel vor Augen haben, werden wir zum Spielball von Impulsen; einmal geht unsere Reise in die eine Richtung, ein andermal in eine andere. Und wenn Hindernisse auftauchen, lassen wir uns vom eingeschlagenen Weg abbringen. Ein klares Ziel zu haben gibt hingegen Kraft und Ausrichtung. Jeder von uns ahnt, daß wir uns das Ziel unseres spirituellen Weges nicht einfach überstülpen lassen können. Oder würden Sie für die so wichtige Reise „Lebensweg“ Ziele akzeptieren, die Ihnen einfach vorgesetzt werden? Wohl kaum. Wir müssen uns selbst darüber klar werden. Andere können uns allerdings dabei helfen. 6. Was ist das Ziel meines Weges? Beginnen Sie wie immer mit einigen Minuten Nichtstun. Schreiben Sie dann einmal alles auf, was Ihnen an wahrhaft erstrebenswerten Qualitäten einfällt − alles, was vielleicht ein Ziel Ih­ res inneren Weges sein könnte. Schreiben oder sagen Sie spontan, was Ihnen in den Sinn kommt. Es braucht keineswegs bereits geordnet zu sein. Lassen Sie sich zwischendurch immer wieder Zeit, genau hinzuspüren. Legen Sie dazu den Stift aus der Hand. Vielleicht tauchen Vorbilder in Ihnen auf, Erinnerungen an Menschen, von deren Qualitäten Sie immer noch beeindruckt sind. Schreiben Sie deren Namen mit aufs Blatt. Möchten Sie so werden wie diese Menschen? Ganz und gar, oder nur zum Teil? Was für Qualitäten sind es, die Sie an diesen Menschen erstrebenswert finden? Was für Einstellungen und Verhaltensweisen möchten Sie gerne kultivieren? Auch diese können Sie wieder aufschreiben. Unterstreichen Sie schließlich, was Ihnen am wichtigsten erscheint. Sie haben jetzt auf dem Blatt eine Liste von Qualitäten oder auch von Namen, die für bestimmte Qualitäten stehen. Diese Qualitäten umreißen in etwa Ihre Idealvorstellung von einem vorbildhaften Menschen oder Verhalten. Es kann fruchtbar sein, dieses Bild mit den Leitbildern anderer Menschen oder ganzer Religionen und Weltanschauungen zu vergleichen. Der traditionelle buddhistische Weg gibt uns für die Zielfindung Unterweisungen über das Wesen der Buddhaschaft und über die Aktivität eines Buddhas.3 Außerdem haben wir die Lebensgeschichten des historischen Buddhas und der großen Verwirklichten.4 Es lohnt sich, sich mit diesen Unterweisungen 3

Jedes Dharmabuch ist im Grunde eine Darstellung von erleuchteter Sichtweise und erleuchtetem Verhalten. Mehr zu den Qualitäten eines Buddhas bzw. Bodhisattvas findet sich in den Kapiteln über den Erleuchtungsgeist (Kap. 10,11), über die befreienden Qualitäten (Kap. 12-17) und über die Buddhaschaft (Kap. 20,21) im Kostbaren Schmuck der Befreiung. 4 Beschreibungen der Leben von erleuchteten Meistern finden Sie z.B. in Milarepas Gesammelte Vajra-Lieder und Thich Nhat Hanh‘s Beschreibung von Buddha Shakyamunis Leben in Alter Pfad − Weiße Wolken.

8

und Lebensgeschichten zu befassen. Sie stimulieren unsere Vorstellung von dem, was in uns Men­ schen an Potential schlummert. Der spirituelle Weg im Dharma hat zum Ziel, dieses Potential voll zu wecken, hervorzubringen und zu entfalten. Dies geschieht in dem Maße, wie alles, was dieses Potenti­ al behindert oder verschleiert, aufgelöst wird. Dies ist die tibetische Definition eines Buddhas: einer, dessen Potential völlig entfaltet ist und dessen Schleier vollends gereinigt sind. Die Schleier, von denen dabei die Rede ist, sind die Schleier der Ichbezogenheit. Dies ist ein weiterer zentraler Begriff im Dharma. Ichbezogenheit macht den Unterschied zwischen gewöhnlichem und er­ leuchtetem Verhalten aus. Ein Buddha ist vierundzwanzig Stunden am Tag frei von Ichbezogenheit − ein gewöhnliches Wesen hingegen kennt kaum einen Moment der Freiheit von Ichbezogenheit. Bei der Bestimmung unseres spirituellen Zieles ist es hilfreich, sich eingehender hiermit zu befassen. Dabei hilft die nächste Übung:

7. Welche Rolle spielt Ichbezogenheit?5 Schauen Sie sich wieder die Liste der Qualitäten und Vorbilder an, die Sie aufgeschrieben haben. Welche dieser Ziele sind ichbezogen? Markieren Sie diese. Gibt es Zielvorstellungen oder Qualitäten darunter, die nicht ichbezogen ist? Kann ein- und dieselbe Qualität ichbezo­ gen wie auch nicht ichbezogen sein? Was macht den Unterschied? Gibt es in unserem Erleben so etwas wie zumindest zeitweise Freisein von Ichbezogenheit? Meditieren Sie über diese Fragen. Merken Sie? Als ichbezogenen Menschen scheint es uns kaum möglich, auch nur eine einzige Quali­ tät völlig frei von Ichbezogenheit zu erleben oder an ein Leben frei von Ichbezogenheit zu denken. Denn Freisein von Ichbezogenheit bedeutet ja nicht nur, uneigennützig zu sein, sondern eben auch nicht mit diesem Ichgefühl zu handeln. Selbst so hehre Qualitäten wie Liebe, Weisheit und Mitgefühl bekommen unversehens einen ichbezogenen Beigeschmack: „Ich, der liebt.“, „Ich, der so weise ist.“, „Was ich für ein Mitgefühl empfinde“. Das ist ein ziemliches Dilemma. Fast wären wir geneigt, uns damit abzufinden, für immer in den Mustern der Ichbezogenheit zu bleiben. Doch die spirituellen Wege zeigen uns einen Ausweg. Speziell der Buddha hatte es sich zur Aufgabe gemacht, uns de­ tailliert zu beschreiben, wie sich diese Ichbezogenheit auflösen kann. Doch lassen Sie uns nochmals einen Schritt zurück gehen. Zunächst müssen wir uns darüber klar werden, ob wir das überhaupt wollen − das heißt, ob das Auflösen von Ichbezogenheit tatsächlich Teil unserer Zielvorstellung des spirituellen Weges sein soll. Da dies eine zentrale Frage ist, sei ihr eine weitere Übung gewidmet: 8. Ichbezogenheit genauer untersuchen: Damit die von uns angestrebten Qualitäten wirkliche spirituelle Qualitäten werden, müssen diese frei von Ichbezogenheit werden. Sind Sie einverstanden mit dieser Aussage? Nehmen Sie sich etwas Zeit, um darüber zu meditieren. Gehen Ichbezogenheit und Spiritualität zusammen? Möchte ich auf meinem Weg Ichbezogenheit auflösen? Warum ist es ein Vorteil, frei von Ichbe­ zogenheit zu sein? Worin bestehen die Fesseln der Ichbezogenheit? Ist Ichbezogenheit tat­ sächlich, wie der Dharma sagt, die Wurzel aller Emotionen und allen Leides? Ichbezogenheit bedeutet, daß das Ich im Mittelpunkt steht: Ich will, ich will nicht. Das Ich regiert, und jede Situation wird aus dem Blickwinkel des Ichs betrachtet: Wie kann ich aus der Situation einen Vorteil ziehen? Wovor muß ich mich in dieser Situation schützen? Jeder Gegenstand, ja auch jeder Mensch wird vom Ich untersucht: Kann mir das oder der nutzen oder mir ein angenehmes Gefühl ver­ schaffen? Oder gibt es eine Gefahr für mich? Könnte etwas Unangenehmes hieraus entstehen? Stän­ dig checken wir alles und jeden ab, ein unaufhörlicher, dualistischer Prozeß: Ich und die Umwelt. Das Ich setzt sich beständig zu etwas anderem in Beziehung. Stellt dieses andere eine Bedrohung für mein Territorium dar, oder kann ich es mir gewinnbringend einverleiben? Mit solch einer ichbezogenen Haltung stehen wir ständig unter Spannung. Diese Spannung ist Ausdruck von Anhaften und Ab­ lehnen und von daher die Quelle aller Emotionen. 5

Zum Thema Ichbezogenheit finden Sie weitere Ausführungen in Gendün Rinpotsches Unterweisungen.

9

Wenn Sie Freiheit von Ichbezogenheit für wahrhaft erstrebenswert halten, dann ist der Weg des Dhar­ mas wirklich etwas für Sie. Wenn Sie hinter jede der erstrebenswert erscheinenden Qualitäten aus Ih­ rer Liste aus Übung Sechs „frei von Ichbezogenheit“ schreiben, dann werden diese Qualitäten zu Qualitäten eines Buddhas. Selbst wenn wir ursprünglich vielleicht weltliche Dinge wie Durch­ setzungsvermögen, Reichtum oder Schönheit aufgeschrieben hatten, so werden sie durch diesen alles entscheidenden Zusatz zu Buddhaqualitäten, den Qualitäten eines völlig erwachten Wesens frei von allen Schleiern der Ichbezogenheit. Selbst Zorn wird zu einer Buddhaqualität, wenn er frei von Ichbe­ zogenheit ist. Er behält seine machtvolle Energie, aber ist durchdrungen von Mitgefühl. Nun aber zurück zu unserem ursprünglichen Anliegen: Vertrauen in das Ziel des Weges zu wecken. Dafür haben wir zunächst in Übung Sechs unser persönliches Ziel definiert, umrissen durch all die Qualitäten, die wir aufgeschrieben haben. Dann haben wir die traditionellen Unterweisungen zu Hilfe genommen und unsere Zieldefinition verfeinert, indem wir uns in den Übungen Sieben und Acht über die Rolle der Ichbezogenheit klarer geworden sind. Vermutlich sind Sie nun an einem Punkt, wo Sie sagen können: „Stimmt, die von mir aufgeschriebenen Qualitäten entfalten erst dann all ihre Kraft, wenn sie frei von Ichbezogenheit sind. Ich akzeptiere diesen Zusatz.“ Um uns unseres spirituellen Zieles noch sicherer zu werden, können wir die von uns formulierten Vorstellungen auch noch mit anderen spirituellen Wegen vergleichen. Gibt es etwas Wesentliches, was wir noch nicht berücksichtigt haben? Sind jetzt noch Zweifel in mir? Wenn ja, sollten Sie sich diese merken, um vielleicht gezielt nach Antworten darauf zu suchen. Ohnehin werden wir unser Ziel im Verlauf des Weges noch weiter präzisieren, aber unsere persönli­ che Hauptrichtung ist jetzt klar. Unser Intellekt kann sich nach dieser anstrengenden Arbeit etwas aus­ ruhen. Wir haben uns bereits eine solidere Basis für unser Vertrauen erarbeitet, indem wir unser Ziel definiert haben. Wir haben den gesamten Horizont unseres Bewußtseins abgesucht und haben die auf­ tauchenden Zweifel berücksichtigt. Weiter kann der Intellekt im Moment nicht gehen. Doch abgesehen vom Vertrauen in die Zieldefinition brauchen wir auch etwas Vertrauen, daß das Ziel erreichbar ist. Dieses so wichtige Vertrauen in die Gangbarkeit des Weges entsteht durch die persönli­ che Begegnung mit Meistern, die – so weit wir sehen können – dieses Ziel verwirklicht haben. Das Vertrauen entsteht spontan, wenn wir ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören oder lesen. Es wächst mit jeder Begegnung langsam weiter: Oft sind wir zuerst kritisch eingestellt, aber die wieder­ holte Begegnung mit einem authentischen Lehrer läßt uns mehr und mehr Vertrauen fassen. So mancher wünscht sich zwar, einen inneren Weg zu finden und hofft, einen authentischen Lehrer zu treffen, aber seine bisherige Lebenserfahrung zeigt, daß auf Menschen kein Verlaß ist. Selbst soge­ nannte spirituelle Lehrer entpuppen sich oft als fragwürdig bei näherem Hinschauen. Manche Sucher haben die Hoffnung vielleicht schon aufgegeben, auf dieser Welt einen durch und durch vertrauens­ würdigen Lehrer finden zu können. Doch es gibt sie. Ihnen zu begegnen und festzustellen, daß ihr Verhalten, ihre Liebe und Weisheit wirklich dem gleichkommen, was wir intellektuell und intuitiv als unser Ziel definieren – das gibt Vertrauen ins Ziel. Vertrauen in die Methoden und Helfer entwickeln, Dharma und Sangha Die dritte Art des Vertrauens, von dem wir sprachen, war das Vertrauen in die Methoden, mit Hilfe derer wir den Weg zum Ziel zurücklegen. Natürlich müssen uns die Methoden zunächst einmal ein­ leuchten, zumindest teilweise, aber die einzige Weise, echtes Vertrauen in sie zu gewinnen, ist, sie anzuwenden und auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Wir müssen die Methoden, d.h. die DharmaUnterweisungen, genauso anwenden, wie wir sie erklärt bekommen. Wenn sich dann keine Resultate einstellen, brauchen wir kein Vertrauen zu haben. Vertrauen entsteht hier aufgrund der eigenen Erfah­ rungen. Wir sollten den Dharma in unserer eigenen Erfahrung testen. Die Entdeckungsreise auf dem inneren Weg findet in unserem eigenen Geist statt. Ein anderes Labor für unsere Erforschung spiritu­ eller Werte gibt es nicht. Mit jeder erfolgreich auf uns selbst angewendeten Unterweisung wächst un­ ser Vertrauen in die Methoden. Damit wächst auch unser Vertrauen in die spirituellen Freunde, die Sangha, denn wir machen die Erfahrung, daß ihre Ratschläge wirklich helfen. Wir brauchen jedoch Geduld auf dem Weg. Was zählt, ist kontinuierliche Praxis.

10

Nachdem wir so viel über Basis, Weg und Ziel gesprochen haben, sei zumindest am Rande erwähnt, daß es letzten Endes nichts dergleichen gibt. In dem Moment, wo wir den Weg authentisch prakti­ zieren, sind Basis (Buddhanatur), Weg (Dharma) und Ziel (Buddhaschaft) eins. Die Tatsache aber, daß es viel Praxis braucht, um den Dharma tatsächlich authentisch praktizieren zu können, läßt uns von einem Weg mit Ziel und Ausgangspunkt (Basis) sprechen. Es soll an dieser Stelle davor gewarnt werden, sich den Dharma einfach anzulesen, ihn sich überzuzie­ hen wie ein neues Kleid. Das bringt nur ein schickes Dharma-Image mit viel theoretischem Wissen, aber keine Befreiung von Ichbezogenheit. Doch findet fast unumgänglich die erste Annäherung an den Dharma über das Lesen statt, deswegen hierzu eine kleine Übung: 9. Kontemplatives Lesen Jede Zeile der traditionellen Dharmatexte ist dafür da, zu Herzen genommen und angewendet zu werden – nicht auf andere, sondern auf uns selbst. Machen Sie es sich deshalb zur Übung, langsam zu lesen und über die Bedeutung zu meditieren. Ein Satz oder ein Abschnitt reichen oft bereits. Aufmerksames, kontemplatives Lesen ist wichtiger Teil spiritueller Praxis. Es gibt zwei Arten so zu lesen. a) Wir legen ein Dharmabuch unserer Wahl aufgeschlagen vor uns hin und lesen einige Zeilen, maximal einen Abschnitt, einer interessanten Passage. Dann halten wir inne, schließen unter Umständen für einen Moment die Augen und fragen uns: Was haben diese Zeilen mit mir zu tun, mit meiner jetzigen Situation? Was ist der tiefere Sinn dieser Passage? Was muß ich ändern, wenn ich mich auf die in ihnen ausgedrückte Wahrheit einlasse? Bringen Sie auf diese Art jede auch noch so abstrakte Passage unmittelbar mit Ihrem Lebensweg in Beziehung. So ziehen Sie größten Nutzen aus den Unterweisungen. b) An anderen Tagen fühlen wir uns nicht nach dieser intensiven Art des Lesens. Wir lesen dann einfach mit dem Wunsch, daß der Text einen wohltuenden Einfluß auf uns haben möge, daß sich unser Geist beruhigt und öffnet und daß wir Segen empfangen. Wir lesen, ohne den In­ tellekt speziell zu aktivieren. Hierfür sind besonders Texte gut geeignet, die wir bereits kennen. Das Lesen von Dharmatexten sollte persönlichen Wandel stimulieren. Solch ein Lesen darf nicht ohne Konsequenzen bleiben, denn Dharma ist keine intellektuelle Spielerei. Dharma muß angewendet werden; er ist kein bloßer Wissensstoff. Dharma ist das Entdecken der Wahrheit in uns. Man kann auch nicht sagen, wie man gelegentlich hört, daß es darum gehe, den Dharma zu „integrieren“. Das hört sich so an, als sei der Dharma etwas Getrenntes von uns. Vielmehr geht es darum, ihn in uns frei­ zulegen, in jeder Situation. Dharma ist das befreite Potential einer jeden Situation und eines jeden Ge­ dankens. Das gilt es zu entdecken. Dharma ist ein Sanskrit-Wort, und eine von seinen vielen Bedeu­ tungen ist „Wahrheit“. Die Wahrheit ist nicht getrennt von uns. Sie ist nicht der Besitz einer Kultur oder eines Menschen. Man kann sie sich nicht aneignen. Und es ist auch nicht so, daß mit einem ein­ maligen Erkennen der Wahrheit diese ein für allemal unser Besitz ist. Keineswegs. Jede Situation ist aufs Neue eine Herausforderung, mit dem in ihr enthaltenen Dharma in Kontakt zu kommen. Das Er­ kennen der Wahrheit ist ein ständiger Prozeß. In diesem Prozeß ist das Lesen von Dharmatexten und der Austausch mit Dharmafreunden und -lehrern eine wesentliche Hilfe. Hierdurch entsteht zunehmend mehr Verständnis davon, wie unser Geist, unsere Emotionen, zwischenmenschliche Be­ ziehungen und gleichzeitig der Weg der Befreiung funktionieren. Und zunehmendes Verständnis bringt wachsendes Vertrauen in Hinblick auf Basis, Ziel und Weg. II.

Die Kontemplation der Vergänglichkeit 6

Ganz zu Anfang, in Übung Drei, haben wir bereits eine Möglichkeit kennengelernt, unsere gegen­ wärtige Situation tiefer schätzen zu lernen. Dies war die Kontemplation über die Kostbarkeit einer je­ 6

Zum Thema Vergänglichkeit finden Sie in fast jedem Dharmabuch Unterweisungen. Einen gut durchstruktierten Überblick bietet Kapitel Vier im Kostbaren Schmuck der Befreiung.

11

den Situation. Nun wollen wir uns der zweiten dieser vier traditionellen Kontemplationen zuwenden, die uns mit einem anderen wichtigen Aspekt unseres Lebens vertraut macht: der Vergänglichkeit. 10. Einstiegsübung Setzen Sie sich wiederum bequem und gerade hin. Nachdem Sie sich für einige Momente an das Ziel ihres Weges erinnert haben – Warum bin ich hier? Was ist das Ziel meiner Praxis? – wenden Sie sich dem Atem zu und entspannen. Wir sind einfach nur da und atmen. Wieviele Gedanken auch immer auftauchen mögen, wir folgen ihnen nicht und bringen unseren Geist immer wieder sanft zum Atem zurück. So üben wir für eine Weile bewußtes Nichtstun. 11. Die Vergänglichkeit äußerer Objekte Dann beginnen wir mit der Kontemplation der Vergänglichkeit der äußeren Objekte: Der Teppich, auf den unser Blick fällt – einst war er neu und schön, doch verliert er bereits etwas von seiner Frische und irgendwann wird er wieder zu Staub geworden sein; so auch der Schrank, der Tisch, die Wand – sie alle wurden einmal gebaut und werden wieder einmal aus­ einanderfallen. Wenn wir genau hinschauen, entdecken wir an jedem Gegenstand Zeichen sei­ ner Vergänglichkeit. Wir können auch nach draußen schauen: Wiese, Bäume, Sträucher – noch ist es Winter, doch bald werden die Blumen kommen, und auch sie werden wieder welken. Aus klein wird groß, und auch die Großen haben irgendwann ausgelebt. Bäume fallen um, Moos wächst auf ihnen und sie werden wieder zu Erde. Wir finden nichts, was beständig so bleibt wie es ist. Alles wandelt sich. Vorhin war der Himmel noch bedeckt, jetzt scheint gerade die Sonne, und bald wird es Abend sein. Wo wir auch hinschauen, überall entdecken wir Vergänglichkeit. Ihr treuester Bote ist der Staub. Gerade noch haben wir geputzt, doch schon setzen sich wieder die ersten Stäubchen. Woher kommen sie? Sie künden vom steten Verfall alles Zusammengesetzten. Kleidung löst sich auf, pflanzliches Material zersetzt sich, und selbst die Plastikstühle vor dem Haus über­ dauern keine drei Winter unversehrt. Das ist die äußere Vergänglichkeit. Schauen Sie sich gut um. Jedes Ding verdient, in seiner Vergänglichkeit gewürdigt zu werden. Seine Vergänglichkeit macht es um so einzigartiger und kostbarer. Jetzt brauchen Sie vermutlich eine Pause. Wann immer Sie sich wieder frisch fühlen, können Sie erneut bei Übung Zehn einsteigen und dann mit Übung Zwölf weiterfahren. Diese Übung beleuchtet einen weiteren Aspekt der Vergänglichkeit: 12. Die Vergänglichkeit von Situationen Keine einzige Situation wiederholt sich auf genau dieselbe Weise. Die Beteiligten verändern sich. Der äußere Rahmen verändert sich. Die Stimmungen verändern sich. Wir können Situa­ tionen nicht anhalten oder einfrieren und nach Belieben wieder auftauen. Selbst Bücher, die wir lesen, und Filme, die wir anschauen, erleben wir jedesmal ein klein wenig anders. Unser Geliebter von gestern wird zum Ärgernis von heute, der Feind von heute wird zum Freund von morgen. Die vertrauten Lebensgefährten sterben uns weg. Wir können es nicht aufhalten. Das Leben ist ein Fluß. Wer wäre so töricht, sich an Vergängliches zu klammern? Eventuell machen Sie hier wieder eine Pause und nehmen die Praxis zu einem beliebigen Zeit­ punkt wieder mit Übung Zehn auf, um dann mit Übung Dreizehn weiterzufahren. 13. Die Vergänglichkeit des Körpers : Dann gehen wir mit der Aufmerksamkeit durch unseren eigenen Körper. Einige Stellen sind warm, andere kalt, manche sind verspannt, wieder andere fühlen sich gelöst an. Wir lassen uns Zeit, jeden Teil des Körpers auszukundschaften. Ist nicht auch der Atem genauso wie der Staub eine stete Erinnerung an die Vergänglichkeit? Das Klopfen des Herzens, der Hunger im Bauch,

12

das Wachsen der Haare, das Vibrieren einer jeden Zelle, die Runzeln im Gesicht, die Finger­ nägel, die wieder einmal geschnitten werden müßten – kündigt nicht all dies von der Vergäng­ lichkeit? Wer wäre so töricht, daran zu haften? Einst waren wir Säuglinge, bald sind wir Lei­ chen. Wollen wir uns dagegen auflehnen? Oder möchten wir lernen, jeden Moment in seiner Einzigartigkeit als ein Geschenk entgegenzunehmen und zu nutzen? Brauchen Sie eine Pause? Für einen Moment erfrischen und weiter geht’s: 14. Die Vergänglichkeit geistiger Erfahrungen : Auch die Gedanken und Gefühle in unserem Geist sind allesamt vergänglich. Sie kommen und gehen unaufhörlich. Nichts bleibt, weder die schönen noch die unangenehmen Gefühle. Sie lassen sich nicht einfangen. Je mehr wir entspannen, desto mehr erfahren wir das Entstehen und Vergehen von Gedanken als simultan: Geburt und Tod im selben Augenblick. Wer würde sich darin erschöpfen wollen, Gedanken und Gefühle festzuhalten? Doch tun wir nicht alle ge­ nau dies? Die Kontemplation der Vergänglichkeit aller Dinge lockert unser Haften am scheinbar Konkreten. Leben beinhaltet Vergänglichkeit und Tod. Wenn sich nichts ändern würde, wie könnte es da Leben geben? Es wäre eine starre, unbewegte Welt. Leben bedingt Wandel. Werden wir uns der Vergäng­ lichkeit unserer Situation bewußt, werden wir versuchen, diese Situation gut zu nutzen. Wer weiß, ob sich morgen noch die gleichen Möglichkeiten zur Dharmapraxis bieten? Den inneren Weg sollten wir nicht auf morgen verschieben, sonst kommt irgendwann überraschend der Tod, und wir sind nicht auf ihn vorbereitet. Dharmapraxis – und besonders das Kontemplieren der Vergänglichkeit – erleichtert uns das Sterben. Es wäre gut, jeden Tag in dem Bewußtsein zu leben, daß es der letzte Tag dieses Lebens sein könnte. Das ist keine pessimistische Lebenseinstellung, son­ dern nüchterner Realismus, der sogar viel Energie freisetzt. Denn auf diese Weise werden wir das tun, was uns tatsächlich am wichtigsten ist und die Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten vertun. Den Tod als täglichen Begleiter im Bewußtsein zu behalten erweist sich als guter Freund eines jeden spirituellen Weges. Der Gedanke an den Tod hilft uns, das Haften an Freunden, Familie, Ablenkungen und Besitz zu lösen, auch das Haften an unserem Körper und an allem anderen, mit dem wir uns identifizieren. Denn von all dem bleibt uns nichts im Tod. Was bleibt denn im Tod? Was begleitet uns ins nächste Leben? Wir wissen es nicht. Natürlich gibt es Unterweisungen erleuchteter Lehrer hierzu. Diese sagen, daß uns zweierlei bleibt: (a) was immer wir an echtem Verständnis und Qualitäten hervorgebracht haben und (b) was immer wir an karmischen Kräften und Tendenzen aufgebaut haben.

13

III.

Die Kontemplation über Ursache und Wirkung, Karma

Wir brauchen uns für ein Verständnis von Karma nicht in Spekulationen über zukünftige Leben zu verstricken. Dem Verständnis von Karma können wir uns bereits annähern, indem wir zum Beispiel hinschauen, mit welchen Tendenzen Kinder in diese Welt kommen. Kinder unterscheiden sich ab dem ersten Tag. Woran liegt das? Liegt es vielleicht an ihrer Vorgeschichte? Was hat ihren Geist bisher geprägt? Was für Tendenzen bringen sie mit? Wie sind wir selbst diejenigen geworden, die wir jetzt sind? Wir wollen uns diesen Fragen zuwenden, indem wir untersuchen, welche Kräfte unsere gegenwärtige Situation bedingen und welche Kräfte die Zukunft bestimmen werden. Mit den bisherigen Kontem­ plationen haben wir ein Gefühl für die Kostbarkeit und die Vergänglichkeit unserer Situation entwi­ ckelt. Jetzt geht es darum, die treibenden, gestaltenden Kräfte kennenzulernen. Dies wird traditionell die Kontemplation über Karma genannt.7 Karma ist Sanskrit und bedeutet „Handlung“ und beinhaltet im weiteren Sinne auch die Aus­ wirkungen von Handlungen. So wie der Buddha das Wort Karma verwendet hat, umfaßt es körperlich ausgeführte Handlungen, sowie mit der Rede ausgeführte Handlungen und auch alles geistige Handeln durch Gedanken. Alle drei: Taten, Worte und Gedanken, sind ‚Handlungen‘ im buddhis­ tischen Sinn, da sie Auswirkungen auf uns und andere haben. Sie sind die gestaltenden Kräfte unserer Welt. Was wir erleben und wie wir etwas erleben ist die Folge von Handlungen mit Körper, Rede und Geist, die wir oder andere ausgeführt haben. Lassen Sie uns dem in einer Übung ein wenig nachge­ hen: 15. Inwieweit habe ich meine Situation selbst geschaffen ? Zunächst setzen wir uns entspannt und gerade hin und sammeln unseren Geist. Dann stellen wir uns die Frage: Wie habe ich dazu beigetragen, daß ich jetzt in dieser Situation bin, hier sitze und über Karma nachdenke? a) Was habe ich im Laufe der letzten Stunden, Tage und Jahre gedacht, das mit zu dieser Situa­ tion geführt hat? Welche Gedanken, also geistige Handlungen, sind ihr vorausgegangen? Wel­ che inneren Fragen? b) Was für Gespräche habe ich in der Vergangenheit gehabt, die mit zu dieser Situation beige­ tragen haben? Was haben andere mir erzählt? c) Was für körperliche Handlungen habe ich ausgeführt, um hierher zu kommen? Wir richten unser Augenmerk auf all das, was wir selber zu dieser Situation beigetragen haben – auch die vielen Entscheidungen und Vorentscheidungen, die wir im Vorfeld unserer äußeren Handlungen gefällt haben. Wir sind in unseren Handlungen kein bloßer Spielball äußerer Kräfte, sondern haben stets die Wahl, ob wir zum Beispiel aufstehen und fortgehen oder in der jeweiligen Situation bleiben, ob wir uns über etwas unterhalten oder nicht. Diese Kontemplation unserer aktiven Beteiligung läßt sich für jede Si­ tuation ausführen und auch für die Gesamtbedingungen, die unser Leben bestimmen, wie zum Bei­ spiel die Wahl unseres Berufes, unseres Partners, unserer Freunde und unseres Wohnortes. Dabei wird offensichtlich, wie alle Erfahrungen durch die drei Ebenen von Handlungen mitbedingt sind, die wir in jüngster oder früherer Vergangenheit ausgeführt haben. Zunächst denken wir, die kon­ kreten körperlichen Handlungen hätten das meiste Gewicht. Doch bei genauerem Hinschauen fällt auf, wie entscheidend die Gedanken, unsere geistige Ausrichtung und Motivation sind. Einer jeden äußeren Handlung gehen Gedanken voraus. Sie alle werden von Gedanken geplant und wiederum von Gedanken begleitet. Fast könnten wir sagen: Gedanken erzeugen die Welt. Doch der Buddha hat es noch präziser gesagt: „Handlungen erzeugen die Welt.“ Denn Gedanken alleine, ohne weitere Handlungen mit der Rede und dem Körper, bringen nicht alles zustande. 7

Abgesehen von den entsprechenden Kapiteln in den bereits genannten Werken finden Sie eine exzellente Zusammenstel­ lung von Beiträgen verschiedener buddhistischer Lehrer zu diesem Thema in dem Buch Karma (ebenfalls Theseus Verlag).

14

Wie wichtig Gedanken sind, merken wir daran, daß dieselbe Situation von einem jeden Beteiligten leicht oder sogar kraß verschieden erlebt wird, selbst wenn alle das Gleiche tun und auch ansonsten völlig gleichwertig sind. Selbst wenn die verschiedenen Beteiligten einer Situation die gleiche Herkunft und innere Ausrichtung, Motivation und die gleichen Prioritäten haben, nehmen sie dieselbe äußere Situation doch immer noch unterschiedlich wahr. Woran liegt das? Es muß an der Vorge­ schichte eines jeden einzelnen liegen, an den Kräften, die in ihm wirken, denn unsere Sicht einer Si­ tuation ist geprägt von unseren bisherigen Gedanken, Handlungen und Erfahrungen. Sie ist der Spiegel unseres Karmas, unserer bisherigen Aktivität und der sich daraus ergebenden Tendenzen. Bis hierhin ist Karma noch relativ leicht zu verstehen. Doch warum soll es „mein Karma“ sein, zum Beispiel krank zu werden? Diese Frage können wir nur so weit beantworten, wie unsere Erinnerung reicht, um die relevanten Zusammenhänge aufzudecken. Habe ich mir eine Erkältung geholt, weil ich gestern unvorsichtig war und zu leicht bekleidet nach draußen ging, so ist offensichtlich, daß ich jetzt einfach die Früchte meiner Dummheit ernte. Die Erkältung ist in diesem Fall tatsächlich die erkennba­ re Folge von Handlungen meinerseits. Das Gleiche gilt für einen Autounfall, den ich baue, weil ich die Bremsen nicht habe nachstellen lassen. Der Unfall ist die Folge meiner eigenen Handlung, ein nicht taugliches Auto zu fahren. Sehr viel komplizierter wird die Karmafrage bei Ereignissen, zu denen wir nicht offensichtlich beige­ tragen haben, wie zum Beispiel ein Flugzeugabsturz, wo wir nur einer unter vielen Passagieren sind, oder das Sterben eines Säuglings, der kaum das Licht der Welt erblickt hat. Hier sind unserem Ver­ ständnis Grenzen gesetzt. Wir sehen die Zusammenhänge nicht. Vermutlich liegt es daran, daß unsere Sicht und Erinnerung nur auf dieses Leben beschränkt sind. Könnten wir weiter schauen, würden wir höchstwahrscheinlich die Zusammenhänge entdecken. Doch wir besitzen nicht die Schau eines Er­ leuchteten. Unser beschränktes Erinnerungsvermögen und die Erfahrungen dieses Lebens reichen je­ doch aus, um die grundlegenden Prinzipien der Auswirkungen von Handlungen zu verstehen: Unsere persönliche Erfahrung bestätigt uns, daß uneigennützige Handlungen bei den meisten Men­ schen Freude freisetzen. Je häufiger wir solche Handlungen ausführen, desto glücklicher werden wir. Sie beginnen unseren Geist und unsere Situation zu verändern. Wenn ihre Auswirkungen auch nicht immer sofort sichtbar werden, so kommen sie doch fast immer noch in diesem Leben zum Vorschein. Es ist äußerst selten, daß jemand immer nur Positives tut, ihm aber stets nur Schlimmes widerfährt. Ebenso erleben wir, wie ichbezogene oder gar rücksichtslose Handlungen den Geist bei uns und den meisten anderen eng machen und Spannungen hervorrufen. Je häufiger wir solche Handlungen aus­ führen, desto egoistischer und freudloser werden wir. Solche Handlungen sind direkt (für andere) und indirekt (für uns selbst) die Ursache von Leid. Sie mögen uns für kurze Zeit Genugtuung und Glück bringen, weil wir einen persönlichen Wunsch befriedigen. Doch dieses Glück ist kurzlebig und wandelt sich in den meisten Fällen bald in Unzufriedenheit und Negativität. Es ist äußerst selten, daß jemand, der nur Negatives tut, glücklich ist und es bleibt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Früchte unserer Handlungen reifen. Ichbezogene Handlungen bringen Leid, uneigennützige Handlungen bringen Glück, gemischte Handlungen haben gemischte Folgen, teils süß, teils sauer. Wenn wir diesen Gedanken ein wenig nachgehen, dann wird offensichtlich, daß die Gegenwart die Frucht der Vergangenheit ist − und daß die Zukunft die Frucht unserer gegenwärtigen Handlungen sein wird in Verbindung mit all den noch nicht zur Reife gekommenen Auswirkungen von Hand­ lungen der Vergangenheit.



Indem wir jetzt all unsere Handlungen auf Heilsames und Uneigennütziges ausrichten, vermehren wir den Anteil glückbringender Kräfte an dem Gesamtpotential aller Kräfte, wel­ che unsere Zukunft bestimmen.



Und in dem Maße, wie wir unsere Schwierigkeiten annehmen und nicht mit erneuter Nega­ tivität auf sie re-agieren, verringert sich der Anteil leidbringender Kräfte am zukunftsbe­ stimmenden Gesamtpotential.

15

Wenn wir dies verstehen, können wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Es braucht nur et­ was Beharrlichkeit im Ausführen des Positiven und Geduld im Durchstehen von Unangenehmem. Dann werden wir „des eigenen Glückes Schmied“, allerdings nicht im selbstherrlichen Sinne, sondern im allmählichen Auflösen der Ichbezogenheit. Kontemplieren Sie noch einmal in diesem Sinne. Prüfen Sie nach, welche Fragen noch offenbleiben. Sprechen Sie eventuell mit einem spirituellen Lehrer darüber. Karmische Wechselwirkungen sind nicht leicht zu verstehen. Es heißt, nur ein Buddha erkenne sie vollkommen. Wir brauchen jedoch nicht bis zur Buddhaschaft zu warten, um eine Bestandsaufnahme unseres Karmas durchzuführen. Wir finden in unserem Leben, in unserer Erinnerung genügend Hinweise dafür, wie groß der Ballast ist, den wir mit uns herumschleppen und wie groß der Schatz ist, auf den wir bauen können: KARMISCHE BESTANDSAUFNAHME Auch bei den folgenden Kontemplationen ist es sinnvoll, einige Minuten des entspannten und bewußten Nichtstuns vorausgehen zu lassen. Dann denken wir über folgende Fragen nach und gehen dabei zurück bis in unsere Kindheit: 16. Handlungen des Körpers Wir denken über all die Handlungen nach, die wir mit dem Körper ausgeführt haben. Obwohl wir vielleicht so manche negative Handlung nicht selbst ausgeführt haben, können wir auch darüber nachdenken, ob wir uns gefreut und es gutgeheißen haben, daß andere sie ausführten? Dabei gehen wir die drei Bereiche körperlicher Handlungen durch, die in den Texten der Überlieferung erwähnt werden: a) Habe ich in diesem Leben getötet – angefangen bei Insekten bis hin zu größeren Tieren und Menschen? Habe ich Lebewesen gequält, geschlagen, mißbraucht, genötigt und ihnen sonstwie durch körperliche Handlungen Schaden zugefügt? Oder habe ich ihr Leben geschützt, ihre Schmerzen gelindert, ihren Hunger gestillt, sie gepflegt und mit Respekt behandelt? b) Habe ich gestohlen, mir Dinge angeeignet, die mir nicht gegeben wurden? Habe ich den Besitz anderer beschädigt? Oder war ich großzügig und habe gegeben, was andere brauchten? c) Habe ich durch mein sexuelles Verhalten Leid erzeugt, sei es durch Mangel an Feinfühlig­ keit oder durch Eindringen in bestehende Beziehungen? Oder habe ich an das Wohl meiner Partner gedacht und bestehende Beziehungen gepflegt und respektiert? 17. Handlungen der Rede In einer weiteren Kontemplation schauen wir uns an, was wir für Tendenzen in unserem Rede­ verhalten haben. Dabei gehen wir die vier Bereiche von Handlungen der Rede durch, die traditionell erwähnt werden, und betrachten eingehend, wie wir mit Worten umgegangen sind: a) Habe ich gelogen oder unumwunden und ehrlich, mit offenem Herzen gesprochen? b) Streite ich mich ständig, beschimpfe andere mit groben, verletzenden Worten? Habe ich andere verleumdet, heruntergemacht, öffentlich bloßgestellt und beleidigt? Oder habe ich un­ terstützende und feinfühlige Worte gesprochen, die Qualitäten anderer gestärkt und Kritik auf angemessene und hilfreiche Weise geäußert? c) Habe ich Intrigen angezettelt, Freunde durch Bemerkungen auseinandergebracht, Streit ge­ sät und schlecht über Dritte geredet? Oder habe ich harmonisierend gewirkt, Streit geschlich­ tet und versucht, Verständnis für Dritte zu wecken? d) Habe ich meine Zeit mit unnützem Geschwätz, Tratsch und geistlosen Witzen vertan? Oder habe ich über Sinnvolles geredet, die Privatsphäre anderer respektiert und guten Humor ge­ pflegt?

16

18. Geistige Handlungen Dann schauen wir uns unsere Gedankenwelt und Emotionen an. Was für karmische Impulse haben wir mit dem Geist gesetzt? Dabei untersuchen wir die drei klassischen Bereiche nicht­ heilsamer geistiger Handlungen Böswilligkeit, Habsucht und verkehrte Anschauungen (sowie die fünf Emotionen Unwissenheit, Begierde, Haß, Stolz und Eifersucht): a) Sind oder waren meine Gedanken von Böswilligkeit geprägt? War oder bin ich eher nach­ tragend, voller Ärger und schlechter Absichten? Bin ich ungeduldig, leicht gereizt, deprimiert und verschlossen? Was habe ich schon an haßerfüllten Gedanken gehabt? Hege ich langen Groll? Oder war und bin ich eher zum Guten geneigt, liebevoll und mitfühlend? Bin ich gedul­ dig, freudig und aufgeschlossen? Kann ich verzeihen? b) Sind oder waren meine Gedanken von Habsucht geprägt? Bin ich neidisch auf den Besitz oder die Qualitäten anderer? Will ich alles für mich haben? Bin ich eifersüchtig oder ehrgei­ zig? Oder gönne ich anderen ihren Besitz, ihr Glück und ihren Erfolg? Freue ich mich auf­ richtig mit, wenn andere etwas Positives tun, wenn es ihnen gut geht und sie glücklich sind? Teile ich meinen Besitz gerne mit anderen und verzichte freudig, wenn sie etwas haben möch­ ten? c) Sind oder waren meine Gedanken vom Festhalten an verkehrten Anschauungen geprägt? Halte ich stur an Dogmen fest und mache anderen Vorschriften, was sie zu glauben haben? Bin ich eingebildet, immer davon überzeugt, daß ich Recht habe? Bin ich leicht im Stolz gekränkt? Oder lasse ich mir etwas sagen und nehme Kritik an? Bin ich bereit, meine Meinung zu über­ prüfen und eventuell zu ändern? Ist mein Geist offen und aufnahmebereit für neue Sichtweisen? Ist es mir möglich, auch einmal unbeachtet zu bleiben, ohne gelobt und gepriesen zu werden? Die Liste der Fragen, die wir uns stellen können, ist schier unerschöpflich. Wenn wir uns ehrlich dar­ auf antworten, bekommen wir einen recht exakten Eindruck davon, was für karmische Tendenzen in diesem Leben aktiv sind und was für Kräfte wir zudem bereits in diesem Leben in Gang gesetzt haben. Es wird wohl kaum ein Engel unter uns sein... Wir sind eine ziemliche Mischung ‚schwarzer‘ und ‚weißer‘ karmischer Tendenzen. Bei genauerem Hinschauen drängt sich folgende Frage auf: 19. Habe ich schon einmal frei von Ichbezogenheit gehandelt ? Kontemplieren Sie auch über diese Frage erst nach einer vorangehenden Phase des Loslassens und Entspannens. Dann versuchen wir, uns zu erinnern: Wieviele Handlungen können wir in unserem Leben finden, die wirklich frei von Ichbezogenheit waren? Gibt es welche mit völlig reiner Motivation, wo keine Beimengung von Eigeninteressen dabei war? Haben wir nicht auch beim Helfen oftmals den Wunsch nach Anerkennung und Dank verspürt? Der Wunsch nach Anerkennung und Dank ist normal, doch er ist Ausdruck unserer persönlichen Erwartungen. Idealerweise, um der Beschreibung „wirklich frei von Ichbezogenheit“ zu genügen und voll und ganz ‚weiß‘ zu sein, sollte eine positive Handlung von allen Erwartungen frei sein, so ver­ ständlich diese auch sind. Wir dachten vielleicht, wir hätten viele wirklich gute Handlungen ausge­ führt, doch wieviel Ego entdecken wir da bei genauerem Hinsehen! Kaum einmal waren wir völlig frei von Eigeninteressen. Ein anderer Aspekt unseres karmischen Make-ups oder Potentials, der es verdient, angeschaut zu werden, ist die Frage nach dem latent in uns vorhandenen Negativen. Auf das latent vorhandene Posi­ tive sind wir bereits eingegangen − das sind die Qualitäten der Buddhanatur, die der spontane Aus­ druck des Geistes frei von Ichbezogenheit sind: Weisheit, Liebe, Mitgefühl, Hingabe... Doch wie steht es mit dem ‚spontanen‘ (oder hier besser: automatisch-zwanghaftem) Ausdruck des von Ichbezogen­ heit geprägten Geistes, wenn er durch bestimmte Situationen unter großen Druck gerät?

17

20. Zu was für negativen Handlungen wäre ich potentiell fähig ? Mit dieser Kontemplation lassen wir uns auf ein unangenehmes Gedankenspiel ein. Bitte füh­ ren Sie es nur aus, wenn Sie sich bereit dazu fühlen und den Sinn der Frage verstehen. Wir stellen uns die schlimmstmöglichen Situationen vor, die unseren Haß, unsere Angst, unsere Begierde, unseren Stolz und Neid provozieren. Wie würden wir handeln, wenn in einer solchen Situation unsere empfindlichsten emotionalen Knöpfe gedrückt werden? Können wir uns vor­ stellen, jemanden zu schlagen? Können wir uns Situationen vorstellen, in denen wir zur Waffe greifen würden? Wie sehr muß man uns reizen, bis sogar ein Mord möglich wäre? Haben wir im Traum vielleicht schon einmal jemanden umgebracht? Haben wir bereits Mordphantasien oder eine schier mörderische Wut gehabt? Was braucht es, bis wir stehlen, vergewaltigen, fol­ tern, lügen, Streit und Krieg anzetteln? Wir haben die meisten dieser Handlungen in diesem Leben wohl noch nicht ausgeführt, aber es ist vorstellbar, daß wir dies tun könnten oder bereits in früheren Leben einmal getan haben. Wenn wir den Buddhas glauben können, dann haben wir bereits unzählig viele Leben hinter uns und waren in nahezu alle vorstellbaren Situationen verwickelt. Unser jetziges Leben − und dazu gehören auch die Tendenzen, die sich in Träumen zeigen − ist wie ein Spiegel für unsere Handlungen in der Vergangenheit. In diesem Spiegel sind viele, aber nicht alle unserer karmischen Tendenzen zu sehen. So manche karmischen Kräfte, heißt es, sind für uns im Moment unentdeckbar, weil die Bedingungen gerade nicht zusammenkommen, die ihr Erscheinen auf des Spiegels Oberfläche bewirken würden. Unser „karmischer Ballast“ sind die Kräfte, die von unseren schädlichen, ichbezogenen Handlungen in Gang gesetzt wurden, und unser „karmischer Schatz“ sind die Kräfte, die von unseren hilfreichen, selbstlosen Handlungen bewirkt wurden. Hier liegt auch unsere Chance: Wir haben die Wahl, welche Kräfte wir stärken wollen. Das ist unsere Freiheit. Aber die Schwierigkeiten im Ausführen unserer be­ vorzugten Wahl zeigen auch unsere Unfreiheit, denn allzu leicht werden wir von den tief eingeprägten ichbezogenen Tendenzen mitgerissen. Es braucht viel Kraft, um ihnen zu widerstehen! Der Weg der Befreiung besteht darin, mehr Geistesgegenwart, Entspannung und Mitgefühl zu kultivieren. Diese ermöglichen uns, mehr und mehr heilsame Handlungen auszuführen. Wenn die Kraft positiver Handlungen zunimmt, wir der Weg allmählich leichter. Wir stecken dann nicht mehr so entsetzlich fest in eingefahrenen emotionalen Reaktionsmustern. Wenn wir das Leben so wie eben in den letzten Übungen betrachten und uns vor Augen halten, wie sehr wir in den Klauen unserer Emotionen stecken, dann erscheint uns die viel gepriesene menschli­ che Freiheit wie eine Illusion. Kaum taucht etwas Angenehmes vor unseren Sinnen auf, reagieren wir schon mit Anhaften, und kaum taucht etwas Unangenehmes auf, reagieren wir mit Ablehnung. Das geht so schnell, daß uns kaum eine Wahl bleibt. So sieht es jedenfalls aus. Zum Glück gibt es aber Möglichkeiten, den „Fuß in die Tür“ zu schieben, bevor wir uns wieder davonreißen lassen. Doch dazu später, in Teil Zwei. Zunächst geht es noch darum, die Bestandsaufnahme unserer Situation zu vervollständigen.

18

IV.

Die Kontemplation der drei Arten von Leid − Samsara 8

Der Buddha nannte dieses Leben in zwanghaften emotionalen Reaktionsmustern „Samsara“ – was oft mit Kreislauf übersetzt wird. Damit gemeint ist das schier endlose Kreisen in unterschiedlichen Existenzformen, die alle von Unfreiheit und Leid geprägt sind − ein Leben nach dem anderen. Als der Buddha zu unterrichten begann, öffnete er seinen Zuhörern zuerst die Augen über ihre wirkliche Si­ tuation − und erst dann zeigte er ihnen den Weg zur Befreiung. Diese grundlegende Analyse unserer Situation nannte er die „Wahrheit des Leides“. Er schaute dabei tiefer als andere, die zu Recht − aber vielleicht voreilig − darauf hinweisen, es gebe auch sehr viel Freude und Freiheit in diesem Leben. Der Buddha war selbst ein durch und durch freudiger Mensch, er sah durchaus die vielen wunderba­ ren Aspekte des Lebens. Um aber die Menschen auf dem Weg der Befreiung zu führen, bestand er darauf, daß seine Schüler ihre rosa Brille ablegten und lehrte sie über die drei Arten von Leid, die Samsara kennzeichnen. Die zweite und dritte Form von Leid treffen auch auf subjektiv als äußerst glücklich erlebte Situationen zu − eine Erkenntnis, gegen die viele sich zunächst sträuben. Für ein Verständnis seiner Ausführungen zu den drei Formen von Leid ist es keineswegs notwendig, an Wiedergeburt oder die Existenz anderer Daseinsbereiche zu glauben. Wir können diese traditionelle buddhistische Analyse in der persönlichen Kontemplation nachvollziehen. Um unsere Motivation auf dem Weg zu stärken, analysieren wir unser Leben in Hinblick auf die drei Arten von Leid: das of­ fensichtliche Leid, das Leid des Wandels und das Leid des Dualismus: Zunächst entspannen wir uns wie zu Beginn einer jeden Praxissitzung. Wir erinnern uns an das Ziel unseres Weges, von Ichbezogenheit freizuwerden und etwas zutiefst Sinnvolles für andere zu tun. 21. Das offensichtliche Leid Das offensichtliche Leid wird traditionell das „Leid des Leidens“ genannt und beinhaltet alle offenkundig unangenehmen geistigen und körperlichen Erfahrungen wie Krankheiten, Schmerzen, emotionales Leid und dergleichen. Wir fragen uns: Erfahre ich jetzt gerade offensichtliches Leid? Schmerzt mein Körper? Drückt mein Sitzkissen? Bin ich hungrig oder müde? Ist mir zu heiß oder zu kalt? Habe ich Angst? Bin ich aufgewühlt, oder ist mir sonst etwas Unangenehmes bewußt? Zunächst fühlen wir genau in die gegenwärtige Situation hinein. Dann erinnern wir uns des offensichtlichen Leides in unserem bisherigen Leben. Habe ich in der Vergangenheit körperliches oder geistiges Leid erfahren? Dann dehnen wir diese Kontem­ plation auf alle Menschen aus − und auch auf die Tiere. Was erfahren andere Menschen an of­ fenkundigem Leid? Was erleiden die Tiere? Es gibt viel offensichtliches Leid, wenn auch einzelne Situationen für kurze Zeit frei davon sein können. Diese von Leid scheinbar freien Situationen nennen wir glückliche Situationen. Sie sind angenehm oder zumindest nicht unangenehm. Doch erfahren wir in ihnen eine Form von Leid, die wir das „Leid des Wandels“ nennen. Es entsteht aufgrund unseres mangelnden Verständnisses von Vergänglichkeit. Auch dieses ist einer Kontemplation zugänglich: 22. Das Leid des Wandels Nach einer kurzen Einstimmungsphase fragen wir uns: Erinnere ich mich an glückliche, angenehme Situationen, die nicht irgendwann einmal in weniger glückliche Situationen ge­ mündet wären? Bin ich in glücklichen Momenten oder Stunden frei von dem Wunsch, daß sie andauern oder sich zumindest wiederholen mögen? Bin ich traurig, wenn die Situation vorbei ist? Mache ich Versuche, die gleiche Situation wieder zu erleben? Werde ich ärgerlich, wenn jemand dieses Glück stört? Gibt es glückliche Situationen, in denen ich vorher, während und danach frei von Anhaften, Erwartungen und Hoffnungen bin? 8

Die drei Formen des Leides werden in Kapitel Fünf des Kostbaren Schmuckes der Befreiung beschrieben.

19

Ja, das ist tatsächlich etwas viel verlangt, völlig frei von Anhaften und Erwartungen zu sein. Es war auch nur eine mehr rhetorische Frage. Selbst jemand, welcher der Vergänglichkeit schon viele Male tief ins Auge geschaut hat, freut sich doch, wenn er zuweilen angenehme Umstände erlebt und ist zu­ meist ein kleines bißchen weniger erfreut, wenn Schwierigkeiten kommen. Dies ist die zweite Form von Leid, die allen angenehmen, vergänglichen Situationen innewohnt, solange wir an ihnen anhaften. Wenn wir der Vergänglichkeit dieser Situationen gewahr sind, verringert sich unser Anhaften und folglich auch das aus diesem Anhaften sich ergebende Leid des (unerwünschten) Wandels. Die dritte Form von Leid, das Leid des Dualismus, wird von vielen Menschen nicht so bewußt wahrgenommen. Das Leiden am Dualismus kommt manchmal in dem Wunsch zum Ausdruck, sich zu vereinigen, zu verschmelzen und die völlige Einheit erfahren zu wollen, in der die Trennung in Ich und Anderes aufgelöst ist. Die Erfahrung dieser Trennung und ihrer Auswirkungen sind die dritte Form von Leid. Auch der Meditierende wird sich dieser Trennung zunächst nicht als Leid bewußt. Wir merken zu­ nächst nicht, welches Leid in diesem Dualismus verborgen ist. Der Meditierende (der bewußt Nichts Tuende) nimmt einfach wahr, daß es im Geist stets einen Beobachter gibt, der alles kommentiert, be­ urteilt und untersucht. Dieser Beobachter ist in vieler Hinsicht das, was wir unsere Ich-Instanz nennen könnten. Er ist auf vielfältige Weise aktiv. Wir wollen uns nun ihm zuwenden: 23. Das Leid des Dualismus – der Beobachter Lassen Sie den Geist so gut wie möglich in sich selbst zur Ruhe kommen. Wenn der Geist etwas stiller wird und Sie ihren Gedanken zuschauen und zuhören, nehmen Sie dann den Beobachter wahr? In dem Gewirr der vielen Gedanken gibt es welche, die sagen: „Ich meditiere“, „Ich sollte nicht so viel denken“, „Du bist zu aufgewühlt“ oder „Welch wunderbare Ruhe“ usw. Lassen Sie den Geist weiterhin so ruhig und entspannt wie möglich. Wenn Sie genauer hinfüh­ len, werden Sie allmählich die Entdeckung machen, daß dieses Ich-Gefühl ein bleibender Zu­ stand von Anspannung ist. Alles wird beobachtet, beurteilt, klassifiziert. Dieses Ich ist immer auf der Hut und stets aktiv. Diesem Wachtposten entgeht nichts. Das Kennenlernen dieses beurteilenden, benennenden Berichterstatters mit seinen vielen Facetten wird sich über viele Jahre hinziehen. Manchmal ist er fast wertneutral, andere Male ist er voller Wert­ urteile. Der Beobachter ist das Subjekt, und all die anderen Gedanken sind seine Objekte. Da diesem Subjekt durchaus eine ordnende, integrierende Funktion zukommt, wird es auch das „Ich“, „Selbst“ oder „Ego“ genannt. Bei genauerer Analyse der beschriebenen Ich-Funktionen können mehrere Ebenen unterschieden werden, die uns aber jetzt nicht weiter zu interessieren brauchen. Bei unserer Erforschung der Ich-Instanz (und damit der dritten Form von Leid) bemerken wir recht bald, daß dieses „Ich“ offenbar große Angst hat, die Kontrolle zu verlieren. Wir haben − meist unbe­ wußt − große Angst davor, was passieren würde, wenn der Beobachter uns nicht mehr das angenehm beruhigende Gefühl vermittelt: „Ich denke, also bin ich“. Der Meditierende erkennt allmählich, daß es immer einen Rest von Anspannung im Geist geben wird, solange der Beobachter im Unterschied zu den von ihm beobachteten Objekten vorhanden ist. Die Ursache dieser Anspannung ist die grund­ legende, existentielle Angst, nicht zu sein, das befürchtete Ende des „Ich“. Es ist diese dualistische Grundspannung − wir könnten vielleicht sagen: diese existentielle Angst, die mit dem Glauben an ein real existierendes Ich verbunden ist − die der Buddha das „Leid aller beding­ ten Existenz“ oder kurz das „Leid der Bedingtheit“ nannte. Mit bedingter Existenz sind hier alle Da­ seinsformen gemeint, die auf karmischen Kräften beruhen und von daher karmisch bedingt sind. Kar­ ma bezieht sich immer auf Handlungen, die mit einer dualistischen, sprich ichbezogenen Haltung aus­ geführt wurden. Das Leid der Bedingtheit entspringt also dem dualistisch funktionierenden Geist, der sich als Ich oder Subjekt in Beziehung zu Objekten der Wahrnehmung (inklusive Gedanken) setzt. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, können wir einfachheitshalber vom „Leid des Dualis­ mus“ sprechen.

20

Das Leid des Dualismus wird erst aufgelöst, wenn der Beobachter wegfällt und das reine, ursprüngli­ che Gewahrsein hervorkommt. Hierdurch werden auch das Leid des Wandels und das Leid des Leidens transzendiert, weil beide an die Existenz eines anhaftenden, beurteilenden Beobachters ge­ knüpft sind. Buddhaschaft, heißt es, ist die völlige Auflösung dieser drei Arten von Leid, wodurch na­ türliche, nicht von Bedingungen abhängige Freude ungehindert alles durchdringt. Was unsere Analyse von Samsara, unserer gegenwärtigen Situation, angeht, so führt unsere Kontem­ plation zu der nüchternen Feststellung, daß tatsächlich alle dualistischen Erfahrungen von Leid charakterisiert sind. Wenn wir uns dessen noch nicht so sicher sind, sollten wir wiederholt alle Lebenssituationen auf diese drei Formen von Leid untersuchen. Dies wird den Wunsch in uns verstär­ ken, nicht nur das offenkundige Leid hinter uns zu lassen, sondern auch den zugrundeliegenden Dualismus sowie das Haften an angenehmen, aber vergänglichen Erfahrungen. Diese Kontemplation ist ein wichtiges Gegenmittel für unser Haften an einem angenehmen, glücklichen Leben, in dem wir vielleicht gerade keine Schwierigkeiten erleben. Probleme sind in gewisser Hinsicht immer ein An­ sporn weiterzugehen. Deswegen ist es gut, sich das grundlegende Problem auch glücklicher Situa­ tionen klar zu machen. Das heißt nicht, daß wir uns daran nicht freuen sollten – es ist einfach ein Schutz vor dem selbstgenügsamen Einschlafen im Glück. Wir kommen hiermit ans Ende des ersten Teils vom Roten Faden. Damit unser spiritueller Weg sich weiterhin voll entfalten kann, ist regelmäßige Praxis vonnöten. Falls es sich für Sie herausgestellt hat, daß der Dharma, so wie er von Gautama Buddha und den Erleuchteten seiner Linie gelehrt wurde, Ih­ rem Wunsch nach einem spirituellen Weg entspricht, dann sollten Sie auf jeden Fall direkten Kontakt mit einem Dharma-Lehrer aufnehmen. Dieser kann Ihnen weitere Unterweisungen geben. Es geht dar­ um, zutiefst Zuflucht zu nehmen und Mitgefühl und Weisheit zu entwickeln. Dafür bietet der Weg viele Methoden an. Einige dieser Methoden sind im Zweiten Teil des Roten Fadens erläutert. Zum Schluß einer jeden Meditationssitzung ist es üblich, die entstandene positive Kraft zu widmen. Dies vermehrt die positive Kraft und bewahrt davor, sich mit der spirituellen Praxis zu identifizieren: 24. Widmung Wir lassen den Geist wieder zur Ruhe kommen und können dann folgende Wünsche sprechen: „Möge alles Positive, das durch diese Praxis entstanden ist, dem Wohl und der Erleuchtung aller Wesen zugute kommen. Möge die entstandene positive Kraft dazu beitragen, das Leid aller Wesen zu verringern und förderliche Bedingungen für ihren inneren Weg entstehen lassen. Mögen auch alle anderen heilsamen Handlungen, die je in diesem Universum ausge­ führt wurden, dem Wohl und der Erleuchtung aller Wesen gewidmet sein. Möge diese Widmung durch den Segen der Erleuchteten und den Segen der ursprünglichen Weite des Geistes genau­ so in Erfüllung gehen!“ Danach verweilen wir für einen Augenblick in tiefer Entspannung, in der wir alles Anhaften und alle Identifikationen loslassen. *

*

*

Folgende Bücher können uns helfen, mehr über den Dharma und seine Anwendung im Alltag herauszufinden: Dilgo Khyentse: Das Herzjuwel der Erleuchteten, Theseus Verlag. Gampopa: Der Kostbare Schmuck der Befreiung, Theseus Verlag. Gendün Rinpoche: Der Große Pfau. Die Umwandlung der Emotionen im tibe­ tischen Buddhismus, Theseus Verlag. Gendün Rinpoche: Der Weg des Bodhisattva, Dhagpo Kündröl Ling (nur privat erhältlich). Jamgon Kongtrul: Der große Pfad des Erwachens. Ein Kommentar zu der Mahayana-Lehre der Sieben Punkte der Geistesübung, Theseus Verlag. Karmapa Wangtschug Dordsche: Mahamudra, Ozean des Wahren Sinnes. Band 1: Mahamudra-Vorbereitungen; Band 2: Geistige Ruhe und Intuitive Einsicht. Theseus Verlag. Levine, Stephen: Wege durch den Tod (Über den Umgang mit Schmerz und Sterben), Context Verlag. Pema Chödrön: Beginne, wo du bist. Eine Anleitung zum mitfühlenden Leben, Aurum Verlag. Weil, Alfred (Hrsg.): Karma, Theseus Verlag.

21